Connection Spirit 7/8-2013

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DAS MAGAZIN FÜRS WESENTLICHE Schweiz 16,80 sfr, übrige EU-Länder 9,40 € 07–08/2013 29. Jg. B 6128 www.connection.de Wachstum ohne Ende? Weiterwachsen oder einfach da sein. Die Welt in den Augen von Jean Ziegler, Ken Wilber, Helmut Creutz, Isaac Shapiro und anderen. Wie Frauen das sehen 9 Wachstum ohne Ende? Nein: Werde, der du bist!

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Wachstum ohne Ende? Nein: Werde, der du bist

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DAS MAGAZIN FÜRS WESENTLICHESchweiz 16,80 sfr, übrige EU-Länder 9,40 € 07–08/2013 29. Jg. B 6128

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Weiterwachsen oder einfach da sein. Die Welt in den Augen von Jean Ziegler, Ken Wilber, Helmut Creutz, Isaac Shapiro und anderen.

Wie Frauen das sehen

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Wachstum ohne Ende?Nein: Werde, der du bist!

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4 Juli-August 7-8/2013 · www.connection.de

JULI–AUGUST 7–8/2013

S. 14 – 17

Das Rad der Wiederkehr: Rhythmenkönnen unser Leben beschwingen,Zyklen wie die Jahreszeiten erfreuenund überraschen uns. Die Routinendes Rattenrennens und der Hamster -räder aber zermürben und führenmassenhaft zum Burnout. Der Sozial -wissenschaftler Rainer Spallek em pfiehlt den Ausstieg aus eisernenund goldenen Käfigen.

Integrale Praxis

S. 48 – 50, 52 – 56, 58 – 61

Im »Ken-Wilber-Jahr« 2013 bringen wirverstärkt Texte aus der und über die

Integrale Bewegung. Diesmal stellen sichStefan G. Meyer, Michael Habecker und

Torsten Brügge auf die Schultern des Mega-Genies und erklären von dort

aus: wirtschaftliche Selbständigkeit alsspirituelle Herausforderung; Psychologie als Wissenschaft, die die Innerlichkeit

rehabilitieren kann; Gefahrenzonen für den »nur« Meditierenden.

Wachstum ohne Ende?

Die Welt ist gespalten – heutenicht mehr in einen sozialis -

tischen und einen kapitalistischenTeil, sondern in die Befürworter

und Gegner endlos fortschreiten -den Wirtschaftswachstums. Neben

der »kreativen Zerstörung« sol -chen Wirtschaftens gibt es jedochauch positivere Seiten von Wachs -

tum: unser nicht endendesseelisches, geistiges, spirituelles

Wachstum; die Evolution desLebens auf der Erde; die Zyklen

des Werdens und Vergehens.

S. 18 – 51

Aussteigen aus dem Hamsterrad

Special: Konzert am Sa., den 3. August

mit Prem Joshua & Band

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3 Editorial

6 Rainer Malkowski über Das Altern

7 Hier & Jetzt: Die Kurzmeldungen

12 Devi, Strahlende – zwei Bildcollagen von Christina von Puttkamer illustrieren einen Textaus dem Vigyana Bhairava Tantra

14 Mut zum Anderssein. Rainer Spallek hat ihn – und empfiehlt den Ausstieg ausHamsterrädern und vergoldeten Käfigen

Schwerpunkt: Wachstum ohne Ende?

18 Werde, der du bist! Wolf Schneider versucht die Integration des Zyklischen mit demLinearen

22 Wachstum, Wachstum, über alles – Helmut Creutz, die graue Eminenz der Geldreformer,erklärt, wie es zu den Finanz- und Wirtschaftskrisen kommt

28 Atemloses Wachstum. Matthias Mala über das sich aufblähende Ego

32 Persönliches Wachstum mit Assistenz. Wolf Schneider sprach mit Isaac Shapiro über dieQualitäten von Freunden, die auf dem Weg helfen

36 »Wir« lassen sie verhungern. ReinO Kropfgans über Jean Zieglers Kritik amWeltwirtschaftssystem

39 Aus dem Chaos geboren. Bobby Langer kennt die Zeit zwischen zwei Ordnungen, indenen ein neues Universum entsteht

40 Lebensphasen. Maitreyi Piontek über Geburt, Jugend, Alter und Neubeginn im Lebeneiner Frau

44 Wachstum und Zyklen aus weiblicher Sicht. Eva Steinrücke, 87 Jahre alt, Mutter vonsechs Kindern, weiß um die Rhythmen des Lebens

46 Was ist natürliches Wachstum? Maria-Anne Gallen geht mit manchem schwanger undbrütet Ideen aus

48 Die spirituelle Kraft der Selbständigkeit hat Stephan Gerd Meyer erfahren – an sichselbst und als Coach

51 Der Ökonom Joseph Alois Schumpeter über Schöpferische Zerstörung

52 Aspekte einer Integralen Psychologie. Michael Habecker plädiert mit Ken Wilbers Vier-Quadranten-Modell für die Rehabilitierung der Innerlichkeit

57 Jiddu Krishnamurti über Achtsamkeit

58 Achtsamkeit ist nicht genug findet Torsten Brügge, denn Meditieren hebt dieVerdrängungsschranke auf

64 Die Scharlatane: Wolf Schneider über eine mystische Gruppe des Hochmittelalters

66 Der dokumentarische Film Die mit dem Bauch tanzen zeigt ein paar lebenslustigeFrauen in der Eifel. Die DVD Die Heiler – der Film präsentiert Geistheiler.

68 Bücher: von Charles Eisenstein, Manfred Lütz, Franz Wuketits und anderen

72 Leserbriefe zu (u.a.) »Wie es weitergeht …« (mit Connection)

78 Marktplatz

80 Veranstaltungskalender und Inserentenverzeichnis

82 Vorschau/Impressum

, Zeitschrift für Lebenskunst, Weisheit, Humor und ein integrales Verständnis des menschlichen Lebens. Erscheint alle zwei Monate mit einem starken Schwerpunkt. Gegründet1985, ist Connection Spirit die älteste transkonfessionelle spirituelle Zeitschrift auf deutsch.Fachmagazine über Tantra und Schamanismus aus demselben Verlag ergänzen sie.

I N H A LT

3.Saint Germain Kongress2013

saint-germain-kongress.de

„Du bist der Meister!“

Samstag und Sonntag, 28. und 29. Sept. 2013 10.00 bis 19.00 Uhr

OFFENE SEMINARE

DAS LEBEN, DIE LIEBE & ICH1. – 4.8.13 Tantra-Workshop für

junge Menschen von 16-26, mit Antje Uffmann& Christian Kirchmair, bei Ulm

DAS LEBEN, DIE LIEBE,ICH… UND DU!

