Der Herstellungsprozeß von...

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Der Herstellungsprozeß von Identität H. Keupp (2002). Identitätskonstruktionen. 2. Auflage. Hamburg: Reinbeck Verlag, Seite 190-214

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Der Herstellungsprozeß von Identität

H. Keupp (2002). Identitätskonstruktionen. 2. Auflage.

Hamburg: Reinbeck Verlag, Seite 190-214

operas vermittelten Lebensstilpaketen auf . Es sind kulturelle Orientie-rungen, vor deren Hintergrund jugendliche ihre Identitätsentwürfebilden, in Identitätsprojekte umsetzen, Identitätsentscheidungen tref-fen und letztendlich das Gelingen oder Scheitern ihrer Entwürfe undProjekte beurteilen . Auch die Figur von Barbie, die Inszenierung vonLady Dianas Tod oder die (gespielte) Dummheit mancher Talk-Show-Moderatorin konstruieren die Weiblichkeit mit . Auf der anderen Seitesehen wir bizarre Modelle von Männlichkeit: rauhbeinige, Erotik vor-gebende Polizeikommissare, Kampfkünstler oder Politiker, die inKriegszeiten zu großer Form auflaufen. Diese in ihrer Bilderflut zu-meist eher unbewußt wirkenden kulturellen Modelle propagieren spe-zifische Verknüpfungen der verschiedenen Lebenswelten mehr oderweniger direkt und normieren damit individuelles Verhalten in einemstarken Maß .

Freilich darf die Möglichkeit der Individuen nicht unterschätztwerden, aus solchen Vorgaben auszuwählen, sie zu kritisieren, zu iro-nisieren oder - was offensichtlich eine zunehmend wichtige Fähigkeitwird - notfalls einfach abzuschalten . Die sozialen Netzwerke sind dabeidie entscheidende Vermittlungsinstanz . Ein lebensweltlicher Zugangzur Identitätsarbeit muß sich in erster Linie die Verknüpfung der un-

terschiedlichen Lebenswelten in konkreten Identitätsentwürfen und-projekten, aber auch in übergeordneten Identitätszielen und Identi-tätsperspektiven zum Gegenstand machen.

4 Der Herstellungsprozeß von Identität

In diesem Kapitel stellen wir ein heuristisches Modell alltäglicher Iden-titätsarbeit vor. Ziel unserer theoretischen Arbeiten (Straus & Höfer

1997; Höfer 1999; Kraus 1996; Kraus & Mitzscherlich 1997) ist es, den

Herstellungsmodus von Identität als einen offenen Prozeß zu konzep-tualisieren, der einer alltäglichen und zugleich lebenslangen Bearbei-tung zugänglich ist (vgl . Straus 1991). Und es geht uns um eine

modellhafte Vorstellung, wie diese Prozesse im Subjekt ablaufen undwelche «Spuren bzw. Strukturen die Interaktionsprozesse mit seiner

Umwelt» (Ahbe 1997 ; Keupp 1997b) identitätsbezogen hinterlassen .

Der Frage nach dem Herstellungsmodus von Identität werden wir unsauf dreifache Weise nähern . In einer ersten Perspektive blicken wir auf

die Prozesse der Identitätsarbeit und vier zentrale Koordinationslei-stungen, die eine Person hierbei vollbringt. Identität wird bestimmt als

relationale Verknüpfungsarbeit, als Konfliktaushandlung, als Ressour-

cen- und Narrationsarbeit .Die zweite Perspektive thematisiert die Ergebnisse der Identitätsar-

beit. Wir sprechen hier von den subjektiven Konstruktionen der Iden-tität, zum einen, weil es sich nicht um fertige Ergebnisse, sondern umständig sich weiterentwickelnde Produkte des Identitätsprozesses han-

delt. Zum anderen bevorzugen wir den «Konstruktionsbegriff», weil erdeutlich macht, daß das, was im Akt der Selbstreflexion entsteht (bei-spielsweise eine Vorstellung einer bestimmten Teilidentität), sich mitdem selbstreflexiven Akt bereits wieder zu verändern beginnt, mansich also in und mit seiner Selbsterzählung ständig «neu konstruiert» .

Natürlich handelt es sich bei dieser Trennung von Prozeß und Pro-dukt um eine analytische Unterscheidung, die wir mit der dritten Per-

spektive wieder aufheben . Hier beschäftigen wir uns vor allem mit den

Syntheseleistungen'der Identitätsarbeit und zwei zentralen, für dieIdentitätsforschung durchaus klassischen Fragestellungen: Wie gelingt

es dem Subjekt, aus der Vielzahl an Möglichkeiten für sich stimmigeIdentitätsprojekte zu realisieren und dabei trotz aller Verschiedenartig-keit sich als kohärent zu erleben (das ist die Frage der Herstellung vonKohärenz)? Was ist der Hauptfokus der Identitätsarbeit? Lassen sich

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r

zentrale, historisch unterschiedlich dominante Ziele der Identitätsar-beit benennen (hier geht es heute vor allem um die Frage von Autono-mie und Anerkennung)? Hinzu kommt eine etwas seltener themati-sierte, aus unserer Sicht jedoch nicht minder zentrale Frage : Wienämlich gelingt es, Prozeß und Konstruktionen in ein Fassungsver-hältnis zu bringen, das aus Sicht des Subjekts stimmig ist und in ihmdas Gefühl erzeugt, etwas Gelungenes geschaffen zu haben (dies ist dieFrage der Authentizität)?

4.1 Zum Prozeß der Identitätsarbeit

Der Identitätsprozeß ist, so sehen es die meisten neueren Ansätze derIdentitätsforschung, nicht mehr nur ein Mittel, um am Ende der Ado-leszenz ein bestimmtes Plateau einer gesicherten Identität zu errei-chen, sondern der Motor lebenslanger Entwicklung. Wir wollen im fol-genden der Frage nachgehen, wie man sich den prozessualen Verlaufder Identitätsentwicklung konkreter vorzustellen hat .

Eine erste, für unser Modell zentrale Grundprämisse beschreibt denrelationalen Grundmodus der Identität . Nach diesem besteht die Iden-titätsarbeit vor allem in einer permanenten Verknüpfungsarbeit, diedem Subjekt hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu be-greifen .

Dabei ordnet das Subjekt seine Selbsterfahrungen zum einen einerzeitlichen Perspektive unter (verknüpft Vergangenes mit Gegenwär-tigem und Zukünftigem) . Zum zweiten verknüpft es die Selbster-fahrungen unter bestimmten lebensweltlichen Gesichtspunkten (Er-fahrungen von einem selbst als Lebenspartner, als Berufstätiger, alsSportler . . .), und es stellt drittens Verknüpfungen auf der Ebene vonÄhnlichkeit und Unterschiedlichkeit her (vereinfacht gesagt zwischenSelbsterfahrungen, die bereits vorhandene Erfahrungen bestätigen,und anderen, die den vorhandenen widersprechen, oder solchen, die«einfach neu» sind) . Zwei Fragen interessieren uns besonders :•

Wie verknüpft ein Subjekt seine biographisch mehr in der Vergan-genheit liegenden mit den eher gegenwartsorientierten Erfahrun-gen? Welche Rolle spielen in diesem zeitlichen Verknüpfungsprozeßzukunftsorientierte Entwürfe von sich selbst?

Wie sieht der Verknüpfungsprozeß von verschiedenen und teils

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zeitlicheVerknüpfungen

(Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft)

«inhaltliche»Verknüpfungen

«S

,(0

(Ähnlichkeiten, Differenzen)

lebensweltlicheVerknüpfungen

(Arbeit/Freizeit . . . Mann/Frau . . . Schüler/Rentner)

Identität als Verknüpfungsarbeit

auch widersprüchlichen Erfahrungen aus? Welche Vorstellungenvon Balance und Aushandlung beschreiben diesen Verknüpfungs-prozeß am adäquatesten?

Die zweite Grundprämisse unseres Modells lautet : Identität entstehtals Passungsprozeß an der Schnittstelle von Innen und Außen . Auchwenn die Identitätsentwicklung ein im Subjekt stattfindender Prozeßist, so basiert dieser stets auf dem vor allem von den Interaktionistenzu Recht herausgehobenen Aushandlungsprozeß des Subjekts mit sei-ner gesellschaftlichen Umwelt . Auch hier werden wir uns zwei prozes-suale Leistungen des Subjekts näher anschauen . Die zentralen Fragen

lauten:•

Wie transferiert ein Subjekt die in seiner Person und seiner Umweltvorhandenen Ressourcen in subjektive Identitätsprozesse?

In welcher Form verhandelt das Subjekt seine Identität mit anderenund damit auch mit sich selbst?

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Retro- und prospektive Identitätsarbeit

Unter einer zeitanalytischen Perspektive läßt sich die Identitätsarbeitin zwei Prozesse zerlegen . Der retrospektiv-reflexive Prozeß geht vonden jeweiligen Selbsterfahrungen aus und bildet den eher reaktiven,Erfahrungen verarbeitenden und bewertenden Teil der Identitätsarbeitab. Der prospektiv-reflexive Prozeß stellt die jeweiligen Selbstent-würfe in den Mittelpunkt und bildet den eher aktiven und zukunftsori-entierten, d . h . Erfahrung herstellenden, gestaltenden Teil der Identi-tätsarbeit ab .

