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Narziß beugt sich übers Wasser. Auf der blanken Oberflächeerscheint sein Bild. Er lehnt sich zurück, das Bild verschwin-det, nichts zeugt vom Geschehenen. Das Spiegelbild: keinZeichen, behauptet Eco. Dem Semiotiker zerfällt die Welt inZeichen, und wo er keine entdeckt, muß er die Diskrepanzzumindest erklären. Die Lektüre dieses zentralen Essays lohntnicht nur für Narziß ... Umberto Eco versammelt in diesemBand von »Gelegenheitsschriften« Aufsätze zur Ästhetik,Analysen diverser Phänomene der populären Kultur, kritischeTextinterpretationen, philosophische und semiotische Schrif-ten. Das Themenspektrum reicht von experimenteller undavantgardistischer Kunst, Massenmedien und Literatur bis zumöglichen Welten der Science-fiction, detektivischer Phantasieund Täuschung. Ecos semiotischer Ansatz, mit dem er sosouverän hantiert wie ein Kartograph mit dem Zirkel, erweistsich dabei immer wieder als überraschend.

Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Pie-mont) geboren, ist Ordinarius für Semiotik an der UniversitätBologna und verfaßte zahlreiche Schriften zur Theorie undPraxis der Zeichen, der Literatur, der Kunst und nicht zuletztder Ästhetik des Mittelalters.

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Umberto Eco

Über Spiegelund andere Phänomene

Aus dem Italienischenvon Burkhart Kroeber

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Ungekürzte AusgabeDezember 1990

7. Auflage März 2002Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

Der erste Text dieses Bandes ist aus dem Manuskript übersetzt worden,O 1987 Umberto Eco. Die übrigen Texte wurden aus dem

1985 bei Bompiani erschienenen Band >Sugli specchi e altri saggi<,O 1985 Gruppo Editoriale Fabbri, Bompiani,Sonzogno, Etas S. p. A., Mailand, ausgewählt.

© 1988 der deutschsprachigen Ausgabe:Carl Hanser Verlag, München Wien

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlaggestaltung unter Verwendung eines Gemäldes

aus Botticellis WerkstattGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-12924-7

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Inhalt

Zur Einführung 7

Das Irrationale gestern und heute 9

Darstellungsweisen

Über Spiegel 26Das Zeichen im Theater 62Die Sprache des Gesichts 71Die Realismus-Illusion 83Marco Polo : das Unbekannte beschreiben 90Die Versuchungen der Schrift 97Über schlechte Malerei 104Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen 111

Zwischen Experiment und Konsum

Die Gruppe 63: experimentelle und avantgardistische Kunst 128Die Zeit in der Kunst 143Die Innovation im Seriellen 155Lob des Monte Cristo 181

Konjekturen über Welten

Die Abduktion in Uqbar 200Die Welten der Science Fiction 214Porträt des Älteren als Jüngerer Plinius 223Pirandello ridens 244

Quellenverzeichnis 257Namenregister 259

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Zur Einführung

Wenn ich zeigen wollte, daß dieses Buch eine einheitliche Physio-gnomie hat und als homogener Diskurs gedacht worden ist, müßteich mich an jene Spiegel halten, die ihm, pars pro toto, den Titelgeben.

Das Buch enthält Aufsätze zur Ästhetik, Analysen und Stellung-nahmen zu Phänomenen der populären Kultur, kritische Text-interpretationen, philosophische und semiotische Schriften. Es sindmehr oder minder Gelegenheitsschriften, deren Themen mir durchäußere Anlässe vorgegeben oder nahegelegt worden waren — durchEinladungen zu Vorträgen oder Tagungen, Bitten um Vor- oderNachworte, polemische Pflichten oder Gelüste, Bücher, die ichrezensieren mußte.

Einige sind akademischer Art, andere (wenige, hier überarbei-tete) waren ursprünglich journalistische Beiträge. Die meisten lie-gen auf halbem Wege dazwischen, das Thema ist anspruchsvoll,aber die Behandlung verzichtet auf akademische Anmerkungsappa-rate zugunsten größerer Unmittelbarkeit. Ich hoffe, daß sie allegleichermaßen lesbar sind.

Beim Zusammenstellen der Texte ist mir aufgefallen, daß sie oftähnliche Formulierungen aufwiesen, manchmal bis zur Grenze derWiederholung, und von gemeinsamen Themen durchzogen waren.Das durfte mich nicht verwundern, nicht nur, weil sie alle vonderselben Hand stammen und fast alle im selben Zeitraum entstan-den sind, sondern auch, weil es normal (und richtig und nützlich)ist, daß ein Autor, der auf Tagungen und Kongressen, in Diskussio-nen und Symposien das Wort ergreift, bestimmte Erfahrungensammelt, sich für Beispiele erwärmt, die ihm zwingend erscheinen,Argumente in neue Formen umfüllt und weiterentwickelt.