29.8. – 1.9.13 Tantra-Workshop Teil IIfür junge Menschen von 16-26,

mit A. Uffmann und C. Kirchmair, bei Ulm

TANTRA-BODY6. – 8.9.13 mit Beatrix Rettenbacher

& Jens Hartwig, bei Ulm

LIEBE – DAS GROSSE TOR29.9. – 6.10.13 Tantra-Paargruppe

im Odenwald

TANTRA YOGA15. – 20.10.13 Kaschmirisches Tantra

mit Daniel Odier/Schweiz, bei Ulm

TANTRA-BODY8. – 10.11.13 bei Schwäbisch Hall

DER KREIS DER FRAUEN14. – 17.11.13 bei Schwäbisch Hall

Regina König und Hellwig Schinko

E R O S · L I E B EM E D I T A T I O N

Infos & Programm: ARUNA-Institut St. Nepomukstr.13 · 74673 MulfingenTel. 07936/6 21 · Fax 079 36/6 46

[email protected] www.aruna-tantra.de

- Ausgabe: 9.2013

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- Ausgabe: 11.2013

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GESELLSCHAFT

VON RAINER SPALLEK

»Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst zu sein an einekranke Gesellschaft«, sagte Jiddu Krishnamurti. Der SozialwissenschaftlerRainer Spallek fügt hinzu: Es könnte durchaus heilsam sein, nach einemunangepassten, eigenen Weg Ausschau zu halten, nach einem lebendigen,mineralienreichen Seitenstrom jenseits eines alles zermalmenden,schmutziggrauen Mainstreams. Es könnte heilsam sein, aufzubrechen und sich vertrauensvoll auf das Abenteuer Leben einzulassen

Mut zumAnderssein

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Kraft schöpfen in einer erschöpften Gesellschaft

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GESELLSCHAFT

geengt von Zielvorgaben, Zeitlimits, Schnel-ligkeit und Effektivität, ängstigt sich der Ei-lende vor Stillstand und Stille. Der gesell-schaftlichen Anerkennung wegen wollen dieso Rennenden perfekt und optimal funktio-nieren – in einem System, das sich vor Be-sinnung und Innehalten fürchten und ewi-gen Fortschritt fordern muss. Inneres Wachs-tum bedroht äußeres (Wirtschafts-)Wachs-tum.

Hamsterräder im Freiheitsgefängnis

Wer Fortschritt fordert, muss unentwegt fort-schreiten ... fort von sich selbst, doch wohin?Kein Ziel, kein Sinn ist erkennbar. In unse-rer Gesellschaft herrscht ein tiefer Sinnge-bungsgeiz: Mensch – werde unwesentlich!Man sollte glauben, dass dem modernenMenschen (homo sapiens sapiens: zweimalsapiens, der Wissende, wenn nicht Weise) ei-gentlich unter gar keinen Umständen seineigenes Dasein verborgen bleiben kann. Unddoch scheint dies der modernen, flüchtigenGesellschaft vorzüglich zu gelingen. Solan-ge wir unser Ende verdrängen, werden wiruns endlos mit ziemlich belanglosen Din-gen beschäftigen. Tod und Leben sind zweiSeiten derselben Medaille: Verdrängen wirdas eine, so verdrängen wir das andere. Ro-ger Willemsen spricht von »Sterbebettbil-dern«, die er sammeln möch te: »Ich will,wenn ich mal sterbe, den Nord pol vor mirsehen. Das wäre das Ende. Ein gutes.« Un-erfüllte Sehnsüchte werden am Ende vordem inneren Auge auftauchen – vierzig Jah-re Ackern am Arbeitsplatz, ein gutes Ar-beitszeugnis oder ein Lob des Chefs wer-den es dann nicht bringen. Freiheit! Dasgroße Wort der Freiheit wird von gesell-schaftlichen Repräsentanten gerne im Mun-de geführt, doch scheinen wir eher in einemFreiheits- und Wohlstandsgefängnis zu le-ben, in dem exklusiv für uns in jeder Zelleein verlockendes, weil vergoldetes Hamster -rad aufgestellt ist.

Körnerpickermentalität

Die Definition von Lebensqualität überlas-sen wir gerne den Experten. Diese wissenschon, was für uns richtig ist. Und so wissensie auch um ihre Macht und spielen sie ge-winnbringend aus. So machte mir vor kur -zem eine Versicherung »ein herzliches Treue-Angebot: Ich lade Sie, Herr Spallek, ein, un-serem Weg zu mehr Gelassenheit und Lebensqualität zu folgen. Wir haben für Sieein Paket geschnürt, mit dem Sie jetzt undin Zukunft bei unvorhergesehenen Ereig-nissen bestens abgesichert sind: Ihr Schlüs-sel zu mehr Lebensfreude! … Zögern Sienicht. Nutzen Sie Ihre Zeit für die wirklichwichtigen Dinge im Leben, sehr geehrterHerr Spallek …« Unsere Expertengläubig-

s war ein warmer Sommermorgenam Hauptbahnhof. Ein jungerMann, vermutlich alkoholisiert (wo-

her sollte sonst der Mut zum offenen Wi-derstand kommen?), ruft genervt der auf denZug wartenden und also den Arbeitstag er-wartenden Menge zu: »Seid ihr alle be-scheuert?! Worauf wartet ihr alle? Jeden Tagderselbe Scheiß! Fangt endlich an zu leben!«Das waren seine Worte und sie hallen nachin mir bis heute. Zugegeben, an der Wort-wahl könnte man noch ein bisschen arbei-ten, dann klingt es vielleicht so: »Das Leben,das ihr führt, verbirgt das Licht, das ihr seid«(Sri Aurobindo).

Aufschrei der Chefärzte

Wie stellt sich uns heute unsere moderne Ar-beitsgesellschaft dar? Laut Weltgesundheits -organisation WHO ist der berufliche Stress»eine der größten Gefahren im 21. Jahr-hundert«. Dem BKK Gesundheitsreport2011 (»Zukunft der Arbeit«) ist zu entneh-men, dass inzwischen psychische Störungenrund zwölf Prozent aller beruflichen Fehl-zeiten ausmachen. Demnach habe sich »derAnteil der psychischen Erkrankungen in denzurückliegenden dreißig Jahren praktischverdreifacht«. Zudem seien »seelische Lei-den mit einem Anteil von 38 Prozent die häu-figste Ursache für Frühverrentungen« ge-worden (Zeitmagazin-Beilage »Gesund imJob«, November 2012).Auf diese Entwicklung reagierten schon imJahr 2010 21 Chefärzte der Gruppe »Chef -ärzte humanistisch integrativer psychosoma -tischer Kliniken«, um ihrer »persönlichenBetroffenheit und Erschütterung Ausdruckzu geben«. In ihrem Aufruf warnen sie: »An-gesichts der vorherrschenden gesellschaftli -chen Orientierung an materiellen und äuße-ren Werten wird die Bedeutung des Sub-jektiven (differenzierte Betrachtung der in-neren Werte und der Sinnverbundenheit)dramatisch unterschätzt [...] Wir benötigenein politisches Handeln, das bei seinen Ent-scheidungen die Auswirkungen auf das sub-jektive Erleben und die psychosozialen Be-wältigungsmöglichkeiten der Betroffenenreflektiert und berücksichtigt. Wir benöti-gen mehr Herz für die Menschen …« (siehewww.psychosoziale-lage.de)