Im Mittelpunkt des retrospektiv-reflexiven Prozesses stehen situa-tionale Selbstthematisierungen . Darunter verstehen wir Erfahrungen,die in bezug auf das eigene Selbst gemacht wurden und die von denFragen «Wer bin ich (aktuell)?» und «Woher komme ich?» geleitetwerden. Jede dieser situationalen Selbstthematisierungen besteht auseiner komplexen Wahrnehmung bzw. Erinnerung unterschiedlicherErfahrungsmodi. Für jede Erfahrungssituation lassen sich aus unsererSicht fünf zentrale Modi der Selbstwahrnehmung (in Anlehnung an K .Ottomeyer 1987) unterscheiden . Nimmt man beispielsweise eine Be-werbungssituation um eine neue Arbeitsstelle, so besteht die Selbst-wahrnehmung aus• einem emotionalen Eindruck (wie man sich beim Test gefühlt hat,

d. h . mehr oder weniger gestreßt, nicht akzeptiert oder eher freund-lich und interessiert empfangen) ;

einem körperlichen Eindruck (ob man sich ganz schwach gefühlt hat,einem «die Knie gezittert haben») ;

einem sozialen Eindruck (was man verbal/nonverbal als Rückmel-dung zum eigenen Verhalten, zur eigenen Person wahrgenommenhat, beispielsweise Stellen, an denen positiv genickt wurde oder andenen man glaubt, skeptische Blicke geerntet zu haben) ;

einem kognitiven Bild (welches Bild man selbst von sich in der Be-werbungssituation hatte, ob man beispielsweise die eigenen Lei-stungsnormen erfüllt hat) und

einem produktorientierten Bild (was man geleistet hat, also bei-spielsweise welche Aufgaben man gelöst hat bzw ob man das Bildeines kreativen, leistungsfähigen Bewerbers abgegeben hat) .Jede unserer Handlungen wird stets unter kognitiven, emotionalen,

körperbezogenen, produktorientierten und sozialen Aspekten (ohnedaß wir dies explizit wahrnehmen) reflektiert . Im Normalfall spielen

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zwar alle Erfahrungsmodalitäten eine Rolle, freilich werden bestimmteErfahrungen gerade durch die gesteigerte Intensität einer Modalität(beispielsweise den emotionalen Aspekt, wie man sich in der Situationgefühlt hat, oder den sozialen Aspekt, d . h . die Wahrnehmung, was einanderer zum eigenen Handeln bemerkt hat) herausgehoben und ent-sprechend später auch erinnert. Gerade die emotionale Modalität hatdabei eine weit größere Bedeutung, als man vor allem in der kognitivorientierten Selbstkonzeptforschung annahm (vgl . Ciompi 1989; Le-doux 1998; Hintermair 1999) .

Ein weiterer Ordnungsversuch des Subjekts besteht darin, diese viel-fältigen und komplexen Selbstthematisierungen unter bestimmtenIdentitätsperspektiven zu bündeln . Dieser Verknüpfungsschritt alltäg-licher Identitätsarbeit (Reflexionsprozeß) ist stark kulturell und narra-tiv geprägt. Die Identitätsperspektiven formulieren quasi den Er-zählrahmen und fokussieren die Sicht auf die eigene Person unterbestimmten Rollen, lebensphasischen Themen oder übergreifendenSichtweisen . Indem Erfahrungen (sich und anderen) erzählt werden,werden sie nicht nur zusammengefaßt, sondern auch sortiert, angeord-net und oftmals (entsprechend sozialer Vereinbarungen) umgeschrie-ben. Innerhalb dieser Identitätsperspektiven erfolgt als weiterer Refle-xionsschritt der Vergleich aktueller Erfahrungen mit vergangenen(unter jeweils bestimmten Identitätsperspektiven) . So werden vorallem «bekannte» (so wie immer) und «neue» (anders als sonst) Erfah-rungen unterschieden . Die unter bestimmten, zumeist kulturspezifischgeprägten Identitätsperspektiven gebündelten Erfahrungen werdenin aller Regel retrospektiv (narrativ) weiter verdichtet zu verschiede-nen Identitätskonstrukten, lebensbereichs- bzw . lebensphasisch spezi-fischen Teilidentitäten oder zu übergreifenden Konstrukten, den bio-graphischen Kernnarrationen oder/und dem Identitätsgefühl . Diesewerden im nächsten Abschnitt ausführlich erläutert .

Das Identitätsmodell wäre nun sehr statisch, wenn Identitätsarbeitnur darin bestehen würde, die eigenen Erfahrungen in eine gewisse(Identitäts-)Ordnung zu bringen . Identitätsarbeit bleibt nicht bei derretrospektiven Selbstreflexion stehen . Es geht um die Zukunft einesSubjekts und die Ausrichtung seines Handelns entlang von Fragen wie :«Wer will ich sein?» ; «Wohin will ich mich entwickeln?» Schon in derklassischen Identitätsforschung wurde deshalb, beispielsweise beiGeorge Herbert Mead (1934), dem sozial geformten «Me» ein aus sichheraus agierendes «l» gegenübergestellt . In unserem Modell alltäg-

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licher Identitätsarbeit tritt zur Integration (vergangener und aktueller)situationaler Selbstthematisierungen mit der Einbeziehung der Zu-kunftsorientierung ein weiteres Element hinzu, das versucht, die ge-staltende Seite des Subjekts für seine Identitätsarbeit zu beschreiben .Immer wenn das Ich sich selbst zum Gegenstand zukunftsbezogenerReflexionen macht, entwirft es optionale Selbste (vgl . Markus et al .1986) bzw. entwickelt es Identitätsentwürfe, konkretisiert diese zuIdentitätsprojekten und setzt diese in alltägliche Lebensführung (vgl .Behringer 1998) um.

Dabei verbleiben Identitätsentwürfe teilweise im Bereich des Imagi-nären, oft erscheinen sie (soweit sie narrativ präsentiert werden) rela-tiv realitätsfern, utopisch oder sogar überzogen . Es sind aber letztend-lich diese fernen «Vorstellungen» bzw «Träume», die die Entwicklungvon konkreten Identitätsprojekten in der unmittelbaren Zukunft ener-getisieren oder bei deren Gestaltung Pate stehen . Aus den Identitäts-entwürfen, die Subjekte in ihren jeweiligen Teilidentitäten «mit sichführen», verdichten sich bestimmte zu konkreten Identitätsprojekten .Im Anschlug an Harre (1983) verstehen wir darunter jene Elementeeiner Teilidentität, in der die Erwartungen eines Menschen im Hinblickauf seine zukünftige Identität selbst zu einem Bestandteil seiner Le-bensbiographie werden (Siegert & Chapman 1987, S . 145 ; Greenwood1994) . Im Unterschied zu den Identitätsentwürfen haben Identitäts-projekte quasi inneren Beschlußcharakter . Ein Identitätsprojekt ist we-der Utopie noch bloßes Lusthaben : Es setzt in der Regel voraus, daß einReflexionsprozeß mit Blick auf die vorhandenen Ressourcen stattge-funden hat . Insofern dient das Identitätsprojekt als ein diskursiver Re-ferenzpunkt . Indem das Projekt abgearbeitet wird, positioniert sich dasSelbst ständig neu und evaluiert die Beziehung zwischen Selbstreprä-sentation und kognitiver Repräsentation des Projekts (vgl . ausführ-licher Kraus 1996, S . 152 ff)'

1 Auch Greenwood (1994, S . 102-127) weist auf die Bedeutung von Identitätspro-jekten für die Identitätsentwicklung hin . Er faßt Projekte unter den Begriffen der«moral careers» nach Goffman (1961) und definiert sie als die kulturell vorgege-benen Wege für die Schaffung und Beibehaltung (aber auch Zerstörung) von per-sönlichem Selbstwert und Ruf in dem Maß, wie Projekte innerhalb dieser »Karrie-ren» als persönlicher Erfolg bzw . Mißerfolg gewertet werden . Die Entscheidungfür ein Identitätsprojekt ist nach Greenwood nicht unbedingt eine bewußte Wahl,aber es müssen die mit den «moral careers» verbundenen sozialen Konventionenakzeptiert werden .

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Für das Verständnis des Übergangs vom Entwurf zum Projekt, vomProjekt zur Realisierung und für die Konzeption der Weiterentwick-lung der Teilidentitäten ist es wichtig zu sehen, daß die prozessuale(Neu-)Regulation der Identität nicht einfach einen Wechsel vom einenin einen anderen (neuen) Zustand darstellt . Es ist sinnvoll, hier unter-schiedliche Entwicklungsetappen anzunehmen . An dieser Stelle grei-fen wir auf das von Marcia (1966; 1993) entwickelte und in Kapitel 2.3

bereits ausführlicher vorgestellte Phasenmodell zurück . Orientiert anden Kriterien «Krise» und «Commitment», befinden sich die Subjektein vier unterschiedlichen Identitätszuständen (Foreclosure, Diffusion,Moratorium, Achievement) . Der Wechsel zwischen diesen ist, wieeigene empirische Ergebnisse bestätigen, in alle Richtungen möglichund hängt von zahlreichen Faktoren ab .

In der alltäglichen Identitätsarbeit sind retrospektiver und prospek-tiver Prozeß allerdings immer miteinander verbunden, es gibt keineErinnerung, die nicht auch in die Zukunft gerichtet wäre, und keinenEntwurf, der nicht vergangene Erfahrungen beinhalten würde . Mankann diesen Prozeß sozusagen aus zwei verschiedenen Perspektivenbeschreiben : In der einen eher retrospektiven Sichtweise ergeben sichalle Identitätsziele, -entwürfe und -projekte einer Person folgerichtigaus den Erfahrungen der Vergangenheit, man kann jedes aktuelle Pro-jekt und erst recht jeden Entwurf auf seine biographischen «Wurzeln»hin untersuchen und wird da auch immer plausible, scheinbar kausaleVerbindungen finden . In der anderen (eher sozialkonstruktivistisch-kognitiven) Sichtweise gibt es keine Erinnerung an sich, Erfahrungenwerden immer unter der Perspektive gegenwärtiger und zukünftigerProjekte erinnert, organisiert bzw retrospektiv konstruiert . Wenn manzu einem Projekt nicht die passende Vergangenheit hat, muß man sieeben erfinden . Darin drückt sich auch aus, daß das Reservoir an Erfah-rung so reich und vielfältig ist, daß sich darin immer das Passende fin-den läßt und es eher um ein Problem der Auswahl geht . Wir gehen voneinem gleichberechtigten Zusammenwirken und der wechselseitigenVerknüpfung retro- und prospektiver Reflexion in der Identitätsarbeitaus .

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Identität als Konfliktaushandlung

Der für alltägliche Identitätsarbeit zentrale Grundmodus des Relatio-nalen beschreibt ein komplexes Gefüge des Verknüpfens und desIn-Beziehung-Setzens . Die Entwicklung und Veränderung identitäts-relevanter Erfahrungen wird in den meisten Identitätsmodellen (vgl .Whitbourne & Weinstock 1986 ; Burke 1991 ; Freese & Burke 1994; Hau-ger 1997) in Anlehnung an die Grundbegriffe der Assimilation undAkkommodation von Piaget als ein Kreismodell beschrieben . In diesemModell entsprechen oder widersprechen neue Erfahrungen den bishe-rigen Identitätsstandards . Entweder werden diese verändert, und eskommt zu einem neuen stabilen Zustand (einer veränderten Identität),oder die neuen Erfahrungen werden umgedeutet oder abgewehrt, unddie Identität bleibt unverändert . So plausibel der Grundmechanismusist, so vereinfacht und teilweise auch zu mechanistisch erscheint uns dasdaraus entstehende Homöostasemodell : Solange durch neue Erfahrun-gen nicht irritiert, verbleibt Identität in einem stabilen Gleichgewicht .

