Das Marinesco-Sjögren-Syndrom: spinocerebellare Ataxie mit Katarakt und Oligophrenie

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Zeitschrift f/ir Kinderheilkunde 87, 348--355 (1962) Aus der Universit~ts-Kinderklinik der Charit6, Berlin (Direktor: Prof. Dr. J. DIECK/-IOFF) Das Marinesco- SjSgren- Syndrom: spinocerebellare Ataxie mit Katarakt und 01igophrenie Von K~Aus Mt3LLER (Eingegangen am 21. August 1962) Literaturiibersicht Die Kombination von angeborener Katarakt und Schwachsinn mit spino- cerebellarer Ataxie gilt als ~uBerst selten. Bisher sind aus Europa und Nordamerika 29 Beobachtungen mitgeteilt worden. In der deutsehsprachigen Literatur konnten wit -- abgesehen yon der Erw~h- nung des Syndroms bei LEI]~]~ u. OL]~RIC~ - - keine Hinweise finden. MA~INESCO, D}CAG]~V, SCO U. VASILIU (1931) ver6ffentlichten nach bereits 1928 in einer medizinisehen Gesel]schafterstattetem Vorbericht ihre Bcobachtungen fiber vier Geschwister (drei M~idchen und einen Knaben), die an einer gleichartigen Erkrankung mit Linsentrfibungen, Schwachsinn und ataktischen Erscheinungen litten. SJSG}CE~ (1950) h~tte 1947 zwei Kc~nke mit demselben Symptomen- komplex beschrieben und konnte sparer dig Ergebnisse seiner umfang- reichen Nachforschungen in schwedischen Asylen und Blindenpflege- heimen vorlegen. Er land insgesamt 14 Kranke, die aus 6 Familien yon 3 Sippen stammten. 8 Patienten gehSrten zu 3 Familien aus der ersten Linie, 4 Patienten zu 2 Familien der zweiten Linie und 2 Patienten zu einer F~milie der dritten Linie. RIC~A~DS (1950) beobachtete in England ein Ms yon 111/2 Jah- ren und einen 39j/ihrigen Mann mit i~hnlichen St6rungen ohne famili~re ]~elastung. GARLANDU. MOO~HOVSE (1953) untersuehten zwei Geschwisterkinder (28j~hrigen Mann, 25js Frau), die sie schon 20 Jahre zuvor gesehen hatten. FI~AI~CESCI-IETTI, M~-~Tu 11.KLEII~ (1956) sahen in der Schweiz einen 4j&hrigen Jungen mit den entsprechenden Erscheinungen und schlugen die Bezeichnung .Marinesco-Sj6gren-Syndrom" (M.-S.-Syndrom) vor. MAc GILLIVl~Au (1957) berichtete aus USA fiber zwei Geschwister (15ji~hrigen Jungen, 17j~hriges M/~dchen), die ebenfalls die zu er5rternde Symptomatik aufwiesen.

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Zeitschrift f/ir Kinderheilkunde 87, 348--355 (1962)

Aus der Universit~ts-Kinderklinik der Charit6, Berlin (Direktor: Prof. Dr. J. DIECK/-IOFF)

Das Marinesco- SjSgren- Syndrom: spinocerebellare Ataxie mit Katarakt und 01igophrenie

Von

K~Aus Mt3LLER

(Eingegangen am 21. August 1962)

Literaturiibersicht

Die Kombination von angeborener Katarakt und Schwachsinn mit spino- cerebellarer Ataxie gilt als ~uBerst selten. Bisher sind aus Europa und Nordamerika 29 Beobachtungen mitgeteilt worden.

In der deutsehsprachigen Literatur konnten wit - - abgesehen yon der Erw~h- nung des Syndroms bei LEI]~]~ u. OL]~RIC~ - - keine Hinweise finden.

MA~INESCO, D}CAG]~V, SCO U. VASILIU (1931) ver6ffentlichten nach bereits 1928 in einer medizinisehen Gesel]schafterstattetem Vorbericht ihre Bcobachtungen fiber vier Geschwister (drei M~idchen und einen Knaben), die an einer gleichartigen Erkrankung mit Linsentrfibungen, Schwachsinn und ataktischen Erscheinungen litten.