Unsichtbar wird der Wahnsinn …

Auf einer Zeltplane der Occupy-Bewegungbei der Kasseler documenta war ein ent-scheidendes Wort zur Erklärung unserer ge-sellschaftlichen Situation zu lesen: Gier. Nurwenige Meter entfernt las man das Plakat»Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn ergenügend große Ausmaße angenommenhat« (Bertolt Brecht). Mit dem Selbstmorddes früheren Torhüters von Hannover 96,Robert Enke, vor allem aber mit der großen

Finanzkrise und anhängenden Bankenkrä -chen und Rettungsroutinen (Wort des Jah -res 2012) wurden ernsthafte kritische Blickeauf den bislang unsichtbar gehaltenen Wirt-schafts- und Fortschrittswahnsinn geworfen– und die Leistungsgesellschaft generell hin-terfragt. Doch wie steht es nun um den einzelnenMen schen, der mit verstärkter Arbeitsver-dichtung und Multitaskinganforderungen zukämpfen hat, mit Überall- und Jederzeit-Er-reichbarkeit, mit unsicheren Arbeitsver-hältnissen und Überstunden, mit Perfektio-nismus- und Selbstoptimierungszwängen,mit Versagens-, Verlust-, Unterlegenheits-

und Existenzängsten? Er bleibt mit seinenBegrenzungen und Unzulänglichkeiten einHemmnis für ungezügelte Umsatz- und Ge-winnerwartungen. Immer weniger gelingt esihm in dieser O.k.-Gesellschaft geschmei-dig seine O.k.-Maske überzustreifen, im-mer häufiger geht er k.o. – nach einer rück-sichtslosen Übernahmeschlacht um seine Po-tentiale, Energien und Motivationen.

Lebenslauf und Existenz-Angst

Unsere Arbeitsgesellschaft ignoriert sub-jektive Wertvorstellungen, Befindlichkeiten,Verletzbarkeiten. Sie ist erfolgreich in demBemühen, einen Sinn des Seins jenseits derArbeitswelt als Illusion erscheinen zu lassen.Tatsächlich definieren Menschen in moder-nen Gesellschaften ihren Selbstwert fast aus-schließlich über ihren Arbeitsplatz. Ich ar-beite, also bin ich; ich arbeite nicht, wer binich dann überhaupt? Wer die Stationen sei-ner beruflichen Entwicklung Lebenslaufnennt, der muss in der Tat Existenz-Ängstehaben, sobald sein Arbeitsplatz bedroht ist. Solch ein Mensch glaubt womöglich auchKarriere machen zu müssen, um sein Lebenzu krönen – nicht ahnend, dass »Karriere«(von frz. carrière) ursprünglich »Rennbahn«bedeutete. Auf engen Bahnen rennend, ein-

In unserer Gesellschaft

herrscht ein tiefer

Sinngebungsgeiz:

Mensch –

werde unwesentlich!

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GESELLSCHAFT

keit droht uns, die wir doch genügend Ad-ler-Gene in uns tragen, zu hühnerhaftem Fe-dervieh zu reduzieren, das im Hühnerstallnach Körnern pickt.

Ratlose Professoren

Solche Körnerpickermentalität ist völlig un-abhängig von Bildung oder Intelligenz ei-nes Menschen. Vor Monaten arbeitete ichan einem Artikel über Arbeitsbedingun-gen von Akademikern an Hochschulen. Zu-vor erschien in Die Zeit ein großer Beitragüber die Burnout-Gefahr bei Professoren.Ein von mir befragter Hochschullehrer ver-sicherte mir: »Würde das auf einer Konfe-renz zum Thema gemacht werden, hättenplötzlich alle Wichtigeres zu tun.« Der Jena-er Soziologe Hartmut Rosa schreibt, dassder Effizenz- und Konkurrenzdruck an Uni-versitäten »zu extremem Raubbau an un-seren Körpern und Seelen« führe, und dasses Konsens sei unter den Kollegen, dass esin diesem Tempo nicht mehr weitergehe.Doch da ist kein Aufschrei zu hören und kei-ne Courage sichtbar, keine Revolte. Intelli-gente Menschen erweisen sich als schick-salsergeben, ängstlich und resignativ. Rosahält »eine individuelle Verweigerungsstra-tegie« für »überlebensnotwendig«.

Vom Mut, Nein zu sagen

Mutlose verbeamtete Professoren könnenlernen von mutigen, freiberuflichen Künst-lern. Stell dir vor, du seist ein bekannter,stark beschäftigter freiberuflicher Künstlerund bekämst den ultimativen Ritterschlag

angeboten: deine Teilnahme an der docu-menta! Mit eigenem Saal nur für deine Wer-ke und völliger autonomer Gestaltungsfrei -heit: Na, wäre das was? Und was machstdu? Du sagst ab. Der Kölner Künstler KaiAlthoff erhielt genau diese Einladung zurdocumenta 2012, doch ihm war bewusst, dass

bei der Vielzahl anderer Projekte ihm nichtdie nötige Zeit bliebe, um gute Ideen zuentwickeln und sie für die documenta um-zusetzen. So schrieb er einen Brief an die Ku-ratorin, entschuldigte sich und sagte ab we-gen zu vieler anderer Verpflichtungen. Erwürde auch niemandem von dieser Absage

erzählen. Eine sehr mutige Entscheidung!Und was macht die Kuratorin? Sie reagiertebenso mutig, humorvoll und souverän: Aufder documenta war nun ein großer, fast völ-lig leerer Saal zu bewundern, und irgendwoin diesem großen, leeren Raum stand einsameine Vitrine, in ihr der Brief mit der Absage.

Inneres Alarmsystem versagt

Der Mut zum Nein-Sagen: Warum tun wiruns so schwer? Erwartungsergeben nickenwir ab und bringen uns so in vermeidbareStress-Nöte. Lernen wir – als Individuum –denn nur aus persönlichen Katastrophen?Müssen wir erst zusammenbrechen, um auf-zubrechen? Und lernen wir – als Gesellschaft– denn nur aus Natur- oder technologischenKatastrophen? Muss es immer erst die Holz-hammermethode bringen? Beim Burnoutwird aus kleinen Unruhewellen nach undnach eine Riesenwelle, die uns davonzuspü -len droht. Was ist nur los mit unserem inne-ren Alarmsystem? Wir nehmen unsere in-nere Stimme, Befindlichkeit und Intuitionnicht mehr wahr. Wir haben uns zu weit vonuns entfernt, wir sind uns außer Sicht- undHörweite geraten.

