Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

128
Moralisierung der Märkte Neue ohnMacht des Konsumenten Die Dokumentation bayreuther dialoge

description

Die Dokumentation zu Deutschlands einzigartigem Symposium für Philosophy & Ökonomie im Jahre 2009. Titel der Veranstaltung: Moralisierung der Märkte

Transcript of Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Page 1: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Moralisierung der MärkteNeue ohnMacht des Konsumenten

Die Dokumentation

bayreuther dialoge

Page 2: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Dialoge sind vorbei! Es leben die Dialoge!

2

Page 3: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Grußwort

Alljährlich zu Beginn des Winter-Semesters finden im Herzen Deutschlands

die Bayreuther Dialoge des Studiengangs Philosophy & Economics (P&E)

statt. Die Themen könnten vielfältiger nicht sein: so ging es in den vergan-

genen Jahren um Solidarität (2004), das Modell Deutschland (2005), Leistung

(2006) und Risiko (2007). Themen, die – wie wir Lehrende es gerne ausdrü-

cken – wissenschaftlich mit analytischer Grundsätzlichkeit an der Schnitt-

stelle von Philosophie und Ökonomie behandelt werden sollten. Themen, die

aber auch jenseits von wissenschaftlichem Impetus gesellschaftlich von In-

teresse sind und daher übersetzt werden müssen in eine disziplinenübergrei-

fende und verständliche Sprache. Wir möchten mit den Bayreuther Dialogen

eine öffentliche Diskussions-Plattform für zukunftsrelevante Fragen bieten,

Themen setzen und Denkanstöße geben.

In diesem Jahr ging es – wie könnte es aktueller sein – um die Moralisierung

der Märkte. Zwei Tage lang haben sich vor dem Hintergrund der weltweit

kritischen Entwicklungen ca. 150 TeilnehmerInnen und Teilnehmer mit Fra-

gen zur Konsumentensouveränität befasst, über die Rolle der Medien und der

NGOs diskutiert und nach den Werten und dem Charakter von Führungsper-

sönlichkeiten gesucht. Der Erfolg der Veranstaltung ist aber wohl kaum der

Finanzkrise allein zu schulden, sondern das Ergebnis des freiwilligen Enga-

gements vieler.

Zu nennen sind da insbesondere die Studierenden, fast ausnahmslos Erstse-

mester! Über ein Jahr lang haben sie sich auf die Dialoge vorbereitet. Wir

schätzen ihr Engagement und wissen, dass sie unser Kapital sind. Deshalb

geben wir ihnen maximale Freiheitsgrade bei der Planung und Durchführung

der Dialoge – es ist ihre Veranstaltung! Und die genießt höchste Achtung!

| 32

Page 4: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Dass wir alle dabei viel lernen, gehört zur menschlichen Seite der Dialoge.

Man könnte sagen, die Studierenden spiegeln eine „Neue Junge Professiona-

lität“ wider, die – und das schreiben uns die Teilnehmerinnen und Teilnehmer

in ihren Rückmeldungen – exzellent ankommt.

Mit der vorliegenden Dokumentation finden die Dialoge ihren Abschluss.

Geld bekommt übrigens keiner: weder unsere Referenten noch das Organi-

sationsteam. Was lange Zeit für das Bayreuther Festspielorchester galt, das

jedes Jahr ohne Gage viele Menschen begeistert hat, soll auch für uns ein

Markenzeichen sein: die Bayreuther Dialoge sind eine honorarfreie Zone und

stellen sich in den Dienst der Sache. Sponsoren unterstützen uns, nicht nur

einige weltweit bekannte Unternehmen, sondern auch viele lokal ansässige

Firmen schätzen die Arbeit der Studierenden. Mir bleibt daher nur die Gele-

genheit, mich bei all den Beteiligten vor und hinter den Kulissen zu bedan-

ken, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen.

Das Menschliche wird übrigens auch auf der Agenda der nächsten Bayreuther

Dialoge stehen, auf die Sie ich jetzt schon aufmerksam machen möchte: No-

tieren Sie sich für den 7. und 8. November 2009 „Agenda Humanitas“ in Ihren

Kalender und lassen wir uns alle überraschen! Die ersten Gespräche mit dem

neuen Organisationsteam 2009 lassen Spannendes erwarten.

Weil die Dialoge aus dem Herzen unseres Studiengangs kommen, sind sie

einzigartig und lebendig zugleich. Ein P&E-Erlebnis! Wie ein Kollege einmal

trefflich formulierte: „P&E ist gar kein Studiengang – es ist eine ganze Welt!“

Vielleicht – so mag der eine oder andere Eingeweihte hinzufügen wollen –

auch noch ein kleinen wenig mehr!

Alexander Brink Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik der Universität Bayreuth und betreuender Professor der Bayreuther Dialoge

4

Page 5: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

| 54

Page 6: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 7: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

GrußwortProf . Dr. Dr. A lexander Br ink

2

Resümee der Bayreuther Dia loge 2008Die Projekt le i tung

8

Die Moral is ierung der MärkteProf . Dr. Nico Stehr

20

Der Konsument - E in mündiger Bürger?Rainer Brüder le

38

Die Moral der Medien - Im Zwiespalt zwischen Qual i tät und Prof i tBodo Hombach

52

Vorbi ldspre is der Bayreuther Dia loge 74

Lohnt s ich Moral im Geschäft? Der Ste l lenwert von Moral für nachhalt igen Erfolg?Dr. h . c . Helmut O. Maucher

78

Festessen 94

Worldcafé 98

Wer br ingt d ie Moral zurück in d ie Märkte?Podiumsdiskuss ion

106

Die unerträgl iche Le icht igkeit des Konsums und die Bürde der Moral Christoph M. Paret

110

Partner der Bayreuther Dia loge 2008 116

Vom Wesen der VerantwortungDr. Alexandra Hi ldebrandt

118

Das Team der Bayreuther Dia loge 128

Page 8: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

bayreuther dialoge

Es ist uns gelungen, eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen, die sich messen

kann mit den ganz großen Symposien.

Projektleitung der Bayreuther Dialoge 2008

8

Page 9: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Moralisierung der Märkte

Am Morgen des 24. Oktober 2008, kurz vor neun Uhr. Als die dreißig Mit-

glieder unseres Teams, ungewohnt formal gekleidet, mit konzentrierten Ge-

sichtern, mit Kartons und Stühlen in den Händen die Vorbereitungen ab-

schließen, wurde uns plötzlich bewusst, dass sich nun zwölf Monate Arbeit

ihrem Ende und gleichzeitigen Höhepunkt zuneigen. Die fünften Bayreuther

Dialoge würden in wenigen Minuten beginnen und das Ergebnis von einem

Jahr Arbeit würde erlebbar werden.

Während das Team unter der Federführung des Ressorts Operatives hochkon-

zentriert alles für den Empfang der ersten der fast 200 angemeldeten Gäste

bereitete, zogen wir uns als Projektleiter zurück, unserem Moderationsmanu-

skript den letzten Schliff zu geben.

Und dann ging es los. Um Punkt neun öffneten sich die Tore des Tagungs-

zentrums und innerhalb von einer Stunde füllten sich Empfangsbereich und

Saal.

Um zehn Uhr standen wir zum ersten Mal auf der Bühne. Als die ersten unse-

rer Begrüßungsworte über das Mikrofon durch den bis auf den letzten Platz

gefüllten Raum klangen, war alle Nervosität auf einen Schlag verschwunden.

Die Veranstaltung zog uns gemeinsam mit Publikum und Referenten in ihren

Bann. Unserer Eröffnung des ersten Veranstaltungstages folgte der Eröff-

nungsdialog mit Herrn Prof. Bernhard Herz, stellvertretendem Präsidenten

der Universität Bayreuth, und Herrn Thomas Ebersberger, dem zweiten Bür-

germeister der Stadt Bayreuth. Sie setzten die Bayreuther Dialoge als Ver-

Unsere Anspannung war in dem stillen Hinterzimmer fast hörbar.

| 98

Page 10: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

anstaltung von Studierenden des Studienganges „Philosophy & Economics“

der Universität Bayreuth in der Stadt Bayreuth in den richtigen Kontext.

Den Reigen der ohne Ausnahme höchst interessanten und lehrreichen Vor-

träge eröffnete standesgemäß der angesehene Soziologe Prof Dr. Nico Stehr,

dessen Buch „Die Moralisierung der Märkte“ für die fünften Bayreuther

Dialoge Pate gestanden hatte. Nach Professor Stehr, der den ersten Teil des

Titels der Veranstaltung definierte, folgte Herr Rainer Brüderle. Der stell-

vertretende Bundesvorsitzender der FDP rückte mit seinem Vortrag nun die

Macht des Konsumenten, Kern des Untertitels, in den Vordergrund. Nach der

wissenschaftlichen Fundierung des beobachtbaren Trends der Moralisierung

der Märkte durch Herrn Prof. Stehr widmete sich Herr Brüderle nun der Rol-

le des konsumierenden Bürgers in diesem Trend zu. Der Konsument habe,

so Herr Brüderle, sofern er in seiner Freiheit durch den Staat nicht einge-

schränkt werde, die Chance, als mündiger Verbraucher sogar Triebfeder des

Trends zu sein. Voraussetzung sei allerdings, dass der Konsument auch bereit

sei, sich die dafür nötigen Informationen zu beschaffen.

Die Mittagspause brachte eine erste Gelegenheit für die Teilnehmer, das

soeben gehörte zu reflektieren und sich darüber auszutauschen. Die kurze

Verschnaufpause bot uns die Gelegenheit, ein erstes vorläufiges Resümee

des Veranstaltungsauftakts zu ziehen. Die vielen heiteren Gesichter, an den

Stehtischen oder am leckeren Buffet in angeregte Gespräche vertieft, schie-

nen darauf hinzudeuten, dass wir die ersten Stunden der fünften Bayreuther

Dialoge durchaus gut gemeistert hatten. Das Team arbeitete konzentriert,

jedoch ob des erfolgreichen Beginns spürbar entspannter als noch in den

frühen Morgenstunden. Dann läutete die Glocke zur zweiten Runde, der

Workshopphase.

Nun kam wortwörtlich Bewegung in das Tagesprogramm. Vor dem Veran-

staltungsgebäude teilte sich das Publikum in knackiger Kälte in sechs Work-

shopgruppen auf, was erstaunlich reibungslos gelang. Ohne größere Zeitver-

10

Page 11: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

luste konnten die Workshops beginnen. Dr. Alexandra Hildebrandt, Leiterin

Gesellschaftspolitik der Arcandor AG, nahm gemeinsam mit den Teilnehmern

die individuellen Verantwortung jedes Einzelnen für eine Umgestaltung der

Märkte in den Blick und erklärte „Die Andersmacher – Wie die neue Ökolo-

giebewegung die Wirtschaft verändert“. Michael Kern, Vorsitzender der Ge-

schäftsführung der A.T.U GmbH & Co. KG, fragte nach der neuen Rolle des

Kunden: „Will der Kunde wirklich König sein? - Was ein Automobil-Konzern

erreicht, wenn er den Kunden wert schätzt“. Währenddessen testete Katrin

Hundhausen, Marketing-Leiterin für Deutschland der innocent GmbH, diesen

Ansatz und entwickelte gemeinsam mit den Workshopteilnehmern „Themen-

ansätzen für eine deutsche innocent Nachhaltigkeits-Promotion“. Martin

Sambauer, Geschäftsführer der „Das Integral - Büro für Inszenierung und

Kommunikation“ GmbH, beleuchtete „Die Scham der Gestalter - Perspekti-

ven für eine neue Art der Werbung“. Dr. Ingo Schoenheit, Geschäftsführer

des Instituts für Markt-Umwelt-Gesellschaft, fragte „Die moralische Qualität

von Produkten - Das Zukunftsthema des Marketing?“. Dr. Holger Schlageter,

Geschäftsführer des Schlageter-Instituts, erkundete hingegen mit den Teil-

nehmern seines Workshops „Macht und Moral – Wie menschliche Führung

gelingen kann“. Dr. Ulrich van Gemmeren, Geschäftsführer des MADE-BY La-

bel Deutschland, stellte unterdessen einen Ansatz zur Moralisierung des Mo-

demarkte vor: „Des Kaisers neue Kleider - MADE-BY bringt Transparenz und

Nachhaltigkeit in die Mode“. Verschiedenste Aspekte der „Moralisierung der

Märkte“ wurden so von unterschiedlichsten Standpunkten aus intensiv be-

leuchtet. Die relativ geringe Gruppengröße und die Durchmischung der Teil-

nehmer ermöglichten einen direkten und regen Dialog zwischen Teilnehmern

und Workshopleitern. Die gute Auslastung der sechs Workshops bestätigte

uns in der Auswahl der Workshopthemen und -leiter. Für das Team bedeutete

die Workshopphase eine kleine Verschnaufpause. Viele von uns nutzen daher

Gelegenheit, selbst in die Rolle des Teilnehmers zu schlüpfen und sich einer

der sechs Gruppen anzuschließen.

Nach einer Kaffeepause als Überleitung setzte Herr Bodo Hombach, Chef der

| 1110

Page 12: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

WAZ-Mediengruppe, mit seinem Vortrag die Veranstaltung fort. Herr Bodo

Hombach reflektierte rhetorisch höchst beeindruckend die Rolle der Medien

in der Moralisierung der Märkte. Er stellte die Frage nach der Moral der

Medien und schilderte eindringlich sich im den Zwiespalt zwischen Profito-

rientierung und Qualitätsanspruch, in dem sich Medienmacher unserer Zeit

befinden. Im Existenzkampf des eigenen Mediums in einem hart umkämpf-

ten Markt, im Versuch einer veränderten Leserschaft gerecht zu werden, im

Ringen mit den eigenen Qualitätsansprüchen müsse dieser immer neu sein

Gleichgewicht suchen. Über der Bewältigung all dieser Herausforderungen

dürfe er aber die Aufgabe der Medien in unserer Gesellschaft nicht verges-

sen, aus der sich ihre und seine Existenzberechtigung erst ableitet: als vierte

Säule der Demokratie ist es an ihnen, Transparenz zu schaffen und so eine

Kontrolle der Macht zu ermöglichen. Auf der Suche nach Möglichkeiten, wie

den Medien eine neue Balance zwischen Wirtschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit

und Qualität gelingen könnte, bot Herr Hombach zwar kein Patentrezept,

formulierte jedoch einige Gebote als Orientierungshilfen.

Herrn Hombach folgte Herr Prof. Dr. Dr. Hemel, der die moralische Integrität

von Systemen und Akteuren, als den goldenen Mittelweg, als Möglichkeit der

Erreichung einer win-win-Situation zwischen ethischer und ökonomischer

Wertschöpfung aufzeigte. Werte wie Aufrichtigkeit und Integrität seien es,

die auch Führungskräften in Unternehmen ermöglichten, ihre unternehme-

rischen Ziele zu verwirklichen und gleichzeitig das Vertrauen von Mitarbei-

tern und Konsumenten zu stärken. In einer „Aufwärtsspirale des Vertrauens“

würde schließlich ethisch einwandfreies Handeln unternehmerischen Erfolg

bedingen. Unser „Anwalt des Publikums“ Julian Langer führte im Anschluss

an Herrn Hemels Vortrag ein weiteres Mal souverän und stellvertretend für

die Zuschauer die Diskussion mit dem Referenten.

Nach einer letzten, kurzen Pause läutete die Glocke zum Höhepunkt des

Tages, dem Vortrag des ehemaligen Nestlé-Chefs und derzeitigen Ehrenprä-

sidenten der Nestlé AG, Helmut Maucher, mit anschließender Verleihung des

12

Page 13: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Bayreuther Vorbildspreises. In seiner Ansprache, in die er Jahrzehnte der Be-

rufserfahrung an der Spitze eines der größten und bedeutendsten Konzer-

ne der Welt einfließen ließ, unterstrich Herr Maucher die Forderung seines

Vorredners nach einer neuen Unternehmenskultur und einer neuen Art der

Unternehmensführung. Führungskräfte, deren einziges Ziel die kurzfristige

Maximierung des Bilanzerfolgs sei und denen ansonsten alles fehle, was rich-

tige Führung ausmache, seien verantwortlich für die Finanzkrise und andere

Ausflüsse einer wahlweise moralfreien beziehungsweise unmoralischen Wirt-

schaft. Charakter und langfristiges Denken seien diejenigen Fähigkeiten, die

wieder Einzug erhalten sollten in die Führungsetagen der Konzerne. Durch

eine Ausbildung, die Führungskräfte mit eben solchen Eigenschaften hervor-

bringe, so Herr Maucher, seien eine nachhaltigere, eine ethischere Wirtschaft

viel eher erreichbar als mit „Corporate Social Responsibility“ (CSR), „Corpo-

rate Governance“ und „Compliance“.

Nach dem anschließenden, spannenden Schlagabtausch zwischen Referent

und Anwalt des Publikums würdigte der Präsident der Universität Bayreuth,

Herr Prof. Dr. Helmut Ruppert, die Verdienste und die Vorbildlichkeit Helmut

Mauchers und überreichte ihm anschließend den vierten Bayreuther Vorbild-

spreis.