SJSG}CE~ (1950) h~tte 1947 zwei Kc~nke mit demselben Symptomen- komplex beschrieben und konnte sparer dig Ergebnisse seiner umfang- reichen Nachforschungen in schwedischen Asylen und Blindenpflege- heimen vorlegen. Er land insgesamt 14 Kranke, die aus 6 Familien yon 3 Sippen stammten. 8 Patienten gehSrten zu 3 Familien aus der ersten Linie, 4 Patienten zu 2 Familien der zweiten Linie und 2 Patienten zu einer F~milie der dritten Linie.

RIC~A~DS (1950) beobachtete in England ein Ms yon 111/2 Jah- ren und einen 39j/ihrigen Mann mit i~hnlichen St6rungen ohne famili~re ]~elastung.

GARLAND U. MOO~HOVSE (1953) untersuehten zwei Geschwisterkinder (28j~hrigen Mann, 25js Frau), die sie schon 20 Jahre zuvor gesehen hatten.

FI~AI~CESCI-IETTI, M~-~Tu 11. KLEII~ (1956) sahen in der Schweiz einen 4j&hrigen Jungen mit den entsprechenden Erscheinungen und schlugen die Bezeichnung .Marinesco-Sj6gren-Syndrom" (M.-S.-Syndrom) vor.

MAc GILLIVl~Au (1957) berichtete aus USA fiber zwei Geschwister (15ji~hrigen Jungen, 17j~hriges M/~dchen), die ebenfalls die zu er5rternde Symptomatik aufwiesen.

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Das Marinesco - S] 6gren- Syndrom 349

I)UREUX, CORDIE:a, ZIZA U. TlClDON (1958) demons t r ie r ten vor der Neurologisehen Gesellschaft in Paris eine 34jahrige F r a u mi t typ ischn Ersehe inungen ohne familiare Belastung.

AMYOT (1960) beschrieb aus K ~ n a d a drei Schwestern (44, 50 u n d 59 Jahre a]t); eine weitere Sehwester ha t t e wahrscheinlich ~hnliehe Symptome n n d starb erbl indet in einer psychiatr ischen Pflegeansta]t.

Die Beobaehtungen yon CORDI~ u. DE LAEY sowie I)ECOCK u. MAC]KEN sind sieher nieht zum Formenkreis des Syndroms zu rechnen. Auch die ZugehSrigkeit der 16j/~hrigen Kranken yon GVRSDO~F, I-I~cAEN U. NAU-MASSO:NET wird trotz er- heblicher fami]i~irer Belastungen mit Katarakt, Schwachsinn und cerebellaren ats- rungen verschiedener Auspr~gung yon mehreren anderen Autoren bestritten. Au[ der Tiirkei erschienen schliel~lich Ax'beiten yon DvRus]K]~:~ sowie DOGULV u. MVLTg, die uns leider abet nicht erreichbar waren.

Eigene Beobachtungen 1. Ingo Ti., geb. 10.3. 1960 (Ka'bl. Nr. 78/62). [J'ber die Familie und Sippe konnte

nichts in Erfahrung gebracht werden, well das Kind in einem Heim aufw~chst. Wahrschei~flich wurde es termingerecht und ohne Komplikationen geboren. Schon als SSmgling soll das Kind sich aber stark verz6gert entwickelt haben, a13 schlecht, neigte znr Verstopfung. Bereits im 9. Lebensmonat erfo|gten wegen angeborener Katarakt beiderseits Quellungsdiscisionen.

Bei der s tat ion/ i ren Aufnahme in unsere Kl in ik im Alter yon 1,10

J a h r e n ergab sich folgender Befund:

Neurologiseh. Hirnnerven: Bei Linsentriibungen rechts starker als links beider- seits ziemlich weite, leicht entrundete Pupillen mit schwachen Lichtreaktionen, Strabismus convergens alternans, beiderseits irregul~irer grobschl~giger Horizontal- nystagmus.

Motoris Hypotonus der Muskulatur mit I)berstreckbarkeit der Gelenke, zeit- weise Bajonettstellung der Finger, keine eindeutigen Paresen; mot0risehe Unruhe mit grob ausfalu'enden Bewegungen der Extremitgten, Rumpfataxie beim Sitzen, fehlende Stehreaktion, Laufen nieht mSglieh, kein Kopfheben in Bauchlage.