Erfolgreich krank

Der Gestalttherapeut Fritz Perls sagt dazu:»Um den Sollanforderungen der Gesell-schaft zu entsprechen, lernen wir, unsere ei-genen Empfindungen und Bedürfnisse zumissachten.« Und die Schriftstellerin Chri-sta Wolf: »Entfremdung ist die Einsetzungdes Fremden in dir selbst«. Ich möchte er-gänzen: durch dich selbst. So verlieren wirdie Verbindung zu unserem inneren Wesenund leben das Leben der Anderen. Das tutweh, und früher oder später macht es krank.Die heute übliche Online-Existenz verstärktnoch die Orientierung nach außen und un-terbindet die Kommunikation nach innen.All das fördert die Angst vor dem Alleinsein,vor dem In-sich-Gehen, vor der Selbstbe-fragung. Mitunter sind wir virtuose Außen-darsteller, aber miserable Innenpolitiker, de-nen vor lauter Außenorientierung die Sou-veränität abhanden kommt. Verschafft sichdiese Leere in unserer Seele eines Tages Luftund ruft nach Hilfe, so warten wieder wei-tere Experten auf uns: u. a. »die Burnout-Kliniken, die Lazarette der Arbeitswelt.«Und diese sind, so Die Zeit vom 08. 07. 2010,voll mit Patienten »aus der« (kein Quatsch!)»erfolgreichen Mittelschicht.«

Angst und Widerstand

Ein Freund von mir war solch ein sehr gutverdienender Projektleiter für die Firma Sie-mens in Asien. Irgendwann wollte er nichtmehr und zog gerade noch rechtzeitig dieReiß leine. Seine Arbeit erschien ihm zuneh -

Wir leben in einem

Wohlstandsgefängnis,

in dem exklusiv für jeden

von uns in seiner Zelle ein

vergoldetes Hamsterrrad

aufgestellt ist

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Kann man vorankommen,indem man sich um

sich selbst dreht?

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GESELLSCHAFT

nen ihm zuliebe uns aufopfern, selbstopti-mieren und flexibilisieren, soviel wir wollen:Es ist nie genug und treibt uns vor lauter An-passungszwängen in die eigene Unkennt-lichkeit bis zum Verlust von Lebendigkeitund Lebensfreude. Nur wir selbst könnenuns vor ihm schützen. Man kann es auch soausdrücken: »Wer fleißig ist wie eine Biene,stark wie ein Stier, ackert wie ein Gaul undabends müde wie ein Hund ins Bett fällt,der sollte mal zum Tierarzt gehen: Vielleichtist er ja ein Kamel.« (anonym)Muhammad Ali wurde mal in einem Box-kampf in der zweiten Runde der Kiefer ge-brochen. Er schleppte sich bis zur 15. Run-de durch – und verlor. Warum schleppen wir,die wir weit weniger Geld zu verlieren ha-ben, uns über so endlos viele und quälendeRunden, obwohl wir spüren, dass Lust undKraft schwinden? Warum bevorzugen wirimmer das bekannte Unbehagen, statt ein-mal das Unbekannte zu wagen? Wieso lebenwir gegen uns an und ignorieren das so wun-derbare Geschenk des Lebens? Einsteinstellte uns einmal vor die Wahl: Du kannstso leben, als gäbe es keine Wunder. Dukannst aber auch so leben, als sei alles eineinziges Wunder.

Einsteinscher Rückenwind

Mit diesem Einsteinschen Rückenwind möch -te ich auf die Kraft eigenmächtiger Kün di -gungen hinweisen, wenn Lebens- und/oderArbeitsplatzbedingungen unerträglich wer-den. Ich kündigte zweimal als Angestellter– und einmal als Freiberufler mir selbst (undwerde das 2014 wieder tun). Ich tat es jeweilsfür ein halbes Jahr, ging hinaus in die Welt,leerte mich innerlich von beruflichen Zwän-gen und Alltagsroutinen, öffnete und fülltemich auf mit Erlebnissen, Begegnungen, Le -bendigkeit, Dankbarkeit und Liebe zum Le-ben. Und so kommen wir zum Schluss zu GünterNetzer. Der nämlich wechselte sich einmal– gegen den Willen seines großen TrainersHennes Weisweiler – in einem DFB-Pokal-finale selbst ein, stürmte von der Reserve-bank aufs Spielfeld und schoss ein grandio-ses Tor – ein Siegtor! Also: Der Ball ist rund,soviel ist klar. Und: Er muss ins Eckige, auchklar. Worauf warten wir noch?

mend sinnleer. Die Kluft zwischen dem Sinnseines Tuns und dem Energieaufwand dafürwurde unerträglich. Er kündigte, machte sichauf den Jakobsweg und kehrte inspiriert zu -rück. Ich lud ihn ein zu meinem Seminar »Be-rufliche Neu-Orientierung«. Hier bestätigtesich, was er vorher schon geahnt hatte. An -

schlie ßend besuchten wir eine Messe für Or-ganisationen, die in der Entwicklungszusam -menarbeit tätig sind. Seit zwei Jahren ar-beitet er nun bei World Vision. Sein vorhersehr gutes Einkommen hat er gegen einensehr guten Sinn eingetauscht. Der ganze ein-einhalbjährige Suchprozess war von Unsi-cherheit und Ängsten begleitet; zudem woll-

te seine Frau den Wandel nicht akzeptieren,sie fürchtete Armut und sozialen Absturz.Doch ging er seinen Weg und setzte sichdurch gegen die eigenen Ängste und die sei-ner Frau. Der innere, unbedingte Drang nachsinnvollem (Arbeits-)Leben war für ihn letzt-lich entscheidend.

Tut Muße!

Und es geht nicht nur um den Sinn meinesberuflichen Tuns; es geht auch um das rech-te Maß des Tuns. Es geht um konsequentesAbgrenzen zwischen Arbeits- und Freizeit,um ein Gleichgewicht zwischen Tun und Las-sen, Aktivität und Muße. Vielen Vielarbei-tern in unserer Gesellschaft möchte manzurufen: Tut Muße! Wie seltsam: Im NeuenTestament sagt Paulus: »Wer nicht arbeitet,soll auch nicht essen.« Und es heißt auch:»Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Bi-belsprüche, die bis heute hart wirken. Gottfände Gefallen an uns: Wir tun so aufgeklärt,doch hier benehmen wir uns wie eine Ge-sellschaft bibeltreuer Christen. Im Alten Te-stament ist unter »Sprüche« aber auch zulesen: »Besser ein trockener Bissen in Ruheals ein Haus voller Braten und Zank.« Be-zeichnend, dass dieser Satz weit wenigerbekannt ist. Unsere Gesellschaft scheint desteuren Bratens wegen alles andere links lie-gen zu lassen und dafür Erschöpfung und De-pression in Kauf zu nehmen.