Wie wir an anderer Stelle näher ausgeführt haben (Straus & Höfer1997; Höfer 1999), werden solche Modelle der Komplexität der Selbst-erfahrung, gerade auch unter den gegenwärtigen gesellschaftlichenBedingungen, nicht mehr gerecht . Weder handelt es sich um eine ein-fache Dichotomie von Passung und Nicht-Passung, noch sucht dasSubjekt in seiner Identitätsarbeit ein spannungsfreies Gleichgewicht .In vielen Situationen kommt es keineswegs zu einheitlichen Selbstthe-matisierungen . Ein klassisches Beispiel dafür ist die Nichtübereinstim-mung von Selbst- und Fremdbewertung . In unseren Begriffen kannbeispielsweise eine positive emotionale und kognitive Bewertung dienegative produktorientierte und soziale Bewertung einer Situation re-lativieren : Man hat eine Aufgabe nicht bewältigt und sieht sich in denAugen anderer zwar als gescheitert . Zugleich glaubt man von sich, sehrwohl auf dem richtigen Weg gewesen zu sein, und fühlt sich in diesemSinn ungerecht bewertet . Verallgemeinert heißt dies, ähnlich wieMounier es sieht (vgl. Kap . 2 .3), daß die Konstante des Selbst nicht inder Auflösung jeglicher Differenzen besteht, sondern darin, die darausresultierenden Spannungen zu ertragen und immer wiederkehrendeKrisen zu meistern . In der identitätsbezogenen Verarbeitung vonSelbsterfahrungen bleiben damit stets auch differente Aspekte enthal-ten, und gerade sie bilden eine motivationale Spannung für neueHandlungen und Identitätsentwürfe .

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Ein zweites wichtiges Konflikt-(Spannungs-)Potential entsteht

durch den Einbezug der Zukunftsperspektive . Auch hier kommt es

identitätstheoretisch zu einer wichtigen Differenzierung . So kann der

bislang geltende Standard durch neue Entwürfe/ Projekte modifiziertwerden, und das Passungsverhältnis wird in manchen Fällen geradekeines sein, wenn eine als zufriedenstellend erlebte Übereinstimmungzwischen neuen Erfahrungen und existierendem Standard durch dasFehlen einer Entwicklungsperspektive begleitet wird. Die Identitätsar-

beit lebt auch von dem Spannungszustand zwischen dem, was man er-reicht hat, und dem, was man noch erreichen möchte. Wie viele inter-

essante und für das Subjekt wichtige Spannungsmomente existieren,wird offensichtlich, wenn man die Vielfalt zurückliegender biographi-scher Erfahrungen sowie der von Higgins vorgeschlagenen Identitäts-

bereiche sieht . Higgins et al . (1987, 5 .175 f) unterscheiden zwischen drei

verschiedenen Identitätsbereichen (aktuelles, ideales Selbst und einSelbst, wie man sein sollte) und zwischen zwei Standpunkten, demeigenen und dem von signifikanten Anderen (Eltern, Freunde, Chef . . .) .

Kombiniert man diese, ergeben sich nach Higgins et al. sechs verschie-

dene Basisrepräsentationen des Selbst : Vor allem der Status Actu-

al / Own, aber auch Actual / Other, konstituiert das, was man allgemeinals Selbst-Konzept bezeichnet, die verbleibenden vier Status (Ide-al / Own, Ideal / Other, Ought / Own and Ought / Other) sind richtung-

weisende und führende Standards .Wir zählen uns damit zu jener im zweiten Kapitel vorgestellten

Theoriegruppe, die Grundspannungen als Quelle der Dynamik im

Identitätsprozeß sieht. Dies bedeutet, daß, wenn wir von einem Pas-

sungsverhältnis der Identitätsarbeit sprechen, wir stets eine Dynamikder permanenten Aushandlung der Differenzen und nicht einen span-

nungsfreien Balancezustand meinen . Die Passung hat das Ziel, «eine

Form zu finden, die uns das Gefühl gibt, nicht widersprüchlich zusein, nicht im Sinne der Arithmetik, die die Verschiedenheit aus-schließt, sondern im Sinne einer Struktur, die die Verschiedenheit

integriert» (Camilleri 1991., S . 79) . Identitätsarbeit zielt auf die Her-

stellung eines konfliktorientierten Spannungszustandes, bei dem esweder um Gleichgewicht und Widerspruchsfreiheit noch um Kongru-enz geht, sondern um ein subjektiv definiertes Maß an Ambiguität

(Krappmann 1969; 1997) und des «Herausgefordertseins» . Hier geht

es um das Gefühl, daß das jeweils gefundene Passungsverhältnis sub-

jektiv stimmig ist . Jedes Subjekt entwickelt hierfür ein eigenes

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«Mag», das wir in der Folge als Gefühl der Authentizität bezeichnenmöchten und das wir zum Schlug dieses Kapitels noch einmal näheranalysieren werden .

Identität als Ressourcenarbeit

Wir haben in unserer zweiten Grundprämisse bereits deutlich ge-macht, daß Identität stets in einem Aushandlungsprozeß des Subjektsmit seiner gesellschaftlichen Umwelt stattfindet . Dieser Prozeß wirddabei ganz entscheidend von den Ressourcen geprägt, die ein Subjektbei seiner Identitätsarbeit zu mobilisieren und zu nützen vermag . Inbezug auf alltägliche Identitätsarbeit scheint sich das Ressourcenpro-blem auf den ersten Blick in der trivialen Formel aufzulösen, daß einüppiges Reservoir an Ressourcen die Identitätsentwicklung verein-facht, erleichtert, beschleunigt und daß ein Mangel an Ressourcen die-selbe erschwert und limitiert . In der sozialpsychologischen Analysezeigt sich ein komplexerer Zusammenhang zwischen alltäglicher Iden-titätsarbeit und der Ressourcenlage der Subjekte .

Für die alltägliche Identitätsarbeit sind zum einen nicht einfach «ob-jektiv vorhandene Ressourcen» relevant, sondern das, was ein Subjektan Ressourcen wahrnimmt - oder eben nicht wahrnimmt -, jene Res-sourcen, die es sich erschließen und die es damit nutzen kann - odereben nicht erschließen und nutzen kann . Auch und manchmal sogar :Gerade der Mangel an bestimmten Ressourcen initiiert identitätsbezo-gene Entwicklungsprozesse . Selbst dann, wenn zur Umsetzung vonIdentitätszielen oder -projekten die entsprechenden Kompetenzen,Energien und Kontakte erst noch angeeignet werden müssen, wirkendiese bereits als Zukunftsorientierungen und Entwicklungsressourcen .Und umgekehrt ist ein «üppiges» Reservoir an Ressourcen keinesfallsschon eine Garantie für eine gelingende Identitätsentwicklung .

Exkurs: Kapitalsorten nach Bourdieu

Zur Präzisierung des Ressourcenbegriffs greifen wir auf die Kapitalsorten-Theorie von Pierre Bourdieu zurück . Dies hat sich für die sozialpsycho-logische Rekonstruktion des subjektiven Ressourcenmanagements alshilfreich erwiesen (vgl . Ahne 1997) . Die Stärken der Zuhilfenahme desBourdieuschen Konzepts liegen nicht nur darin, daß es die Transferüber-legungen der Ressourcen vorbereitet, sondern auch, daß es die Ressour-

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cenverteilung im sozialen Raum schlüssig als ein sozialökonomischesPhänomen interpretiert . Deswegen werden Ressourcen bei Bourdieu zuRecht auch als «Kapitalsorten» benannt . Vor allem jene drei, von Bourdieuals «primäre Kapitalsorten» bezeichneten Ressourcen -das ökonomische

Kapital, das soziale Kapital und das kulturelle Kapital (Bourdieu 1983,

S . 183 ; 1992, S . 49 ff) - sollen im folgenden näher beschrieben werden .Ökonomische Ressourcen. Die materiellen Ressourcen, die einem

Subjekt zur Identitätsarbeit zur Verfügung stehen, das «ökonomische Ka-pital» eines Subjekts, erweist sich als zentrale bzw . strategische Res-source . Es bietet einen Wahrscheinlichkeitsrahmen für die Akkumulationebenjener Ressourcen, die freilich viel enger mit psychischen Prozessenalltäglicher Identitätsarbeit zusammenhängen als materielle Ressourcen .Der Begriff ökonomisches Kapital umfaßt all jene Ressourcen, die «unmit-telbar und direkt in Geld konvertierbar» sind «und sich besonders zur In-stitutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts» eignen (Bourdieu1983, S . 185) . Hierbei handelt es sich um Geld, Aktien, Renten, Mietzins,Pachterträge, Grund und Boden, Produktionsmittel, also Besitz im weite-sten Sinne .

Kulturelle Ressourcen . Kulturelles Kapital wird in drei Formen be-

schrieben, als inkorporiertes, als objektiviertes und als institutionalisiertesKulturkapital . Inkorporiertes Kulturkapital sind verinnerlichte Fertigkeitenund Haltungen, es ist «grundsätzlich körpergebunden» . Die Inkorporie-rung, also die Einverleibung des inkorporierten Kulturkapitals, kostet Zeitund Energie (Bildung und Übung), die von dessen Träger «persönlich in-vestiert werden» müssen (ebd . S . 186) . Hier sind keine Vertretung und

keine Beschleunigung möglich . Objektiviertes Kulturkapital (Bücher, Ton-träger, Kunst) hingegen ist zwar materiell schneller übertragbar, es erfor-dert aber bei der Aneignung den gleichen Aufwand wie inkorporiertesKulturkapital bzw. letzteres selbst. Institutionalisiertes Kulturkapital sindstaatlich anerkannte und in ihrer Anerkennung garantierte Abschlüsseund Titel, die, einmal erworben, ihren Träger vom Nachweis seines tat-sächlich akkumulierten Kulturkapitals entlasten .