So habe ich versucht, die Aufsätze nach Themenkomplexen zuordnen, auch um dem Leser Orientierungshilfen zu geben. DieseKomplexe oder Sektionen taugen soviel, wie sie taugen, und es

Siehe die Nachweise am Ende.

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wird oft nicht schwer sein, ein enges Verhältnis zwischen zweiTexten zu sehen, die auf verschiedene Sektionen verteilt wordensind

Infolgedessen, ich wiederhole es, versuche ich nicht, diese Texteals streng koordinierte Kapitel eines fortlaufenden Diskurses zupräsentieren. Ich denke aber, sie lassen sich als ein Ensemble nichtganz zusammenhangloser Bemerkungen lesen, zwischen denen derLeser die Linien ziehen kann, die ihm passend erscheinen.

Für die stilistischen Ungleichmäßigkeiten muß ich mich, denkeich, nicht entschuldigen. Je nach Herkunft sind manche Schriftenstrenger und pedantischer, andere haben eher den Ton der Anmer-kung oder der Konversation. Die Einheit liegt, wenn je, in der Roseder angesprochenen Probleme. Kein Text erscheint genau in derForm seiner Erstpublikation. Im Bemühen, sie zu verbinden, habeich hier und da Wiederholungen eliminiert, Zusätze eingefügt,manchmal auch verschiedene Aufsätze über dasselbe Thema zueinem fusioniert.

Jeder der hier versammelten Aufsätze hat mich, als ich ihnschrieb, in Ideen bestärkt, die mir teuer sind oder die mich aufandere Ideen gebracht haben. Und da viele von ihnen nicht mehrleicht greifbar sind, schien es mir sinnvoll, sie hiermit wieder inUmlauf zu bringen.

Mailand, Juni 1985

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Das Irrationale gestern und heute

In Kürze, wenn wir wieder einmal die Stände der Buchmessedurchgehen, werden wir sehen, daß — als Reaktion auf den Zusam-menbruch der großen rationalistischen Philosophien der Ge-schichte und angesichts einer Vertrauenskrise gegenüber Technikund Wissenschaft — viele derer, die in den letzten Jahrzehnten daspolitische oder wissenschaftliche Handeln als ein rationales Projektzur Veränderung der Welt konzipierten, sich nun dem Heiligen unddem Mysterium zuwenden. In den Regalen der Buchhandlungen,wo vor zwanzig Jahren noch Die Zerstörung der Vernunft vonLukács zu finden war, stehen heute Werke von Julius Evola, RenéGuénon, G.J. Gurdjieff, Titus Burckhardt und von Meistern desöstlichen Denkens, Handbücher der Alchimie, der Astrologie, derWahrsagerei und der schwarzen Magie. Man hat den Eindruck, daßChesterton recht hatte, als er sagte: »Seit die Menschen nicht mehran Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern analles.»

Stehen wir vor Erscheinungsformen des Irrationalismus ?

Es ist schwer, den Irrationalismus zu definieren, ohne einenphilosophischen Begriff der Ratio zu haben. Leider zeigt die ganzeGeschichte der westlichen Philosophie, daß die Definition desIrrationalen wechselhaft und kontrovers ist. Eine gegebene Denk-weise ist immer irrational gemessen am historischen Modell eineranderen Denkweise, die sich als rational präsentiert. Die Logik desAristoteles ist nicht die Logik Hegels, die Termini Ratio, Raisonund Vernunft bedeuten nicht immer dasselbe.

Ein Weg zum Verständnis der philosophischen Begriffe ist oftder Rekurs auf die Alltagssprache. Wenn ich die abstrakten Sub-stantive verlasse, finde ich als Synonyme für das Adjektiv »irratio-nal« im Deutschen die Wörter unsinnig, unlogisch, unvernünftig,sinnlos; im Italienischen illogico und assurdo; im Englischen sense-less, absurd, nonsensical, incoherent, delirious, farfetched, inconse-quential, disconnected, illogic, exorbitant, extravagant, skimble-skamble.

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Das scheint zu wenig, um ernstzunehmende philosophische undästhetische Positionen zu definieren. Dennoch bezeichnen dieseAusdrücke etwas, das über die von einer Norm gezogene Grenzehinausgeht. Eines der Antonyme zu unreasonableness (in RogetsThesaurum) ist moderateness. Moderat sein heißt, sich im modusbefinden, also in Grenzen und in einem Maß.