Re]lexe: Sehnen- und Periostreflexe an den Armen nicht auslSsbar, BDR nieht sieher auszul6sen, physiologisehe tleinreflexe mgBig lebhaft, keine Kloni, Babinski nnd tibrige Pyramidenbahnzeichen negativ.

Psychiseh. In seinem Verhalten erschien das Kind bei freundlicher Grundstim- mung wenig kontaktf~hig und kamn einstellbar. Es fixierte ziemlieh ausdauernd die reehte oder linke Hand, wobei es stereotype Bewegungen in einzeinen Finger- gelenken (meist Daumen- oder Zeigefingergrundgelenk) ausfiihrte. I-Ii~ufig wurden Finger iiberkreuzt oder gegeneinander gedriiekt; aueh das digito-oeulgre Phanomen war ausgepr/~gt. Es bestanden erhebliehe orale Automatismen mit Sehnalzen und Fingerlutschen. Spraehliehe ]4ugerungen fehlten, nur einige lallende oder grunzende Laute waren zu erhMten.

Die laborchemischen Werte lagen im Bereieh der Norm; insbesondere lag der Serum-Calcium-Spiegel bei 9,8 mg-~ . - - Sero-Farbtest nach Sabin-Feldman nega-

tiv, Listerien-Widal 1 : 160. - - Liquor eerebrospinalis regelreeht. Rdntgenau/nahmen des Seh~dels: SuSura frontalis persistens, SchMtknoehen in

der Lambdanaht. Pneum-Encephalographie: Bei nicht ganz orthograder Projektion im a.p.-Bild Seitendifferenz der Seitenventrikel zugunsten links.

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350 KLAvs ~[~LLER .*

Elektrencephalographie (EEG) : Keine sicheren Hinweise auf eine StSrung tier bioelektrischen Aktivit~t.

Bei den Nachuntersuchungen im Alter yon 2 und 2,4 Jahren ergaben sich keine neuen Gesichtspunkte. Die neurologische Symptomatik ist unveri~ndert; Fortschritte der statischen Entwieklung sind praktisch nicht eingetreten.

Zusammenfassung : 2,4 J a h r e al tes I-Ieimkind m i t Ca t a r ac t a congeni ta beidersei ts , S t r ab i smus convergens a l te rnans , i r regu la r grobschl~gigem H o r i z o n t a l n y s t a g m u s beidersei ts , H y p o t o n u s der Musku la tu r , Feh len der Armref lexe, vorwiegend k ine t i schen Atax ien , e rhebl icher En twick - lungsverzSgerung, fehlender Sprachen twick lung , motor i schen Stereo- typ ien .

2. Volker Kie., geb. 27.5. 1952 (Krbl. Nr. 387/54). In der Familie und Sippe sind keine I~erven- oder Augenleiden bekannt, keine Verwandtenehen, keine Kon- sanguinit~t der Eltern; keine Gesehwister. - - Das Kind wurde nach angeblieh nor- maler Schwangerschaft termingerecht, aber mit nur 2000 g Gewicht und durch Zangenextraktion geboren. Es wurde zu Hause aufgezogen, entwickelte sich aber so langsam, dab es bei der ersten Vorstellung mit 1 Jahr nur eben den Kopf hebea konnte; es al3 schlecht und neigte zu Obstipation. Bereits damals f ielder schlaffe Muskeltonus auf, weshalb der Hausarzt das Vorliegen einer neuralen Muskelatro- phie vermutete. Die im Alter yon 2,2 Jahren durchgefdhrte station~re Beobach- tung ergab keinen Anhalt fiir diese Diagnose. Im Vordergrund stand wieder die EntwicklungsverzSgerung bei hoehgradiger Sehlaffheit der Muskulatur. Das Kind konnte nur sehr unsieher und kurze Zeit sitzen; es griff nach Gegenst~nden, sprach aber noeh nieht.

Die En t lassungsd iagnose l a u t e t e : A ton i sch -as t a t i s ehe r S y m p t o m e n - komplex (FoE~sTE~).

In den folgenden Jahren wurde das Kind mehrfach polikliniseh nachuntersucht. Im Alter yon 2,6 Jahren fiel eine allm~hlich zunehmende Sehschw~ehe auf. Mit 3 Jahren hatte das Kind vollst~ndige Linsentriibungen beiderseits, die durch Linearextraktionen entfernt wurden; sparer erfolgte eine Naehstardiscision rechts. Mit 6,5 Jahren konnte der Junge sich noeh nicht allein aufstellen, lief mit Unter- stiitzung stark ataktisch, sprach kaum. Die Armreflexe waren nur sehwach ausl6s- bar, desgleichen ASR links, aber der Babinski links positiv. Auch im Alter von 8,9 Jahren fielen die grob ausfahrenden Bewegungen und die als ,,tr~ge lallend" be- zeichnete Spraehe auf.