Ebenso wie bei den materiellen Ressourcen ist die primäre Quelle fürkulturelle Ressourcen bei Jugendlichen die Herkunftsfamilie. Die Über-tragung des Kulturkapitals innerhalb der Familie auf die Heranwachsen-den und die Nutzung dieser kulturellen Ressourcen für deren alltäglicheIdentitätsarbeit gestalten sich jedoch nicht so einfach, wie das beim Trans-fer des ökonomischen Kapitals der Fall ist. Der intrafamiliäre Transfer vonkulturellen Ressourcen setzt Anstrengungen von beiden Seiten, von denEltern und den Kindern sowie Jugendlichen, voraus . In bezug auf die El-terngeneration bemerkt Bourdieu : Das «kulturelle Kapital, das in Wirk-

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lichkeitja in der Familie weitergegeben wird, hängt nicht nur von der Be-deutung des in der häuslichen Gemeinschaft verfügbaren kulturellen Ka-pitals ab, . . . es hängt vielmehr auch davon ab, wieviel nutzbare Zeit . . . inder Herkunftsfamilie zur Verfügung steht, um die Weitergabe des Kultur-kapitals zu ermöglichen . . .» (ders . 1992, S . 72) . Um Kulturkapital wirklichzu inkorporieren, brauchen die Heranwachsenden «sinnhafte Kontaktemit Erwachsenen, die über dieses Kapital verfügen und es bewußt an dieKinder weitergeben» (Youniss 1994, S . 128) .

Auch in bezug auf kulturelle Ressourcen läßt sich nicht einfach die For-mel aufstellen, daß eine um so eher gelingende Identität zu erwarten ist,je größer das Reservoir an kulturellen Ressourcen ist . In Regionen und Mi-lieus, in denen das milieutypische Durchschnittsvolumen von Kulturkapi-tal eher mäßig ist, in traditionsbestimmten Gemeinschaften, in denen dasIdentitätserbe die verbreitete Form der Fortführung elterlicher Identitäts-projekte ist, und in Kontexten, wo die Passungen von Individuum undsozialer Umwelt eher durch die Ein- und Anpassung als durch das Aufsu-chen adäquaterer Kontexte und autonomer und gestaltender Netzwerkar-beit vollzogen wird, kann ein überdurchschnittliches Reservoir an Kultur-kapital die Identitätsarbeit einzelner Subjekte verkomplizieren .

Aber auch ohne das restriktive Feedback des sozialen Umfelds kannein großes und reichhaltiges Reservoir an kulturellen Ressourcen dieIdentitätsarbeit schwieriger machen, einfach gesagt : durch die Qual derWahl. Menschen mit vielen divergierenden Talenten und Bedürfnissen,mit vielen dementsprechenden Kontakten geraten häufig in nicht en-dende Schleifen der Identitätsdiffusion oder des Dauer-fvloratoriums -was bei beschränkteren Ressourcen möglicherweise schneller oder häufi-ger zum Status des Foreclosure oder des Achievements geworden wäre .Eine normative Wertung in dem Sinn, daß der Status des Foreclosure oderdes Achievements eher zu einer gelungenen Identität führe als der Statusder Identitätsdiffusion oder des Dauer-Moratoriums, verbietet sich aller-dings .

Soziale Ressourcen . «Soziale Ressourcen» oder «Sozialkapital» um-schreibt all jene Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu anderen Perso-nen beruhen . Sozialkapital ist die «Gesamtheit der aktuellen und poten-tiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehroder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennensoder Anerkennens verbunden sind . . .» (Bourdieu 1983, S . 190ff) . DerUmfang des «Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach so-wohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tat-sächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des ökonomi-schen, kulturellen oder symbolischen Kapitals, das diejenigen benutzen,

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mit denen er in Beziehung steht» (ders . 1992, S . 64) . Indikatoren für dieQualität der vorhandenen Kontakte sind gegenseitige Nähe, Bindung,Empathie, Respekt und Verständnis (vgl . Zinnecker & Silbereisen 1996,

S . 278) .Zu Sozialkapital gelangen Personen über bewußte oder unbewußte In-

vestitionen in Sozialbeziehungen, «die früher oder später einen unmittel-baren Nutzen versprechen» . Für den Aufbau und die Reproduktion diesesKapitals ist also «unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigenAustauschakten erforderlich, durch die sich gegenseitige Anerkennungimmer wieder neu bestätigt» (Bourdieu 1983, S . 192 f) . Bei der Akkumula-tion von Sozialkapital handelt es sich um scheinbar nicht entgoltene Ver-ausgabung von Arbeit und Geld, Zeit, Mühe, Aufmerksamkeit oder Empa-

thie . Allerdings besteht auch hier das Risiko des Transformationsverlusts,ein «Schwundrisiko», denn es bleibt immer die Gefahr, daß «die Anerken-nung einer Schuldverpflichtung, die angeblich aus einer derartigen ver-tragslosen Austauschbeziehung entstanden ist, verweigert wird» (ebd . S .

73) . Das heißt, daß derjenige, der in eine Sozialbeziehung Mühe, Auf-merksamkeit und Unterstützung investiert, der vielleicht schon einmal fürjemand anderen «seine Beziehungen spielen ließ», von einem anderennichts zurückbekommt, weil dieser eben nicht «seine Beziehungen spie-len lassen» will oder kann .

Obwohl Identität «in unserer Kultur monologisch gedeutet» (Keupp1997b, S . 13) wird, entsteht sie stets in einem Prozeß dialogischer Aner-kennung . Die Verwirklichung individueller personaler Identität, ihre An-erkennung und ihre Beglaubigung geschehen in sozialen Beziehungen,sowohl auf der Ich-Du- wie auch auf kollektiver Ebene . Hier wird Identität

wirklich im Sinne von real und im Sinne von wirkend. Quantität undQualität sozialer Ressourcen sind besondere Herausforderungen undStützen für Identitätsarbeit der Subjekte. Am alter ego, insbesondere den

signifikanten Anderen, arbeite «ich» mich mit meiner Identitätsarbeit ab

und finde zugleich nur dort die Bestätigung meiner Identitätskonstruktion .

Ressourcentransfer von Kapitalien in identitätsrelevanteRessourcen

Für die Identitätsentwicklung ist also weniger der bloße Besitz dieserRessourcen relevant als vielmehr die Art, wie diese im Rahmen einerIdentitätsentwicklung für die jeweiligen Prozesse in identitätsrele-

vante Abläufe übersetzt werden . Hier sehen wir zwei wichtige Trans-

formationsleistungen . In der ersten werden unter der Perspektive derIdentitätsentwicklung bestimmte Kapitalien in andere Kapitalsorten

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verwandelt. In der zweiten werden «äußere Kapitalien» in identitäts-

relevante innere Kapitalien/ Ressourcen übersetzt .

Betrachtet man die erste Leistung, so transferiert ein Subjekt ver-schiedene Kapitalien in andere, indem es beispielsweise soziales Kapital(bestimmte Kontakte, Beziehungen) in kulturelle oder materielle Res-

sourcen verwandelt . Ein Beispiel dafür ist, wenn Freizeitkontakte zur

Arbeitsbeschaffung genutzt werden . Ein Transfer von kulturellem in

soziales Kapital, der zudem bereits relativ identitätsnah verläuft, wirdim weiteren an einem Beispiel beschrieben . Zunächst soll jedoch die

zweite Transformationsleistung näher bestimmt werden. Mit dieser

werden Kapitalien in identitätsrelevante Ressourcen übersetzt . Hier

sehen wir vor allem drei zentrale Übersetzungskategorien :

MateriellesKapital

KulturellesKapital

SozialesKapital

Kapitalsorten und Identitätsentwicklung - drei Übersetzungskategorien

Am Beispiel des sozialen Kapitals verdeutlicht, kann dieses für dieIdentitätsentwicklung des Subjekts in dreifacher Form eine Rolle spie-

len, d. h .1 . als Optionsraum . Die in meinem Netzwerk versammelten Perso-

nen bilden zugleich ein Netzwerk an möglichen Identitätsentwürfenund -projekten . Sie enthalten Vorbilder bzw. Spielvarianten biographi-

scher Abläufe, die unter verschiedenen Aspekten eingeordnet werdenkönnen (ist ähnlich wie ich, ist ganz anders, so möchte ich sein, somöchte ich nicht werden . . .) . Auch in spätmodernen Gesellschaften

bietet das soziale Netzwerk einen herausragenden Anschauungsunter-richt dafür, wie Identitätsentwürfe und -projekte entstehen, wie sie ge-lingen und wie sie scheitern können . Zum zweiten eröffnen die Netz-

werke dem Subjekt Möglichkeitsräume für Identitätsentwürfe . Viele

Träume gewinnen erst in der konkreten Auseinandersetzung mit

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Optionsraum

Subjektive Relevanzstruktur

Bewältigungsressource

Identitäts-entwicklung

signifikanten Anderen ihre iäentitätsrelevante Kraft . Zudem bietet dassoziale Netzwerk (wie viele andere Kapitalien auch) jene Aushand-lungsprozesse an, die ich zur Realisierung eines Identitätsprojekts

brauche. Am Beispiel der intimen Partnerschaft bedeutet dies etwa,daß bestimmte Optionen (eir er von mir angestrebten Form von Part-nerschaft) ohne ein Gegenüb er, das die gleiche Form akzeptiert, ohne

Chance auf Verwirklichung bleiben .

2 . als soziale Relevanzstruktur. Die Entscheidung, welche identitäts-relevanten Perspektiven ich Für meine Person zulasse, erfolgt stets in

einem - oft impliziten - Aushandlungsprozeß im sozialen Netzwerk .

Letzteres fungiert hierbei j , --ich als Filter für die von den Massen-

medien angebotenen «Leber sstilpakete» . Ob ich mich beispielsweise

dafür entscheide, eine bestimmte Körpermode (ein bestimmtesSchlankheitsideal, ein bestimm mtes Fitneßmodell usw) zu einem Iden-titätsentwurf oder -projekt z a machen, hängt stark von der Bewertungdurch signifikante Andere irreines Netzwerks ab (insbesondere des

Partners bzw. der Partnerin und der Peers) . In sozialen Netzwerken

entsteht ein (in seinen Grenzen heute oft unscharfes) Geflecht vonNormalität, von «In» und « Out», von als «cool» bewerteter Abwei-chung bis hin zur mit negativer Sanktionierung verbundenen Aus-

grenzung. Vor allem wird irr r sozialen Netzwerk etwas verhandelt, wasfür den gesamten Identitäts-c rozeß (wie weiter unten noch näher aus-

geführt) konstitutiv ist: soziale Anerkennung .