Das Wort modus ruft uns zwei Regeln in Erinnerung, die wir vonder griechisch-lateinischen Kultur geerbt haben : das logische Prin-zip des modus ponens und das von Horaz formulierte ethischePrinzip: Est modus in rebus, sunt certi denique fines quos ultracitraque nequit consistere rectum)

Vielleicht können wir, ausgehend vom griechisch—lateinischenModell der Rationalität, zunächst vorsichtig alles das als »irratio-nal« definieren, was gemessen an den von diesen beiden Normengezogenen Grenzen, die am Ursprung unserer Kultur stehen,abweichend erscheint. Wir müssen uns also fragen, was »gestern«irrational war, um zu verstehen, was »heute« irrational ist.

Für den griechischen Rationalismus, von Platon bis Aristoteles unddarüber hinaus, heißt erkennen immer erkennen durch eine causa,durch die Ursache dessen, was man erkennen will. Auch Gottdefinieren heißt, eine Ursache zu definieren, hinter der es keineweitere Ursache gibt.

Um die Welt kausal erklären zu können, muß man den Begriffeiner linearen, einlinigen Kette entwickeln : Wenn eine Bewegungvon A nach B geht, kann keine Kraft der Welt bewirken, daß sie vonB nach A geht. Um die Linearität der Kausalkette zu begründen,muß man einige Prinzipien akzeptiert haben : das Prinzip derIdentität (A = A), das Prinzip der Widerspruchsfreiheit (es istunmöglich, daß etwas A und gleichzeitig nicht A ist) und dasPrinzip des ausgeschlossenen Dritten (entweder A ist wahr, oder Aist falsch, tertium non datur). Aus diesen Prinzipien folgt die fürden westlichen Rationalismus typische Argumentationsweise, dermodus ponens: Wenn p, dann q; aber p, also q.

1 Satiren, I, 1, 106-107 (»Es ist ein Maß in den Dingen, es gibt bestimmte Grenzen, jenseits

und diesseits deren das Rechte nicht zu bestehen vermag«).

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Dieselben Prinzipien verlangen zudem wenn nicht die Anerken-nung einer festen Ordnung der Welt, so doch zumindest einenGesellschaftsvertrag. Der lateinische Rationalismus übernimmt diePrinzipien des griechischen Rationalismus, aber er verändert undbereichert sie im juristischen und vertragsrechtlichen Sinn. Dielogische Norm ist modus, aber modus ist auch Beschränkung undfolglich Grenze.

Die lateinische Obsession der räumlichen Grenze entsteht mitdem Mythos der Gründung : Romulus zieht eine Grenzlinie underschlägt den Bruder, weil er sie nicht respektiert hat. Ohne dieAnerkennung einer Grenze kann es keine civitas geben.

Horatius Cocles wird ein Held, weil er es vermocht hat, denFeind an der Grenze aufzuhalten, auf einer Brücke zwischen denRömern und den Anderen. Brücken sind Sakrilegien, weil sie densulcus überqueren, den Wasserkreis, der die Grenzen der Stadtdefiniert; darum kann ihr Bau nur unter strenger ritueller Kontrolledes Pontifex erfolgen. Die Ideologie der Pax Romana und derpolitische Entwurf des Augustus beruhen auf Präzisierung derGrenzen : die Kraft des Imperiums beruht im Wissen, auf welchemvallum, innerhalb welches limes die Verteidigung zu erfolgen hat.Sobald man keinen klaren Begriff der Grenzen mehr hat und dieBarbaren (das heißt Nomaden, die ihr Ursprungsgebiet verlassenhaben und sich auf jedem Gebiet bewegen, als ob es das ihre wäre,immer bereit, es wieder zu verlassen) ihre nomadische Sicht durch-gesetzt haben, ist Rom am Ende und die Hauptstadt des Reicheskann überall sein.

Als Julius Cäsar den Rubicon überschreitet, weiß er nicht nur,daß er ein Sakrileg begeht; er weiß auch, daß er, sobald er es einmalbegangen hat, nicht mehr zurückkann. Alea iacta est. Denn es gibtauch zeitliche Grenzen. Was einmal geschehen ist, kann nicht mehrausgelöscht werden. Die Zeit ist nicht umkehrbar. Dieses Prinzipwird die lateinische Syntax regeln. Die Richtung und Ordnung derZeit, die eine kosmologische Linearität ist, wird zum Systemlogischer Subordinationen in der consecutio temporum. Das Den-ken kann die Fakten nur dann erkennen, aufreihen und »betrach-ten«, wenn es zuvor eine Ordnung gefunden hat, die sie miteinan-der verbindet. Und bedenken wir schließlich jenes Meisterwerk an

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Fakten-Realismus, das der ablativus absolutus darstellt: er legt fest,daß etwas, nachdem es einmal geschehen oder vorausgesetzt wor-den ist, nicht mehr in Frage gestellt werden kann.