Kamel und Kapitalismus

Wir sollten uns klarmachen, dass das System,der Kapitalismus, unersättlich ist. Wir kön-

Warum bevorzugen wir

immer das bekannte

Unbehagen, statt

einmal das Unbekannte

zu wagen?

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RAINER SPALLEK, Jg. 56,Sozial wissenschaftler, Ent -spannungspädagoge, Sugges -topäde, Betriebswirt, Semi -nar leiter (Wege zum Selbst,beruf liche Erfüllung, Bud dhis -mus, Interkulturelles Lernen),Referent (Reisen, Burnout,Meditation. Buddhistische

Psychologie), Dozent und Autor. www.lernen-und-leben, [email protected]

Der Autor verlässt dieTretmühle und ruht im Grünen

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WACHSTUM OHNE ENDE?

VON MATTHIAS MALA

Das Ego weiß so viele Wege, sich aufzublähen in seiner Nichtigkeit. Endlosweiterzuwachsen und unsterblich zu werden ist einer davon. Im Stillstand

jedoch wird es als Fiktion enttarnt, fällt in sich zusammen und gibt denWeg frei für das Absolute, Substanzielle, nicht mehr Flüchtige, Beliebige

AtemlosesWachstum

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WACHSTUM OHNE ENDE?

lerdings entwickelte sich die Religion nichtim gleichen Maße wie der technische Fort-schritt. Im Grunde herrscht seit Buddha, Lao Tse,Jesus, Mani und Mohammed spirituellerStillstand. Der heutige religiöse Mensch un-terscheidet sich kaum von dem des Mittel-alters. Sein zentrales Anliegen ist sein per-sönliches Seelenheil über den Tod hinaus ge-blieben. Ein spiritueller Impetus kann fürdas megalomane Streben nach Weltdurch-dringung und Weltbeherrschung nicht dieUrsache sein. Eher scheint unser vielfältigesEgo der kulturprägende Faktor überhauptzu sein. Es gehört zwingend zu unserer Ent-wicklung und formt sich etwa ab dem drit-ten Lebensjahr. Von da an erkennen wir unsselbst im Spiegel und meinen mit »ich« unsselbst.

Der Welt gegenüber stehen

Das sich dann allmählich verfestigendeSelbst bewusstsein entspricht der Vertrei-bung aus dem Paradies, denn wir sind vonnun an nicht mehr in und mit der Welt, son-dern beginnen, ihr gegenüber zu stehen. Wirsagen zu allem Du, was nicht wir selbst sind.Das ist der Beginn unserer sozialen und in-dividuellen Entwicklung. Alles, was wirkünf tig wahr-, auf- und annehmen, schöpfenwir aus der Differenz zwischen dem Ich unddem Du. Ist unser Ich zu Beginn nur ein fluk-tuierender Nukleus, so wächst es mit demEr leben seiner Umwelt und gewinnt dabeiStruktur und Festigkeit. Fortan ist das Duunverzichtbar für sein Sein. So rückt unsdas Ich in einen zwingenden Gegensatz zurWelt, womit wir auch in Konflikt zu ihr ge-raten – wir haben unsere paradiesische Un-schuld verloren. Unserem Sein steht stets einanderes Sein gegenüber, unser Wollen wirdstets von einem anderen Wollen begrenzt.Kinder leiden darunter sehr in ihrer Trotz-phase. Ein Prozess, der zudem für das ganzeweitere Leben prägend ist, erhält doch in die-ser Phase die Entwicklung der sozialen Kom-petenz des späteren Erwachsenen entschei-dende Impulse.Nebenbei bemerkt, aktuell wurde die Trotz-phase durch den neuen Katalog psychiatri-scher Diagnosen (DSM-5) als »plötzlichelaunenhafte Regulationsstörung« patholo-gisiert. Mal abwarten, wann in einem dernächsten psychiatrischen Diagnosehandbü -cher das Ego als eine krankhafte Erschei-nung behandelt und diese Behandlung überdie Krankenkassen abgerechnet werdenkann. Auch Krankheit ist ein Wachstums-markt.

Das sich aufblähende Ich

Zurück zur Hypertrophie, dem krankhaf-ten Wachstum. In der spirituellen Szene wirddas Ego unter Fortgeschrittenen schon gar

achstum ist normal und gesund.Jeder Keim will wachsen, das ent-spricht seiner Natur. In jedem

Keim tickt zugleich eine biologische Uhr.Nach einer gewissen Zeit stirbt jedes Lebe-wesen. Manchmal stirbt es an unbegrenztemWachstum, an Krebs. So ist auch das Endejedes Wachstums normal. Anders das Welt-all, nach derzeitigen Theorien dehnt es sichunendlich aus. Hierdurch wird es zwar nichtmehr, sondern nur weiter und verdünnt sichzusehends – bis es am Ende quasi leer seinwird, also dort angekommen, wo es begann:im Nichts.

Aufstieg und Niedergang

Nach der hinduistischen Lehre von der Welt -ent stehung wiederholt sich dieser Ablauf fürimmer und ewig. Nach dieser Lehre führtWachs tum zu nichts außer zu Wandlung. Al-lerdings sind derart überirdische Wachs-tumsbetrachtungen unerheblich für die Pro-bleme, die alle Formen menschengemach-ten Wachstums mit sich bringen. Doch auchdiese Wachstumszyklen enden irgendwann,und ihr Ende ist für die betroffenen Menschenstets katastrophal: Dem Beginn des nächs tenZyklus geht ein allgemeiner Niedergang vo r - aus, der in einem verheerenden Zusammen -bruch endet. Auch das ist beinahe ein Na-turgesetz, denn obwohl bislang jede Gene-ration mehrmals in ihrem Leben solche Ka-tastrophen durchlief, hat offensichtlich nochkeine daraus gelernt. Erinnern wir uns nuran den letzten globalen Niedergang, demPlatzen der Spekulationsblasen und dem Be-ginn der Finanzkrise 2007. Seitdem wird dendaraus resultierenden Folgen mit einemschul denfinanzierten Wachstum getrotzt,worauf nur das Menetekel eines noch gigan -tischeren Crashs an der Wand aufscheint.Gleichzeitig verheizt das aufgeblähte Wachs-tum noch mehr Ressourcen, weshalb nebenden ökonomischen auch die ökologischenProbleme anwachsen.

Kleine und große Zyklen

Zu wachsen, um zu kollabieren, ist offensicht -lich eine unvermeidliche Abfolge, ein Kenn-zeichen der lebendigen Natur. Wir Menschenallerdings wollen uns darein nicht fügen. Wirglauben, in das Rad greifen, die Folge ver-langsamen oder die Entwicklung gar ganzhemmen zu können. Schließlich erleben wir,wie die Natur das Wachstum durch Ausge-wogenheit und Vielfalt begrenzt und sichhierdurch ihr Gleichgewicht bewahrt. Al-lerdings ist dies nur ein sehr menschlicher,ein Lebensalter umfassender Blick. Über-schauen wir hingegen Jahrhunderte undJahrtausende, zeigt sich die Natur in stetemWandel. So waren beispielsweise die Alpenvor 7000 Jahren eisfrei und die Sahara einegrüne Savanne. Doch im Gegensatz zu dem

allmählichen und lebenserhaltenden natür-lichen Rhythmus erkennen wir, dass uns un-ser derzeitiges Wachstum alsbald in den Ab-grund führen wird. Geht es so weiter wie bis-her, werden wir in wenigen Generationenauch die letzten Ressourcen verbraucht ha-ben.