3 . als Bewältigungsressc zirce . So fungieren soziale Netzwerke inOrientierungskrisen als Rückhalt und emotionale Stütze . Gerade wenn

der Prozeß der Identitäts ildung durch innere Spannungen oderäußere Umbrüche kritisch `wird, ist es eine Frage - hier - des sozialen

Kapitals, über welche Möglichkeiten des «Krisenmanagements» einSubjekt verfügt, weil ihm in seinem Netzwerk entsprechende Unter-stützung zuteil wird oder umgekehrt entsprechende Ressourcen(Liebe, Anerkennung, Zugehörigkeit) entzogen werden .

Diese dreifache Qualität der Kapitalien gilt keineswegs nur für denidentitätsbezogenen Resson rcentransfer des sozialen Kapitals . So bietetbeispielsweise materielles 1-Z-apital eine Vielzahl an optionalen Qualitä-

ten. Mit der Höhe der materiellen Ressourcen steigt zumindest in derwestlichen Welt das, was rr-an sich leisten kann . Zugleich wird eine ge-wisse Relevanzstruktur mitgegeben (teuer ist wertvoll), und nicht we-nige berufliche und freizeitbezogene Identitätsprojekte erklären sichletztlich aus einem Transfer materieller Kapitalien (Hobbys, die man

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sich leisten kann und die «in» sind) . Auch als Bewältigungspotential hatdas materielle Kapital eine eigene Qualität . So können sich Reiche inIdentitätskrisen und deren Begleiterscheinungen (Zusammenbrüche,Alkohol-, Drogenmißbrauch . . .) eine eigene Qualität an «Fluchtstät-ten» und Rehabilitationsmöglichkeiten leisten. Ähnliche Transferpro-zesse gelten für kulturelles Kapital . Auch hier übersetzen Subjekte dasvorhandene Kapital unter anderem in Optionsräume (wenn ein be-stimmtes Wissen dazu anregt, sich mit einer Sache, einem Prozeß näherzu beschäftigen . . .). Relevanzstrukturen und Bewältigungsressourcen .In den beiden folgenden Beispielen soll dies veranschaulicht werden .

Michael/Ost oder: kulturelles Kapital als vertrautes Gegenüber

Michaels soziales Netzwerk brach nach der Wende in Ostdeutschlandzusammen : «Ja, das war kurz nach der Wende. Also da hatte ich so einbißchen Probleme mit dem Ganzen und so. Also habe ich auch vieleFreunde verloren, oder weil ich dachte, es sind Freunde . . . Ich war in derFDJ und so . Ich meine, ich habe auch immer gesagt, wir überholen, ohneeinzuholen, aber na ja, also vielleicht waren es damals dann auch die fal-schen Freunde oder so .» Seine damalige Reaktion auf diese Verengungseines realen Sozialraums war sozusagen noch einmal ein resümierender,bewältigender, auch sich selbst versichernder Schritt in den - nun auchschon historisierten -fiktiven kulturellen Raum der DDR, mit dem er sichidentifiziert hatte . In Michaels Freizeit gibt es eine intensive Beschäftigungmit der von ihm so genannten «altkommunistischen Lektüre» . «Also ichhabe zum Beispiel abgeschlossen den Werner Holt und nicht das Buch,was wir in der Schule gelesen haben, sondern den zweiten Teil . . . . Wo ersich weiterentwickelt hat, dann unter dem Zeichen ä la made in DDR . . . .Ich würde auch sagen, ich konnte mich in dem zweiten Buch da sehr gutmit dem Herrn Werner Holt identifizieren, weil er eigentlich dieselbenProbleme hat wie ich . . . . Aus dem System, wo er kam in das neue . . . .Also ich würde mal sagen, also ich konnte mich wirklich in den Men-schen reinversetzen . Ich mußte auch an manchen Stellen mal aufhörenmit Lesen, hab' gedacht, na . . . eigentlich geht es dir manchmal auchso . . . . Also das und daneben noch so . . . >Wie der Stahl gehärtet wurde>oder auch Anna Seghers' >Das siebente Kreuz> . Habe ich dann vor, alsnächstes dann zu lesen. Also so, was eben doch eine gewisse politischeRichtung zeigt, will ich mal sagen . . .»

Hier vollzieht Michael sozusagen das Curriculum des Literaturunter-richts der DDR-Schule nach deren Untergang . Er nutzt dieses als Bewälti-gungspotential in der für ihn auch identitätsbezogenen Krise nach der

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Wende und der Abwendung vieler damaliger Freunde . Michael scheintsich in der Zeit, die dem Erstinterview vorausging und von der er nun,nach seinen Freizeitbeschäftigungen gefragt, berichtet, so etwas wie eineZeit- und Sinn-Insel zu schaffen, in der er philosophierend, reflektierendund räsonierend seine praktische Neuverortung nach dem Systemum-bruch begleitet . Das aus der vergangenen DDR-Kultur stammende Kultur-kapital enthält offensichtlich einen Optionsraum, in dem Michael mitdem schriftstellerischen Gegenüber von Werner Holt und Anna Seghersseine alten Identitätsprojekte und -entwürfe aufrechterhalten und auchweiterentwickeln kann .

Michaels Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie kulturelle in soziale Res-sourcen transferiert werden (die alten sozialen Kontakte werden inTeilen durch die aus dem kulturellen Kapital stammenden ersetzt) . Ingewissem Sinn kann inkorporiertes Kulturkapital ein erweitertes, indi-rektes, wenngleich zu einem gewissen Teil fiktives Sozialkapital seinund so bei Krisen in der Identitätsentwicklung kompensierend wirken .Die Beschränkung, die der reale Sozialraum bietet - einmal durch seineEndlichkeit, zum anderen durch seine sprichwörtliche Beschränkt-heit -, kann durch die Subjekte kompensiert werden durch eine Inte-gration in einen anderen und ihnen entsprechenderen Diskursraum .

Neben dieser orientierenden Funktion auf der Sinnebene der Identi-tätsarbeit hat Kulturkapital - wie alle anderen Kapitalformen - auchinstrumentelle Funktion . Vor allem inkorporiertes und institutiona-lisiertes Kulturkapital - Wissen, Informationen, Qualifikationen undHaltungen einerseits, Zertifikate, Abschlüsse und Titel andererseits -erleichtern die Umsetzung anvisierter Identitätsprojekte . Bei den Ju-gendlichen unserer Untersuchung zeigt sich die instrumentelle Seitedes Kulturkapitals besonders im Bereich der (Aus-)Bildung . Der in-strumentelle Wert ist dabei jedoch stark von gesellschaftlichen Ent-wicklungen und deren subjektiver Deutung abhängig . Der Mauerfallhat diesbezüglich, wie das folgende Beispiel illustriert, eine Reihe vonUmdeutungen und damit auch Veränderungen von Identitätsprojektenbewirkt .

Sarah und die Umdeutung kulturellen Kapitals nach der Wende

Sarahs Mutter war in der DDR staatliche Leiterin einer kleinen Buchhand-lung. Ihr Mann arbeitete damals beim Rat der Stadt . In der Familie warman sich selbstverständlich einig, daß die 1975 geborene Sarah einmalstudieren soll .

Die Nach-Wende-Transformation mischte allerdings die Karten neu . ImZuge der Privatisierung übernahm Sarahs Mutter die Buchhandlung . Inden unsicheren Zeiten erwartet Sarahs Mutter von den Familienangehöri-gen nun die Mithilfe im Geschäft . Damit veränderte sich auch SarahsBerufsperspektive . Eigentlich wollte sie aufs Gymnasium, um später Ra-diologie zu studieren . Mit dem Verweis auf die unsicheren Zeiten suchtSarahs Mutter eine Alternative . Das Studium verbleibt als künftig relevan-ter Identitätsentwurf, zum konkreten Berufsprojekt wird die krisensichereund auch für die Existenz der Familie wichtigere Ausbildung zur Verwal-tungsfachangestel Iten .

Im Zweitinterview, 1993, ist Sarah 18 Jahre, will immer noch studieren .Nun ist das Ziel nicht mehr Radiologie, sondern Archäologie . Es gibt auchnoch andere hochfliegende Pläne, beispielsweise möchte sie einmal alsAu-pair ins Ausland . Der Vater hat inzwischen seine Stelle bei der Stadt-verwaltung gekündigt, um jetzt nur noch in der Buchhandlung zu helfen .Die Firma scheint sich gut zu entwickeln . Gerade sind die Eltern aus ihrerMietwohnung in eine Eigentumswohnung umgezogen, während Sarah inder Mietwohnung bleibt . Sie spricht davon, daß ihre Eltern ein großesHaus kaufen wollen und daß sie dort die Dachwohnung bekommen solle .Die Mutter hat der Tochter ein Auto geschenkt, sie bezahlt zudem die Fix-kosten und die Wohnung .

Im Drittinterview 1995 ist Sarah 20 und hat ihre Verwaltungsausbil-dung nunmehr abgeschlossen . Sie ist, wie erhofft, übernommen wordenund hat sich nach einigen Monaten in der Stadtverwaltung initiativ aufeine Stelle bugsiert, auf der die Arbeit anspruchsvoller ist und für die sieeigentlich noch gar nicht ausreichend qualifiziert ist . Jetzt überlegt Sarah,ob sie nicht «irgend etwas mit Recht» studieren soll . Im Unterschied zuden Jahren zuvor möchte sie aber den Entwurf «Studium» nun zum kon-kreten Identitätsprojekt werden lassen . Ihre Mutter will das verhindern,weil sie möchte, daß Sarah sich bereithält, um zu einem noch unbe-stimmten Zeitpunkt in die erfolgreiche Firma einzusteigen .