Bei Thomas von Aquin gibt es eine quaestio quodlibetalis, (V,2, 3), in der er sich fragt, »utrum Deus possit virginem reparare«, obGott eine Frau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat, in ihrenursprünglichen Status zurückversetzen könne. Thomas gibt einedezidierte Antwort : Gott kann der Frau verzeihen und sie somit inden Stand der Gnade zurückversetzen, er kann ihr auch durch einWunder die körperliche Unversehrtheit wiedergeben. Aber nichteinmal Gott kann das Geschehene ungeschehen machen, denn einesolche Verletzung der Zeitgesetze wäre seiner Natur zuwider. Gottkann das logische Prinzip nicht verletzen, demzufolge die Sätze »pist geschehen« und »p ist nicht geschehen« als widersprüchlicherscheinen würden. Alea iacta est.

Dieses Modell des Rationalismus ist es, das noch heute die Mathe-matik, die Logik, die Naturwissenschaft und die Computerpro-grammierung beherrscht. Doch es schöpft nicht aus, was wir dasgriechische Erbe nennen. Griechisch ist Aristoteles, aber griechischsind auch die Mysterien von Eleusis. Die griechische Welt fühlt sichständig zum apeiron hingezogen : zum Unendlichen. Das Unendli-che ist das, was keinen modus hat. Es entzieht sich der Norm.

Fasziniert vom Unendlichen entwickelt die griechische Kultur,neben dem Begriff der Identität und Widerspruchsfreiheit, die Ideeder fortwährenden Metamorphose, symbolisiert durch Hermes.Hermes ist ungreifbar, volatil, doppelgesichtig, Patron aller Kün-ste, aber auch Gott der Diebe, iuvenis et senex, Jüngling und Greiszugleich. Im Mythos von Hermes werden die Prinzipien der Identi-tät, der Widerspruchsfreiheit und des ausgeschlossenen Drittennegiert, die Kausalketten winden sich um und über sich selbst zuSpiralen, das Nachher geht dem Vorher voraus, der Gott kenntkeine räumlichen Grenzen und kann in verschiedenen Formen anverschiedenen Orten gleichzeitig sein.

Hermes triumphiert im Laufe des zweiten Jahrhunderts nach Chri-stus. Das zweite Jahrhundert ist eine Epoche der politischen Ord-

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nung und des Friedens, und die Völker des Reiches scheinen vereintdurch eine gemeinsame Sprache und Kultur. Die Ordnung ist sogefestigt, daß niemand mehr hoffen kann, sie durch irgendeinemilitärische oder politische Operation verändern zu können. Es istdie Epoche, in welcher sich der Begriff einer enkyklios paideiabildet, einer umfassenden Erziehung mit dem Ziel, die Figur einesvollkommenen und in allen Disziplinen versierten Menschen her-vorzubringen. Doch dieses Wissen beschreibt eine perfekte undkohärente Welt, während die Welt des zweiten Jahrhunderts einSchmelztiegel von Rassen und Sprachen ist, ein brodelndes Gewim-mel von Völkern und Ideen, in dem alle Götter toleriert werden.Jede dieser Gottheiten hatte einst für das Volk, das sie verehrte, einetiefe Bedeutung gehabt, aber im selben Moment, in dem das Reichihre Ursprungsländer auflöst, löst es auch ihre Identitäten auf : esgibt keine Unterschiede mehr zwischen Isis, Astarte, Demeter,Kybele, Anaitis und Maia.

Das kulturelle Universum des zweiten Jahrhunderts ähnelt einwenig der Buchmesse, auf der demokratisch alle Bücher akzeptiertwerden : alle Beschreibungen aller möglichen Welten, alle im Wi-derspruch zueinander. Wir kennen die Legende von jenem Kalifen,der die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria befahl, mit demArgument: Entweder sagen diese Bücher dasselbe wie der Koran,und dann sind sie unnütz, oder sie sagen etwas anderes, und dannsind sie falsch und schädlich. Der Kalif kannte und besaß eineWahrheit, auf deren Grundlage er die Bücher beurteilte. DerHermetismus des zweiten Jahrhunderts dagegen sucht eine Wahr-heit, die er nicht kennt, und besitzt nur Bücher. Deswegen stellt ersich vor oder hofft, daß jedes dieser Bücher einen Funken Wahrheitenthält und daß sie alle einander bestätigen. In dieser synkretisti-schen Dimension tritt eines der Prinzipien des griechischen Ratio-nalismus in die Krise, nämlich das des ausgeschlossenen Dritten.Vielerlei Dinge können gleichzeitig wahr sein, auch wenn sieeinander widersprechen.