Ein- und Ausatmen

Unserem Verhalten fehlt offensichtlich dernatürliche Atem, das Wogen von Werdenund Vergehen. Wir holen ständig nur Luft,atmen aber nicht mehr aus. Immer nur Ein-atmen führt jedoch ganz schnell zum Kol-

laps. Wir haben das Ausatmen verlernt. Bli -cken wir auf unsere Geschichte, müssen wirsogar feststellen, dass wir es noch nie er-lernt haben. Die Parole menschlichen Handelns lautetevon der Steinzeit bis heute: Mehr und mehrund immer noch mehr! Wachstum ohne En-de. Mit dem Unterschied, dass sich um Chri-sti Geburt und auch noch im darauffolgen-den Jahrtausend gleichbleibend rund 300Millionen Menschen weltweit auf dem Glo-bus verteilten. Damals war unser Strebennach immer mehr zwar individuell längst pro-blematisch, aber nicht in globaler Hinsicht.Erst der medizinische und technische Fort-schritt der Moderne ermöglichte den Anstiegder Weltbevölkerung auf mittlerweile siebenMilliarden Menschen.

2.500 Jahre spiritueller Stillstand

Was treibt uns Menschen derart an, dass wiruns alsbald selbst den Garaus machen? Istes womöglich das Wissen um unsere Endlich -keit und unser einfältiger Wunsch, sie zuüber winden? Das kann es nicht sein, meineich. Schließlich haben wir hierfür mit der Re-ligion einen probaten Trost gefunden. Al-

Zu wachsen, um zu

kollabieren, ist

offensichtlich eine

unvermeidliche Abfolge

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30 Juli-August 7-8/2013 · www.connection.de

WACHSTUM OHNE ENDE?

nicht mehr pathologisiert, sondern nur nochals Trugbild oder Irrwitz abgetan, denn ge-rade das Ego-Bashing ist der beste Weg, seinEgo zu verfestigen. Ein Ego, das nur einWitz oder Trugbild ist, muss nicht mehr hin-terfragt werden. Doch ehe es soweit kommt,sammelt das Ego fleißig Selbsterkenntnisund bläht sich dabei immer selbstbewuss -ter auf. So weit, dass ihm der Raum in sichselbst nicht mehr genügt, und es beginnt,sich in anderen Egos zu manifestieren undzu spiegeln. Es wächst über sich hinaus.Dieser Vorgang hat etwas mit der grundle-genden Konstruktion des Egos zu tun. Dennes ist eine Fiktion, die materielle Wirklich-keiten schafft. Wir werden zwar mit zehnFingern, aber noch ohne ein Ich geboren.Das Ich wächst uns vielmehr zu, verankertsich dabei in verschiedenen Arealen des Ge-hirns, verknüpft sich dort mit unseren Sin-nen, Emotionen, Erinnerungen, Talenten,Visionen sowie mit unserem Charakter undunserem Wissen und Wollen. Diese ego-zentrierten Verbindungen sind unbestreit-bar eine materielle Wirklichkeit. Zudemempfinden wir unser Ego mehr als unserenKörper als unser wesenhaftes Selbst, wes-

halb die meisten Religionen ein nachtodli-ches Leben der Person verkünden.

Das Ego als Fiktion

Das Fiktive am Ego basiert einerseits auf sei-ner materiellen Fragmentierung – schließ -lich gibt es kein abgrenzbares Ich-Areal inunserem Gehirn –, andererseits aber auchauf seiner Flüchtigkeit und Wandelbarkeit.Wir sind, wenn wir am Morgen aufstehen,im Grunde nicht mehr derselbe, der amAbend zuvor zu Bett gegangen ist. Wem daszu theoretisch ist, mag mir immerhin viel-leicht zustimmen, dass er mit der Person, die

er vor einem Jahrzehnt gewesen ist, nur nochwenig gemein hat. Durch Erfahrung und so-ziokulturellen Einfluss verändert sich unserIch ständig. Es ist zudem sehr flüchtig: Schla-fend ist es meist abwesend; narkotisiert gänz-lich stillgelegt; psychisch erkrankt ist es sichselbst entfremdet, und nach einem schwerenHirnschaden oder bei fortschreitender De-menz kaum mehr zu erkennen. Es genügeneinige Milligramm einer psychotropen Sub-stanz, um es gründlich zu verwirren odergar vorübergehend völlig aufzulösen.

Das rastlose Ego

Die Aufteilung in Ich und Ego macht Sinn,wenn wir das Ich als die Summe unserer Er-fahrungen und das Ego als den Kern desBeobachters seiner selbst verstehen. In spi-rituellen Kreisen spricht man dazu gernevom höheren Selbst, und meint damit unteranderem den sich reinkarnierenden Wesens -kern. Dabei beschreibt diese Sicht nur die psy-chische Ichkonstruktion des inneren Beob -achters und seiner diversen Persönlichkeits-anteile. Sigmund Freud richtete hierfür dreiKategorien des Egos ein: Es, Ich und Über -ich; mit Schwerpunkt auf dem Es, dem Un-

bewussten. Das ist eine effektive, westlichindi vidualistische Sicht. In östlichen Kultu-ren, die eher kollektivistisch ausgerichtetsind, ist das Überich deutlich gewichtigerals das Es, wobei das Ego dann als nochflüchtiger, noch weniger mächtig empfundenwird. In Ost wie West bleibt das Ego flüchtig, un-wesenhaft, fiktiv. Nur in der Aktion erfährtes vorübergehend Konstanz, deshalb ist esnicht substanziell, sondern akzidentiell, al-so unwesentlich. Es ist das zum Wesen Hin-zugekommene. Es ist die Person, die Maske,die den Menschen prägt und individualisiert. Das Ego ist wie das Laubwerk, das einenBaum ausmacht, aber selbst nicht der Baumist. Jeden Herbst fällt es vom Baum ab undentsteht im nächsten Frühjahr erneut. Soauch das Ich. Es wandelt sich über die Zeitund verliert sich schließlich. Es ist nur prä-sent, solange es sich bewegt. Bewegt es sichnicht, etwa im Tiefschlaf oder in meditati-ver Versenkung, scheint es gar nicht da zusein. Auch wenn wir nicht denken und unsnicht kontrollieren, ist es nicht da. Ein in-aktives Ich gibt es also gar nicht! Unsere Per-son verschwindet in diesen stillen Spannendes Lebens für eine Weile aus unseren Au-gen und Gedanken. Deshalb versichert sichunser Ich seiner selbst stets in rascher Re-aktion auf sein Verblassen durch erneute Be-wegung.