Hier konfligieren ein Identitätsentwurf, ein biographisches Projekt,das noch dem DDR-spezifischen Modus des Kapitalsortentransfersentspricht, mit einem Projekt, das dem spezifischen Nachwende-Mo-dus des Kapitalsortentransfers entspricht (vgl . Ahbe 1999c) . Vor derSystemtransformation deckte sich noch der Studienwunsch der Toch-ter mit den Vorstellungen der Mutter. Mit einem Hochschulstudiumwar damals ein qualifizierterer Arbeitsplatz und eine lukrativere Exi-stenz als die einer Buchhändlerin oder Verkäuferin zu erwarten .

Die Investition in Bildungskapital, in diesem Fall in Qualifikation,

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war in einer mehr oder weniger nach einem Gesamtplan funktionie-renden Gesellschaft wie der DDR viel weniger eine Risiko-Investition,als sie das für die Jugendlichen in der heutigen Gesellschaft ist . Freilichkönnen heute die Renditen für Bildungsinvestitionen bedeutend höherals im Sozialismus ausfallen, wenn es denn zur Rendite kommt . In derDDR lag das Problem vor dem Studium, Studienplätze waren hierknapper als nach der Wende. Hatte man diese Zugangshürde aber ge-nommen, konnte man sicher sein, daß sich die Investition in einehöhere Arbeitsqualifikation in bezug auf den sozialen Status, die Ar-beitsbedingungen und - auf längere Sicht auch auf das Einkommen -rentiert . Das mochte die Regel sein, auf die Sarah hier rekurriert .

Die Mutter realisiert jedoch offenbar, daß sich mit der Transforma-tion im Osten das symbolische Gewicht und die Verwertungsbedin-gungen der Kapitalsorten grundsätzlich geändert haben . Während fürSarah die Verwaltungsfachausbildung nur ein in den unsicheren Über-gangsjahren ratsamer taktischer Umweg zum Studium war, ist für dieMutter das Studium schlicht eine Fehlinvestition, die es zu verhinderngilt. Für die Mutter ist es deswegen eine Fehlinvestition, weil die Ziele,die zu DDR-Zeiten mit einem Studium erreichbar waren - Status, guteArbeitsbedingungen und höheres Einkommen-, für die Tochter nunauch ohne Studium erreichbar seien .

Identität als Narration(sarbeit)

Wir haben bisher Identitätsarbeit analysiert als einen Passungsprozeß,bei dem vergangene, gegenwärtige und zukunftsbezogene Selbsterfah-rungen unter verschiedenen Identitätsperspektiven reflektiert und zuTeilidentitäten zusammengefaßt werden. Dieser Prozeß funktioniertnicht, ohne daß unterschiedliche Sorten von Ressourcen identitätsbe-zogen verarbeitet werden, und wir haben darauf hingewiesen, daß dergesamte Identitätsprozeß voller Ambivalenzen, Spannungen und Wi-dersprüche ist . Identität als Passungsarbeit meint nicht, diese Differen-zen zu harmonisieren, sondern sie in ein für das Subjekt lebbares Be-ziehungsverhältnis zu bringen . Offen ist noch, womit dieser Prozeß inseinen verschiedenen Schritten vom Subjekt aus konstruiert wird .Oder, anders gefragt : Was ist das Mittel der Verknüpfungsarbeit?Wenn wir in der Folge davon sprechen, daß Identitätsarbeit stets auchNarrationsarbeit ist, dann gehen wir davon aus, daß Identitätsbildung

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wesentlich mit dem Mittel der Selbstnarration erreicht wird . Erzählendorganisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einenVerweisungszusammenhang . Die narrativen Strukturen sind keineEigenschöpfung des Individuums, sondern im sozialen Kontext veran-kert und von ihm beeinflußt, so daß ihre Genese und ihre Veränderungin einem komplexen Prozeß der Konstruktion sozialer Wirklichkeitstattfinden. Insofern präformieren sie die Art und Weise, in der einePerson sich erzählen kann, und damit auch ihr Verständnis von sichselbst .

Die narrative Psychologie geht davon aus, daß wir unser ganzes Le-

ben und unsere Beziehung zur Welt als Narrationen gestalten (Man-cuso 1986), daß wir aber auch die alltägliche Interaktion und die Orga-nisation von Erlebtem narrativ betreiben. Insofern handelt es sich beider Narration nicht um einen Lebenslauf, den man - nicht allzu häufig- schreibt und fortschreibt, sondern um einen grundlegenden Modusder sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Narrationen machen ver-gangene Ereignisse sozial sichtbar und dienen dazu, die Erwartung zu-künftiger Ereignisse zu begründen . In dem Maß, wie Ereignisse narra-tiv verhandelt und wahrgenommen werden, «werden (sie) mit demSinn einer Geschichte aufgeladen . Ereignisse bekommen die Realitäteines <Anfangs>, <Höhepunktes>, <Tiefpunktes>, <Endes> usw Die Men-schen agieren die Ereignisse in einer Weise aus, daß sie und andere sieauf eben diese Weise einordnen . . . . So leben wir also auf signifikanteWeise durch Geschichten - sowohl durch das Erzählen als auch durchdas Handeln des Selbst» (Gergen & Gergen 1988, S . 18) .

Die Art und Weise, in der das Individuum selbstrelevante Ereignisseauf der Zeitachse aufeinander bezieht, bezeichnen wir - mit Gergen &Gergen - als Selbstnarration . Selbstnarrationen bleiben nicht stabil,sondern bilden und verändern sich in sozialen Aushandlungsprozessen .Man kann sie als ein linguistisches Werkzeug betrachten, das vonIndividuen in Beziehungen konstruiert und verwendet wird, um ver-schiedene Handlungen zu stützen, voranzutreiben oder zu behindern .Sie sind symbolische Systeme, die für Rechtfertigung, Kritik und / oderdie Produktion von Kohärenz verwendet werden .

Selbsterzählungen sollen Antworten formulieren auf die Frage :«Wer bin ich?» und: «Warum bin ich so, wie ich bin?» Insofern ma-chen sie eine Person verstehbar für andere . Was jemandem wider-fährt, wie er die Welt sieht und wie er Erlebtes bewertet, das allesmacht Menschen sichtbar und gibt ihnen für sich selbst und für an-

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dere eine Gestalt . Die Konstruktionsarbeit an diesen Selbstgeschichten

ist ein ständiger Prozeß, der wesentlich von sozialem Aushandeln ge-

prägt ist.

Selbsterzählungen gestalten

Die Gestaltungsdimensionen sind - wie die literaturwissenschaftliche

Narrationsforschung gezeigt hat - sehr vielfältig . Eine ganz offensicht-

liche Dimension ist der konkrete Inhalt selbst, das heißt Thema, De-

tailreichtum und Vielschichtigkeit . Man kann eine Selbsterzählung

- plakativ gesagt - aufbauschen oder sparsam gestalten oder gar

verschweigen . Spontan würde uns sicher eine Reihe von Gründen ein-fallen, warum jemand die eine oder die andere Strategie wählt . Viele

werden mit der Frage zu tun haben, wie jemand sich in einer bestimmtenSituation bestimmten Personen gegenüber präsentieren möchte. Es

handelt sich also nicht um zufälliges, formloses Geplapper, sondern um

die strategische Wahl einer Selbstdarstellung . Ein Beispiel für eher spar-

same Erzählungen stellt in der Empirie der Bereich der Sexualität

dar. Oft war es in den Interviews schwierig, den Interviewpartnern für

dieses Thema einen angemessenen Erzählrahmen zu schaffen . Entspre-

chend einsilbig blieben manche Selbsterzählungen zu diesem Thema .

Häufig hatten die Interviewer auch den Eindruck, daß diese Erfahrungnoch nicht gemacht ist, das Thema also «in Arbeit» ist : Der Erzähler

möchte deshalb noch nicht darüber sprechen, weil er seine Erzählung

noch nicht fertig hat . Er ist erst am Erleben bzw. auf der Suche nach einer

stimmigen Form der Präsentation .Wenn wir davon ausgehen, daß in den Lebenswelten Familie/Part-

nerschaft, Arbeit und Freunde / Freizeit Teilidentitäten entwickelt wer-den, dann haben wir schon einmal zumindest drei Inhaltsbereiche für

Selbsterzählungen. Für ihre Gestaltung gibt es - abgesehen vom kon-

kreten Inhalt - eine Vielzahl von Möglichkeiten . Eine besteht in der

Positionierung des Akteurs (vgl . Kraus 1996) . Psychologisch gespro-

chen kann sich der Erzähler «stark oder schwach» machen, je nachdem,

wem er die Kontrolle Tiber sich zuschreibt : Habe ich etwas getan, oder ist

mir etwas widerfahren, bin ich Akteur meiner Geschichte, oder bin ichObjekt in ihr? Auch der Spannungsbogen kann sehr unterschiedlich

sein. Eine «coole» Geschichte etwabemüht sich, die Spannung möglichst

gering zu halten . Gergen & Gergen (1988) unterscheiden auf einer sehr

allgemeinen Ebene drei Formen der Selbstnarration . In der Stabilitäts-

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narration bleibt das Individuum im wesentlichen durch den Gang der Er-eignisse in seiner evaluativen Position unverändert . Im Kontrast dazustehen als zweite Form die progressiven und als dritte Form die regres-siven Narrationen, in denen sich die Position des Individuums auf derEvaluationsdimension über die Zeit verändert . Im allgemeinen bestätigtsich in unserer Untersuchung ein Trend, den Gergen & Gergen konsta-tieren : Jugendliche formulieren in der Regel progressive Narrationen,das heißt, in ihren Erzählungen geht es «aufwärts» . Dies gilt nicht füralle, und vor allem bedeutet es keinen kontinuierlichen Anstieg . Im Ge-genteil erleben sie den Verlauf ihrer Geschichten oft als hochdramati-sches Auf und Ab. Die verschiedenen Ansätze der Narrationsanalyseverweisen noch auf weitere Dimensionen, zum Beispiel die sprachlichenMittel, Syntax, Grammatik und die Gestaltung von Anfang und Ende . Ineiner Selbstnarration zeigt sich der einzelne also keineswegs bloß überden Inhalt, sondern über eine Vielzahl von Signalebenen .