Bei der Un te r suehung im Mai 1962 (Alter 10,0 Jahre ) e rgaben sieh folgende Befunde :

Dysplastischer Habitus, Fettansatz an Hfiften und Oberschenkeln, kleines Geni. tale, Hodenhochstand, Genu valgum und Pes valgus beiderseits.

NeuroIogisch. Hirnnerven: Pupfllen beiderseits ziemlich weit, entrundet, Reak- tionen auf Licht und bei Konvergenz prompt, aber wenig ausgiebig; feinsehl~giger Horizontalnystagmus bei Einstellbewegungen naeh rechts und links.

Motorik: Muskeltonus allgemein sehr schlaff, Kraftentfaltung m~Big, keine sicheren Paresen, unwillkiirliche Mitbewegungen noch altersgem~l~, Mund6ffnungs- Fingerspreiz-Ph~nomen negativ.

.Re/lexe: Physiologische Sehnen- und Periostreflexe beiderseits schwaeh ausl6s- bar, BDR raseh ersch6pfbar, Kremaster-l~eflex beiderseits positiv; Babinski links inkonst~nt positiv.

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Das Marineseo- SjSgren- Syndrom 351

Koordination: Adiodochokinese links, Dysdiadochokinese rechts, Zeigeversuche sehr unsicher, dysmetrisch, deutliche Asynergie, Romberg: Fallen ohne konstante Seitentendenz, Barany: grob ausfahrend, Stehen und L~ufen erheblich ataktisch, nut mit Unterstiitzung mSglich, Zehen- und Hackenstand, l~fickw~rtsg~ng und Zielblindgang nieht prfifb~r.

Sen~ibilitCgt: Soweit beurteilbar obme sichere StSrungen. 1)sychiseh. Der Junge ist ~nsprechbar, ausreichend orientiert, kommunik~tions-

f~.hig, abet recht antriebs~rm, passiv. Seit einigen Woehen besueht er die 1. Klasse der Sondersehule ffir K5rperbehinderte. Seine spraehlichen Au~erungen sind sehr sp~rlich, dysarthrisch, stammeind. Das Intelligenzalter entspricht dem eines sieben- j~hrigen Kindes.

Die laborchemischen Werte ]agen im Bereich der Norm; Serum-Calcium-Spiegel 10,9 mg-~ Serologische Untersuehungen auf Toxoplasmose und Lues verliefen neg~tiv. Der Liquor cerebro-spinalis war regelrecht.

R6ntgenau/nahmen des Schi~dels: Unauff~llig. 1)neum-Encephalographie: Keine eindeutig pathologische Ffillung der Liquorr~ume. Elektrencephalographie (EEG) : ~-fi-Mischtyp mit einzelnen steilverd~chtigen Abl~ufen ohne eindeutige Herd- stSrung.

Zusammenfassung: l0 Jahre alter Junge mit erheblicher Entwick- lungsverzSgerung, Manifestation der Cataracta eongenita beiderseits im 3. Lebensjahr, feinsehlagigem I-Iorizontalnystagmus beiderseits, Hypo- tonus der Muskulatur, abgesehwaehten Reflexen, Babinski links, starken Ataxien, Dysarthrie, Sehwachsinn mittleren Grades, Genu valgum und Pes valgus beiderseits.

Diskussion

0bwohl bisher nur wenige Beobaehtungen vorliegen, l~Bt sich das Krankheitsbfld ziemlich lest umreiBen. Charakteristiseh ist die Koppe- lung folgender Symptome:

Obligat: 0ligophrenie; Cataraeta congenita; spinocerebellare Ataxie: eerebellare Ataxie; Nystagmus; Dysarthrie; 14ypotonie; Hypo- bzw.

Areflexie ; Pyramidenbahnzeichen.