Wenn die Bücher nun aber die Wahrheit sagen, auch wo sieeinander widersprechen, dann ist jedes ihrer Worte eine Anspie-lung, eine Allegorie. Sie besagen etwas anderes als das, was sie zusagen scheinen. Jedes von ihnen enthält eine Botschaft, die keines

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von ihnen allein je enthüllen kann. Um die mysteriöse Botschaft,die in den Büchern steckt, zu verstehen, muß man nach einerOffenbarung jenseits der menschlichen Reden suchen, nach einer,die durch Verkündung der Gottheit selbst kommen müßte, durchdie Modi der Vision, des Traums oder des Orakels. Doch eineunerhörte, nie zuvor vernommene Offenbarung wird von einemnoch unbekannten Gott und einer bisher noch geheimen Wahrheitsprechen müssen. Eine geheime Weisheit ist eine tiefe Weisheit(denn nur was unter der Oberfläche liegt, kann auf lange Sichtunbekannt bleiben). Infolgedessen wird nun die Wahrheit mit demgleichgesetzt, was nicht gesagt wird, oder was auf dunkle Weisegesagt wird und jenseits des Scheins und der Wörtlichkeit zuverstehen ist. Die Götter sprechen (heute würden wir sagen : dasSein spricht) durch hieroglyphische und enigmatische Botschaften.

Wenn aber die Suche nach einer anderen Wahrheit aus einemMißtrauen in in das zeitgenössische Wissen entspringt, dann mußdiese Weisheit uralt sein : Die Wahrheit ist eine Sache, in derenNähe wir seit dem Anbruch der Zeiten leben, nur haben wir sievergessen. Und wenn wir sie vergessen haben, muß jemand sie füruns bewahrt haben, jemand, dessen Worte wir nicht mehr verste-hen. Also muß diese Weisheit auch eine exotische sein. C.G.Junghat uns erklärt, daß wir, wenn uns ein beliebiges Götterbild allzuvertraut geworden ist und jedes Geheimnis verloren hat, uns anBilder anderer Kulturen wenden müssen, da nur die exotischenSymbole eine sakrale Aura bewahren. Für das zweite Jahrhunderthätte demnach die geheime Weisheit ihren Ort entweder bei denDruiden haben müssen, den keltischen Priestern, oder bei denWeisen des Orients, die unverständliche Idiome sprachen.

Der klassische Rationalismus identifizierte die Barbaren mitdenen, die nicht richtig sprechen konnten (die Etymologie vonbarbaros ist ebendiese: Barbar ist, wer »brbr« stammelt). Nun wirdjedoch genau das vermeintliche Gestammel der Fremden zur heili-gen Sprache voller Verheißungen und verschwiegener Offenbarun-gen. Galt für den griechischen Rationalismus als wahr, was erklärtwerden konnte, so gilt jetzt nur als wahr, was sich nicht erklärenläßt.

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Doch welcher Art war das mysteriöse Wissen, das die Priester derBarbaren besaßen ? Die verbreitete Meinung war: Sie kannten dieverborgenen Bande, welche die geistige Welt mit der astralen Weltund diese mit der sublunaren Welt verbinden, weshalb man durchEinwirkung auf eine Pflanze den Lauf der Sterne beeinflussenkann, der Lauf der Sterne das Schicksal der irdischen Wesenbeeinflußt und die magischen Operationen, die wir an einem Bildder Gottheit vornehmen, diese Gottheit zwingen, unseren Willenzu befolgen. Wie unten, so oben. Das Universum wird zu einemgroßen Spiegeltheater, in dem jedes Ding alle anderen spiegelt undbedeutet.

Von universeller Sympathie und Ähnlichkeit kann man jedochnur sprechen, wenn man das Prinzip der Widerspruchsfreiheitverwirft. Die universelle Sympathie ist Ergebnis einer EmanationGottes in der Welt, doch am Ursprung der Emanation steht einnicht erkennbarer Einer, der als solcher der innerste Ort desWiderspruchs ist. Das neuplatonisch-christliche Denken wird zuerklären versuchen, daß wir Gott nicht eindeutig definieren kön-nen, weil unsere Sprache dazu nicht geeignet ist. Das hermetischeDenken sagt, daß unsere Sprache, je ambivalenter, je polyvalentersie ist, je mehr sie sich in Symbole und Metaphern kleidet, um sobesser geeignet ist, einen Einen zu benennen, in dem sich dieKoinzidenz der Gegensätze verkörpert. Doch wo die Koinzidenzder Gegensätze triumphiert, da fällt das Identitätsprinzip. Toutse tient.

