Die Hirten des Dionysos (Die Dionysos-Mysterien der römischen Kaiserzeit und der bukolische Roman...

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Einleitung Hue pater o Lenaee veni (Georg. Il 7) Dieses Buch hat zwei Themen, die eng miteinander zusammenhängen: Die Religion und die Mysterien des Dionysos in der Zeit, als die Griechen in der Ruhe und Sicherheit der Pax Romana lebten, und den Hirtenroman des Longus. Es wird von einem anderen Dionysos die Rede sein, als der Leser erwartet. Wenn der Name dieses Gottes fällt, dann denkt man an jenen gewaltigen Gott, in dessen Dienst die Athener Tragödie und Komödie geschaffen haben und der uns auf den Vasen so lebendig entgegentritt. Man denkt, im Bann von Nietzsches „Geburt der Tragödie", an Dionysos als den Antipoden des Apollon. Aber die großartige Dimension, welche wir im allgemeinen mit Dionysos verbinden, hat der Gott erst in Athen erhalten. Vorher war er ein Gott der Natur gewesen, der Gott des Wachsens und Gedeihens der Fruchtbäume und der Reben, der Gott, durch dessen Wirken im Umlauf der Jahreszeiten (Hören) sich alles periodisch verjüngt und erneuert. Er war ein Gott des Draußen (άγρότερος) und der Felder, den die Landleute verehrten. Es ist charakteristisch, daß Dionysos in den homerischen Gedichten eine untergeord- nete Rolle spielt, ganz wie Demeter, die Göttin der Feldfrucht. Die kriegerischen Aristo- kraten Homers hatten an diesen Göttern der Bauern kein Interesse; sie erwarben ihren Lebensunterhalt mit dem Speer, nicht mit der Hacke. Dionysos erhielt eine andere Bedeutung, als in Athen eine reiche städtische Kultur aufblühte. Der Tyrann Peisistratos, der sich auf das einfache Volk stützte, hat den Gott der Weinbauern in die Stadt geholt und neben den ländlichen Dionysien (Διονύσια κατ' άγρούς) die städtischen Dionysien (Διονύσια έν άστει) begründet. Wie es bei den ländlichen Festen Tänze und mimische Spiele gegeben hatte, so wurden nun auch in der Stadt dionysische Spiele eingerichtet; aber diese bekamen eine andere Dimension: Es wurden Preise für die besten „Spiele um den Bock" (Tragödien) und „Spiele im festlichen Schwärm" (Komödien) ausgesetzt, und die begabtesten Köpfe schrieben nun Theater- stücke, die für die ganze Bürgerschaft bestimmt waren, für die Aristokraten wie für das einfache Volk. Die auf das Volk gestützte Tyrannis des Peisistratos wurde durch die Demokratie abgelöst, und nach dem Sieg der Griechen über die Perser gewann Athen eine überragende Stellung. Jeder Athener hatte das Empfinden, daß die Stadt seine Polis sei und daß es gerade auf seine Mitwirkung ankomme, und eine Zeitlang schien es, als sei dieser Stadt alles möglich: Man hatte die besten Architekten, Maler, Bildhauer; mit den Chören und Reigentänzen der Athener konnte keine andere Stadt konkurrieren; die Tragödien und Komödien waren das Erstaunen von Hellas. Man fühlte sich so stark, daß man militäri- Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:38 PM

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Einleitung Hue pater o Lenaee veni

(Georg. Il 7)

Dieses Buch hat zwei Themen, die eng miteinander zusammenhängen: Die Religion und die Mysterien des Dionysos in der Zeit, als die Griechen in der Ruhe und Sicherheit der Pax Romana lebten, und den Hirtenroman des Longus.

Es wird von einem anderen Dionysos die Rede sein, als der Leser erwartet. Wenn der Name dieses Gottes fällt, dann denkt man an jenen gewaltigen Gott, in dessen Dienst die Athener Tragödie und Komödie geschaffen haben und der uns auf den Vasen so lebendig entgegentritt. Man denkt, im Bann von Nietzsches „Geburt der Tragödie", an Dionysos als den Antipoden des Apollon. Aber die großartige Dimension, welche wir im allgemeinen mit Dionysos verbinden, hat der Gott erst in Athen erhalten.