Spuren im Schnee

Das Ich will sich selbst erhalten. Sein Über-lebenswille entspricht unserem Selbsterhal-tungstrieb. Doch anders als unsere Leib-lichkeit, die sich durch die Libido erhältund selbst in vollkommener Entspannungbestehen bleibt, muss das Ich, um seine Prä-senz zu bewahren, in rastloser Bewegungbleiben. Es muss Gedanken wälzen, tätigsein, Zielen zustreben und stets neue Er-fahrungen sammeln, um hierdurch alte Er-fahrungen zu festigen oder umzuschichten.Vor allem aber muss es Spuren hinterlassenund Zeichen setzen. Eine Manifestation sei-ner selbst, egal ob als Graffiti oder frischeSpur im Schnee, ist ein Zeugnis unzweifel-hafter Wirklichkeit – die Fiktion wird zumFakt.

Meins!

Dauerhafter und stabiler sind jedoch die ma-teriellen Werte, die wir um uns scharen. AlsKind sind es Spielsachen, erwachsen gewor-den ist es Geld und Gut. Vor allem beweistsich das Ich dann mit seiner ganzen Kraft,wenn es mehr als andere besitzt. Das größe-re Auto, das schönere Grundstück, die teu-rere Kleidung, der luxuriösere Urlaub, alldas sind Merkmale, die das eigene Ich auchin den Augen der Mitmenschen bedeuten-der und somit für sich selbst stabiler machen.

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Das Ego als

psychiatrische Störung?

Auch Krankheit ist ein

Wachstumsmarkt

Wer bin ich? Ich, Ego oder …höheres Selbst?

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www.connection.de · Juli-August 7-8/2013 31

WACHSTUM OHNE ENDE?

werden. Das Hinzugekommene würde sichin unnennbarer Tatsächlichkeit lösen, esfie le zurück ins Absolute, ins »Ich bin, derich bin«. Der Weg dorthin bleibt allerdings, wie so oft,ein Pfad in einem pfadlosen Land. Es gibtkein spirituelles Ziel, auf das ein Ich je wei-sen oder das es je erreichen könnte. Die Lö-sung liegt in keinem Plan, sondern allein inunserer ungelenkten Aufmerksamkeit. Dennwerden wir uns unseres megalomanen undhypertrophen Strebens bewusst, werden wirunsere egomanische Weiterung im Materi-ellen wie im Spirituellen von selbst aufge-ben. Dann erst können wir ohne Angst aus-atmen, weil das Einatmen dem wahren Eros,der Liebe zur Schöpfung gilt. Das Flüchtigebelebt uns, Liebe durchweht uns. Und weilsie nicht gehalten werden kann, atmen wirwieder aus, um Atem zu holen. – Das Wachs-tum hat ein Ende.

Ja, es verbindet sich mit dem Besitz. Wir er-fahren Freude und Stolz, wenn er sich mehrt,und erleiden Trauer und Schmerz, wenn eruns abhandenkommt. Ein Angriff auf unserHab und Gut wird so zu einem Angriff aufuns selbst.

Das Machtstreben des Ich

Das Ich wächst mit seiner Habe. Mit ihmwach sen Selbstwertgefühl, Selbstgewissheit,Ausstrahlung und Habitus. Der Reiche giltmehr als der Arme. Er wird zum Vorbild,denn er verkörpert Macht. Macht aber ist dieEssenz, die ein Ich absolut beweist und des-halb beinahe unerschütterlich fundiert.Mäch tige Menschen, seien es Könige oderWeltenlehrer, bleiben über Jahrtausende inErinnerung. Ein solches Ich muss in der Tatunsterblich sein. Demzufolge strebt jedes Ichnach Macht, und wenn es nur die billigeMacht über das eigene Kind oder den Hundist. Ein Ich, das einem anderen Ich vorschrei -ben kann, was es tun und lassen darf, durch-lebt göttliche Wonnen, denn es wirkt übersich hinaus, indem es ein Mitgeschöpf formt.Es wird zum Schöpfer, dessen Spuren nichtmehr nur im Schnee, sondern im Wesen ei-nes anderen Menschen erkennbar werden.

Unsterblich werden im Nächsten

Edler, doch nicht minder wachstumsintensivist die subtile Macht der Mentorenschaft. Vorallem Männer schätzen sie für ihr Ego, dennsie gleicht ein wenig einer jungfräulichen Ge-burt. Der Ziehsohn, dem eigenen Geist nach-geformt und aus ihm angeleitet, wird zumgeistigen Klon. Ein sich derart multiplizie-rendes Ich hat seine Akzidenz, seinen An-schein, verloren, es ist scheinbar Substanzgeworden. Kaum etwas ist befriedigender für einen Mei-ster, als wenn sein Schüler – später selbst zumMeister geworden – sich auf ihn beruft. Esist Fortleben in seiner besten Form. Ein sol-ches Ego kristallisiert durch Selbsterhöhung. Und dennoch, auch ein solchermaßen aus-gehärtetes Ego muss weiter wachsen, wei-ter an Macht und Einfluss gewinnen. Es darferst recht nicht rasten, denn ein Sturz in sei-ne Nichtigkeit könnte tödlich enden. Es musssich seine Eigenständigkeit fortwährend be-weisen, indem es sich selbst memoriert undanhaltend missioniert. Alle diese Formen, sein Ich zu stabilisieren,indem man es auf materielle oder ideelleWeise bindet und so vermeintlich multipli-ziert, gehören zu den Triebkräften einesmaßlosen Wachstums. Ein Wachstum, dasvon Honoratioren zwar in Sonntagsredenverteufelt, doch im politischen Alltag als al-ternativlos mystifiziert und weiter beschleu-nigt wird. Es ist das kollektive Ego, das soin libidinöser Manier und überspitzter Be-

wegung seinem Todestrieb frönt, um letzt-lich an sich selbst zu ersticken. Da darf keinAusatmen mehr sein, denn jede Unterbre-chung könnte die Substanzlosigkeit des Egosoffenbaren und damit einen Stillstand er-zwingen, in dem sich das Ich verliert, alsbloßer Schein enttarnt, wie ein Blatt, das vomHerbstwind verweht wird.