Infolgedessen ist die Interpretation unendlich. Im Versuch, ei-nen letzten, unerreichbaren Sinn zu erfassen, akzeptiert man einunaufhaltsames Wegschlittern des Sinns. Eine Pflanze wird nichtanhand ihrer morphologischen und funktionalen Eigentümlichkei-ten definiert, sondern anhand ihrer Ähnlichkeit, sei diese auch nurpartiell, mit einem anderen Element des Kosmos. Ähnelt sie vageeinem Teil des menschlichen Körpers, so hat sie Sinn, weil sie aufden Körper verweist. Aber der betreffende Teil des Körpers hatSinn, weil er auf einen Stern verweist, und dieser hat Sinn, weil erauf eine Tonleiter verweist, und diese wiederum, weil sie auf eineHierarchie von Engeln verweist, und so weiter ad infinitum.

Jedes Objekt, ob weltlich oder himmlisch, birgt ein Geheimnis,

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das nur Eingeweihte aufdecken können und dessen Kenntnis daherInitiation bedeutet. Aber, wie Joséphin Péladan im neunzehntenJahrhundert sagen wird, ein aufgedecktes Initiationsgeheimnis istzu nichts mehr nütze. Jedesmal, wenn man glaubt, ein Geheimnisaufgedeckt zu haben, ist es ein solches nur, wenn es auf ein anderesGeheimnis verweist, und das immer weiter bis hin zu einem letztenGeheimnis. Indessen ist dieses Universum der immer weiterverwei-senden Sympathie ein Labyrinth von Wechselwirkungen, in demjedes Ereignis einer Art spiralförmiger Logik gehorcht, in welcherdie Idee einer zeitlich geordneten Ursache-Wirkungs-Abfolge indie Krise gerät. Ein letztes Geheimnis kann es nicht geben. Dasletzte Geheimnis der hermetischen Initiation ist, daß alles Geheim-nis ist. Das hermetische Geheimnis muß ein leeres Geheimnis sein,denn wer ein beliebiges Geheimnis zu enthüllen vorgibt, ist keinInitiierter und bewegt sich auf einer oberflächlichen Stufe derErkenntnis des kosmischen Mysteriums.

Das hermetische Denken verwandelt die ganze Bühne der Weltzum Sprachphänomen, und zugleich entzieht es der Sprache jedekommunikative Macht.

In den grundlegenden Texten des Corpus Hermeticum, das genauum die Zeit des zweiten Jahrhunderts im Mittelmeerraum auf-taucht, empfängt Hermes Trismegistos seine Offenbarung in einemTraum oder einer Vision, wobei ihm der Nous erscheint. Der Nouswar für Platon das Vermögen zur Wahrnehmung der Ideen und fürAristoteles der Verstand, durch den wir die Wesenheiten erkennen.Gewiß stand die Agilität des Nous in Opposition zur mühevollerenAnstrengung der dianoia, die schon bei Platon Reflexion, rationaleAktivität war, sowie der episteme als Wissenschaft und der phrone-sis als Nachdenken über die Wahrheit; aber es war nichts Unaus-sprechliches in seinem Wirken. Dagegen wird der Nous im zweitenJahrhundert nun das Vermögen zur mystischen Intuition, zurnicht-rationalen Erleuchtung, zur blitzartigen und nicht-diskursi-ven Vision.

Es ist nicht mehr nötig, Dialoge zu führen, diskursiv zu reden, zuargumentieren. Es gilt nur noch zu warten, daß jemand für unsspricht. Dann wird das Licht so plötzlich hereinbrechen, daß es sich

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mit der Dunkelheit vermengt. Dies wird dann die wahre Initiationsein, über die der Initiierte nicht sprechen darf.

Wenn es keine zeitlich geordnete Linearität der Kausalketten mehrgibt, wird die Wirkung auf die eigene Ursache rückwirken können.So geschieht es in der theurgischen Magie, aber auch in der Philolo-gie. Das Prinzip des post hoc ergo propter hoc (nach diesem, alsowegen diesem) wird ersetzt durch das Prinzip des post hoc ergo antehoc (nach diesem, also vor diesem). Ein typisches Beispiel für dieseHaltung ist die Art, in der die Philologen der Renaissance zubeweisen versucht haben, daß das Corpus Hermeticum nicht einProdukt der hellenistischen Kultur sei, sondern vor Platon ge-schrieben worden sein müßte : Da das Corpus Ideen enthält, dieoffenkundig schon zur Zeit Platons kursierten, muß es folglich vorPlaton entstanden sein.