Mit der Preisverleihung endete der erste Teil der fünften Bayreuther Dialoge

und alle gingen zum gemütlichen Teil über: das abendliche Festessen fand

im Restaurant Aktienkeller in der Bayreuther Innenstadt statt. Busse und

unsere eigens eingesetzten Chauffeure gewährleisteten einen warmen und

trockenen Transfer von Gäste und Referenten.

Und bei deftigem fränkischen Essen und in urgemütlichem

Ambiente neigte sich auch für uns Projektleiter dieser erste Tag

schließlich seinem Ende zu.

| 1312

Page 14: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Einige Gäste führten noch bis tief in die Nacht intensive Gespräche in der

gemütlichen Atmosphäre des Aktienkellers. Trotzdem füllte sich der Saal

auch am nächsten Morgen wieder recht schnell, nachdem sich die Tore der

Bayreuther Dialoge 2008 zum zweiten Mal geöffnet hatten. Um kurz nach

neun Uhr eröffnete Herr Prof. Dr. Elshorst, Mitbegründer und ehemaliger

Vorsitzender von Transparency International (TI), einer Organisation mit dem

Ziel der Korruptionsbekämpfung, den Tag mit seinem Vortrag. Er führte den

Zuhörern die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten von Nichtregierungs-

organisationen (NGOs) beim Versuch, Moral in den Markt zu bringen, vor

Augen. Herr Elshorst wies dabei vor allem auf die vielfältigen Einflussmög-

lichkeiten hin, die NGOs zur Verfügung stünden, nutzten sie die Möglich-

keiten der weltweit vernetzten Kommunikationssystemt und schlössen sie

Koalitionen mit der Zivilgesellschaft, aber auch mit einigen der „alten Ge-

genspieler“ aus Politik und Konzernen. So ermögliche es die Zusammenarbeit

mit den Compliance- oder CSR-Abteilungen der Unternehmen bspw... auch,

konzernintern Druck auszuüben, sollte sich Fehlverhalten des Unternehmens

an Stellen der Produktionskette zeigen. Insgesamt zeichnete er dabei ein

moderat optimistisches Bild im Hinblick auf eine Moralisierung der Märkte

und eine nachhaltige Implementierung dieses Trends auch unter Mitarbeit

der NGOs.

Mit dem World Café, folgte nun die Premiere eines neuen Veranstaltungs-

elements auf den Bayreuther Dialogen. Ein „World Café ist ein einfacher und

wirkungsvoller Dialogprozess für große Gruppen, um im Rahmen einer öf-

fentlichen Reflexion Fragen zu erkunden, die alle bewegen, um gemeinsame

Visionen zu entwickeln, um zu kollektiven Entscheidungen zu finden und um

koordinierte Aktivitäten zu planen und einzuleiten, kurz: um die kollektive

Intelligenz von Gruppen unterschiedlichster Größe zugänglich zu machen“.

Diese doch recht vielversprechende Beschreibung reizte uns, das World Café

als neues Element zur Stärkung des Dialogcharakters in unserem Symposium

einzuführen. Unter Anleitung des erfahrenen World Café Moderators Herrn

14

Page 15: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Ulrich Soeder bildeten alle Anwesende - Gäste, Referenten und Organisa-

tionsteam – Gesprächsgruppen à vier Personen. Geleitet durch die Fragen

reflektierten und diskutierten in diesen Sitzgruppen mit wechselnder Zu-

sammensetzung Jung und Alt, Praktiker und Theoretiker über das Leitmotiv

der Moralisierung der Märkte. Parallel zum gedanklichen Fortschreiten der

Workshopteilnehmer, immer wieder gespeist durch deren Eingaben, entwi-

ckelte Frau Sabine Soeder, Ehegattin des Moderators, die Visualisierung des

World Cafés.

Nachdem das Mittagsbuffet nach die Mägen gefüllt hatte, setzte der nächste

Referent das Tagesprogramm fort. Da Herr Jürgen Jaworski leider kurzfris-

tig absagen musste, ersetzte ihn sein Kollege Jörg Dederichs, ebenfalls Ge-

schäftsführer beim amerikanischen Mischkonzern 3M. Als solcher gewährte

Herr Dederichs interessante Einblicke in einen Hightech-Konzern. Er machte

deutlich, wie dieser den Einfluss seiner Kunden wahrnimmt und deren Wün-

schen ziel gerichtet entgegen kommt.

Nachdem im Laufe der Veranstaltung bereits die verschiedensten Akteure

und ihre Rolle im Trend der Moralisierung der Märkte beleuchtet wurden,

war indes ein entscheidender Akteur noch gänzlich ausgespart worden:

die Werbeagenturen und ihr Produkt, die Werbung. Mit seinem Vortrag zur

„Macht der Werbung“ beleuchtete Herr Henner Blömer, stellvertretender Ge-

schäftsführer der Werbeagentur Jung von Matt/Alster, Möglichkeiten der

Einflussnahme durch Werbung und deren Grenzen. Mit Einspielungen von

Werbefilmen und eigens zum Zweck der Veranstaltung gedrehten Interviews

opulent ausgestattet, mauserte sich sein Vortrag zum medialen Höhepunkt

Die Art und Weise wie ausnahmslos alle Teilnehmer des Symposiums

eingebunden wurden in eine hochkonzentrierte, interaktive Relfexion

und Aufarbeitung des Themas war sicherlich ein, im Hinblick auf zu-

künftige Bayreuther Dialoge, zukunftsweisender Erfolg.

| 1514

Page 16: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

des Symposiums. Optisch und akustisch beeindruckend und höchst unter-

haltsam gelangte Herr Blömer zu einem Fazit, das überraschte, ) da die Faszi-

nation die der Vortrag selbst ausübt , eher ein gegenteiliges Fazit hätte ver-

muten lassen. Ähnlich wie schon Herr Brüderle am Vortag unterstrich er die

Macht des kritischen Verbrauchers und verwies darauf, dass die Flut an Wer-

bung, die alltäglich auf diesen einstürze, letztendlich die Ansichten, Wün-

sche und Entscheidungen des Konsumenten kaum noch beeinflussen könne.

Die Hoffnung, dass der kritische und mündige Konsument in Zusammenar-

beit mit Medien, NGOs, Politik und den CSR-Abteilungen von der Unterneh-

men einen Wandel weg von Kurzfristdenken und Verantwortungslosigkeit

in der Wirtschaft, hin zu einer Zusammenführung von ökonomischen und

ethischen Werten zusammenzuführen kann, bestünde durchaus. Doch ob

dieser Trend ein kurzfristiges Phänomen oder eine nachhaltige, langfristi-

ge Entwicklung sei, war soweit offen geblieben. Standesgemäß überließen

wir diesen Blick in die Zukunft Herrn Andreas Steinle, Geschäftsführer des

Zukunftsinstituts des populären Zukunftsforschers Matthias Horx. In einem

sehr lebhaften und unterhaltsamen Vortrag, zeichnete Herr Steinle das Bild

eines kurzfristigen Moral-Hypes, dessen Auswüchse jedoch über das tatsäch-

liche Aufkommen eines langfristigen Trends hinwegtäuschten. Während ein

Zusammenbrechen der „BioBio-Welle“ bereits vorhersehbar sei, da sie eben

alle Anzeichen eines Hypes trage, ließe sich eine längerfristige Entwicklung

hin zu verantwortlichem Unternehmertum gebietenden Gesetzen und ge-

sellschaftlichen Normen erkennen. Ein Umdenken der Gesellschaft im Sinne

von Nachhaltigkeit in allen Bereichen des Lebens, so sein optimistisches Re-

sümee, sei möglich und durchaus zu erwarten.

16

Es gibt ihn wirklich, den Trend zur Moralisierung der Märkte, so

jedenfalls der Tenor der Vorträge und Workshops an fast zwei

Tagen Bayreuther Dialogen.

Page 17: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Mit diesem Blick in eine gar nicht so düstere globale Zukunft also, begründet

durch einen beobachtbaren Trend zu einer Moralisierung der Märkte, schloss

den Vortragsteil unserer fünften Bayreuter Dialoge ab. Die anschließende Po-

diumsdiskussion in der Bayreuther Stadthalle setzte dann den Schlusspunkt

der fünften Bayreuther Dialoge. Die vier Podiumsdiskutanten - Herr Martin

Sambauer, Regisseur und Werbefachmann, Herr Prof. Dr. Napel, Ökonomie-

professor an der Universität Bayreuth, Herr Patrick Fruth, A.T.U, und Herr

Christoph M. Paret, Gewinner der Essaywettbewerbe der Bayreuther Dialoge

und des Symposiums St. Gallen - lieferten sich eine spannende Diskussion.

Mit der Verlegung dieses letzten Veranstaltungteils in das Herz der Stadt

Bayreuth, wollten wir noch einmal ganz ausdrücklich auch die Bayreuther

Stadtbevölkerung einladen, an unserem Diskurs teilzunehmen, was auch ge-

lang.

Dank einer Vielzahl namenhafter und höchst interessanter Referenten konn-

ten wir das Thema „Die Moralisierung der Märkte – Neue ohnMacht des

Konsumenten?“ an zwei Tagen Bayreuther Dialoge umfassend und intensiv

beleuchten. Workshops, das World Café, die Podiumsdiskussion und nicht

zuletzt die angeregten Pausengespräche ermöglichten eine aktive Partizipa-

tion aller Anwesenden daran und sicherten den Bayreuther Dialogen ihren

Dialog-Charakter. Dabei fügte sich nicht nur inhaltlich das Eine zum Ande-

ren, sondern auch organisatorisch verlief alles wie geplant.

Wir als Leiter des Organisations-Teams ziehen daher ein vollkommen po-

sitives Resümee. Wir sind stolz und überglücklich, dass wir die Bayreuther

Dialoge ein weiteres Mal als ein Symposium präsentieren konnten - so zu-

mindest das Ergebnis unserer Evaluation - das seine Teilnehmer angeregt und

bereichert entließ. Es ist uns gelungen, eine Veranstaltung auf die Beine zu

stellen, die sich messen kann mit den ganz großen Symposien. Dass wir auch

mit den fünften Bayreuther Dialogen diese kleine Erfolgsgeschichte fortset-

zen konnten, freut uns sehr. Zu großem Dank sind wir dabei der Universität

und der Stadt verpflichtet, unserer Hochschullehrer Prof. Dr. Hegselmann,

| 1716

Page 18: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Prof. Dr. Dr. Brink und Prof. Dr. Herz sowie Herrn Jürgen Fuchs. Darüber

hinaus danken wir allen Sponsoren der Bayreuther Dialoge 2008 herzlich

für ihre Unterstützung! Vielen, vielen Dank auch an unser Team, das zwölf

Monate lang vollen Einsatz zeigte, Durchhaltevermögen demonstrierte und

tolle Arbeit leistete!

Verbleiben möchten wir abschließend mit einem kurzen Blick in die Zukunft.

Die Bayreuther Dialoge gehen in Runde sechs. In weniger als zehn Monaten

öffnet sich der Vorhang für das nächste Symposium in der Wagnerstadt.

Auch das Thema 2009 verbindet wieder elegant beide Fachbereiche unse-

res Studiengangs „Philosophy & Economics“. Es lautet: „Agenda Humanitas

– Wirtschaft (ver)sucht Menschlichkeit“.

Wir bedanken uns hiermit bei allen Teilnehmern und Gästen für ihre rege

Teilnahme an den fünften Bayreuther Dialogen. Wir würden uns freuen,

wenn wir Sie im November wieder bei uns begrüßen dürfen. Die Bühne wird

dann allerdings unseren Nachfolgern gehören. Wir wünschen diesen auch

an dieser Stelle schon viel Glück und gutes Gelingen- auf das die Erfolgsge-

schichte „Bayreuther Dialoge“ weitergeht!

Bianca Fliß, Johannes Auernheimer und Marc Phillip Greitens

Projektleitung der Bayreuther Dialoge 2008

18

Page 19: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

| 1918

Page 20: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 21: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Moralisierung der Märkte

Prof. Dr. Nico Stehr

Eine Moralisierung der Märkte heißt aber nicht, dass moralisch “höhere”,

“zivilere”, “humanere”, „friedliche“ oder sogar “nachhaltige” Normen plötzlich

das ökonomische Geschehen insgesamt und auf allen Märkten dominieren.

Page 22: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Moralisierung der Märkte

Meine Beobachtungen zur Moralisierung der Märkte beziehen sich auf einen

langfristigen, sich selbstverstärkenden und einen nicht unbedingt linearen,

das heisst ungebrochenen gesellschaftlichen Trend. Diese Beobachtungen

abstrahieren von Entwicklungen die allenfalls einen Zeithorizont von weni-

gen Tagen, Wochen oder Monaten haben. Es sind Beobachtungen über fun-

damentale gesellschaftliche Veränderungen, die zur endgültigen Durchset-

zung aber nicht unbedingt Generationen in Anspruch nehmen. Natürlich ist

es ein Trend bei dem sich auch Rückschläge bemerkbar machen werden. Den-

ken Sie an die jüngste Diskussion über global gestiegene Lebensmittelpreise

und damit der Wahrscheinlichkeit, dass genetisch verändertes Saatgut, dass

mit dem Versprechen antritt, Angebotslücken eher als etwa die ökologische

Landwirtschaft, prompt und massiv schliessen zu können, aus einer ganz an-

deren Warte als bisher bewertet werden mag.

Aber zurück zu dem langristigen Trend:

In einer Antwort auf vier kritische Besprechungen seiner bahnbrechenden

und die Makroökonomie wie auch die Wirtschaftspolitik nachhaltig beein-

flussenden The General Theory of Employment, Interest and Money (1936),

macht John Maynard Keynes (1937) in der Zeitschrift The Quarterly Jour-

nal of Economics darauf aufmerksam, dass es unter den zeitgenössischen

Ökonomen wohl kaum noch sich explizit zum Sayschen Gesetzes (aus dem

Jahr 1800) - nach dem das Angebot seine eigene Nachfrage generiert - be-

Man muss der Alternative des Draußens und des Drinnens entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die Kritik ist

gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie.Michel Foucault, [1984] 2005:702

22

Page 23: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

kennende Anhänger gibt. Allerdings fügt Keynes hinzu, dass die Ökonomen

seiner Generation das Saysche Theorem dennoch stillschweigend weiter ak-

zeptieren.

An diesem Sachverhalt hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten kaum

etwas verändert. Auch heute noch beobachten wir eine systematische

Überschätzung der Macht des Angebots, sowie der Macht der Summe der

Maßnahmen, die dazu dienen sollen, dem Sayschen Gesetz Nachdruck zu

verleihen. Dazu gehört beispielsweise das Gewerbe des Marketing und der

Werbung, aber auch die These von der essentiellen Hilf- und Ahnungslosig-

keit der Konsumenten.

Ich werde meine Thesen von der Moralisierung der Märkte in modernen Ge-

sellschaften in einer Reihe von Gedankenschritten voranbringen. Ich beginne

mit wenigen Verweisen auf konkrete am Markt manifeste Verhaltensweisen

und Einstellungen, die eine Moralisierung der Märkte exemplarisch signali-

sieren.

Aus diesen Beispielen geht eindeutig hervor, dass der Begriff der Moral vie-

le und nicht eine einzelne, universelle Bedeutung hat. Über den genauen

Sinn der Begriffe Moral oder Ethik lässt sich darum keineswegs eine schnelle

Übereinkunft erzielen. Wir können dem Sinn des Begriffs der Moral nicht

auf abstrakte Weise näher kommen; dies kann nur fallweise geschehen.

Objektiv gesehen gibt es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt nicht auf-

einander reduzierbare Werte. Darüber hinaus sind verschiedene Werte unter

bestimmten Bedingungen oder in entscheidenden Situationen inkommensu-

rabel. Ganz elementar gedacht, trifft dies zum Beispiel für die Werte Freiheit

und Gleichheit zu.

Ich plädiere an dieser Stelle deshalb für einen weit gefassten, niemals ab-

schließend festgeschriebenen, sondern historisch variablen Begriff des Mo-

| 2322

Page 24: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

ralischen. Es ist nun einmal eine praktische Eigenschaft oder besser eine Tu-

gend liberaler Demokratien, dass in ihnen das Moralische unbestimmt bzw.

unterdeterminiert ist. Deshalb sind in solchen Gesellschaften letzte Fragen

etwa nach der Moral, nicht zu beantworten. Für Märkte hat diese Unbe-

stimmtheit zur Folge, dass es in modernen Gesellschaften eine Pluralität vom

Märkten gibt, auf denen der Trend zur Moralisierung in unterschiedlicher

Weise und mit verschiedenen Werten von Konsumenten und Produzenten

praktiziert wird.

D.h. Gerechtigkeit oder Solidarität sind nicht schon deshalb Wahnvorstellun-

gen oder Scheinwerte weil sie kaum jemals vollständig durchgesetzt werden.

Ich werde auch nicht versuchen, ausführlicher zu argumentieren, warum die

von mir genannten Einstellungen und Handlungsweisen der Marktakteure

moralisch sind. Ich gehe davon aus, dass die Handelnden, bestimmten an

den Märkten wirksame Präferenzen als moralische und somit nicht als rein

ökonomische Präferenzen verstehen. Ich mache schließlich kein Geheimnis

daraus, das ich mit der These von der Moralisierung der Märkte eine ge-

bremst optimistische These vertrete bzw. sogar eine moralische These von der

Moralisierung der Märkte.