Soziale Konstruktion und Wahrheit

Die realen Fakten sind für die Selbsterzählungen ein bloßer Steinbruch .Es ist offensichtlich, daß «Menschen sich beim Verstehen kulturellerPhänomene mit der Welt nicht Ereignis um Ereignis auseinandersetzen,noch auch nur mit einem Text Satz für Satz . Sie bauen Ereignisse undSätze in größere Strukturen ein . . . Diese größeren Strukturen bieteneinen interpretativen Kontext für die von ihnen umfaßten Komponen-ten» (Bruner 1997b, S . 80) . Es geht also um «meaning making» undnicht um Faktizität. Und diese Sinnstiftung soll auch nicht primär dieeigene Geschichte als etwas Gelebtes verstehbar machen, sondern sievielmehr für die Zukunft offenhalten (vgl . Freeman 1993, S . 216) .Selbsttäuschungen über die eigene Vergangenheit werden als «positiveIllusionen» zur Grundlage psychischen Wohlbefindens (Taylor &Brown 1988) .

Nadja -Die narrative Konstruktion einer Liebe auf den ersten BlickNadja, 21, berichtet im zweiten Interview, wie sehr sich ihr Leben in denletzten Monaten geändert hat . Vor neun Monaten hat sie sich in einen jun-gen Mann verliebt, drei Monate später zog sie zu ihm, und in drei Wochenwird sie ihn heiraten . Sie ist gerade dabei, die Details der Hochzeit zu pla-nen, und hat alle Hände voll zu tun . Ihr Freund, der wie vom Himmel ge-

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fallen war, habe, so sagt sie, ihr Leben um 180 Grad geändert . Sie hat ihrePeer-group aufgegeben, weil sie mit den alten Freunden nichts mehr an-fangen kann . Kontakt hat sie jetzt hauptsächlich mit jungverheiratetenFrauen . Die überraschte Interviewerin fragt, was denn aus Sascha, ihremFreund zum Zeitpunkt des ersten Interviews zwei Jahre zuvor, gewordensei . Nadja kann sich gar nicht mehr an den jungen erinnern . Die Intervie-werin ist irritiert und glaubt sich zunächst in einer falschen Geschichte .Erst ganz allmählich, über mehrere Anläufe, wird klar, daß der Hauptak-teur in der Geschichte «Liebe auf den ersten Blick» ein alter Bekannter undin der Tat jener Sascha ist, der zwei Jahre früher in den Erzählungen Nad-

jas die Rolle des «beziehungsmäßigen Notnagels» eingenommen hat .Eine eher lose Partnerschaft hat an Dynamik gewonnen und mündet in

das traditionale Familienmodell samt Veränderungen des Freizeitverhal-tens und des sozialen Netzwerks. Die Narration Nadjas handelt indesnicht von allmählicher Entwicklung, sondern von plötzlicher Verände-rung, von schicksalhaftem Geschehen . Die frühe Entscheidung für Eheund traditionale Rollenverteilung wird mystifiziert . Nicht sozialer Druckoder äußere Umstände sind die Triebkräfte, sondern der Ruf des Herzens .Statt als soziale Anpaßlerin präsentiert sich uns so eine Akteurin, die amMysterium der Liebe teilnimmt . Und sie muß dafür, anders als im Arbeits-bereich, nicht einmal verantwortlich zeichnen, war es doch nicht ihreEntscheidung, sondern ein Wink des Schicksals .

Nadjas Beispiel zeigt, daß es nicht nur um Geschichten geht, sondernauch um Begründungen, um die Frage, warum jemand etwas tut undetwas anderes läßt . Indem sie von ihrer Liebe als etwas Schicksalhaftemerzählt, begründet sie auch, warum sie jetzt heiraten wird und sich ent-schieden hat, nicht mehr zu arbeiten . In Narrationen tauchen solche Be-gründungen auch explizit auf: Jemand hatte «keine Wahl» oder wollte«schon immer» dies oder jenes tun . Auch solche Erklärungen sind zu-kunftsmächtig . Sie verengen Perspektiven oder legitimieren Neuorientie-rungen .

Marco - Vom coolen Typ zum armen Teufel

Marco erzählt im zweiten Interview sein Leben als eine endlose Folge vonDramen und Unglijcken . Als er 17 war, hat ihn sein Vater aus der Woh-nung geworfen, so daß er zeitweise buchstäblich unter der Brücke schlief .Kurz danach hatte er einen schweren Autounfall, was ihm mehrfacheOperationen und lange Aufenthalte in Klinik und Reha bescherte . Etwazur gleichen Zeit wurde er wegen Serieneinbruchs verurteilt und mußtedanach für einige Zeit ins Gefängnis . Kein Engel, aber - in der Häufungder Schicksalsschläge - doch ein armer Teufel .

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Im ersten Interview dagegen war der arme Teufel ganz cool . Damalsdatierte er den Hinauswurf des Vaters zwei Jahre später, auf sein 19 . Le-bensjahr. Der Verkehrsunfall wurde beiläufig erwähnt, ebenso wie dieVerurteilung . Damals hatte die Geschichte einen coolen Typen als Haupt-person, an dem alles abtropft; in der neuen Geschichte ist die Hauptrollevon einem armen Teufel besetzt .

Deutlich wird, daß Marco an einer Selbstgeschichte arbeitet, die an-schlußfähig in die Zukunft ist. Die Coolness-Story war es nicht, soviel istihm klargeworden . Der Panzer des Helden ist brüchig geworden, jamanchmal hat man als Zuhörer das Gefühl, der Erzähler mache dieBruchstellen im Panzer noch größer, als sie ohnehin schon sind . Denn so-viel ist klar : Die neue Geschichte hat auch den Aspekt der sozialen Ak-zeptanz, des Mitgefühls .

Schicksalhaftigkeit wie in Nadjas Erzählung ist eine mögliche Strate-gie der Begründung von Entscheidungen (vgl . Vale 1988) . Sie wird inunseren Interviews vor allem im Bereich der persönlichen Beziehun-gen eingesetzt zur Erklärung für Zusammenbleiben oder Trennung .Aber auch eine Berufswahl läßt sich so erzählen, allerdings erwartenwir hier in der Regel eher rationale Begründungen . In der Liebe dage-gen will man gerade vermeiden, die rationale Dimension der Entschei-dung zu betonen . Eine zweite Begründungsstrategie ist das objektiveHindernis. Es erspart einem viele Erklärungen . In Selbstnarrationentaugt es hervorragend, um sich als autonom handelndes Subjekt dar-zustellen, das dennoch die Grenzen seiner Autonomie anerkennenmuß . Eine Berufswahl etwa, die der Interviewer mißtrauisch als dritteWahl einschätzt, wird zwingend gemacht durch das Hindernis der Ver-kehrsanbindung. Nicht Feigheit, Angst vor der eigenen Courage oderder Druck der Eltern waren die Beweggründe für die bescheideneWahl, sondern die fehlende Busanbindung .

Dagegen ist die Opposition oder Gegenabsicht das narrative Mittel,welches die Erzählung dynamisiert. Sie erscheint als die faustischen«zwei Seelen in einer Brust» oder auch als Meinungsstreit, zum Bei-spiel mit dem Vater. Diese Spannung liest sich - in Romanen - gut, er-zählt sich aber - in Selbstnarrationen - eher schlecht. Im Widerstreitder Gefühle zu liegen: da braucht es eine recht intime Beziehung undein gewisses Selbstwertgefühl oder auch einen hohen Leidensdruck,wie etwa im Moratorium, um sich so darzustellen. In den Interviewserleben wir sie in einem gewachsenen Vertrauensverhältnis oder aberin akuten Krisensituationen der Interviewpartner. Die Macht dieser er-

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zählerischen Mittel zeigt sich in der Reaktion der Interviewer. Sie er-innern sich gerade an solche Episoden höchst intensiv, verbunden mitdem Leiden an ihrer Interviewerrolle, die Hilfsangeboten Grenzen

setzt .Die dramatische Qualität eines Ereignisses ist keine Qualität des Er-

eignisses selbst, sondern abhängig von seiner Position innerhalb einerNarration. Die Redewendungen «aus der Mücke einen Elefanten ma-chen» oder «so tun, als ob nichts gewesen wäre» verweisen pointiert

auf die diskursive Konstruktionsarbeit, die notwendig - und möglich -ist, um die dramatische Qualität einer Narration zu verstärken oder ab-zuschwächen . Nicht die Ereignisse selbst bewirken diese Qualität, son-dern die Beziehung zwischen Ereignissen .

Selbstnarration als Aushandlung

Ob eine gegebene Narration aufrechterhalten werden kann, hängt we-sentlich von der Fähigkeit des Individuums ab, über die gegenseitigeBedeutung von Ereignissen mit anderen erfolgreich zu verhandeln .Dies ist besonders notwendig, wenn das Individuum in bezug auf all-gemein anerkannte Normen falsch gehandelt hat . Allerdings findendiese Verhandlungen nicht unbedingt in der Öffentlichkeit statt . Viel-mehr nimmt der einzelne diesen Schritt schon vorweg und berücksich-tigt die allgemeine Verstehbarkeit seines Handelns noch vor der Reali-sierung. Möglicherweise ist der größte Teil des Verhandlungsprozessesantizipatorisch und findet vor einem imaginären Publikum statt, waswiederum die reale menschliche Interaktion entlastet .

Die Ereignisse, die in die Narration verwoben sind, sind nicht nur dieHandlungen eines einzelnen Individuums, sondern ebenso die Hand-lungen von anderen (Gergen & Gergen 1988) . Auf diese Weise kom-men die Handlungen anderer als integraler Teil des eigenen Handelnsins Spiel . Narrative Konstruktionen benötigen deshalb typischerweisehandlungsstützende Rollenbesetzungen . Eine Selbstnarration kannnur dann erfolgreich aufrechterhalten und fortgeschrieben werden,wenn die handlungsstützenden Rollenträger bereit sind, die Darstel-lungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitzutragen. DieGeschichte vom ekelhaften Chef etwa bedarf der Validierung durch an-dere Mitarbeiter. Dieses Austarieren macht komplexe Aushandlungs-prozesse zwischen den Beteiligten nötig . Solche Prozesse sind bei denJugendlichen primär von den Akteuren der Herkunftsfamilie und den

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Peers geprägt. Sie sitzen im Interview zuweilen - imaginär - mit amTisch. Geschichten werden dann nicht nur dem Interviewer erzählt,sondern etwa dem Vater oder der Freundin .