Fatcultativ: Skeletanomalien. Die Oligophrenie kann verschieden stark ausgepragt sein. Offenbar ist

der Sehwaehsinn oft hochgradig, so dab ein Intelligenzalter yon 6 Jahren kaum iibersehritten wird. Die Minderbegabung kann aber anfangs iiber- sehen werden, weil andere Symptome sie iiberdecken. Die Entwicklungs- verzSgerung imponiert dann als Fo]ge der Sehschwi~che, der statisehen Behinderungen and des Sprachmangels. Bekanntlich l ~ t sieh das In- telligenzniveau hoehgradig sehschwaeher oder blinder Kinder h~ufig sehr sehwer bestimmen. Aul3erdem sind die Kranken vorwiegend antriebs- arm, passiv, tr~ge; die torpide Form des Sehwachsinnes scheint vorzu- herrschen.

Die Linsentri~bungen sind stets doppelseitig und wahrscheinlich an- geboren. Sie warden jedoeh ebenfalls manehmal erst nach einigen Jahren

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352 KLAVS~ffLLER:

bemerkt und schreiten mehr oder weniger rasch bis zur vollstandigen Erblindung fort. Nach Angaben yon Du~Eux und Mitarbeitern sind sie im Linsenzentrum kn6tehenfSrmig (punktiert), an der vorderen und hin- teren Linsenkapsel radi~r angeordnet. Da dem yon GURSDOR~ und Mit- arbeitern beschriebenen M~dchen die Ka ta rak te fehlten, wird die Zugeh5- rigkeit dieser Beobachtung zum M.-S.-Syndrom yon anderen Autoren abgelehnt (F~A~CE SCHETTI und Mitarbeiter, AMOYT).

Von den spinocerebellaren Erscheinungen t r i t t die Ataxie am friihesten hervor. Sehon zu Beginn der statisehen Entwicklung fallen Koordina- tionsstSrungen auf. Die statischen Fahigkeiten werden nur sehr miihsam erlernt. Das Laufen gelingt meist erst um das 5. Lebensjahr und bleibt betraehtlieh unvollkommen. Ebenso setzt das Spreehen ziemlich spat ein (etwa im 3. Lebensjahr) und besehrankt sieh mitunter auf einzelne WSrter. Dysarthrie und Nystagmus wurden bei den Kranken yon I~I- CHARDS vermiBt; auBerdem entwickelte sich bei ihnen das Krankheits- bild auffallend spat und langs~m. AMYoT halt dennoch die Beobachtung f/ir annehmbar. ~Tir m6chten uns dieser Auffassung anschlieBen, zumal der Nystagmus gleichfalls bei den yon M~I~CEsco und Mitarbeitern be- schriebenen vier Geschwistern nut in einem Falle bestand.

I-Iypotonie und Abschwachung sowie Anfhebung der Sehnenrefiexe sollen nach SJOG~EN ziemlich spat auftreten. Immerhin ist die Muskel- schlaffheit manchmal bereits frfihzeitig deutlich vorhanden (FRA~C~- SCI-IETTI und Mitarbeiter, eigene Beobachtungen). Das Verhalten der Reflexe ist allerdings inkonstant und auch im Verlauf wechselnd. Sic k6nnen bisweilen sogar lebhaft werden, sind abet bei ausgepragter t typo- tonie stets vermindert oder erloschen. Dagegen stellen sich Pyramiden- bahnreflexe andeutungsweise ein, wahrend Tonuserh6hungen fehlen. SJ6GRE~ beschrieb das Auftreten yon Paresen und Muskelatrophien im weiteren Verlauf, doch sind darfiber zunachst keine anderen Hinweise bekannt goworden. Bei den yon CO~DIE~ u. I)~ LAnY sowie DECOCK U. MACKEN beobaehteten Kranken standen Spasmen so sehr im Vorder- grund, dab ihre Zuordnung zum M.-S.-Syndrom nicht m6glich erscheint.

Die Skeletanomalien sind als gelegenthche Begleiterscheinuhgen der neuro-ophthalmologisehen Symptomat ik anzusehen. Sie bleiben ver- gleichsweise diskret. Bisher wurden beschrieben:

Genu valgum; Knick-Platt-FfiBe ; Spitz-Klump-FtiBe; Kyphoskoliose der Wirbelsaule; Fehlbfldungen an Fingern und Zehen.