Wenn dies die Eigenheiten des klassischen Hermetismus sind, sokehren sie wieder, wenn er seinen zweiten Triumph feiert, nämlichüber den Rationalismus der mittelalterlichen Scholastik. In denvoraufgegangenen Jahrhunderten, als der christliche Rationalismusdie Existenz Gottes mit Argumentationen im Geiste des modusponens zu beweisen suchte, ist das hermetische Wissen nicht ausge-storben. Es hat, an die Ränder gedrängt, bei den Alchimisten undjüdischen Kabbalisten überlebt sowie in den Falten des schüchter-nen mittelalterlichen Neuplatonismus. Doch beim Anbruch des-sen, was wir die Neuzeit nennen, im Florenz der Renaissance, woman zur gleichen Zeit das moderne Bankwesen erfindet, wird dasim hellenistischen zweiten Jahrhundert geschaffene Corpus Herme-ticum wiederentdeckt und als Zeugnis eines uralten Wissens aus derZeit vor Moses interpretiert. Neubearbeitet von Pico della Miran-dola, Ficino, Reuchlin, das heißt vom Neuplatonismus der Früh-renaissance und vom christlichen Kabbalismus, geht das hermeti-sche Modell in den Nährboden eines Großteils der modernenKultur ein, von der Magie bis zur Wissenschaft.

Die Geschichte dieser Wiedergeburt ist komplex: die Historikerhaben uns mittlerweile gelehrt, daß wir den hermetischen Strangnicht vom naturwissenschaftlichen trennen dürfen, daß Paracelsus

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und Galilei zusammengehören. Das hermetische Wissen beeinflußtBacon, Kopernikus, Kepler und Newton, die moderne quantifizie-rende Wissenschaft entsteht im Dialog mit dem qualifizierendenWissen des Hermetismus. Letzten Endes suggerierte das herme-neutische Modell die Idee, daß die Ordnung des Universums, wiesie vom griechischen Rationalismus beschrieben worden war, um-gestürzt werden könnte und daß es möglich sei, im Universum neueZusammenhänge, neue Beziehungen zu entdecken, die es demMenschen erlauben würden, auf die Natur einzuwirken und ihrenLauf zu verändern.

Doch dieser Einfluß verbindet sich mit der Überzeugung, daßdie Welt nicht durch eine Logik der Qualität beschrieben werdendarf, sondern durch eine Logik der Quantität. So trägt das hermeti-sche Modell paradoxerweise zur Entstehung seines neuen Gegnersbei, des modernen wissenschaftlichen Rationalismus. In der Folgeemigriert der hermetische Irrationalismus einerseits zu den Mysti-kern und Alchimisten, andererseits zu Dichtern und Philosophen,von Goethe bis Nerval und Yeats, von Schelling bis Franz vonBaader, von Heidegger bis C.G. Jung. Und es ist nicht schwierig, invielen postmodernen Konzepten der Literaturkritik die Idee despermanent wegschlitternden Sinnes zu entdecken. Es war einehermetische Idee, die Paul Valéry ausdrückte, als er sagte : »11 n'y a

pas de vrai sens d'un texte« (es gibt keinen wahren Sinn einesTextes).

Kürzlich hat Gilbert Durand zu beweisen versucht, daß diegesamte Kultur der letzten Jahrzehnte — einschließlich eines Groß-teils der wissenschaftlichen Kultur — nicht unter dem Zeichen desgriechischen Rationalismus stehe, sondern unter dem des hermeti-schen Modells.'

Dieses Modell eines Denkens, das von der Norm des griechisch-lateinischen Rationalismus abweicht, bleibt jedoch unvollständig,wenn wir nicht ein weiteres Phänomen in Betracht ziehen, das inderselben geschichtlichen Phase hervortritt.

Geblendet von blitzartigen Visionen, während er tastend durchs

2 Science de l'hornrne et tradition, Paris, Berg, 1979.

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Dunkel tappt, entwickelt der Mensch des zweiten Jahrhundertsauch ein neurotisches Bewußtsein der eigenen Rolle in einer un-begreiflichen Welt: die Wahrheit ist geheim, keine Befragung derSymbole und Rätsel sagt je die letzte Wahrheit, alle verlagern dasGeheimnis immer nur in ein Woanders. Wenn dies die conditio

humana ist, so muß die Welt das Ergebnis eines Irrtums sein.Der kulturelle Ausdruck dieser psychischen Kondition ist dieGnosis.