Die empfindliche Interdependenz der Narrationen legt die Thesenahe, daß ein fundamentaler Aspekt sozialen Lebens für ein reziprokesVerhandeln von Bedeutung ist. Weil die narrativen Konstruktionen ei-ner Person nur so lange aufrechterhalten werden können, wie andereihre stützende Rolle richtig spielen, und weil man andererseits von an-deren benötigt wird für stützende Rollen in ihren Konstruktionen, be-droht jedes Abtrünnigwerden eines Teilnehmers die ganze Palette in-terdependenter Konstruktionen . In solchen Fällen ziehen die Partnerwechselseitig ihre unterstützenden Rollen zurück, und das Ergebnis istein totaler Verfall der Narration, zu der sie beigetragen haben . Insofernist die Stabilität unserer Identität als Selbstnarration eine öffentlicheAngelegenheit .

Der ohnmächtige Erzähler: Selbstnarration und Macht

Zwar sind die Subjekte darauf angewiesen, daß sie in ihren Selbsterzäh-lungen von ihren Kommunikationspartnern unterstützt werden, aberdieser Unterstützungsprozeß wird nicht erst situativ organisiert . Ins-besondere die Diskurstheorie verweist darauf, daß die gesellschaftlichenMachtverhältnisse in den je aktuellen Fundus von Selbstnarrationeneingewoben sind (vgl . Potter & Wetherell 1987; Jäger 1993) . Insofernsind Selbsterzählungen nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Pro-zesse. Indem sie sich auf das gesellschaftlich verfügbare Formenpoten-tial stützen, schreiben sich die darin eingewobenen Machtbeziehungenauch ein in die Ausgestaltung individueller Erzählungen . Diese Über-legung führt zurück zu einer schon mehrfach angeschnittenen Frage,nämlich wie sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die ja auch

mit einer Veränderung von Machtstrukturen einhergehen (können),auf der Ebene der Selbstnarrationen abbilden . Wo sind die Freiheits-grade, die sozialen Verwerfungen, welche Spielräume eröffnen, wo istdas Feld für derartige Experimente, sich zu erzählen?

Eine Reihe von Veröffentlichungen (z . B. McLaren 1993; Hall 1994),insbesondere von feministischen Autorinnen (Personal NarrativesGroup 1989), weisen auf den Kampf hin, der nötig ist, um in dieses nar-rative Formenpotential einzudringen, es zu öffnen für Narrationsfor-men, die die soziale Differenz nicht leugnen und statt dessen in einem

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tatsächlich offenen Prozeß der Aushandlung gestaltet werden . Sie zei-

gen, daß es zwar möglich ist, «alte» Geschichten neu oder auch

«um»zuerzählen ; sie zeigen aber auch, daß es hier in der Tat um gesell-

schaftliche Machtverhältnisse geht und nicht um eine bloße Weiter-

entwicklung von Diskursformen .Die frage sozialer Macht zeigt sich in Selbsterzählungen, die von

Situationen handeln, in denen der Autor /Akteur zwar formal dieHauptfigur ist, aber sich nicht als solcher empfindet . In unseren Inter-

views waren das ganz markant die Situationen, in denen junge Arbeits-

lose von ihren Versuchen berichteten, sich in die Arbeitswelt zu inte-

grieren. Keine Handlungsstrategie zu haben, zeigt sich hier im Fehlen

von Erzählstrategien. Selbst nach dem dritten und letzten Interview ist

es in einzelnen Fällen noch nicht gelungen, die Geschichte diesesScheiterns zusammenhängend aufzunehmen . Der Erzähler empfindet

sich nicht als Akteur. Er findet sich in einem undurchschaubaren und

fremdbestimmten Spiel. Auch hier zeigt sich die Wirkmächtigkeit der

narrativen Form in ihrer Resonanz auf den Zuhörer, so am Leiden desInterviewers angesichts eines Gesprächspartners, der «herumstottert»,den Faden verliert, «alles durcheinanderwirft», nicht in der Lage ist,«fünf einfache Fakten der Reihe nach zu erzählen» . Solche Geschichten

verweisen massiv auf die Bedeutung von Emotionen für die Erinne-

rungsleistung (Singer & Salovey 1993) .

Zusammenfassung: Die Prozesse der Identitätsentwicklung als

alltägliche Identitätsarbeit

Mit der Wahl des Begriffs der alltäglichen Identitätsarbeit wollen wir

deutlich machen : Identität ist nicht etwas, das man von Geburt an hat,was die Gene oder der soziale Status vorschreiben, sondern wird vom

Subjekt in einem lebenslangen Prozeß entwickelt . Identität verstehen

wir als einen fortschreitenden Prozeß eigener Lebensgestaltung, der

sich zudem in jeder alltäglichen Handlung (neu) konstruiert. Identität

wird also nicht vom Subjekt «ab und zu» gebildet, beispielsweise wenn

es sich fragt: «Wer bin ich eigentlich?» oder von anderen in einen ana-

logen Dialog verwickelt und gefragt wird: «Wer bist du?» Subjekte ar-

beiten (indem sie handeln) permanent an ihrer Identität.

Und Identität ist stets eine Passungsarbeit. In ihrer Selbstkonstruk-

tion nehmen die Subjekte Bezug auf soziale, lebensweltlich spezifi-

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zierte Anforderungen und auf eigene, individuelle Selbstverwirk-lichungsentwürfe . Passung bedeutet nie (nur) Anpassung an außenoder innen, sondern ist stets ein subjektiver Aushandlungsakt zwi-schen oftmals (inhaltlich wie zeitlich) divergierenden Anforderungen .Deshalb beschreiben wir diesen Aspekt der Identitätsarbeit stets auchals eine konfliktbezogene Aushandlung . Dabei werden unterschied-liche Selbsterfahrungen nicht im Sinne eines auf Widerspruchsfreiheitangelegten Gleichgewichtsmodells aufgelöst, sondern in ein dynami-sches Verhältnis gebracht, das treffender als konfliktorientierter Span-nungszustand beschrieben werden kann .

Dieses ist trotz aller Betonung der subjektiven Konstruktionslei-stung nie ohne Ressourcen zu schaffen. Schon die Frage der Anforde-rungen, vor allem die der Passung ist abhängig von den Ressourcen, dieman als Subjekt hat, und der Frage, wie man sich diese im Rahmen sei-ner Identitätsarbeit nutzbar machen kann (Transformation der Kapita-lien in identitätsrelevante Ressourcen) . Hier haben wir eine wichtigeSchnittstelle nicht nur zur Kapitalsortentheorie von Bourdieu, sondernauch zu dem sozialökonomischen Rahmen jeglicher Identitätsentwick-lung .

Für den Transformationsprozeß wie auch für alle anderen prozes-sualen Schritte der Verknüpfung, Aushandlung und Passung gilt :Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion . Das zentrale Me-dium der Identitätsarbeit ist die Selbsterzählung . Damit meinen wirdie Art und Weise, wie das Subjekt selbstrelevante Ereignisse auf derZeitachse aufeinander bezieht und «sich» und anderen mitteilt. DieseSelbsterzählungen werden von gesellschaftlich vorgegebenen Fertig-packungen ebenso beeinflußt wie von Machtstrukturen . Insofern sindSelbsterzählungen nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Akte,sondern werden durch erzählerische Muster, medial verstärkte Meta-erzählungen und von Machtfragen geprägte Darstellungsmechanis-men mit beeinflußt .

Die Frage «Wer bin ich - wer will ich sein?» löst sich prozessual zu-nächst auf in eine Vielzahl relationaler Fragen : Wer bin ich in bezugauf frühere Erfahrungen von mir? Wer bin ich unter Bezug auf dieRückmeldung von anderen? Wie soll ich/ wie will ich mich anderen ge-genüber darstellen? Wie paßt die situationale Selbsterfahrung zu mei-nem Bild von mir als Freund(in), als Partner(in), als Arbeitskolle-ge(kollegin)? Wie groß ist die Differenz zwischen dem, was ich gernwerden möchte, und dem, wo ich jetzt stehe? Wo liegen die Herausfor-

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derungen für meine weitere Entwicklung? Das Subjekt verknüpft inmehreren relationalen Schritten die Erfahrungen von sich selbst zuunterschiedlich komplex organisierten Konstruktionen, zu situationa-len Selbstthematisierungen, Teilidentitäten und teilidentitätsübergrei-fenden Konstruktionen .

4.2 Konstruktionen der Identitätsarbeit

Identitätsarbeit wurde bisher entwickelt als ein evaluativer Prozeß, in-nerhalb dessen die Person ihre Erfahrungen integriert, interpretiertund bewertet. Identität bildet eine selbstreferentielle Struktur, einen,wie Bohleber (1997) es auch bezeichnet, «intermediären Raum», dermit Vorstellungen über das Selbst und die Welt der Objekte «gefüllt»werden kann. Dieser Prozeß, mit dem ein Subjekt alle sich selbst be-treffenden Erfahrungen reflektiert, führt neben den situationalenSelbstthematisierungen im wesentlichen zu vier weiteren Konstruk-tionen :•

Über die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen und deren Inte-gration entstehen Teilidentitäten .

Über die Verdichtung biographischer Erfahrungen und Bewertun-gen der eigenen Person auf der Folie zunehmender Generalisierungder Selbstthematisierung und der Teilidentitäten entsteht das Iden-

titätsgefühl einer Person .•

Der dem Subjekt bewußte Teil des Identitätsgefühls führt zu einernarrativen Verdichtung der Darstellung der eigenen Person, den bio-graphischen Kernnarrationen .

Alle drei Ergebnisse der Identitätsarbeit schließlich münden in dem,was wir im weiteren als Handlungsfähigkeit bezeichnen . Diese hateine innere und eine äußere Komponente und markiert die Funktio-nalität der Identitätsarbeit für das Handeln eines Subjekts .Die folgende Abbildung symbolisiert das Beziehungsverhältnis der

Teilkonstruktionen äer Identitätsarbeit . Alle Konstruktionen unterlie-gen dabei einem fortlaufenden Veränderungsprozeß, das heißt, sie sindmehr oder minder stabil . Am Beispiel der Teilidentitäten verdeutlicht,bedeutet dies zweierlei : Zum einen können sich Teilidentitäten sub-stantiell verändern (bei einer beruflichen Neuorientierung beispiels-weise die arbeitsbezogene Teilidentität) . Zum anderen können neue

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