In diesem Sinn ist meine Analyse archäologisch und nicht transzendental; sie

versucht nicht, allgemeine Strukturen jeder denkbaren moralischen Hand-

lung herauszuarbeiten, sondern sie bemüht sich, dass Handeln am Markt in

modernen Gesellschaften als historisches Ereignis zu behandeln. Ein Han-

deln, das unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auch anders

sein kann.

Obwohl bestimmte, handlungsbestimmende moralische Imperative wie

beispielsweise Nachhaltigkeit nicht vollumfänglich durchgesetzt werden,

verändern diese Werte den Markt und das gesellschaftliche Leben.

24

Page 25: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Zwei weitere Vorbemerkungen: Erstens, es trifft sicher zu, dass sowohl das

Verhalten der Konsumenten als auch das Handeln der Produzenten habi-

tuelle Eigenschaften annimmt. Konsumieren und Produzieren sind repetitiv.

Verhaltenmuster tendieren dazu, sich zu stabilisieren. Dies kann aber nicht

heißen, dass Konsumieren und Produzieren ausschließlich traditionelle Wege

geht und sich durch nichts anderes als durch das Wiederholen auszeichnet

(cf. Appadurai, 1996). In einer dynamischen Gesellschaft ist Konsum und

Produktion ständigem Wandel unterworfen.

Zweitens, lokalisiere ich meine Studie zur Moralisierung der Märkte in der

Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie; allerdings mit dem nicht uner-

heblichen Unterschied, dass ich keine kulturkritische, pessimistische Bilanz

ziehen werde. Man kann in diesem Zusammenhang viele kritische Zeitge-

nossen anführen, die ein insgsamt eher sehr viel pessimistischeres Bild der

Gesellschaftsentwicklung skizzieren. Dazu zählt der Philosoph und Anthro-

pologe Helmut Plessner ([1961] 1985:249), der in einem Essay aus dem Jahr

1961 zur „Wissenschaft und moderne Gesellschaft“ vor der „Entmachtung

des Einzelnen“ warnt: „Die industrielle Organisation der Gesellschaft in Wis-

senschaft, Produktion und Konsum und die täglich wachsende Beinflussung

durch Presse, Rundfunk und Fernsehen engen den inneren Freiheitsbereich

des Einzelnen ... immer mehr ein.“

Plessner überschätzt die Macht der großen Institutionen wie Wirtschaft,

Wissenschaft, Staat, und Medien ihren Willen durchsetzen zu können. Das

herrschende Forschungsinteresse der politischen Ökonomie der vergangenen

Jahrzehnte hat Fragen der Konsumption und Identität zugunsten der Analyse

von Fragen der Produktion und Organisation vernachlässigt. Dies wiederum

hatte zur Folge, dass das gesellschaftliche Primat der Eigentümer oder der

Meine Beobachtungen können dieses dunkle Bild der Hilflosigkeit

großer Gesellschaftsgruppen nicht bestätigen.

| 2524

Page 26: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Manager der Produtionsmittel unangefochten galt. Auch hier möchte ich

den herrschenden Dualismus durch eine weniger einseitige Gesellschaftsthe-

orie überwinden helfen.

Nachdem ich wie gesagt wenige Beispiele für eine Moralisierung der Märkte

angeführt habe, versuche ich zu zeigen, warum das Phänomen der Morali-

sierung der Märkte neu ist, ohne dabei zu leugnen, dass es auch schon in der

Vergangenheit gesellschaftliche Postulate, Regulierungen und Handlungen

gab, die aus einem moralischem Marktverhalten bestanden oder ein solches

Verhalten einforderten.

Um deutlich zu machen, dass das Phänomen der Moralisierung der Märkte

als normative Forderung nicht neu ist, kann man an eine Vielzahl von Perso-

nen oder Ereignissen erinnern, die sicher zu den Vorläufern einer Moralisie-

rung der Märkte zählen. Dazu gehört das Zinsverbot der Kirche, aber auch

die Puritanische Ethik, das praktische Evangelium von Benjamin Franklin in

dem er Arbeit, Mäßigung und Genügsamkeit von seinen Landsleuten forder-

te. Franklins Normen wurden zeitweise von Millionen praktiziert.

Neu ist aber, wie umfassend, selbstverstärkend sich moralisch basiertes Ver-

halten am Markt sowohl auf Seiten der Produzenten als auch auf Seiten der

Konsumenten beobachten lässt. Ein wesentlicher Argumentationsstrang wird

dann sein zu zeigen, warum es zu dieser signifikanten Marktentwicklung

kommt. Schließlich soll auf Folgen und Konflikte wie auch Grenzen der Mo-

ralisierung der Märkte aufmerksam gemacht werden.

Was heißt Moralisierung der Märkte?

Moralisierung der Märkte heißt beispielsweise, dass ein Immobilieneigentü-

mer sein Haus nicht an den höchsten Bieter, sondern an einen Interessenten

verkauft, dessen Nutzungskonzept ihm zusagt. Fussballfans, die das Produkt

des Vereinssponsors konsumieren, obwohl sie eigentlich eine andere Mar-

26

Page 27: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

ke bevozugen, verhalten sich entgegen der angeblich Logik marktgerechten

Verhaltens. Eine Moralisierung der Märkte entdeckt man auch bei Familien,

die es vorziehen, bei Kerzenlicht und nicht bei elektrischem Licht zu Abend-

essen. Moralisierung der Märkte bedeutet, dass der Produzent von Schoko-

riegeln den Produktionsprozess radikal ändert, weil sich die Konsumenten

über die bisherige Produktion heftig beschwert haben. Der Eiskremhersteller

Ben & Jerry nimmt Sorten ins Programm, die gänzlich aus fair gehandelte

Produkten hergestellt sind. Heute sind „Öko“ und „Bio“ Megatrends mit zum

Teil dreistelligen Wachstumsraten. Millionen von deutsche Konsumenten

kaufen regelmäßig fair gehandelte Produkte. Große Lebensmittelketten bie-

ten, beispielsweise in Großbritannien, nur noch fair gehandelte Bananen an.

Aber nicht nur die Lebensmittelindustrie wird zunehmend vom Trend zu einer

Moralisierung der Märkte mitbestimmt. Inzwischen haben allein in Deutsch-

land Anleger die Wahl zwischen 186 sogenannten „grünen’ Aktienfonds mit

einem Volumen von 27 Milliarden Euro. Wie der Erfolg dieser Fonds zeigt, ist

nachhaltig investieren durchaus kompatibel mit dem Wunsch einen Profit zu

erzielen. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass die an den Märkten

wirksamen Moralvorstellungen viele Dimensionen hat.

Um aber nicht nur affirmative Beispiele anzuführen: Ist der Kauf des engli-

schen Erstligafussballvereins Manchester City für 250 Millionen Euro durch

ein Konsortium der Abu Dhabi United Group (ADUG) ein Beispiel für die Mo-

ralisierung der Märkte? Oder ist diese Transaktion ein schlagendes Beispiel

für das, was die Moralisierung der Märkte eigentlich verdrängt, nämlich für

den von Thorstein Verblen vor einem Jahrhundert bezeichneten „Geltungs-

konsum“ (conspicous consumption)? Der Leiter der Abu Dhabi Gruppe kün-

digte an diesem 1. September außerdem an, dass seine Gruppe eine Anschub-

finanzierung von 600 Millionen Euro zum Kauf von Spielern bereitstellen

wird. Diese Investitionen dürfte sich nach Menschenermessen niemals über

das operative Geschäft, also über Zuschauer, Fernseh- und andere Werbein-

nahmen rechnen. Es ist also sehr schwer, sich vorzustellen, dass dieses Fall

ein Beispiel für die Moralisierung der Märkte ist.

| 2726

Page 28: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Des weiteren: Meine These bezieht sich nicht auf die Frage wie das Wirt-

schaftswachstum (im Sinn von steigenden Einkommen und einem sich bes-

sernden Lebensstandard) oder eine ökonomische Krise oder Stagnation den

moralischen Haushalt einer Gesellschaft beeinflusst. Das ist ein wichtiges

Thema, aber ein Thema für eine anderen Vortrag.

Märkte und ihre moralische Basis

Vor einem Jahrhundert gab der typische Haushalt eines OECD-Landes 80 Pro-

zent seines Einkommen für Ernährung, Kleidung und Unterkunft aus. Heute

beträgt dieser Anteil an den Konsumausgaben weniger als 30 Prozent. Es

gibt kaum etwas, das die moderne Ökonomie und Gesellschaft signifikan-

ter beeinflusst als die Entscheidungen der Konsumenten am Markt. Obwohl

es nicht überrascht, dass hierdurch Art und Umfang der Produktion mitbe-

stimmt werden, ist der Konsument lange Zeit nicht nur von professionellen

Ökonomen als isoliertes, uninformiertes, vor allem aber rein rational han-

delndes Einzelwesen verstanden worden, dessen Kaufentscheidung – oder

auch Kaufenthaltung – Ergebnis eng umschriebener finanzieller Überlegun-

gen sei. Saubillig sollte es sein

Vor wenigen Jahren noch waren es Dritte-Welt-Läden, kleine Verkaufsstände

und winzige Bioläden, in denen der fair gehandelte Kaffee ein Nischendasein

fristete. Diese Läden wurden von wenigen, schon durch ihre Äußerlichkeiten

leicht erkennbare Kunden frequentiert. Heute haben ökologische und fair

gehandelte Produkte eine Millionenklientel und weisen, wie gesagt, drei-

stellige Wachstumsraten auf. Neben Lebensmittel haben auch andere Waren

sowohl in der Zusammensetzung der Rohstoffe als auch in den Produktions-

abläufen zunehmend moralische Qualitäten. Das Marktvolumen dieser Pro-

dukte und Dienstleistungen steigt nachhaltig und rapide.

Die neue Nachhaltigkeit sozialer Normen

28

Page 29: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Sofern man von einer Moralisierung der Märkte in modernen Gesellschaften

sprechen kann, und nicht, wie manche befürchten, von einer Verdrängung

ethischer Maxime durch den Markt, rücken heute soziale Normen in den

Vordergrund, die ein vom egoistischen Maximiergehabe oder Geltungskon-

sum abweichendes Verhalten vorschreiben. Zu diesen wirksamer werdenden

Normen des Marktes gehören Fairness, Gesundheit, good will, Ängste, Natio-

nalismus, Mitleid und Nachhaltigkeit ebenso wie Ausgleich, Loyalität, Rache,

Exklusivität, Widerwille (siehe Roth, 2007), Originalität, Solidarität, Alter und

Mitgefühl.

Eine Moralisierung der Märkte ist nicht der Beweis dafür, dass marktfremde

Elemente dominieren oder dass die traditionellen Marktinstitutionen gene-

rell schwächer geworden seien. Doch die Abkehr einer von der Mechanik des

Gelderwerbs bestimmten Rationalisierung des Marktverhaltens verweist auf

den Beginn einer weiteren Stufe in der Entwicklung des Marktes – und der

Gesellschaft insgesamt. Der Trend ist nicht linear. Er wird von Rückschlägen

in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unterbrochen, aber durch den

wachsenden durchschnittlichen Wohlstand der Haushalte und den wachsen-

den Bildungsgrad der Bevölkerung forciert.

Von “Hunger-Märkten”…

Die wichtigsten Ideen von den Eigenschaften des Marktes und dem angeblich

typischen Marktverhalten entstammen einer Welt, in der weder Wohlstand

noch Bildung verbreitet waren, sondern ausgesprochene Armut, umfassende

Machtlosigkeit, Hunger und Analphabetismus vorherrschte. Die Armut der

Lohnabhängigen verstand man als Voraussetzung für die Expansion der Pro-

duktion. Der Reichtum eines Landes erschien geradezu als Funktion der Ar-

mut ihrer arbeitenden Bevölkerung. Angeblich hatte diese Armut hatte auch

eine Reihe von positiven moralischen Konsequenzen. Sie disziplinierte die

Lohnabhängigen und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt des

gesellschaftlichen Status quo.

| 2928

Page 30: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Seit dem 18. Jahrhundert ist deshalb die Behauptung, Wohlstand demorali-

siere, zu einem Gemeinplatz geworden genau wie der verwandte, heute oft

nur noch unterschwellig präsente Befund, das der Kapitalismus eine prinzi-

piell unmoralische Veranstaltung sei. Eine Versöhnung von Kapitalismus und

Moral kann es deshalb, so diese Fundamentalkritik, genau sowenig geben,

wie etwa eine Konvergenz von ökonomischen und ökologischen Zielen. Die-

ser Widerspruch lässt sich schon deshalb nicht leicht ausräumen, weil diese

Kritik eine umfassende und einflussreiche Tradition hat, die man bis in das

Zeitalter der Romantik oder das der Aufklärung zurückverfolgen kann.

Dennoch: die noch heute gültige Theorie des Marktes und die Fundamente

der Kritik des Marktes entstammt einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt.

Von Verbrauchern war damals jedoch überhaupt keine Rede. Der Konsum

schuf keinen Wohlstand. Die Mehrzahl der Menschen konsumierte nicht,

sondern versuchte zu überleben. Es war eine Welt, in der der Arbeitsplatz

dazu diente, existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen, in der die Produktion

dazu da war, die Gesellschaft vor den Gefahren der Umwelt zu schützen

und der Markt rein instrumentelle Funktionen hatte. Wenn man einmal von

den wohlhabenden Schichten der Bevölkerung absieht, gab es zu dieser Zeit

keine Läden für die Mehrheit der Bevölkerung. Es gab zum Beispiel keine Mö-

belgeschäfte. Man kaufte Möbel und andere Haushaltsgegenstände zweiter

Hand oder auf Auktionen,

Der „Konsument“ war eine ohnmächtige Arbeitskraft und, wie die Natur, in

erster Linie Produktionsfaktor. Oft wird ein ähnlich trostloses Bild auch heu-

te noch vom größten Teil der Marktteilnehmer gezeichnet. Demnach leidet

die Mehrheit der Menschen entweder unter materiellem Mangel oder, aus

einer oft asketischen Sicht, an Übersättigung durch Konsumgüter. Konsu-

menten werden immer noch als hilflose, unmündige, unsichere, manipulier-

te und somit schlecht beratene Käufer dargestellt. Mit der Entdeckung des

Teilzahlungsystems war demzufolge die Kritik verbunden, dass sich die Kon-

sumenten überschulden werde, um somit nicht nur ihre wirtschaftliche Un-

30

Page 31: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

abhängigkeit zugunsten einer unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen

auf Spiel zu setzen.

Diese These mag zwar strittig sein, unbestritten aber ist, dass sich der Le-

bensstandard der meisten Menschen Jahrhunderte lang nur unwesentlich

verändert hat. Im Gegensatz dazu leben wir gegenwärtig nicht nur aus öko-

nomischer Sicht, sondern auch was den Bildungsstandard der Bevölkerung

anbelangt, in einem historisch unverwechselbaren Zeitalter, jedenfalls in den

so genannten entwickelten Gesellschaften. Obwohl Reichtum und Bildung

weder hier noch anderswo gleich verteilt sind, sind beide weiter verbreitet

als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.

... zu Märkten des Überflusses

Es stellt sich deshalb die Frage, welche nachhaltige Spur der Weg zu weit

verbreitetem Wohlstand, das Vorhandensein nie gekannten Reichtums und

eines weiter denn je verbreiteten allgemeinen Wissens in der modernen Ge-

sellschaft hinterlassen hat. Und da sich die veränderten Lebensumstände in

veränderten Sozialstrukturen, Verhaltensweisen und Werten manifestieren,

kann man die Frage präzisieren: Hat sich deshalb die Institution der Märkte

und das Verhalten der in ihnen agierenden Akteure in bemerkenswerter Wei-

Das gesellschaftliche Substrat der Moral und die Schubkraft für eine

Moralisierung der Märkte stind dagegen die veränderten Lebensum-

stände des Menschen.

When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals . . . . Of course there will

still be many people with intense, unsatisfied purposiveness who will blindly pursue wealth unless they can find some plausible substitute. But the rest of

us will no longer be under any obligation to applaud and encourage them. (Keynes, [1930] 1963, pp. 369-370)

| 3130

Page 32: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

se verändert? Sind es heute zunehmend die intrinsischen Eigenschaften von

Waren, die nützlich sind?

Auch im Zeitalter der Moralisierung der Märkte sind Waren keine mensch-

lichen Wesen. Da aber Güter mit einer Vielzahl von menschlichen Werten

in enger Verbindung steht, diese manchmal mit den ihnen innewohnenden

Eigenschaften geradezu verschmelzen, sind Waren zunehmend hybride Ge-

bilde. Beispielweise können Waren wie fair produzierte Kaffee, wie dem

Menschen, eine bestimmte Würde zugeschrieben werden. Waren sind nicht

mehr nur tauschbare Gegenstände oder Mittel des menschlichen Handelns.

Allerdings verändert die Moralisierung der Märkte sich nur die Symbolik der

Waren, sondern auch ihre Materialität. Fair gehandelte Kaffee repräsentiert

auch in diesem Fall die veränderte Materialität der Ware Kaffee. Der Kaffee

ist seinem Wert nach hinter dem Ölmarkt die zweitwichtigste legal gehan-

delte Ware der Welt. Das Kaffetrinken ist Teil eines äußerst komplexen, glo-

balen kulturellen, sozialen und ökonomischen Beziehungsgeflechts.