Als weitere fakultat ive Symptome kommen in Betracht Strabismus convergens alternans (FI~A~CE SCRETTI und Mitarbeiter, eigene Beobaeh- tung), Hoehdruek wahrend der Puber ta t (GAI~LAI~D U. MOOm~OVSE), Hypoealcamie (MAI~I~SCO und Mitarbeiter), Dystrophia adiposogeni- talis und Neigung zur Obstipation (eigene Beobaehtungen). Anomalien der Hau t wurden bisher nicht mitgeteilt.

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])as Marines co- Sj 6gren- Syndrom 353

Der Verlau[ ist naeh Manifestation des Syn~ 'oms im wesentlichen stationer. Lediglieh die Linsentrfibungen sehreiten fort, und das Verhal- ten der Reflexe kann weehseln. Ausgesproehen progressive Entwiek- lungen scheinen jedenfalls nieht typiseh zu sein.

Zur Pathogene~e haben MaRrsE sco und Mitarbeiter angenommen, dab dem Syndrom endokrine StSrungen zugrunde liegen, well sie bei mehreren AngehSrigen der Sippe erniedrigte Caleiumwerte fanden - - ein Befund, der von anderen Untersuehern nieht best~tigt werden konnte. Die Sippenforsehungen yon S J 6 G ~ maehten dagegen das Vorliegen eines reeessiv monohybriden Erbganges wahrseheinlieh. Konsanguinit/~t der Eltern bestand bei den Kranken yon SJ6GRE~, F~A~CESCHETTI und Mitarbeiter, ~owie MAcGILLIVRAY; Verwandtenehen kamen bei den Patienten yon GARLAND U. I~[OOROUSE sowie AMu vor. Die fibrigen Autoren haben solehe Beziehungen nieht feststellen k6nnen, doeh sind diese mindestens beim Fehlen yon entsprechenden Unterlagen nieht aus- gesehlossen.

Wit halten indessen den Naehweis der Konsanguinit~t der Eltern oder von Verwandtenehen nieht ftir aussehlaggebend. Vielmehr ist anzu-

nehmen , dag der Symptomenkomplex ein polyiitiologisehes Syndrom dar- stellt. Neben der heredit/iren Genese kommen vermutlieh mehrere exogene Noxen als ausl6sende Ursaehen in Frage. Degenerative Erkrankungen, besonders aus dem hypoton-hyperkinetisehen Formenkreis, werden be- vorzugt dureh peristatische Seh~digungen ph/~nokopiert. Vielleieht ist es noeh verfrfiht, eine Syndromformel in der yon LEIBE~ U. OLB~I0~ vorgesehlagenen Weise aufzustellen und etwa eine Kerngruppe mit be- stehendem Erbgang als Morbus M.-S. yon anderen Entstehungsbedingun- gen als M.-S.-Syndrom abzugrenzen. Dureh eine solche Betraehtungs- weise kSnnten aber gewisse Untersehiede der Ausprggung und des Verlaufes bei versehiedenen Beobaehtungen erkl/~rt werden. Weitere Mitteilungen fiber das noeh wenig bekannte Syndrom werden die bis- herigen Erkenntnisse sieher erggnzen and die Zusammenh/~nge besser deuten lassen. Vorls fehlen aneh neuropathologisehe Untersuehungen fast vollstgndig. Nur der histologisehe ]3efund des t I i rnpunkta tes bei einem Kranken yon MARINE SCO and Mitarbeitern ergab im Frontalhirn Sehwund der Ganglienzellen und Nervenfasern.

Die Di//erentialdiagnose ist bei ausgepr/~gtem Zustandsbild nieht sehwierig. Typiseh sind das friihzeitige Manifestwerden des Symptomen- komplexes in den ersten Lebensjahren und die - - abgesehen yon der Er- blindung - - fehlende Progredienz. Natfirlieh liegt es nahe, in erster Linie Parallelen zur spinoeerebellaren I teredoataxie yon FRIEDaEIC~ und MARIE-NOIgN:E zu ziehen und eine Verbindung dieser Krankhei t mi t dem sehon 1935 yon S55CRE~ besehriebenen Syndrom , ,Katarakt and Oligo- phrenie" anzunehmen. Abet selbst wenn man den bisweilen friihzeitigen

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354 KLAUS MULLER :