Vorher war er ein Gott der Natur gewesen, der Gott des Wachsens und Gedeihens der Fruchtbäume und der Reben, der Gott, durch dessen Wirken im Umlauf der Jahreszeiten (Hören) sich alles periodisch verjüngt und erneuert. Er war ein Gott des Draußen (άγρότερος) und der Felder, den die Landleute verehrten.

Es ist charakteristisch, daß Dionysos in den homerischen Gedichten eine untergeord-nete Rolle spielt, ganz wie Demeter, die Göttin der Feldfrucht. Die kriegerischen Aristo-kraten Homers hatten an diesen Göttern der Bauern kein Interesse; sie erwarben ihren Lebensunterhalt mit dem Speer, nicht mit der Hacke.

Dionysos erhielt eine andere Bedeutung, als in Athen eine reiche städtische Kultur aufblühte. Der Tyrann Peisistratos, der sich auf das einfache Volk stützte, hat den Gott der Weinbauern in die Stadt geholt und neben den ländlichen Dionysien (Διονύσια κατ' άγρούς) die städtischen Dionysien (Διονύσια έν άστει) begründet. Wie es bei den ländlichen Festen Tänze und mimische Spiele gegeben hatte, so wurden nun auch in der Stadt dionysische Spiele eingerichtet; aber diese bekamen eine andere Dimension: Es wurden Preise für die besten „Spiele um den Bock" (Tragödien) und „Spiele im festlichen Schwärm" (Komödien) ausgesetzt, und die begabtesten Köpfe schrieben nun Theater-stücke, die für die ganze Bürgerschaft bestimmt waren, für die Aristokraten wie für das einfache Volk.

Die auf das Volk gestützte Tyrannis des Peisistratos wurde durch die Demokratie abgelöst, und nach dem Sieg der Griechen über die Perser gewann Athen eine überragende Stellung. Jeder Athener hatte das Empfinden, daß die Stadt seine Polis sei und daß es gerade auf seine Mitwirkung ankomme, und eine Zeitlang schien es, als sei dieser Stadt alles möglich: Man hatte die besten Architekten, Maler, Bildhauer; mit den Chören und Reigentänzen der Athener konnte keine andere Stadt konkurrieren; die Tragödien und Komödien waren das Erstaunen von Hellas. Man fühlte sich so stark, daß man militäri-

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sehe Eroberungsexpeditionen nach Zypern, Ägypten - und leider auch nach Sizilien ausschickte.

Es ist in Athen ein Lebensgefühl entstanden, welches eine vorher unvorstellbare Intensität hatte. Wenn es so etwas gibt wie eine Spannweite menschlicher Existenz, dann wurde sie in Athen um ein Vielfaches erweitert - zum Guten wie auch zum Bösen. Dieses umgewandelte Selbstverständnis der Athener fand seinen Ausdruck in veränderten Vorstellungen von den Göttern. Dionysos, früher nur ein Gott der Natur und der fröhlichen Feste der Landleute, wurde in Athen der Exponent der städtischen Hochkul-tur. Nichts ist für das klassische Athen so charakteristisch wie Tragödie und Komödie, Darbietungen im Dienst jenes Gottes, vor dem in der Festfreude alle gleich waren. Jetzt ist Dionysos die Antithese zu Apollon geworden, dem Gott des Maßes und der Disziplin. Daß doch eine Harmonie zwischen diesen beiden Polen bestand, darauf beruht das Wunder der attischen Hochkultur.

Dionysos als Antipode Apollons ist es, der unsere Vorstellungen beherrscht. In späteren Zeiten aber haben die Griechen andere Empfindungen und Vorstellungen mit Dionysos verbunden: „Wie einer ist, so ist sein Gott."

Das Experiment der attischen Demokratie ist politisch gescheitert. Aber im vierten Jahrhundert haben die Athener ein geistiges Reich geschaffen, die Philosophien des Piaton und Aristoteles, des Epikur und der Stoa. Dies hatte zur Folge, daß die Bedeutung des Apollon und der Athena verblaßte. Sie waren die Götter der Klugheit; sie waren philosophische Götter. Aber nun haben Philosophen diejenigen Gedanken und Vorstel-lungen, welche in den Gestalten des Apollon und der Athena so anschaulich zum Ausdruck kamen, in abstrakter Form gefaßt und in Büchern niedergelegt. Man benötigte Apollon und Athena nicht mehr. Damit war „das Apollinische" als Gegenpol „des Dionysischen" weggefallen, und dies konnte nicht ohne Folgen bleiben für die Vorstellun-gen, welche die Menschen sich von Dionysos machten. Schon im 4. Jahrhundert sind bei den athenischen Dionysosfesten keine Tragödien mehr gespielt worden, die man mit den Stücken des 5. Jahrhunderts hätte vergleichen können.