Es ist aber unumstritten, dass sich solche, von Vielen als moralisch über-

legen eingeschätzte Verhaltensweisen von Konsumenten und Produzenten

zunehmend beobachten lassen. Auch kann man nicht unterstellen, dass neue

Konventionen und Orientierungsmuster von allen Akteuren prompt geteilt

werden oder dass sich ein solcher Konsens gleichsam naturwüchsig heraus-

bildet. Bestimmte Verhaltensnormen werden weiter die von Minoritäten sein,

Gruppen jedoch, denen zusehends Meinungsführerschaft zukommt.

Eine Moralisierung der Märkte heißt aber nicht, dass moralisch “hö-

here”, “zivilere”, “humanere”, „friedliche“ oder sogar “nachhaltige”

Normen plötzlich das ökonomische Geschehen insgesamt und auf allen

Märkten dominieren.

32

Page 33: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Einwände

Critics may point to the difficulties that the social sciences already have

in projecting future societal transformations, let alone anticipating social

trends, such as the moralization of the markets, in what is today a rather

fragile social world. In theoretical discourse, the “rock of positivist solidity”

(Hirschman) and therefore the dichotomous opposition of phenomena, such

as “rational” and “irrational,” “efficient” and “inefficient,” or “useful” and

“moral,” stand in the way. Markets, much like viruses, know no morality.

Economists, therefore, prefer a formal conception of preference structures

of market participants. Professional economists urge us to concentrate our

attention on the consequences of economic action and not to waste scarce

attention on questions that deal with the kind of preferences market actors

may pursue. The ends that guide economic action are random in any case.

Moreover, it would be a serious error to underestimate the power of con-

temporary advertising and the efficacy of promoting all kinds of goods and

services; that is, individuals can be made to feel as autonomous decision

makers while actually acting against their own values and interests. More

generally, critics could argue that the availability of information may be

used to “voluntarize public assent” without touching or controlling existing

power structures in modern societies (cf. Ezrahi, 2004:266-267). However,

the wish or the claim to be able to manipulate consciousness and conduct

of consumers may not be matched by the capacity to actually execute such

schemes.

Finally, there may be strident voices arguing firmly that the thesis of a mo-

ralization of the markets is not new, be it as a theoretical construct or as

an empirical statement about the practice of market conduct. The objection

may be that morally coded markets are just a means of presenting an old

idea dressed up in perhaps more fashionable garb.

| 3332

Page 34: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Well, my point is, of course, that the moralization of the markets is not the

eternal return of the same.

Kontinuität oder Wandel?

Auch in Zukunft werden sich die Orientierungsmuster ökonomischen Han-

delns von Produzenten und Konsumenten unterscheiden. Darüber hinaus

sind nicht alle Märkte gleich, noch verändern sie sich alle zur selben Zeit, im

gleichen Tempo oder in allen Regionen dieser Welt. Bei einigen Marktformen,

wie zum Beispiel beim Finanzmarkt, greifen Normen, Richtlinien, Regulie-

rungs- und Lenkungsmaßnahmen, die auf eine Moralisierung des Marktver-

haltens hinauslaufen nur sehr zögerlich, vielleicht sogar nur unter sehr viel

umfassenderen, globalen Anstrengungen. Die Moralisierung der Märkte mag

zur Zeit zwar immer noch das Werk einer Minderheit sein, diese Minderheit

verändert aber die Gesamtheit der an den Märkten weltweit gehandelten

Waren und Dienstleistungen.

Aus der Sicht der Ökonomen ist die Moral einer Gesellschaft Teil der institu-

tionellen Infrastruktur der Gesellschaft genau wie das Rechtssystem oder die

scientific community. Die strikte Einteilung in marktendogene und -exogene

Normen hilft uns heute nicht weiter, weil sie seit jeher impliziert, dass die

Wirksamkeit von spezifischen gesellschaftlichen Normen auf ein bestimmtes

soziales Umfeld beschränkt sei. Märkte tragen zur Gestaltung der Kultur bei,

während kulturelle Prozesse ihrerseits die Märkte beeinflussen. Kulturelle

Normen und Prozesse werden in der Sprache der Ökonomie zu Transaktions-

kosten, d.h. zu Kosten der Beziehungen zwischen den Menschen, insofern sie

das Marktverhalten der Akteure mitbestimmen.

Und doch signalisiert die Moralisierung der Märkte keinesfalls einen

Bruch mit dem Kapitalismus.

34

Page 35: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die eine kapitalistische Wirtschaftsordnung kennzeichnenden Merkmale, wie

die des Privateigentums an den Produktionsmitteln oder ein auf Gewinn-

erzielung ausgerichtetes Verhalten, werden allenfalls modifiziert, vielleicht

abgemildert, aber nicht aufgehoben. Der Kapitalismus wird z.B. dadurch

modifiziert, dass einst als selbstverständlich angesehene Komponenten des

Produktionsprozesses, wie das „natürliche Kapital“, mit in die Produktions-

gleichung aufgenommen werden. Neu an der Moralisierung der Märkte ist

ihr Umfang, ihre Vehemenz, ihre unmittelbare Umsetzbarkeit qua Konsum

sowie die wachsende Globalisierung dieser Werte, Standards und Regularien.

Die Globalisierung der Moralisierung der Märkte führt dazu, dass Verhalten-

seinstellungen, etwa Einstellungen zur Umwelt und Verhaltenweisen, etwa

beim Konsum, auch Gesellschaften erfassen, in denen die die gesamtgesell-

schafltichen Veränderungen, die ich als Auslöser und Verstärker der Ent-

wicklung hin zu einer Moralisierung der Märkte betont habe, bisher nicht im

gleichen Maß zu beobachten sind. Auch in armen Gesellschaften dieser Welt

lässt sich zunehmend ein bemerkenswertes Umweltbewußtsein beoachten

(siehe Dunlap und York, 2008)..

Dies hat natürlich auch andere Gründe als nur die Tatsache, dass sich in

diesen Gesellschaftlichen Standards und Regularien etwa bei der Produktion

von Waren durchsetzen und akzeptiert werden, die von den Enmpfängerlän-

dern dieser Waren erwartet und gefordert werden. Zu den anderen Gründen,

die sowohl in den entwickleten als auch in den sich entwickelnden Gesell-

schaften zu einer Verstärkung der Moralisierung der Märkte führen, gehören

nationale und transnationale Politikmassnahmen, die nicht nur die formalen

und informellen Spielregeln des Marktes beinflussen und verändern, son-

dern auch die Politik und damit zu weiteren Feedbackprozessen führen ein-

schliesslich der Beinflussung von Konsumenten- und Produzentenverhalten.

Zusammenfassend lässt sich deshalb formulieren: Die These von der Morali-

sierung der Märkte bezieht sich auf eine Art Schaukelbewegung von Ange-

| 3534

Page 36: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

bot und Nachfrage, auf einen gemeinsamen Tanz der Produzenten und Kon-

sumenten. Das Verständnis der symbolischen und organisatorischen Dynamik

des Marktes in modernen Gesellschaften setzt voraus, dass man die beob-

achteten Verhaltens- und Einstellungsveränderungen der Marktteilnehmer

in eine Beziehung zum gesamtgesellschaftlichen Wandel setzt.

Temporär zumindest hat ein wachsender gesamtgesellschaftlicher Wohl-

stand, dass muss kaum betont werden, auch eindeutig weniger unmittelbare

moralischen Folgen etwa auf dem Gebiet der Umweltfolgen eines persisten-

ten Wirtschaftswachstums. Allerdings sollte die Moralisierung der Märkte,

zumindest auf längere Sicht, genau diese unerwünschten Nebenfolgen eines

wachsenden Lebensstandards ändern. Auf jeden Fall ist ein absolut formu-

lierter Gegensatz oder Konflikt von Wohlstand und Moral, wie er immer noch

in vielen Augen unumstößlich gilt, angesichts der Dynamik gesellschaftli-

chen Wandels nicht haltbar.

36

Page 37: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

| 3736

Page 38: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 39: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Der Konsument – Ein mündiger Bürger?

Rainer Brüderle

Markt und Moral gehören zusammen. Ohne Moral ist kein verläßliches

Wirtschaften möglich. Wer seine Partner nicht korrekt behandelt, kann in

Zukunft nicht erwarten, daß sie noch für Geschäfte zur Verfügung stehen.

Page 40: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Der Konsument – Ein mündiger Bürger?

Konsum: Bei aller Neutralität, die dieser Begriff eigentlich haben sollte,

schwingt doch häufig etwas Negatives mit. Die „Konsumgesellschaft“ muß

als Bezeichnung dafür herhalten, daß wir nur noch passiv herumsitzen, auf-

nehmen, was das Fernsehen uns an Unterhaltung bietet; und selbst im Thea-

ter oder Kino möglichst nicht mehr nachdenken wollen. Spektakel statt Den-

ken, sehen statt erleben, passiv statt aktiv. Konsumieren hat einen schlechten

Beigeschmack. Auf der anderen Seite ist der Konsument, der Verbraucher in

unserer Gesellschaft ein durchaus wichtiges Wesen. Er wird von Unterneh-

men und Politikern ernstgenommen, manchmal sogar hofiert. Ein Konsum-

klimaindex mißt jeden Monat das Verbrauchervertrauen und die Neigung

der Deutschen, Anschaffungen zu tätigen. Ganze Institute befassen sich

ausschließlich mit Konsumforschung. Und doch ist der Konsument meist

immer noch das unbekannte Wesen. Otto Normalverbraucher ist zwar in aller

Munde, aber in seine Seele können wir noch lange nicht gucken. Selbst die

statistischen Erhebungen und Umfragen, die die Konsumfreude der Bürger

für die nächste Zeit voraussagen sollen, treffen mit ihren Vorhersagen höchst

selten ins Schwarze. Das ist vielleicht auch ganz beruhigend. Natürlich hät-

ten die Statistiker gern belastbare Ergebnisse, die den Unternehmen und dem

Staat Planungssicherheit geben. Aber das ist in einer Marktwirtschaft eben

nicht vollständig möglich. Der Bürger ist als Konsument nicht perfekt vor-

hersehbar. Er kauft nicht, was die Statistik erzählt. Er kauft, wozu er gerade

Lust hat. Wir lassen uns als Verbraucher ungern vorschreiben, was wir kaufen

sollen. Es ist schon genug, daß unseren Wünschen Grenzen gesetzt werden,

weil wir – oder zumindest die allermeisten – nur ein begrenztes Budget zum

Ausgeben zur Verfügung haben. Im Rahmen dessen wollen wir wenigstens

die freie Auswahl haben.

40

Page 41: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Insofern können wir ganz klar feststellen: Ja, der Konsument ist in einer

Marktwirtschaft ein mündiger Bürger.

Dieses Leitbild der „Konsumentensouveränität“ wurde von Adam Smith, dem

Begründer der Volkswirtschaftslehre, im 18. Jahrhundert erdacht. Von Smith,

der Professor für Moralphilosophie in Edinburgh war, stammt der Satz: „Der

einzige Grund des Wirtschaftens ist der Konsum.“ Im Grunde ist dieser Satz

trivial. Es wäre schließlich absurd, Güter nur um der Produktion willen zu

produzieren. Das heißt auch, daß sich das Wirtschaften an den Konsumwün-

schen orientiert. Der Verbraucher steuert durch sein Nachfrageverhalten die

Güterproduktion. Die Unternehmen müssen das herstellen, was die Verbrau-

cher kaufen wollen. Wer sich nicht nach der Nachfrage richtet, bleibt auf

seinen Waren sitzen und verdient nichts. Das kann sich kein Unternehmer

leisten. Das Angebot richtet sich also nach der Nachfrage. Das ist die Kon-

sumorientierung des Marktes. So werden die Bedürfnisse der Verbraucher in

einer Marktwirtschaft optimal befriedigt. Die individuellen Bedürfnisse drü-

cken sich in jeder einzelnen Kaufentscheidung aus. Der eine achtet vor allem

auf einen günstigen Preis, dem anderen ist Qualität besonders wichtig, dem

dritten eine umweltschonende Herstellungsweise. Markenbewußtsein kann

eine Rolle spielen oder Energieverbrauch. Meistens fließen viele verschie-

dene Kriterien in die Kaufentscheidung ein. Jeder Verbraucher gewichtet sie

allerdings unterschiedlich. So stellt sich das vielgepriesene Preis-Leistungs-

verhältnis für jeden anders dar. Denn die Leistung bewertet jeder Mensch je

nach persönlichem Geschmack unterschiedlich. Aber was bestimmt im einzel-

nen das Handeln der Konsumenten? Diesen Aspekt der Konsumentscheidung

blendet das Marktmodell der ökonomischen K1lassiker aus. Und offensicht-

lich nicht nur die klassische Ökonomie. Es heißt schließlich auch im Volks-

Das ist Konsumentensouveränität. Jeder einzelne ist frei, zu entscheiden,

wie seine Bedürfnisse gestillt werden können. Das gehört zum Wesen der

Sozialen Marktwirtschaft.

| 4140

Page 42: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

mund: Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Die Präferenzen, die Wün-

sche und Bedürfnisse der Verbraucher werden als gegeben hingenommen. Ist

unsere Kaufentscheidung aber wirklich so frei und souverän? Sind die Märkte

und die Waren wirklich nur dem Geschmack der Konsumenten unterworfen?

Schon bei Jugendlichen und zunehmend auch bei kleineren Kindern kann

man erleben, daß nicht nur persönlicher Geschmack, sondern auch sozialer

Druck eine Rolle dabei spielen, welche Turnschuhe gekauft werden „müssen“

und welche Jeans die richtige ist. Markenbewußtsein ist hier nicht so sehr

Qualitätskriterium als vielmehr Ausdruck dafür, sozial anerkannt zu werden

und zu einer Gruppe zu gehören. Zunehmend erwartet unsere Gesellschaft

auch vom erwachsenen Verbraucher bestimmte Verhaltensweisen.

•ErsollsichbeimKaufenmoralischverhalten.

•Ersollsichumweltbewußtverhalten.

•ErsollProdukteerwerben,dieohneSchadstoffehergestelltsind.

•Ersolldaraufachten,daßmöglichstwenigEnergiezurHerstell-

ung verbraucht worden ist.

•ErsollbeiElektrogerätenaufEnergieeffizienzimGebrauch

achten.

•ErsollProdukte,diemitKinderarbeitgefertigtwordensind,links

liegenlassen.

•Ersolldaraufachten,nurHandwerkerzubeschäftigen,diesich

an die Tarifverträge halten und ihren Mitarbeitern anständige

Löhne zahlen.

•Ersollnachhaltigkonsumieren.

•UndnichtzuletztsollerbeiUnternehmenkaufen,diesichsozial

verantwortlich zeigen und sich der ganzen Welt verpflichtet

fühlen; die bei Tsunamis in Südostasien helfen und Geld für die

Aidsbekämpfung zur Verfügung stellen.

Wenn wir das alles beherzigen sollen, sind wir dann wirklich noch mündige

Verbraucher? Ist das dann noch Konsumentensouveränität oder geben wir

42

Page 43: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

dieses ökonomische Grundrecht nicht teilweise auf? Mündig ist doch auch

der, der all diese Erwartungen an sein Kaufverhalten gerade nicht erfüllen

will. Zunehmend drängt sich außerdem die Politik in unsere Konsument-

scheidungen hinein. Unsere Konsumentensouveränität wird schon an vielen

Stellen durch den Staat beschnitten. Das fängt bei der Schulpflicht an und

hört bei der Verpflichtung, eine Kfz-Haftpflichtversicherung abzuschließen,

noch lange nicht auf. Selbst die Höhe der Krankenkassenbeiträge wird jetzt

vom Staat für alle verbindlich festgelegt. Der Staat zwingt uns nicht nur

zum Konsumieren mancher Güter, er verbietet auf der anderen Seite auch

den Konsum bestimmter Genußmittel. Es gibt illegale Drogen und es gibt seit

neuestem Rauchverbote an bestimmten Orten. Wie weit sollen die staatli-

chen Konsumvorgaben gehen? Wie weit soll die Politik in den persönlichen

Lebensbereich des einzelnen hineinregieren? Über die Schulpflicht können

sich die meisten von uns wohl noch relativ leicht verständigen. Es gibt al-

lerdings auch Menschen, die diese Pflicht ablehnen. Sollen die Kinder dieser

Leute mit Polizeigewalt in die Schule gebracht werden? Wer Auto fahren will,

muß gegen Schäden, die er bei anderen damit anrichten könnte, versichert

sein. Auch das halten die meisten für sinnvoll. Und immerhin bleibt ja für

den, der sich nicht versichern will, noch die Wahlfreiheit, dann eben aufs

Auto zu verzichten. Aber schon bei diesen noch relativ harmlosen Beispielen

wird deutlich, daß der Staat uns Bürger in bestimmten Situationen glaubt, zu

unserem Glück zwingen zu müssen, indem wir bestimmte Güter konsumieren

sollen. Die Ökonomen nennen diese Güter meritorische Güter. Das heißt so

viel wie „verdienstvolle“ Güter. Es wird nämlich angenommen, daß der Kon-

sum dieser Güter nützlicher ist, als es die Nachfrage in einer freien Markt-

wirtschaft zum Ausdruck bringt. Platt gesprochen: Die Menschen merken

nicht selbst, daß der Konsum einer Ware oder einer Dienstleistung für sie gut

ist. Also muß der Staat sie davon überzeugen. Entweder er subventioniert die

Waren oder Dienstleistungen. Wenn sie billiger sind, wird mehr konsumiert.