Beginn der spinalen Form der Heredoataxie (FRIEDtgEICH) bis in das erste Lebensjahr vorverlegen und Kombination mit Kataraktbildung sowie Sehwaehsinn als m6glieh ansehen will, so geh6ren diese Faktoren doeh nieht zu den konstanten Syndromeigenarten der Friedreiehsehen Ataxie. Oligophrenie kommt dort h6ehstens in 15% vor; Linsentrfibun- gen sind, wie bei allen tIeredodegenerationen, ganz ungew6hnlich. Leider sind diesbeziigliehe Mitteilungen augerordentlieh spgrlieh. Wahrsehein- lieh miissen entsprechende Beobachtungen zuktinftig dem M.-S.-Syn- drom zugeordnet werden. Ganz sieher trifft diese Annahme f/ir die Be- riehte yon Se~.ER sowie NIO~AVECSIK ZU, WO jeweils drei Gesehwister im frfihen Kindesalter an spinoeerebellarer Ataxie mit Linsentriibungen und Sehwaehsinn ohne Sensibllit/~tsst6rungen und ohne Progredienz erkrankt waren. J~hnliehe Bedingungen lagen vielleieht auch bei den Kranken yon Sc~oB sowie TKASEV U. GO~ELIK vor.

Muskelspasmen und SensibilitgtsstSrungen werden beim M.-S.-Syn- drom in jedem Falle vermigt ; vielmehr stehen entschieden die eerebella- ren Ausfglle im Vordergrund. Deshalb kann eben auch der Kranke yon CO~DIER U. DE LAnY nieht hierzu gerechnet werden, der - - wie sein Vater - - Erseheinungen im Sinne der neuralen Muskelatrophie aufwies, die ja am ehesten Beziehungen zur Friedreiehsehen Ataxie hut. Die eere- bellare Form der Heredoataxie (MA~IE-No~NE) beginnt erst im mittleren Erwachsenenalter. Aber vermutlieh sind manehe F/ille yon M.-S.-Syn- drom im friihen Stadium als atoniseh-astatiseher Symptomenkomplex F o ~ s T n ~ s , infantiler Typ der spinalen h{uskelatrophie Werdnig-Hoff- mann oder NIyatonia congenita 0ppenheim verkanut worden. Dem Vor- handensein yon Skeletfehlbildungen wird man keine differentiMdiagno- stisehe Bedeutung beimessen k6nnen, da Degenerationszeiehen dieser Art ganz allgemein bei Heredodegenerationen gehguft vorkommen. Im fibrigen ist aber der sog. Friedreich-FuB wohl yon FuBdeformit/~ten beim 5I.-S.-Syndrom zu unterseheiden.

Zusammenfassung Das 3/[.-S.-Syndrom stellt einen offenbar seltenen neuro-ophthalmolo-

gischen Symptomenkomplex dar, der sich im friihen Kindesalter mani- festiert und spgter stationi~r bleibt. Neben spinocerebellarer Ataxie mit Nystagmus, Dysarthrie, t Iypotonie und Hypo- bzw. Areflexie sowie an- gedeuteten Pyramidenbahnzeiehen finden sieh angeborene Linsentrfi- bungen und Schwachsinn oft starken Grades. Fakultat ive Begleit- symptome sind Strabismus, Skeletanoma]ien, Hypocalegmie und juve- niler Hochdruek. Wahrscheinlieh handelt es sich um ein polygtiologisehes Syndrom. Die heredit/ire Form ist dutch Konsanguinit/it der Eltern oder gehgufte Verwandtenehen gekennzeiehnet. AuBerdem scheinen peri- statische Noxen als ausl6sende Ursaehen in Frage zu kommen. Die

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Das Marineseo- Sj 5gren- Syndrom 355

d i f fe ren t ia ld iagnos~isehen Ges i eh t s p u n k t e , i n sbesonde re gegen / iber der sp inoee rebe l l a r en He red o a t ax i e , w e r d e n besproehen .

Nachtrag: Naeh Abschlug der vorliegenden Arbeit erschien eine Mitteilung yon H. URBX~- (Psychiat. Neurol. reed. Psychol. (Lpz.) 14, 161--168 (1962)) fiber zwei Geschwister (elfjghriges Mgdchen, zehnjghriger Knabe) ohne familiare Belastungen, bei denen sieh im Pneumencephalogramm Hinweise auf eine KMnhirnatrophie ergaben.

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Dr. KLAvs MiinL~, Universitgts-Kinderklinik der Charit6, Berlin N 4

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