Immerhin blieb Dionysos ein großer Gott. Als die Griechen in hellenistischer Zeit weite Gebiete des Vorderen Orients eroberten und beherrschten, haben sie ihre überlegene städtische Zivilisation mitgebracht, und deren Gott war jetzt Dionysos. In allen neuge-gründeten oder hellenisierten Städten wurden Theater errichtet, Kultstätten des Gottes; in großen Festprozessionen wurde die überschäumende Kraft dargestellt, welche diese Generationen empfanden. Im Mythos vom Eroberungsfeldzug des Dionysos nach Indien spiegelte sich ihr Lebensgefühl.

Auf dem Lande aber ist Dionysos zu allen Zeiten derselbe geblieben, der er von Anfang an war: Der Gott, der die Früchte und den Wein wachsen ließ und den die Landleute besonders bei der Weinlese und Kelter verehrten. Er war ein fast statischer Gott, in dessen Kult man die traditionellen ländlichen Feste feierte, welche den Kreislauf des Jahres markierten und die stetige Regeneration der Natur ins Bewußtsein riefen.

Im zweiten und ersten Jahrhundert wurden die Römer zu Herren aller Griechisch sprechenden Länder, und alles in allem war die römische Herrschaft ein Segen. Besonders seit die Bürgerkriege der Republik zu Ende gekommen waren und der römische Kaiser das Mittelmeergebiet regierte, als über Jahrhunderte hin im Inneren des römischen

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Reiches Kriege fast unbekannt waren und alles Land von Britannien bis Mesopotamien ein einziges Wirtschaftsgebiet war, da entstand ein Wohlstand, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte.

Aber freilich, politische Menschen sind die Griechen in der Römerzeit in geringerem Maße gewesen als vorher. Sie liebten ihre Stadt und nahmen Anteil an ihrer Verwaltung; aber keiner konnte daran denken, selber etwas Bedeutendes bewirken zu können. Die Menschen wurden Individualisten, die vor allem für ihre Familie lebten.

Auch diese Leute haben den Dionysos verehrt, und aus ihrer Zeit sind viele Zeugnisse über den Kult des Gottes auf uns gekommen, Hunderte von Inschriften und Tausende von Darstellungen der bildenden Kunst. Von der Dionysosreligion dieser Zeit können wir ein deutliches Bild gewinnen. Die Menschen haben nicht mehr den dynamischen Dionysos der Athener und des hellenistischen Zeitalters verehrt, sondern den alten, statischen Gott, der in ewiger Wiederkehr das Ernteglück brachte und der - vielleicht -auch die goldene Zeit zurückbringen würde, ewigen Frieden, Güte, Heiterkeit, Reichtum und jede Wonne.

Die städtischen Kulte des Dionysos haben weiter bestanden; man hat große Prozessio-nen und Festmahlzeiten veranstaltet. Aber im ganzen hat sich der Kult des Gottes mehr auf die private Sphäre verlagert.

Grund und Boden war damals in der Regel im Besitz reicher Bürger, die in der Stadt lebten. Ihr gesellschaftliches Leben war in Vereinen organisiert, und viele dieser Vereine verehrten den Dionysos als ihren Gott. Man kam in der Stadt zu Trinkgelagen zusammen und unternahm regelmäßig dionysische Landpartien. Die Mitglieder nannten sich „My-sten", und ihre Festveranstaltungen waren „Mysterien"; aber ihre Zusammenkünfte sind nicht in unserem Sinn des Wortes mystisch gewesen.

Die Felder und Gärten vor der Stadt und auf dem Land, welche den reichen Städtern gehörten, wurden von Landleuten bewirtschaftet. Sie haben ihre Feste für Demeter und Dionysos, die Göttin des Getreides und den Geber des Weins, gefeiert wie eh und je.

Zur Zeit der Ernte sind die städtischen Besitzer der Felder aufs Land gekommen, um die Arbeiten zu kontrollieren. Sie haben dann an den ländlichen Festen teilgenommen, und in gewissem Maß waren auch noch in dieser Zeit während des Festes alle vor dem Gotte gleich: Die Weinlese war ein Vergnügen für die Besitzer wie für die abhängigen Landleute.