Oder er macht konkrete Vorschriften und zwingt uns zum Konsum. Es kann

unterschiedliche Ursachen für eine zu geringe Nachfrage nach einem Gut

geben:

| 4342

Page 44: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

•IrrationaleEntscheidungen:Manglaubt,daßdieKonsumenten

ihre Kaufentscheidungen nicht nach rationalen Erwägungen

treffen, weil sie die Vorteile und die Nachteile nicht hinreichend

durchdenken oder die komplexen Wirkzusammenhänge nicht

durchschauen. Beispielsweise wurde das Nichtanlegen des

Sicherheitsgurtes im Auto vom Gesetzgeber als irrationale

Entscheidung bewertet. Das führte zur Einführung der

Gurtpflicht.

•UnvollständigeInformation:Dabeiwirdangenommen,daßdie

Verbraucher über ein Gut nicht ausreichend informiert sind.

Hauseigentümer wissen zum Beispiel oft nicht, welche

Einsparungen sich durch Maßnahmen zur Wärmedämmung

erzielen lassen. Deshalb hat der Staat zeitweise entsprechende

Gutachten subventioniert.

•Zeitpräferenzrate:HäufigistunsderzukünftigeKonsumweniger

wichtig als der heutige. Meritorische Güter werden oft damit

begründet, daß die Konsumenten zu wenig an die Zukunft denken.

Die Einführung der Pflicht zur Pflegeversicherung wurde zum

Beispiel damit begründet, daß die Menschen in jungen Jahren

ihrer späteren Pflegebedürftigkeit zu geringe Bedeutung

beimessen.

•ExterneEffekte:DurchexterneEffekteweichtderNutzen

desjenigen, der über die Nachfrage entscheidet, vom gesamten

volkswirtschaftlichen Nutzen ab. Da der Konsument bei seinen

Entscheidungen den Nutzen anderer Personen nicht oder nicht

genügend berücksichtigt, entspricht die Nachfrage nicht dem

volkswirtschaftlichen Optimum.

Beispielsweise bewertet ein Hauseigentümer den Nutzen, eine

denkmalgeschützte Fassade zu erhalten, nur nach dem Nutzen

44

Page 45: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

seiner Bewohner. Aber auch die übrigen Bewohner und Besucher

der Stadt ziehen einen Nutzen daraus und erfreuen sich an einem

gepflegten alten Haus. Also wird der Erhalt der Fassade als

meritorisches Gut durch Auf lagen und Subventionen gefördert.

Es gibt also vielfältige und manchmal auch gute Gründe, warum der Staat in

die freie Konsumentscheidung des Einzelnen eingreifen kann.

Einige Libertäre würden sicher nahezu jeden Staatseingriff als Eingriff in die

Konsumentensouveränität ablehnen. Ich halte den Staat in manchen Situa-

tionen für unverzichtbar. Das ist nicht zuletzt in der aktuellen Finanzkrise

deutlich geworden. Unser Geldsystem beruht auf Vertrauen. Auf dem Ver-

trauen, daß wir unsere Geldscheine und Münzen auch wieder in Waren im

entsprechenden Gegenwert eintauschen können. Und auf dem Vertrauen,

daß die Banken unsere Ersparnisse, die wir ihren anvertrauen, nicht verun-

treuen. Solche Garantien muß der Staat geben können. Ein Freibrief für Re-

gierungen, sich überall einzumischen, ist das aber nicht. Ganz offensichtlich

wird das dann, wenn der Staat uns nicht einmal zutraut, selbst entscheiden

zu können, wieviel Schokolade gut für uns ist. Wenn Lebensmittel mit Am-

pelfarben gekennzeichnet werden, nach dem Motto:

grün – kann man unbedenklich essen;

gelb – mit Vorsicht zu genießen; und

rot – Finger weg, das macht dick;

dann fühlt sich vermutlich auch der selbstbewußteste Kunde im Supermarkt

vom „big brother“ oder mindestens von seinen Nachbarn kontrolliert.

Die Frage bleibt: Wo kommt der Staat seiner Fürsorgepflicht nach, wo

sind seine Eingriffe in unserem Sinne? Und wo fängt die

Entmündigung an?

| 4544

Page 46: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Ist es sinnvoll, wenn der Staat seinen Kommunen vorschreibt, welche Kriteri-

en sie bei der Vergabe öffentlicher Aufträge an Handwerker berücksichtigen

müssen? Darf ein Handwerker einen Auftrag nur bekommen, wenn er Frau-

enförderung betreibt und andere Sozialkriterien berücksichtigt? Über all das

läßt sich trefflich streiten. Gesunde Ernährung und Frauenförderung sind eh-

renwerte Ziele. Aber ist es Aufgabe des Staates, uns das vorzuschreiben? Ein

mündiger Konsument – den die Politik immer gern zumindest verbal bemüht

– könnte auch genau umgekehrt denken. Er möchte möglicherweise, wenn

er einen Handwerker beauftragt, eine Dienstleistung kaufen, nicht mehr und

nicht weniger. Wenn er zum Bäcker geht, möchte er Brot, Brötchen oder

Kuchen kaufen und erwartet sonst nichts.

Wer sich finanziell an einem Unternehmen beteiligt, indem er Aktien kauft,

könnte eigentlich auch erwarten, daß die Unternehmensmanager den Wert

des Unternehmens mehren. Er erwartet nicht, daß sich das Unternehmen um

die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit kümmert, bei Flutkatastrophen hilft,

für mildtätige Zwecke spendet oder Aids bekämpft. All das sind unbestreitbar

gute Dinge. Aber kann ein mündiger Bürger nicht selbst entscheiden, ob und

wieviel Geld er für welches Anliegen ausgibt? Wer als Altersvorsorge Aktien

kauft, möchte damit nur für sein Alter vorsorgen. Seine moralischen Ansprü-

che bedient er vielleicht mit seiner Kirchenmitgliedschaft, durch Spenden,

Engagement im Sportverein oder durch ehrenamtliche Mitarbeit bei der Ob-

dachlosenhilfe.

Der Markt braucht auch Moral. Das hat Bundespräsident Horst Köhler kürz-

lich im Zuge der Bankenkrise wieder angemahnt. Ob der Markt selbst, der

Ort, an dem sich Angebot und Nachfrage treffen, moralisch sein kann, sei

einmal dahingestellt. Wenn zwei Menschen miteinander handeln, gewinnen

Noch beim Brötchenkauf moralischen Ansprüchen genügen zu müssen,

wäre für die meisten wohl zu Recht eine Zumutung.

46

Page 47: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

in jedem Fall beide, sonst würde der Tausch nicht stattfinden. Der Tausch

von Ware oder Arbeitskraft erfolgt nur, wenn beide Partner bestmöglich die

Wünsche des jeweils anderen befriedigen. Diesen täglich immer wieder zu

beobachtenden zwischenmenschlichen Wohlstandsgewinn am Markt haben

manche als „Wunder des Kapitalismus“ beschrieben. Unmoralisch ist daran

jedenfalls nichts. Fair in dem Sinne, daß niemand übers Ohr gehauen wird,

weil er das Produkt nicht auf Anhieb richtig bewerten kann oder Quali-

tätsmängel erst im Gebrauch feststellen kann, sollte es aber in jedem Fall

zugehen. Immer mehr Kunden fordern von den Unternehmen, deren Produk-

te sie kaufen, über die Ware hinaus auch gesellschaftliche Verantwortung

ein. Sie stimmen beim Einkaufen mit dem Geldbeutel ab. Viele Verbraucher

sind bereit, mehr Geld auszugeben, wenn ein Produkt „verantwortlich“ pro-

duziert worden ist. Laut Umfragen werden zum Beispiel Moral und Fairneß

immer mehr zu Maßstäben für Kaufentscheidungen, zumindest in der Ein-

stellung der Konsumenten. In einer repräsentativen Studie haben 93 Prozent

der Verbraucher angegeben, sie hielten es für sehr wichtig, daß Unterneh-

men moralisch korrekt handeln. Auch wenn wahrscheinlich längst nicht alle,

die das sagen, auch so handeln, zeigt sich darin doch ein Trend. Moral ist

Bestandteil der Kaufentscheidung. Auch diese Präferenzen der Verbraucher

schlagen sich im Marktprozeß nieder und müssen nicht vom Staat vorgege-

ben werden. Moral hat den Markt längst erreicht. Handel, Märkte und die

Ökonomie insgesamt haben mit menschlichem Verhalten zu tun. Und das

ist geprägt von unserem Sinn von Moral, Fairneß und Gerechtigkeit. Unser

moralisches Empfinden ist damit auch Gegenstand der Wirtschaft. Vielfach

wird allerdings bestritten, daß der Kunde tatsächlich immer König ist, und es

wird behauptet, daß es mit der Konsumentensouveränität gar nicht so weit

her sei. Was kann der einzelne Mensch schon gegen ein Industrieunterneh-

men oder eine Handelskette ausrichten? Ein besonders deutliches Beispiel

dafür, daß das funktionieren kann, war am Montag in der „Tageszeitung“

zu lesen. Unter der Überschrift „Mit Karotten gegen Klimafrevel“ wurde da-

rüber berichtet, wie sich in den Vereinigten Staaten eine neue Protestform

entwickelt: der „Carrotmob“. Beim „Carrotmob“, auf deutsch Karottenmeute,

| 4746

Page 48: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

geht es darum, mit dem vollen Einkaufwagen Politik zu machen. Wenn sich

hundert Leute zusammentun – und so viele würde man für nahezu jedes

Anliegen in einer deutschen Stadt zusammenbekommen –, können sie Händ-

ler und Produzenten dazu bewegen, beispielsweise umweltfreundlicher oder

sozialverträglicher zu werden. Der Händler, der den höchsten Prozentsatz des

Umsatzes für einen energiesparenden Geschäftsumbau einzusetzen bereit

ist, bei dem wird eingekauft. „Firmen tun alles für Geld“, sagt der Erfinder.

In den USA funktioniert das. Das ist ein Beispiel für Umweltschutz über den

Markt. Aber auch bei uns stellen viele Unternehmen nicht nur ihre Produkte

her, bewerben deren gute Qualität oder deren niedrigen Preis. Sie betreiben

gleichzeitig eine Imagewerbung, für die sich neudeutsch der Begriff „Corpo-

rate Social Responsibility“ eingebürgert hat. Das bezeichnet eine soziale Ver-

antwortung der Unternehmen. Hier leisten Firmen einen freiwilligen Beitrag

beispielsweise für den Umweltschutz oder zugunsten ihrer Arbeitnehmer, die

über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehen. Sie engagieren sich für die

Wissenschaft, gründen Stiftungen für gemeinnützige Zwecke oder richten

Betriebskindergärten ein.

Selbst das Bundesarbeitsministerium, das im allgemeinen nicht gerade für

große Unternehmerfreundlichkeit bekannt ist, gibt zu, daß das gesellschaft-

liche Engagement der deutschen Wirtschaft außerordentlich hoch ist. Deut-

sche Unternehmen sind auch international Vorbilder bei der Übernahme von

Verantwortung. Die Politik ist mittlerweile auf diesen fahrenden Zug auf-

gesprungen. Das Bundesarbeitsministerium plant eine nationale Corporate-

Social-Responsibility-Strategie, kurz CSR. Es soll sogar ein CSR-Label geben.

Ein politisch besetzter Beirat soll entscheiden, was als sozial verantwortlich

gilt und was nicht. Das halte ich allerdings für dirigistisch. Von Freiwilligkeit,

Vielfältigkeit und Verantwortung bleibt dann nichts mehr. Hier soll im Ge-

genteil zentral politisch gesteuert werden, wie sich Unternehmen im Wett-

bewerb verhalten sollen. Angesichts des freiwilligen vorbildlichen Verhaltens

der deutschen Wirtschaft auf diesem Gebiet drängt sich der Verdacht auf,

daß die CSR-Initiative des Bundesarbeitsministers nicht mehr ist als eine ak-

48

Page 49: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

tionistische Verschwendung von Steuergeldern. Das freiwillige Engagement

von Unternehmen zur Imagepflege ist im Übrigen keine neue Erscheinung.

Schließlich gab es den Handel schon lange vor der Einführung eines durch-

setzbaren Wirtschaftsrechts. Ohne Vertrauen in die Seriosität des Handels-

partners ging das nicht. Der gute Ruf war für jeden Kaufmann unverzicht-

bares Kapital. Ohne Verantwortung, Vertrauen und einem guten Ruf waren

Geschäfte noch nie möglich. Das gehört einfach zu einem erfolgreichen Un-

ternehmertum dazu.

Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen hat in Deutschland

vor allem in den Familienunternehmen, im Mittelstand eine lange Tradition.

Und in der Zeit der Industrialisierung haben Unternehmen Werkswohnungen

für die Arbeiter gebaut, Hilfen bei Krankheit, Erwerbsunfähigkeit und Alter

geschaffen, Kindergärten eingerichtet und Kultur und Sport der Mitarbeiter

gefördert. Ohne Vertrauen funktioniert auch heute kein Markt, kein Kauf

und Verkauf von Waren oder Dienstleistungen. Jeder Konsument muß zu

einem gewissen Grad darauf vertrauen können, daß das, was er erwirbt, in

Ordnung ist. Daß Lebensmittel nicht vergiftet sind. Daß technische Gerä-

te beim Gebrauch nicht explodieren. Daß Produktinformationen auch der

Wahrheit entsprechen. Sicher, vor dem Kauf sollte sich der Konsument im

Idealfall informieren. Wer sich aber vor jeder Kaufentscheidung umfassend

informiert, ist zwar perfekt auf den Kauf vorbereitet, hat aber vermutlich vor

lauter Studium von Testzeitschriften, vor lauter Internet-Recherchen und

Expertenbefragungen keine Zeit mehr zum eigentlichen Konsumieren. Es ist

nicht rational, nicht effizient, nicht wirtschaftlich, sich vollkommen, voll-

ständig zu informieren. Vertrauen bietet dann Orientierung und Sicherheit,

verringert Kontrollen und Transaktionskosten und reduziert die Komplexität

im Markt. Wie wichtig Vertrauen im Wirtschaftsleben ist, erleben wir gerade

jetzt, wo das Vertrauen in weiten Teilen der Finanzwelt verlorengegangen ist.

Jetzt läßt sich das Vertrauen nicht so schnell wieder herstellen, schon gar

nicht dadurch, daß eine Regierung erklärt, es müsse wieder Vertrauen herr-

schen. Der Staat muß deswegen in der gegenwärtigen Krise kräftig eingrei-

| 4948

Page 50: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

fen. Er bürgt in großem Stil dafür, daß Kredite unter Banken auch zurückge-

zahlt werden, um das verlorengegangene Vertrauen zu ersetzen.

Unternehmen handeln also nicht aus rein altruistischen Gründen, wenn sie

Gutes tun und sich damit einen guten Ruf erwerben. Vielmehr erhoffen

sie sich dadurch ein besseres Image bei potentiellen Kunden und langfris-

tig mehr Absatz. Das ist legitim und es zeigt, daß der Markt funktioniert.

Bei größeren, börsennotierten Unternehmen ist ein solches sozial verant-

wortliches Verhalten mittlerweile ein wichtiger Baustein, um gute Ratings

zu bekommen und von Investoren in bestimmten Fonds und Kapitalanlagen

berücksichtigt zu werden. Auch wenn die Ratingagenturen aktuell gerade

in Mißkredit gekommen sind, weil sie möglicherweise zu leichtsinnig gute

Noten für die Bonität von Finanzinstituten verteilt haben, werden Unter-

nehmensbewertungen auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Denn das

dient, wenn die Fehler des bisherigen Systems abgestellt worden sind, der

Information der Kunden und Anleger. In punkto Information und Aufklä-

rung kann der Staat tatsächlich eine Rolle in der Marktwirtschaft spielen.

Die bekannteste Institution zur Verbraucherinformation in Deutschland ist

die Stiftung Warentest. Sie wurde 1964 vom Bundeswirtschaftsminister ins

Leben gerufen und wird jährlich mit Steuermitteln versorgt, um Produkte

zu prüfen und zu testen. Ich kenn niemanden, der an dieser segensreichen

Einrichtung etwas auszusetzen hätte. Aber auch das Ordnungsrecht ist eine

Möglichkeit, für mehr Aufklärung zu sorgen. Der Staat verpflichtet zum Bei-

spiel Banken, die Kunden über die Risiken ihrer Produkte aufzuklären. Wer

das als Bank nicht tut, setzt sich der Schadenersatzforderungen seiner Kun-

den aus. Der Konsument kann sich inzwischen auch sehr viel besser selbst

informieren als früher. Die Bildung der Verbraucher ist in den vergangenen

Markt und Moral gehören zusammen. Ohne Moral ist kein verläßliches

Wirtschaften möglich. Wer seine Partner nicht korrekt behandelt, kann

in Zukunft nicht erwarten, daß sie noch für Geschäfte zur Verfügung

stehen.