In der Tradition des griechischen Rationalismus bedeutete gnosisdie wahre (diskursive und dialektische) Erkenntnis des Seins, ge-genüber der einfachen Wahrnehmung (aisthesis) und der doxa

(Meinung). Nun aber hat der Begriff die Bedeutung einer meta-rationalen, intuitiven Erkenntnis angenommen, einer Erkenntnisals Gabe der Gottheit oder eines himmlischen Mittlers, die den, dersie befolgt, zu erlösen vermag.

Die gnostische Offenbarung erzählt in mythischer Form, daß dieGottheit, die dunkel und nicht erkennbar ist, bereits in sich dasPrinzip des Bösen enthält, sowie eine Androgynie, die sie vonAnfang an widersprüchlich macht, nicht-identisch mit sich selbst.Ein ungeschickter Exekutor dieser Gottheit, der Demiurg, hat einefalsche und instabile Welt geschaffen, in die ein Bruchstück derGottheit wie in ein Gefängnis oder ins Exil gefallen ist.

Eine irrtümlich geschaffene Welt ist ein mißratener Kosmos, einFehlschlag. Zu den ersten Auswirkungen dieses Fehlschlags gehörtdie Zeit, eine ungeschlachte Imitation der Ewigkeit. Während indenselben Jahrhunderten die Patristik den jüdischen Messianismusmit dem griechischen Rationalismus zu versöhnen sucht und denBegriff des gottgewollten und rationalen Verlaufs der Geschichteerfindet, entwickelt der Gnostizismus ein Verwerfungssyndromgegenüber Zeit und Geschichte.

Der Gnostiker fühlt sich in der Welt exiliert, Opfer des eigenenKörpers, den er als Grab und Gefängnis definiert. Er ist in die Weltgeworfen und muß sehen, daß er ihr entkommt. Existieren ist einÜbel. Aber man weiß ja, je frustrierter sich einer fühlt, desto mehrwird er von einem Omnipotenzwahn und von Rachegelüsten er-faßt. So kommt es, daß der Gnostiker sich als einen Funken derGottheit erkennt, der sich vorübergehend, infolge eines kosmi-

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schen Komplotts, im Exil befindet. Wenn es ihm gelingt, zu Gottzurückzukehren, dann vereint der Mensch sich nicht nur wiedermit seinem Prinzip und Ursprung, sondern trägt auch dazu bei,diesen Ursprung zu regenerieren, ihn aus der Ur-Verirrung zubefreien. Obwohl Gefangener einer kranken Welt, fühlt sich derMensch von einer übermenschlichen Macht durchdrungen. DieGottheit kann ihren anfänglichen Bruch nur dank der Kollabora-tion des Menschen heilen. Der gnostische Mensch wird zum Über-menschen.

Was die Macht dieses Übermenschen charakterisiert, ist derGlaube, daß man Erlösung durch Erkenntnis (Gnosis) des Myste-riums der Welt erlangt. Gegenüber den Hylikern, die ohne Hoff-nung auf Heil der Materie verhaftet bleiben, sind die Pneumatikerdie einzigen, die zur Wahrheit streben und folglich erlöst werdenkönnen. Die Gnosis ist nicht wie das Christentum eine Religion fürdie Sklaven, sondern eine Religion für die Herren. Der Gnostikerfühlt sich unwohl in einer Welt, die er als äußerlich und fremdempfindet, und entwickelt eine aristokratische Verachtung gegen-über den Massen, denen er vorwirft, die Negativität dieser Weltnicht zu erkennen; er wartet auf ein finales Ereignis, das denUmsturz dieser Welt herbeiführt, die Explosion, die regenerierendeKatastrophe.

Im Unterschied zur Masse der Sklaven begreift allein der gnosti-sche Übermensch, daß das Böse kein menschlicher Fehler ist,sondern die Folge eines göttlichen Komplotts, und daß die Erlö-sung nicht durch die Werke erfolgt, denn es gibt nichts, was er sichzu vergeben lassen hätte. Wenn die Welt das Reich des Bösen ist,muß der Gnostiker auch ihre stoffliche Natur hassen, das Fleischverachten und sogar die Fortpflanzungstätigkeit. Doch wer zurErkenntnis gelangt, ist gerettet und muß daher auch nicht mehr dieSünde fürchten. Im Gegenteil, für Karpokrates muß der Mensch,um sich aus der Tyrannei der Engel, der Herren des Kosmos, zubefreien, alle nur denkbaren Schandtaten begehen. Volle Erkennt-nis heißt auch Kenntnis des Bösen. In der Praktizierung des Bösenerniedrigt sich nur der Leib, der ohnehin zerstört werden muß,nicht aber die Seele, die bereits erlöst ist.

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