Die Welt der kaiserzeitlichen Dionysosverehrer im Umriß zu rekonstruieren ist der Zweck des ersten Teils dieses Buches. Freilich muß der Leser einige Geduld mitbringen, denn was die Inschriften und bildlichen Darstellungen darbieten, sind sozusagen lauter einzelne Mosaiksteine, aus denen einst das Bild zusammengesetzt war. Wir müssen Steinchen für Steinchen zur Hand nehmen und sie miteinander vergleichen. Nach und nach werden wir zu größeren Feldern kommen, und schließlich wird sich auch für uns ein Gesamtbild ergeben.

Die einzelnen Elemente des Dionysoskultes sind fast die gleichen geblieben wie in der klassischen Zeit. Um dies vor Augen zu führen, habe ich auch literarische Belege aus früheren Jahrhunderten angeführt und in den Anmerkungen auf dionysische Darstellun-gen verwiesen, die sich auf attischen Vasen finden. Die dionysischen Monumente der Kaiserzeit stehen in einer langen Tradition. Noch ganz wie früher hatte der Kult des

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Gottes in hohem Maß den Charakter des schönen Spiels; auch noch in der Kaiserzeit kann man fast sagen: Der Kult des Dionysos war eine Religion des Schönen. Aber das allgemeine Lebensgefühl der Menschen war viel weniger hochgestimmt als früher. So kommt es, daß die heiteren und freundlichen Seiten des Gottesbildes geblieben, die gewaltigen Leidenschaften vergessen sind. Dionysos ist nicht mehr der Gott der Tragödie; er ist nur noch der Herr der Weinlese.

Im zweiten Teil dieses Buches wird dann der Roman des Longus besprochen. Erst in der römischen Kaiserzeit ist die literarische Gattung des Romans entstanden. Da die Gattungen der antiken Literatur religiöse Wurzeln haben, ist es von Interesse zu sehen, daß der Roman des Longus mit den „Mysterien" des Dionysos zusammenhängt. Vor dem Hintergrund der im ersten Teil zusammengestellten Fakten wird man deutlich erkennen, daß Longus seinen Roman für Dionysos-Mysten geschrieben hat. Bei fast jedem Punkt der Handlung gibt es Beziehungen zu dionysischen Ritualen und Festen.

In „Daphnis und Chloe" werden die religiösen Lebensgewohnheiten, ja das Lebens-ideal der Dionysosmysten der Kaiserzeit dargestellt: Der Roman ist der zentrale Text, von dem aus wir diese Religion verstehen können. Es handelt sich um ein verklärtes Clubleben, ein Leben in Schönheit und Wonne (τρυφή); aber diese Religion hatte keinen besonderen Tiefgang und kam fast ohne Philosophie aus. In diesem Punkt ist der Kontrast groß zu jenen anderen Religionen, welche erst in der Römerzeit aufgekommen sind, zu den Mysterien der Isis und des Mithras und zum Christentum: Die Dionysosreli-gion ist noch in der Kaiserzeit eine altertümliche Naturreligion geblieben.

Literarisch interessant ist, wie der Roman des Longus auf zwei Ebenen spielt: Die ganze Erzählung ist durchgehend auf den jahreszeitlichen Ablauf der dionysischen Feste bezogen. Diese religiösen Riten sind wie ein Kellergeschoß, über welchem sich dann die zusammenhängende Erzählung erhebt. In der modernen Literatur könnte man vor allem die Opern und Dramen mit Freimaurer-Hintergrund vergleichen: Die Entführung aus dem Serail, Die Zauberflöte, Nathan der Weise.

Ich bitte um Nachsicht dafür, daß dieses Buch in Paragraphen gegliedert ist, obwohl es weder eine Grammatik noch eine Gesetzessammlung ist. Der erste Teil ist, wie dargelegt, sozusagen aus Mosaiksteinen zusammengesetzt. Um die Korrektheit der Zu-sammensetzung zu dokumentieren und um die Beziehungen des Longus zu den im ersten Teil vorgeführten Belegen zu demonstrieren, waren ständige Querverweise nötig, und dies ließ sich mit Paragraphen am besten erreichen.*)

*) Hermann Wankel und Albert Henrichs haben das Manuscript dieses Buches gelesen und mich vor Fehlern bewahrt. - Walter Burkerts Buch „Ancient Mystery Cults" (Cambridge, Mass. und London 1987) konnte ich nur noch in der Korrektur benützen.

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