50

Page 51: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Jahrzehnten deutlich gestiegen. Wenn man sich die letzten fünfzig Jahre an-

sieht, fällt einem die gestiegene Zahl an Bildungsabschlüssen im Realschul-,

Abitur- und Hochschulbereich sofort ins Auge. Die Menschen sollten also

in der Lage sein, Unternehmen und Produkte besser beurteilen zu können.

Verbraucher wissen heute sehr viel mehr als früher über Produktionsbedin-

gungen, Menschenrechte oder Umweltbedingungen. Sie sind kritischer ge-

worden und informieren sich nachweislich genauer. Im Internetzeitalter und

der damit einhergehenden weltweiten Vernetzung können Unternehmen den

Konsumenten kaum noch etwas verheimlichen. Die Globalisierung stärkt die

Macht der Verbraucher. Häufig scheint es für viele Verbraucher trotzdem

noch bequemer zu sein, nach dem Staat zu rufen. Der Staat soll sagen, was

das beste Produkt ist und möglichst noch alle anderen verbieten. Sich selbst

zu informieren, ist schließlich mühsam. Aber das ist der Preis der Freiheit.

Entscheidungen treffen zu müssen, gehört zum mündigen Bürger dazu. Denn

wer von uns will sich schon alle Entscheidungen abnehmen und damit letzt-

endlich auch aufzwingen lassen! Wer möchte sich schon seinen Lebensstil

vom Staat diktieren lassen!

Dann gilt der alte Spruch, daß der Kunde König ist – und der Konsument

mündig - auch in Zukunft.

In diesen sauren Apfel, uns als Konsumenten zu informieren, müssen

wir schon beißen.

| 5150

Page 52: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 53: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Moral der Medien – Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit

Bodo Hombach

Wenn plötzlich ein so antiquierter Begriff wie „Vertrauen“ (ich möchte

darauf wetten bzw. schlage das hiermit vor) zum „Wort des Jahres“ wird,

dürfen wir uns alle verwundert die Augen reiben. – Der Markt hat sein Recht

und seine Gesetze, er hat aber auch seine Verantwortung und braucht

deshalb eine Moral.

Page 54: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Moral der Medien – Im Zwiespalt zwischen Qualität und Profit

Das Thema, das Sie gesetzt haben – „Die Moral der Medien“ –, hat bei mir

eine Menge Fragen und Reflexionen ausgelöst. Dafür habe ich zu danken.

Dass der Moralbegriff – den wir gleichwohl ständig verwenden – unbestimmt

ist, ist Allgemeingut. Aber an meiner Suche will ich Sie teilhaben lassen

und meine Mosaiksteine abliefern, obwohl es mit Sicherheit kein in sich ge-

schlossenes Gesamtmosaik werden kann.

Bevor ich das mache, möchte ich die Unterzeile Ihres Themas „Im Zwiespalt

zwischen Qualität und Profit“ aufgreifen.

Wer einen solchen Zwiespalt propagiert, oder Verleger die sich da hineintrei-

ben lassen, verspielen die Zukunft ihrer Qualitätsmedien und ihren Markt.

Sie beschleunigen den Trend zum Gratisjournalismus, der keine andere Funk-

tion hat, als den Zwischenraum zwischen Anzeigen zu füllen, und der über

kurz oder lang selber zur Werbung werden wird, also auch gekauft werden

kann. Nur Journalismus, der einen Mehrwert bietet, der im unübersichtlichen

Dschungel von geschenkten – uns geradezu aufgedrängten – Informationen,

Gerüchten und interessengeleiteten Storys und Inszenierungen einen glaub-

würdigen Pfad für die Leser und Leserinnen schlagen kann, darf was kosten

und wird seinen Markt behaupten.

Qualitätsjournalismus muss relevant sein für die Lebensrealität der Leserin-

nen und Leser. Er muss ihnen Einsichten vermitteln, Hintergründe und Zu-

sammenhänge erkennen lassen, die sonst vom Tsunami der Informationen

Was dem einen Moral, ist dem anderen Sünde.

54

Page 55: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

verschüttet werden. Früher war die schnelle, möglichst exklusive Meldung

aus dem hintersten Winkel der Welt besonders wertvoll. Heute wird sie uns

aufgedrängt, geht mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball, wird zuneh-

mend nicht mehr von Journalisten, sondern von Computersystemen aufge-

griffen und in die verschiedensten Distributionskanäle geleitet.

So sind nur wirtschaftlich starke Medien unabhängig und frei und können

Qualität sichern.

Wenn ich ausführlicher über das Hauptthema spreche, so habe ich mich ab-

sichtlich abgelöst von der konkreten Situation in unserem eigenen Unter-

nehmen, der WAZ-Mediengruppe. Vieles von dem, was ich als Risiko und

auch als Problem aufzeige, ist in unserem eigenen Hause bereits gelöst oder

auf einem guten Weg. So haben wir am 2. Mai 2007 einen Ehrenkodex ver-

abschiedet, von dem ich Ihnen auch einige Exemplare mitgebracht habe, der

unser publizistisches Wirken von Schleichwerbung und unsere journalisti-

sche Arbeit von unsachgemäßen Einflüssen freihalten soll.

Wir haben alle erdenklichen Maßnahmen eingeleitet und Vorkehrungen ge-

troffen, unsere Qualität zu verbessern und Unabhängigkeit zu sichern. Das

gilt für das Inland, aber auch für unser Auslandsengagement.

Ich wollte meine Überlegungen nicht durch den Filter unserer eigenen Praxis

laufen lassen, um das allgemein formulierte Thema nicht zu verengen. Sie

wollen von mir ja keinen Unternehmensbericht.

Also wie versprochen: Morgens vor dem Rasierspiegel ist die Welt noch in

Ordnung. Du bist Mitarbeiter einer großen und angesehenen Zeitung mit

Qualität und vernünftiger Profit sind unter diesen Umständen kein

Gegensatz, sondern bedingen einander.

| 5554

Page 56: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Reichweite und Einfluss. Der redet niemand drein. Die macht seit Jahrzehnten

eine ansehnliche Arbeit und versteht es, sich den meisten Lesern unentbehr-

lich zu machen. Die nimmt ihre Mittlerrolle ernst, ist Gelenkstelle zwischen

allen Räumen des öffentlichen Lebens, Drehscheibe für Ideen, Schnittpunkt

für Kraftlinien aller Art, Arena, Forum, aber auch Nische und Nest, Rum-

pelkammer für Exkurse ins Phantastische, frech, präzise, zivil, Sendbote

zwischen den Ein- und Ausgeschlossenen, Dolmetscher zwischen Oben und

Unten, Gestern und Morgen, Rand und Mitte, Vor- und Nachdenkern, Inst-

rument der Auseinandersetzung und des Zusammengehens, aktuell, flexibel,

empfindsam und hart, mit Leidenschaft und Kühle, Katheter für sozialen

Problemstau, Kompost-Ecke für Kulturabfall, Schredder für Abgelegtes, Ab-

genutztes, Abgestandenes, Seismograph für feinste Beben auf der nach oben

offenen „Richter-Skala“ des Geistes, offen für jede Bitte, aber verschlossen

für jeden Befehl. – Kein schlechtes Gefühl.

Auf der Fahrt ins Büro kommt es zu Momenten des Innehaltens und Nachden-

kens. Da sind die Leute, um die es geht: Gesichter und Schicksale, Interessen,

Prägungen, Leidenschaften, Temperamente. Was ist ihr Lebensgefühl? Wel-

ches Bild haben sie von der Welt? Was treibt sie um? Der Kündigungsbrief im

Postkasten, der Lottobescheid, die jüngste Geburts- oder Todesanzeige, der

DAX, das „Tor des Monats“? - Millionen „hängen rum“, sind entbehrlich, neh-

men nicht mehr teil und hören die Uhr ticken. An den Häuserwänden flotte

Sprüche: „Hol dir!“ „Kauf dir!“. Grelle Bilder verordnen Jugend, Gesundheit,

Schönheit, Erfolg. Jetzt und hier.

Das Spiegelbild lächelt. „Ich kenne dich nicht, aber komm her, ich ra-

sier dich!“ – Der Tag kann beginnen.

Wehe dem Leistungsverweigerer oder Konsum-Muffel. Wehe dem

Langsamen, Umständlichen, Behinderten! Wie viele werden heute au-

ßer Atem kommen?

56

Page 57: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Ankunft im Pressehaus. Smalltalk im Aufzug. Das Wetter. Das Wochenende.

Lange Korridore. Ein unglaublich zergliedertes System. Macher, Verwalter,

Techniker, Gestalter, Planer. Hinter jeder Tür vielleicht ein kreativer Feuer-

kopf, vielleicht aber auch ein Bremser mit dem Territorialverhalten eines

Merowingers.

Nicht Maschinen machen die Zeitung, sondern Menschen. Da sind Redak-

teure mit ihren Sekretariaten. Da ist ein mittleres Heer von freien Mitar-

beitern, Autoren, Fotografen, Layoutern. Da ist ein tief gestaffeltes Netz

von Informationsquellen, persönlichen Kontakten, Präsenz in einschlägigen

Gruppierungen, Publikationen, Akademien. Natürlich auch Technik und Lo-

gistik. Alles in allem eine lange Kette von Subjekten mit viel Erfahrung und

guten Ideen, aber auch fehlbar und begriffsstutzig, mit Gelassenheit, aber

auch Ungeduld und Leidenschaft. Der Leser ist das letzte Glied der Kette,

mit seinen Vorlieben und Abneigungen, seinem Werdegang, Erziehung, Schu-

le, Erfahrungen, mit seinem Charakter, Temperament und - Parteibuch. Und

alles hat den Charme der Vergänglichkeit. Irgendwo im Hintergrund steht

die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes, das Pressegesetz mit seinen Idealen:

Menschenrechte, Wahrheitsliebe, Ausgewogenheit, Berufsethos.

Jetzt ist alles an der Arbeit. Finger klappern über die Tasten, Bildschirme

leuchten, Telefone summen und unzählige Gespräche im Korridor, im Auf-

zug, an der Frühstückstheke. Es vibriert der Betrieb. Konferenzen, Regula-

rien, Strukturdebatten. Der nächste Unternehmensberater steht ins Haus.

Synergie-Hoffnung, Rationalisierungsanstrengung, Qualitätssteigerung,

Einsparungen. Die Abonnentenzahlen schwanken mit fallender Tendenz, die

Marktanteile sind bedroht. Früher sagte einer dem wütenden Leser „Dann

lesen Sie doch eine andere Zeitung!“ – Heute greift man zum Bußgewand

und sagt: „Bitte, geben Sie uns noch einmal eine Chance!“

Es gibt kaum noch Wichtigeres als Abonnentenstand und Anzeigenpegel. Ist

das die „Vierte Macht im Staat“? Wir liefern gute Arbeit ab, und ist die ihr

| 5756

Page 58: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Geld noch wert? Der Leser spürt es hoffentlich noch: Ein gelungener Artikel

entlässt ihn nicht dümmer als er vorher war, und beim Lesen erscheint er ihm

kürzer als er physikalisch ist. Er vernebelt nicht, sondern schafft Durchblick.

Er macht nicht nieder, sondern richtet auf. Die Zeitung oder die Sendung er-

weitern seinen Horizont, ermöglichen Teilhabe, Meinungsbildung, Kontrolle

der Macht. Seitdem immer mehr Menschen einen immer größeren Anteil der

Welt nur noch über die Medien erfahren, entscheiden diese über die gefühlte

Bedeutsamkeit eines Themas. Das ist eine tägliche Herausforderung und eine

tägliche Verantwortung.

Treue Gefolgschaft ist aus der Mode. Es gibt immer mehr „Laufkunden“. Viele

leben auf Probe, flüchtig, bis zum Widerruf. Blätter drängen auf den Markt,

die kostenlos in die Menge geworfen werden. Scheinbar kostenlos, denn na-

türlich zahlen die Leute – über die Werbeetats und die Produktpreise. Sie

zahlen auch, wenn sie das Blatt gar nicht lesen.

Auch das ist wahr: Die Werbe-Inseln wachsen flächendeckend zusammen.

Der Beeinflussungsversuch der PR auf journalistische Medien und die Be-

einflussung der Berichterstattung durch wirtschaftliche Interessengruppen

nimmt massiv zu. Für die Marketing- und Werbeabteilungen der Industrie ist

es die effizienteste Form der Image- und Produktwerbung. Schleichwerbung

kommt hinzu. Schon soll es Austauschbeziehungen nach dem Muster „Anzei-

ge gegen Text“ geben. Nicht mehr alle können widerstehen. Für den Leser ist

das kaum durchschaubar. Er soll es auch nicht merken. – Etliche Journalisten

passen sich an. Sie orientieren sich an der politischen Mehrheitsmeinung.

Sie „jagen im Rudel“, wie ein Kluger von ihnen kritisierte. Kampagnenjour-

nalismus muss nicht mehr organisiert werden. Er ergibt sich wie von selbst.

Die Neidhammel umkreisen den Sündenbock. Einige Journalisten werden zu

Dienern zweier Herren. Der Lokalredakteur, der auch für die Mitarbeiter-

Da provozierte einer: „Du hast dir nichts vorzuwerfen. Deine Zeitung ist

immer noch gut. Nur deine Leser wurden schlechter.“

58

Page 59: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

zeitung eines Autokonzerns schreibt, muss diesem nicht nach dem Munde

reden, aber er kann ihm nach dem Ohre schweigen. Er geht Konfliktthe-

men aus dem Weg. - Karge Honorare in einigen Medien machen zusätzliche

Einnahmen aus PR-Tätigkeiten verlockend. Doppelbindungen führen immer

zur Rücksichtnahme, zu Schreib- und Recherchehemmungen im Dienste des

heimlichen Auftraggebers.

In vielen Blättern und Sendern werden Agenturberichte ungeprüft übernom-

men. Man hört, sieht und liest denselben Bericht. Das empfinden die meisten

als Bestätigung. Mancher glaubt sogar dem selbsterfundenen Gerücht, wenn

es zu ihm zurückkehrt.

Insgesamt scheint die Lust am argumentativen Streitgespräch nachzulassen.

Komplexe Themen verwirren und ängstigen die Leute. Sie mögen es anschei-

nend einfach, schwarz-weiß, klar ausgerichtet, im Gleichschritt („Wir sind

Papst“). Sie wollen nicht Gegenwind und Widerstand. Leser, Zuschauer und

Hörer wollen Bestätigung. Es ist scheinbar einfach, sie glücklich zu machen.

(„Für mein Geld kann ich erwarten, dass man an meine niedrigsten Instinkte

appelliert.“)

Journalisten, die ihr Handwerk verstehen, gelten leider oft als lästige Schnüf-

felsucher und Fragensteller. Sie ähneln dem Zahnarzt. Sie bohren bis es weh-

tut. Dann sind sie an der richtigen Stelle. Hinter den Fassaden der Macht,

hinter Verlautbarungen und offiziellen Lesarten vermuten sie interessante

Abstellräume. Würdenträger machen sie nicht schüchtern. Traditionen ma-

chen sie nicht ehrfürchtig.

Kritische Berichte polarisieren und verprellen. Das halten manche nicht

für gut für die Abonnentenzahl.

| 5958

Page 60: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Das passt einigen nicht mehr in ihre Landschaft. Analytische und kritische

Fähigkeiten von Journalisten sind wichtiger denn je, aber sie werden als stö-

rend empfunden, manchmal vom eigenen Arbeitgeber. Eine große Boule-

vard-Zeitung stellt jedem, der ihn haben will, einen Pseudo-Presseausweis

aus, und wenn große Kaufhausketten zur Bilanz-Pressekonferenz einladen,

darf kein Journalist mit eigenem Kamerateam anrücken. Die Firma selbst

stellt den Ü-Wagen und „verkauft“ den fertigen Bericht. Sie bietet auch die

Hochglanzfotos an, und lässt sich vor dem Interview mit dem Firmenchef

selbstverständlich die Fragen vorlegen. Wenn der dann trotzdem ins Stottern

kommt, wird das ganze Interview kassiert.

Wer will heute überhaupt noch ein politisches Handlungskonzept als richtig

oder falsch bewerten? Als „irgendwie richtig“ erscheint es, wenn es Kom-

plexität reduziert, das heißt, wenn es in Schlagworten, fetten Schlagzeilen,

Worthülsen und Vorurteilen daherkommt. Kritischer Journalismus glaubt

letztlich an eine von Menschen beherrschbare Welt. Er traut sich zu, Fakten

und Kriterien zu finden, die sinnvolles Handeln ermöglichen. Er unterstellt

einen mehr oder minder vernünftigen Politikbetrieb, der in demokratischen

Strukturen Meinungen und Informationen bewegt, um sich in diesem Wech-

selspiel selbst zu reproduzieren. Wer von den rund 50 Prozent Nichtwäh-

lern in diesem Lande teilt noch diesen Glauben? Vielleicht hat Journalismus

als Erkenntnisweg noch nicht ausgedient, aber er kämpft ziemlich einsam

– noch nicht chancenlos – gegen das Massenbündnis unkritischer Nutzer mit

einer Unterhaltungs- und Verblödungsindustrie. Warum also sollte man als

Politiker gegen den Trend schwimmen, wenn man Wahlen gewinnen will?

Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt eine Rangliste der Presse-

freiheit. Von Finnland an der Spitze bis Nordkorea am Ende. Deutschland ist

Warum lässt sich die Öffentlichkeit dies alles bieten? Die hohe Komple-

xität politischer, ökonomischer und sozialer Problemstellungen überfor-

dert und ermüdet große Mehrheiten der Gesellschaft.

60

Page 61: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

kürzlich von Platz 18 auf 23 abgerutscht. Die USA fielen in fünf Jahren von

Platz 17 auf 53. In 17 Bundesstaaten gibt es keinen Quellenschutz. Das wird

mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet, es betrifft aber längst jede

Art von Recherche.

Während die klassischen Medien vielleicht noch einer gewissen Aufsicht un-

terliegen, einen Ethos vertreten, herrscht im Internet die totale Anarchie.

Es wimmelt von lästigen Hausierern, Hütchenspielern und Beutelschneidern.

Verschrobene „Religionsstifter“ paaren sich mit Demagogen aller Art, und

gleich neben der harmlosen Suchanfrage lauern reale Verbrechen und Ab-

gründe. Auf den Bildschirmen geschehen Dinge, die den Konsens der Gesell-

schaft hart attackieren und das Lebensgefühl, ja die Identität vieler Men-

schen tief verstören. Tagtäglich erhalten sie die Lektion, dass der Respekt vor

den Überzeugungen des anderen ein gestriger Schmarren ist, dass Toleranz

und Menschenwürde das Spaßbedürfnis unzulässig einschränken, dass Ehr-

lichkeit, Geduld, Zweifel, Nachdenklichkeit zu Schleuderpreisen versteigert

werden. - Kinder und Jugendliche nehmen diese Lektionen unwillkürlich auf.

Sie lernen und üben, und eines Tages können sie es. Wenn dann in ihren

Kreisen noch jemand von Menschenwürde, Solidarität, Bescheidenheit redet,

schauen sie sich prustend an und fragen: „Was ist denn in den gefahren?“

Aber Dämonisieren ist fehl am Platze. Hinter all dem stehen handfeste In-

teressen. Man will nicht mich, sondern mein Geld. Sobald ich an der Kasse

war, bin ich uninteressant - bis zum nächsten Mal. Widerstand ist relativ

zwecklos, aber Widersetzlichkeit wäre schon viel. Ich sympathisiere mit je-

nem bayerischen Bauern in der Nähe von Bayreuth, von dem man sich bei

uns erzählt. Der Dorfpolizist fordert ihn auf, den schadhaften Zaun zu repa-

rieren, weil sich die „Stadtleut“ daran die Kleider zerreißen. „Werden Sie das

freiwillig machen, oder sollen wir Sie zwingen?“ - Der Bauer hört geduldig

zu. Dann stopft er sich eine Pfeife und sagt: „Wann’s iahnen nix aasmocht,

tuans mi bitte zwingen!“

| 6160

Page 62: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Alten spüren noch die tief eingewurzelte Sorge vor monopolisierter Mei-

nungsmacht. Im Internet ist jeder Monopolist. Seine Botschaft kann sich über

die Kanäle und Synapsen des Netzes so schnell bewegen und multiplizieren,

dass die klassischen Mediensaurier nur noch konsterniert hinterherschauen.

Verblasene Theorien, Privatreligionen und Fehl-Informationen werden zu Vi-

ren, die sich explosiv verbreiten und sich von keiner Firewall beeindrucken

lassen. Zudem bleiben sie jahrelang im Web.

Das schon immer zerbrechliche Ethos der Trennung von Information und

Kommentar erscheint als ein Restposten der Aufklärung. Es treibt nur noch

wenige um. „Wie kann ich wissen, was ich meine, bevor ich denke, was ich

sage!“ Im Kampf um die Aufmerksamkeit zählt nicht das verifizierte Fak-

tum, sondern zunehmend der Blog, die Meinung, und diese ist zu oft nicht

das Ergebnis eines kognitiven und diskursiven Prozesses, sondern vegetativer

Schrei, verschwommenes Lebenszeichen, mulchige Verbrüderung. Man blickt

nicht mehr von der Außenwelt auf das Internet, sondern nur noch aus dem

Internet auf die Welt. Deren Bewohner könnten so zu Informationsriesen,

aber Wissenszwergen und Bildungsmikroben werden. Hier bedarf es endlich

einer breiten „medienpolitischen“ Diskussion und der Medienbildung.

Früher durchlief eine Meinung zahlreiche Filter, bevor sie die Öffentlichkeit

erreichte. In der Demokratie durfte zwar jeder mehr oder weniger sagen, was

er wollte, hatte aber nur geringe Chancen, sich weithin Gehör zu verschaf-

fen, wenn er nicht unmittelbar Zugang zu den Verteilungs- und Verstär-

kermechanismen hatte. Daneben gab es nur einen riesigen Stammtisch und

private Zirkel ohne öffentlichen Geltungsanspruch. Das war bedauerlich bei

guten Ideen. Es federte aber auch die schlechten ab.

Ich hatte große Hoffnung in die Partizipation, die Emanzipation und

das Wissen der Vielen. Aber zur Zeit überfällt mich in dieser Frage ein

Zustand der fidelen Resignation.

62

Page 63: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Zwischen 1933 und 1945 konnte man erleben, was mit einem Land geschieht,

wenn Stammtischkrakeeler an die Macht gelangen und sie nicht mehr herge-

ben. – Jetzt werden wir umgehen müssen mit einer Gesellschaft, bei der jede

noch so obskure Spinnerei im Internet „auf Sendung“ geht, überall auf der

Welt zugänglich wird und unwiderruflich vorhanden bleibt, und das ohne

„Fünf-Prozent-Klausel“ für Fanatiker, Demagogen, Phantasten.

Der Karikaturenstreit hat Kulturen wie die aus Dänemark und die pakista-

nische, die mangels Begegnung nie Grenzkriege hätten, in einen zunächst

virtuellen, später sehr realen Konflikt gehetzt. Dass dänische Milchprodukte

aus arabischen Kühltheken verschwanden, war das geringste Problem.

Nein. Man darf das Entstehen multiperspektivischer Verhältnisse nicht prin-

zipiell diffamieren. Der Informationsstand von Online-Lesern könnte sich

durchaus verbessern, wenn die so unendlich vielen heterogenen Informa-

tionsquellen verfügbar wären und genutzt würden. Vielleicht erleben wir

gegenwärtig die Entsakralisierung der Medien. Die Zeit des Kündens und Er-

ziehens ist vorbei. Vielleicht ist das unter den Schaumkronen eine subtile Art

des Fortschritts, und es ist nur die Plötzlichkeit, die uns erschreckt. Hat sich

nicht auch die Entsakralisierung der Macht in der europäischen Kultur als

ungeheurer Zugewinn herausgestellt. Und wer weiß, vielleicht sollten sogar

die Frommen die Säkularisierung aller Lebensverhältnisse als einen längst

fälligen Offenbarungsschub begreifen.

Die technische Machbarkeit des Weltuntergangs, die Verfügbarkeit der

Evolution im Reagenzglas. Die ökologische Bedrohung elementarer Lebens-

grundlagen. Die Globalisierung von Arbeit, Markt und Kapital. Der grenz-

überschreitende Terrorismus und das organisierte Verbrechen. Die massen-

Die Welt hat besseres verdient als neuen Pessimismus, denn sie steht

vor ungeheuren Herausforderungen:

| 6362

Page 64: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

hafte Armutswanderung. Die immer noch anarchische Grundstruktur der

Staatenwelt. Die Finanzkrise. Die Alterspyramide. Die Flucht in fundamenta-

listische Rückwärtsträume. Die unter wahnwitzigen individuellen Glücksvor-

stellungen langsam zerbrechenden moralischen und sozialen Genome. Das

Verheizen mühsam erkämpfter Freiheiten für eine Illusion von Sicherheit.

Das alles wird die humane Spannkraft der demokratischen Gesellschaft bis

an den Bruchpunkt testen. Das fordert Wachsamkeit und Sensibilität, einen

republikanischen Mut und ein Maß an belastbarer Solidarität, wie sie viel-

leicht noch nie gefordert waren. Bei allem spielen die Medien eine ganz ent-

scheidende Rolle, und deshalb müssen auch sie sich entscheiden. Wollen sie

verwirren oder aufklären? Wollen sie aufrichten oder niedermachen? Wollen

sie ermuntern und ermutigen oder lähmende Apathie verbreiten? Wollen sie

helfen, die guten Ideen, die zukunftsstarken Kräfte, die dynamischen Bünd-

nisse wie Nuggets aus dem Geröll herauszuwaschen, oder wollen sie die Pro-

bleme überzuckern und die Massen zynisch als willenlosen Heringsschwarm

an den Kassen vorbeischleusen?

Die Weltfinanzkrise hat in aller Schärfe geklärt, was längst schon einmal klar

war. Alles ist mit allem verflochten. Es gibt nur noch eine Welt-Innenpolitik.

Eine Marktwirtschaft, die ihren sozialen Sinn und Zweck nicht mehr kennt, in

der entfesselte Gier Einzelner das ihnen anvertraute Geld ins nächste Kasino

trägt, ist – ich sage das mit ganz bescheidenen Worten – eine sehr unintelli-

gente Methode, mit den Problemen umzugehen. Sie erwarten nicht von mir,

dass ich jetzt die Börse erkläre. Aber ich denke, die Börsianer sind uns eine

Erklärung schuldig.

Wenn plötzlich ein so antiquierter Begriff wie „Vertrauen“ (ich möch-

te darauf wetten bzw. schlage das hiermit vor) zum „Wort des Jahres“

wird, dürfen wir uns alle verwundert die Augen reiben. – Der Markt

hat sein Recht und seine Gesetze, er hat aber auch seine Verantwor-

tung und braucht deshalb eine Moral.

64

Page 65: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die flüchtige Maximierung der Gewinne, schon gar, wenn man das Geld an-

derer Leute in die eigene Tasche verliert, kann nicht das einzige Kriterium

sein. Und wenn sich – wie Josef Ackermann das jüngst, und sicher nach einer

durchwachten Nacht, trefflich kennzeichnete – immer größere Teile der Welt

in Wertpapiere verwandeln und diese meistbietend versteigert werden, muss

sich niemand mehr schämen, wenn er dem Markt und seinen Strategen auch

ein paar moralische Maßstäbe ins Stammbuch schreibt.

Die Medien müssen sich fragen, wie weit sie das drohende Verhängnis, dass

einige Banken der Wirtschaft nicht mehr dienen wollen, sondern selber Fi-

nanzwirtschaft („Geld gebiert Geld“) sein wollen, ignoriert oder durch Förde-

rung der allgemeinen Spielerlaune gefördert haben. Sie müssen sich künftig

überlegen, ob sie das spekulative Spiel mit Arbeitsplätzen, Zukunftschan-

cen und Altersversorgung weiterhin als „Demokratisierung“ der Börse feiern

oder den so entfesselten Breitensport eher dämpfen sollten. Und wo sie noch

nicht die richtigen Antworten haben, sollten sie wenigstens die richtigen

Fragen stellen.

Der eben noch gefeierte Clan der pekuniären Schlachtenlenker hat natürlich

das dringende Interesse, das billionenschwere Debakel als Missgriff Einzelner

hinzustellen, um das System als solches aus dem Feuer zu nehmen. Neulich

sagte einer ihrer Vertreter bei Sandra Maischberger, man solle doch das Kind

nicht mit dem Bade ausschütten. 98 % aller Banker seien ehrbare und ver-

antwortungsbewusste Kaufleute, nur 2 % müsse man leider zu den Ausrei-

ßern und Schadenstiftern rechnen. Das Argument geht nach hinten los. Wie

ehrbar und verantwortungsbewusst, wie moralisch ist denn ein System, wo

2% seiner Betreiber genügen, es selbst zu zerstören und die ganze Weltwirt-

schaft mit in den Abgrund zu reißen?!

Es gibt die Moral des Einzelnen. Es gibt aber auch die Moral

des Systems.

| 6564

Page 66: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Eines wage ich kaum zu fragen: Was geschieht zur Zeit hinter ostdeutschen

Stirnen, die 1989 froh waren, den real existierenden Sozialismus los zu sein

und dies in einer unblutigen Revolution erkämpft hatten und denen man den

real existierenden Kapitalismus als heilsnotwenig angepriesen und „treuhän-

derisch“ eingebläut hat?

Zurück zu den Medien. Themen liegen manchmal in der Luft. Aber damit

sind sie noch nicht in aller Munde. Geschichte entwickelt sich nicht in einem

gleichförmig dahinfließenden Strom, sondern stufenförmig und merkwürdig

sprunghaft. Lange gibt es eine Art „Hochebene“, unauffällig und scheinbar

ereignisarm, aber sie reichert sich an, sie lädt sich auf mit Fragezeichen, mit

einer sozialen Energie, mit einem Spannungspotenzial. Aus einem Dilemma,

einem ungelösten Problem, einem Gerechtigkeitsdefizit usw. entsteht ein

neuer Blick auf die alten Verhältnisse, zunächst nur bei Menschen mit fei-

nem Sensorium, die es versuchsweise artikulieren und dafür Gelächter oder

Ablehnung ernten. Aber dann plötzlich – ausgelöst vielleicht durch ein un-

scheinbares Ereignis, schlagen alle Zeiger aus, und springt die Entwicklung

auf eine neue Ebene. – Der Chemiker kennt das Phänomen der gesättigten

Lösung. Man sieht es ihr nicht an, aber eine winzige Turbulenz oder Ver-

schmutzung genügt, und schlagartig bilden sich überraschende Kristalle.

Künstlich gesetzte Themen haben wenig Chancen. Die Leute spüren, dass da

etwas nicht stimmt und wenden sich ab. – Man weiß, dass Kaiser Wilhelm

II. im Vollbesitz seiner geistigen Schlichtheit Agenten in die Bevölkerung

schickte, die ihn als „Wilhelm den Großen“ propagieren und populär machen

sollten. Sie liefen vor die Wand.

Agenda-Setting versucht, die „gesättigten Lösungen“ im Gemenge der Ge-

sellschaft aufzuspüren und dann geschickt und im rechten Augenblick die

„Verschmutzung“ zu droppen, an der sich Kristalle bilden. Ich will nur einige

Parameter stichwortartig kennzeichnen. Journalisten berichten über Ereig-

nisse. Sie machen sie nicht. Dass der naive „Agenda-Setter“ zuweilen eine

66

Page 67: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Wirkung erzielt, mit der er gar nicht gerechnet hat, ist zu beobachten. Zu

grob nämlich sind vorerst seine Steuerungswerkzeuge und zu unberechenbar

die Verhältnisse, auf die er sie anwendet.

Die Betonung eines Themas in den Massenmedien etwa macht den Rezipi-

enten aufmerksam. Er selbst aber entscheidet, ob ihn das Thema wirklich

betrifft und wie er es in seine persönliche Interessenlage einordnet. Nicht

wenige Themen bleiben ihm schon aufgrund ihrer Komplexität und seiner

kognitiven Belastbarkeit unzugänglich.

Ähnliches gilt für die Häufigkeit, mit der ein Thema platziert wird. Gewiss

steigert sie bei vielen das Gefühl von Bedeutsamkeit, sie kann aber sehr rasch

zum „overkill“ führen und dann eher Überdruss als Interesse erzeugen. Auch

hier steuert das persönliche Interesse des Rezipienten den Prozess wesentlich

mit.

Nicht einmal die Priorität oder Prominenz, mit der ein Thema in den Medien

erscheint, garantiert das Einschwingen des Rezipienten. Viele sind überhaupt

nicht interessiert und setzen sich der Attacke gar nicht erst aus, indem sie

z.B. überhören bzw. überlesen. Andere scannen nur oberflächlich die Hitliste,

ohne daraus für sich greifbare Schlüsse zu ziehen.

Weitere Faktoren kommen hinzu. Die Natur des Themas spielt eine Rolle. Ist

es neu und überraschend? Ist es konkret und anschaulich? Ist es andererseits

unscharf genug, um sich als Projektionsfläche für möglichst Viele zu eignen?

Lässt es sich personalisieren? Ist es ein Saisonartikel oder hat es nachhalti-

ge Bedeutung? Kann man es mit mythischen Bildern oder archetypischen

Grundmustern verknüpfen? Die bloße Behauptung von „angesagt“ oder „kul-

tig“ glauben nur noch sehr wenig Leser.

Der Rezipient ist kein Mensch ohne Eigenschaften. Er ist eine ziemlich un-

übersichtliche Bündelung von Erfahrungen, Interessen, Charakterzügen, von

| 6766

Page 68: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

guten oder schlechten Gewohnheiten, von Stamm- oder Großhirn, Peristaltik

und Blutdruck. Und all dies sind Faktoren, die das Zielgebiet des Agenda-

Setters vernebeln und die Ballistik seiner Geschosse erheblich beeinflussen.

Und auch die eingesetzten Medien haben ihr Eigenleben mit technischen

Voraussetzungen, spezifischen Organisationsformen, dramaturgischen Erfor-

dernissen und natürlich mit der gestalterischen Kompetenz der Hersteller.