Ins Paradies hineinwachsen

Stellen wir uns darum zum Schluss die Fra-ge, wie das Ich nicht nur im negativen, son-dern auch im positiven Sinn über sich hin-auswachsen kann. Das entspräche dann derwahren Transzendenz seiner selbst. Das Blattwürde zum Baum, zur zeitlosen Substanz

Ein inaktives Ich gibt

es nicht. In den stillen

Spannen unseres

Lebens verschwindet

das Ego –

für eine Weile

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MATTHIAS MALA, Jg. 1950,Handelsfachwirt, seit 1977freiberuflicher Künstler, seit1986 überwiegend Schrift -steller. Mitglied im Verbanddeutscher Schriftsteller VSund im Internationalen PEN-Club. Mehr als 80 Bücher vonihm wurden verlegt. Verhei ra -

tet, Großvater einer bezaubernden Enkelin.www.mala.eu

Still sein.Einfach da sein

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44 Juli-August 7-8/2013 · www.connection.de

WACHSTUM OHNE ENDE?

at er uns wirklich alle schon, derWachstumswahn? Nein! Meine tür-kische Zugehfrau und ich, wir sind

da anders. Beim morgendlichen Kaffee-Plausch ist uns beiden klar: Wir sind dieNach haltigen. Wir lassen nichts umkommenund laufen dem Geschrei nach »neu, neu,neu« und »mehr, mehr, mehr« nicht hinter-her. Wir verwenden wieder, geben weiter,lassen zirkulieren. Offenbar ist unsere Ener -gie die weibliche, die bewegt sich im Kreis.VON EVA STEINRÜCKE

Was wächst, das muss auch wieder eingehen, was geborenwird, sterben. Was zu groß wird, muss gesundschrumpfen.

Dieses Wissen ist uns Frauen eingegeben im Körper, viel mehr als den Männern, sagt hiereine weise alte Frau von 87 Jahren

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HWachstum oder Wachstumswahn?

Wachstum und Zyklenaus weiblicher Sicht

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www.connection.de · Juli-August 7-8/2013 45

WACHSTUM OHNE ENDE?

In den Medien allenthalben dringt es durch,dass Frauen im Management in leitenden Po-sitionen das Rundum-Denken verwendenund auch anderes mit einbeziehen. Sie ar-beiten vielleicht etwas langsamer, dafür ef-fizienter. Sie jagen nicht mit hängender Zun-ge einem linearen Ziel hinterher, wobei manviel Schaden anrichten kann.

Erdbewusstsein

Wieviel schneller hat die Frauenintelligenzsich das Zielstrebige aneignen können, alssich das männliche Denken zu verlangsamenvermag! Es braucht noch viel Erdbewusst-sein der Frauen, die abgeschossene Rakete»Wachstum«, die über unsere Köpfe hin-auszuschießen droht, wieder zu bremsen.Was wollen wir auf dem Mars, was sollendie Raketen, die Wahnsinns-Wolkenkratzer?Macht denn diese Gigantomanie Frauen undKinder glücklich? Lasst uns mehr Freude imBewahren finden, in der Dankbarkeit fürdas, was da ist.

Die Spirale

Für mich ist die Spirale eine Urform derNatur. Sie zeigt sich in Schneckenhäusernund im Pflanzenwachstum, sie ist die idealeVerbin dung von männlich und weiblich. Sieist eine Kreisbewegung, die sich zugleich li-near fortbewegt. Sie führt sowohl zu Ent-wicklung wie zu Wachstum, ohne dabei aus-einander zu driften. Ich erlebe das in meinem langen Leben nunganz deutlich. Immer wieder komme ich anden Knotenpunkten vorbei, an Schwierig-keiten, die ich schon kenne. Aber jedes Malblicke ich dabei ein bisschen tiefer in das Pro-blem hinein und merke dann, dass ich micheine Stufe höher befinde, eine Runde wei-ter auf der Spirale. Möge das auch der Menschheit so gelingen.

Das haben wir den Männern voraus, die im-mer höher hinaus wollen, immer besser,schnel ler, weiter, die zielgerichtet denken undhandeln können und dabei von der Erdeab heben, die da am liebsten abdüsen wol-len bis zum Mond. Bei alledem, was Männer so gut können, sindsie aber auch zu bedauern, denn ihnen ist esnicht gegeben, das Abenteuer der Geburt zubestehen. Durch den Körper der Frauen,durch die Mühen der Schwangerschaft und

Geburt entsteht ein lebendiges, eigenstän-diges Geschöpf, ein Geschenk an das Leben.Das ist selbst einem Bildhauer nicht möglich,und auch keinem anderen Künstler, Ingeni-eur oder Forscher. Wahrscheinlich ist das derGrund für die irre Jagd der Männer nach demKick, nach dem Grandiosen, Einmaligen.

Der Monatsrhythmus

Wir sind es gewohnt, uns dem Rhythmus derWiederholung im monatlichen Geschehender Menstruation zu überlassen. Meist ge-lingt das ohne Wenn und Aber, wie bei et-was Selbstverständlichem. Auch beim Ge-bären und Aufziehen der Kinder erfahrenwir die Kraft der Natur, des einfachen, natür-lichen Daseins – mal schmerzlich, mal freu-dig – vertrauen ihr und dem, wie sich allesnatürlich regelt. Diese Erneuerung, die uns da alle vier Wo-chen abverlangt wird, verhindert manchesÜber schnappen. Das Leben geht in Wellen,wir Frauen »wissen« das mit dem Körper.Auch, dass alles wieder gesundschrumpfenmuss, um zum Kompost für eine neue Ebe-ne zu werden. Denn Erneuerung ist etwasanderes – es ist nicht das unendliche Wachs-tum, hinauf zu den Höhen des Größenwahnsund der darauffolgenden Zerstörung.

Der Kreis

Auch Entwicklung im wortwörtlichen Sin-ne bewegt sich kreisförmig: Ich wickle et-was aus, lege es frei und stoße dabei womög-lich auf Wunder. In der Kreisbewegung desweiblichen Zyklus erlebe ich durch die Wie-derholung neue Erfahrungen, neue Sicht-weisen, bewussten Umgang, Vertrauen in dieWie derkehr im Bekannten und Hoffnung aufeine neue Chance. Ich weiß, wovon ich rede; ich habe sechs Kin-der geboren und aufgezogen. Für mich undmeinen Körper war das genug. Mein Mannhätte gerne noch weiter gemacht, womög-lich, um seine Potenz zu beweisen – typischmännlich. Meine Aufgabe war, dafür zu sorgen, dasswir alle immer wieder in der Runde um denEsstisch zusammenkamen, dass es Raumzum Leben gab – früher mal war das im Ti-pi oder in der Höhle.

Männer und Frauen

Nun schaue ich mit 87 Jahren auf meine En-kel und frage mich, ob diese kleinen Männerin der Lage sein werden, die Welt menschli-cher zu gestalten und mehr Weiblichkeit zu-zulassen, in gemeinsamer Sache für das Wohlaller. Ich jedenfalls freue mich immer wie-der, wenn ich junge Väter erlebe, die ihr Ba -by vor sich auf der Brust tragen oder denKin derwagen schieben.

Unsere Energie ist

die weibliche,

sie bewegt sich

im Kreis

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EVA STEINRÜCKE, geb. 1926,lebt in Widdersdorf beiKöln. Ihre Kinder und Enkelleben in Europa und [email protected]

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