Schließlich ist mindestens noch die Umwelt beteiligt. Unvorhersehbare Er-

eignisse stören oder verstärken die Wahrnehmung des Themas. Man bedenke,

wie tiefgreifend das Attentat auf die Türme in Manhattan das Lebensgefühl

des Westens irritiert und nachhaltig verändert hat. Seherisch gefundene und

klug gesetzte Kampagnen können plötzlich für lange Zeit oder immer ver-

schüttet werden.

Wenn es dann, wie bei der Finanzkrise, um das eigene Geld geht, ist natürlich

alles hellwach.

Die Suche nach der „Weltformel“ des Medienerfolgs ist ein liebenswertes

Spiel, das natürlich auch der unterzuckerten Kommunikationsforschung im-

mer wieder rote Bäckchen beschert, es ist aber noch zu keinem plausiblen

Ergebnis gekommen.

Wer Agenda-Setting professionell betreiben will, muss sich eine Formel aus

vielen Variablen basteln und sie sehr komplex miteinander verknüpfen.

Es ist wie beim Feuermachen. Drei Dinge müssen zusammenkommen:

Brennmaterial (ein geeignetes Thema), Zündfunke (ein auslösendes Er-

eignis) und Sauerstoff (ein atmosphärisch förderliches Umfeld).

Ich vermute, am Ende braucht es dann doch wieder jemanden, der sich

auf sein Bauchgefühl verlässt, den es intuitiv in der Nase kribbelt und

der den Empirikern mit einer hohnlachenden Kapriole entkommt.

68

Page 69: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Eine Individualgesellschaft wird sich gegen die positive oder negative Mani-

pulation ihres Denkens wehren. Sie hat eine reich gegliederte Binnenstruk-

tur, besteht also aus vielen einzelnen Personen und Gruppierungen, die sich

als kleine Kompetenz-Center verstehen. Ich denke an die Zeit der frühen 70er

Jahre, als etwa die Bonner Parteien überzeugt waren, die Welt sei restlos

unter ihnen aufgeteilt. Plötzlich bildeten sich zahlreiche Bürgerinitiativen,

projektbezogen, mit Fach- und Sachkompetenz (vor allem mit der Kompe-

tenz der unmittelbar Betroffenen). Und was sie im Lokalbereich übten, hatte

regionale Folgen. Aus Bürgerinitiativen wurden Bürgerbewegungen (Frau-

enbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung), und dann sogar neue

Parteien.

Dass Themen nicht einfach nur „sind“, sondern tatsächlich „gemacht“ werden

können, ist keine besonders aufregende Erkenntnis, denn das begleitet die

Kulturgeschichte, solange es sie gibt. Ich kenne keinen bedeutenden Philoso-

phen, Dichter, Wissenschaftler, der nicht Themen gesetzt hätte und manch-

mal seiner ganzen Epoche damit den Stempel aufdrückte.

Im Jahre 1517 schlüpfte z.B. ein Augustinermönch in Wittenberg in die Rol-

le des Agenda-Setters. Sein Thema, der gigantische Reformstau des späten

Mittelalters, lag in der Luft. Es verknüpfte sich mit zahlreichen Haupt- und

Nebensträngen. Unmittelbaren Handlungsbedarf erzeugte Tetzel mit seinem

schamlosen Ablasshandel. Luther leistete den ersten und unumgänglichen

Schritt. Er reduzierte die Komplexität des Themas und erschütterte die gesät-

tigte Lösung. Er brachte 95 Thesen zu Papier und suchte nach einem Zugang

zur allgemeinen Öffentlichkeit. Hier kam die Rolle der Medien ins Spiel. Die

waren ihm zunächst verschlossen (bis auf Kanzel und Katheder), weil in der

Hand von Staat und Kirche, und deren „gatekeeper“ würden sich hüten, dem

Im Augenblick fällt es schon leichter, massenwirksame Trends zu

setzen. Die ökonomisch ergiebige Normierung der Gesellschaft

ist mächtig vorangekommen.

| 6968

Page 70: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

ungebärdigen Mönch ein Forum zu überlassen. Ihm blieb nur die Tür der

Schlosskirche. Aber nun passierte es. Seit kurzem gab es ein neues Medi-

um, ein Massenmedium, das sich dank neuer Technik den totalen Kontrollen

entziehen ließ: die beweglichen Lettern des Herrn Gutenberg. Innerhalb von

14 Tagen verbreiteten sich die Thesen im ganzen Reich. Zündfunke, Brenn-

material und Sauerstoff kamen zusammen. Der Flächenbrand war da, und

nun konnte sich jeder daran erwärmen, sein Süppchen kochen oder sich die

Finger verbrennen. Die Agenda der nächsten Jahrhunderte war gesetzt – und

ist noch immer nicht völlig abgearbeitet…

Und was war genau passiert? Das große Börsenspiel der Römischen Kirche

hatte überzogen. Zertifikate wie Ablassbriefe, Sakramente und Votiv-Messen

waren nicht gedeckt.

Und das Schlimmste: Dieser verfluchte Luther predigte den Leuten, sie seien

auf den ganzen Kram gar nicht angewiesen. Sie hätten einen unmittelbaren

Zugang zu Gott. Allein der Glaube, allein das Wort, allein die Schrift ebne

ihnen den Weg ins Paradies.

Den „neuen Menschen“ wird es nicht geben. Er ist und bleibt der alte. Er wird

sich weiterhin an den Stammtischen erhitzen und bei etlichen Glas Bier den

Palästina-Konflikt, die Klimakatastrophe und die Arbeitslosigkeit lösen, die

Rechtmäßigkeit eines Elfmeters bestreiten und die Umgehungsstraße für den

Raffiniert ausgeklügelte Derivate des Gnadenhandels wie Rosenkränze,

Wallfahrten und Reliquienkult stürzten ab. Das Vertrauen der Kunden

brach kaskadenartig zusammen. Natürlich eilte der Papst auf die nächst-

gelegene Kanzel und versicherte den Leuten, ihre frommen Spareinlagen

seien sicher, und im schlimmsten Fall würde er schon für Deckung sor-

gen, aber auch die großen Institute Vatikan, Fugger und der Erzbischof

von Mainz trauten sich nicht mehr über den Weg. Die Kapitalflüsse der

Gnaden stockten. Der Markt kam zum Erliegen.

70

Page 71: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Ortskern fordern und alles, von der Bahnaktie bis zur Gesundheitsreform,

von Merkel bis Münte, vom Big Bang bis zur Entropie des Universums, in

genau der Sekunde vergessen, wo die noch größere apokalyptische Gefahr

an die Wand gemalt wird.

Wir brauchen Vertrauen. Wir brauchen Kontrolle. Nicht das eine statt des

anderen, sondern in sinnvoller Arbeitsteilung.

Ich notiere etwas flapsig, aber nicht unernst ein paar Gebote für Medien-

macher:

1. Mache niemals Menschen zum Objekt materieller Interessen!

2. Glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Glaube keinem, der sie

gefunden hat. (Tucholsky)

3. Schütze die Menschen- und Freiheitsrechte, wo immer sie

bedroht sind.

4. Der, auf den alle einschlagen, er habe bei Dir Frieden. (Lessing)

5. Jedes Ding hat zwei Seiten, meistens noch eine dritte.

6. Das Gegenteil der Wahrheit ist auch nicht ganz falsch.

7. Wenn Dir Vergleiche trefflich erscheinen, / sie hinken vielleicht

auf beiden Beinen.

8. Das „gesunde Volksempfinden“ ist eine Falle. Die Wahrheit geht

nicht hinein.

9. Liebe (die Wahrheit)! – und dann tu, was Du willst! (Augustinus)

Der alte Matthias Claudius kommt mir in den Sinn. Der bescheidene und

fromme Mann hat der ganzen Welt das Geheimnis einer guten Verfassung

erklärt:

„Ein jeder Mensch“ schrieb er, „hat das Recht, wenn er allein auf einem Rasen

liegt, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Will

er aber, damit ihn bei Nacht der Wolf nicht störe oder um anderer Vorteile

| 7170

Page 72: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

willen, als Bürger, das ist in Gesellschaft, liegen, so hat er nach wie vor das

Recht, die Beine auszustrecken und hinzulegen, wo und so breit er will. Aber

die anderen haben das Recht auch! Und weil nun auf dem Rasen für alle

Beine nicht Platz ist, so muss er sich zu einer anderen Lage bequemen. Und

das Geheimnis und die Güte der Einrichtung besteht darin, dass für alle Beine

gesorgt werde und einige nicht zu eng und krumm und andere nicht zu weit

und gerade liegen.“

Damit könnte ich leben. – Sie vielleicht auch.

Wenn Ihnen meine Überlegungen zur Moral der Medien „zu wenig Zeigefin-

ger zeigen“ oder zu wenig rezeptiv wirken, dann haben Sie Recht.

Glaubwürdigkeit und der unbedingte Wille zur Wahrhaftigkeit sind als Ele-

mente von Moral die entscheidende Basis. Ich gehe so weit, dass die große

moralische Prüffrage, der kategorische Imperativ, den Immanuel Kant uns

allen auferlegt hat, nämlich die Frage „Was ist, wenn es alle tun?“ in der Re-

alität der Mediengesellschaft anders lautet. Der kategorische Imperativ der

Mediengesellschaft lautet: „Was ist, wenn es rauskommt?“

Meine persönliche Biografie hat mich in die unterschiedlichsten Beziehun-

gen zu Medien gesetzt. Wie kaum ein anderer habe ich fast alle Facetten

Ich sehe die gesellschaftlich wichtigste Funktion der Medien tatsäch-

lich weniger in der Suche nach der eigenen Moral, sondern in der

Schaffung von Transparenz und dadurch in der Kontrolle der Macht

und der Mächtigen.

Moral kann man nicht in Gleichungen und Kurzregeln erfassen. Sie ist

so komplex wie das menschliche Individuum und seine Gesellschaft.

72

Page 73: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

möglichen Zusammenwirkens selber erfahren und darin eine Rolle gehabt.

Die Quintessenz meiner Lebenserfahrung ist: Nichts kontrolliert die Macht

und die Mächtigen so sehr und befördert sogar ihre Selbstkontrolle wie das

Risiko, dass etwas veröffentlicht werden könnte, was sie nicht veröffentlicht

sehen wollen. Dabei kann es Kollateralschäden geben und durchaus Verwick-

lungen, die moralischen Maßstäben nicht standhalten. Aber die Fähigkeit

und Möglichkeit der Medien zur Enthüllung ist als vierte Säule der Demokra-

tie durch nichts ersetzbar.

| 7372

Page 74: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 75: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Vorbildspreis der Bayreuther Dialoge

Dr. h. c. Helmut O. Maucher

Herr Dr. Maucher hat die Schweizer Nestlé AG als Generaldirektor und

Präsident in der Zeit von 1980 bis 2000 zu einem echten Weltkonzern mit

260.000 Mitarbeitern geführt. Er gilt wegen seiner Tatkraft sowie seiner

mutigen und weisen Führung als eine der angesehensten

Führungspersönlichkeiten unserer Zeit.

Page 76: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

„Herr Dr. Maucher wird nicht müde, Rückgrat, Mut und Aufrichtigkeit in der

Führung zu fordern. Dabei spricht er gerne Klartext und ist nie bequem.”

Zitiert aus der Laudatio für den Bayreuther Vorbildspreis 2009

an Dr. Helmut Maucher

76

Page 77: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Vorbildspreis

Der Vorbildspreis der Bayreuther Dialoge wurde im Jahr 2009 Dr. Helmut

Maucher, dem Ehrenpräsidenten von Nestle, überreicht. Das Auditorium des

Symposiums kann den aus der Laudatio zitierten Satz über Helmut Maucher

nach dessen Rede bestätigen: Trotz seines hohen Alters strahlte Herr Mau-

cher die von ihm geforderten Eigenschaften wie Rückgrat, Mut und Aufrich-

tigkeit aus und bestärkte dieses Bild noch einmal mit seinem Vortrag über

das Thema “Lohnt sich Moral im Geschäft?”. Bei all seiner Erfahrung und

Stellung in einem global agierendem Unternehmen ist er ein ausgesprochen

sympathischer und offener Mensch, was besonders deutlich wurde, als er

unangekündigt an einem Workshop mit vielen Studenten rege teilnahm.

Sowohl den Organisatoren, als auch der Jury des Bayreuther Vorbildspreises

war nach dem authentischen, ehrlichen und appellierenden Vortrag klar, dass

sie mit der Wahl des Preisträgers 2009 richtig lagen.

Allerdings soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es im An-

schluss an das Symposium einige Stimmen in der Bayreuther Bevölkerung

und Studentenschaft gab, die diese Wahl kritisierten. Hauptargument der

Kritiker war der Babymilchskandal von Nestlé in den 70er Jahren.

Unserer Ansicht hat sich Helmut Maucher in eben dieser schwierigen Phase

für das Unternehmen als Vorbild herausgestellt: Er reagierte auf die Vorwür-

fe, ging mit den Kritikern in einen Dialog, entwickelte zusammen mit ihnen

einen neuen Marketingkodex für Nestle und stellte sich somit der sozialen

Verantwortung des Unternehmens. Dieses Vorgehen machten sich unter an-

derem auch Adidas und Nike zum Vorbild und adaptierten es später.

| 7776

Page 78: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 79: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Lohnt sich Moral im Geschäft?Der Stellenwert von Moral

für nachhaltigen Erfolg

Dr. h. c. Helmut O. Maucher

Es gibt ja kaum einen Geschäftsbericht oder eine PR-Broschüre, in der nicht

steht: „Wir sind uns unserer gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung

bewusst, und der Mensch steht bei uns selbstverständlich im Mittelpunkt.“ Die

Praxis sieht aber oft ganz anders aus. Lassen Sie es mich klar sagen: Meine

Damen und Herren, die wichtigste soziale und ethische Verantwortung der

Unternehmer ist es, langfristig am Markt und im Wettbewerb erfolgreich zu

sein, und damit den Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu sichern.

Page 80: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Lohnt sich Moral im Geschäft?Der Stellenwert von Moral für nachhaltigen Erfolg

Bei der Vorbereitung des Themas „Moralisierung der Märkte“ für die diesjäh-

rigen Dialogtage haben die Veranstalter sicher noch nicht gewusst, wie ak-

tuell dieses Thema im Hinblick auf die derzeitige Finanzkrise werden würde,

und in welchem Ausmaß Handlungen ohne Moral schließlich auch für das

Geschäft schädlich sein können.

Wir haben damit heute also einen schlagenden Beweis in der Hand, welchen

Stellenwert die Moral schließlich auch für das Geschäftsleben hat. Von uns

hat wohl niemand geglaubt, dass sich diese Finanzkrise inzwischen so kata-

strophal entwickeln würde, und ahnen können, wie schlimm sich einige der

Akteure verhalten würden.

Wenn der Chef der größten deutschen Bank vor zwei oder drei Jahren er-

klärt, er strebe eine Eigenkapitalrendite von 25 % an, dann ist das eigentlich

ungeheuerlich. In einer normal funktionierenden, wettbewerbsorientierten

Marktwirtschaft ist es ganz einfach nicht möglich, eine nachhaltige Rendite

von 25 % zu erzielen (es sei denn, man hat gerade eine tolle Innovation

entwickelt, mit der man für einige Jahre sogar 100 % verdienen kann). Denn

entweder ist ein solches Ziel unrealistisch, oder es wird mit Mitteln erreicht,

die langfristig sehr fragwürdig sind, mit zuviel Leverage und zuviel Risiko be-

haftet und an der Grenze der Legalität sind – oder diese sogar überschreiten.

Man kann diese Entwicklung aus meiner Sicht ja eigentlich nur erklä-

ren aus einer Haltung von übertriebener Kurzfristigkeit, maßloser Gier

und zusätzlich noch einem gehörigen Maß an Dummheit.

80

Page 81: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

In diesem Zusammenhang nebenbei noch eine Bemerkung: Noch nie wurde

meines Erachtens soviel über Wertorientierung, Nachhaltigkeit und Ethik ge-

sprochen wie in den letzten fünf Jahren und gleichzeitig wurde gegen diese

Grundsätze noch nie so stark verstoßen. Man muss sich natürlich fragen,

wie kommt eine solche Entwicklung zustande? Natürlich spielt hier die zu-

nehmende Globalisierung und der damit verschärfte Wettbewerb eine große

Rolle. Hinzukommt, dass ein gewisser angelsächsischer Einfluss eines reinen

Kapitalismus bei uns in Europa und auch in Deutschland zugenommen hat.

Ich erinnere an einen zunehmenden Einfluss von Analysten, einigen institu-

tionellen Investoren, Quartalsberichten, und einer Überbetonung des kurz-

fristigen Sharevalues. Ich habe diese Leute Sharevalue-Fetischisten genannt.

Hinzukommen aber auch mentale Veränderungen, die ich mit aller Vorsicht

erwähne möchte. Verallgemeinerungen sind immer falsch, aber generell

möchte ich kurz sagen, dass bei der früheren Generation, als diese am Ruder

war, es sich um Leute handelte mit Commitments, und wir heute mehr Leute

haben, die mehr die Optionen betrachten. Für uns waren gewisse Dinge non-

negotiable. Ich möchte allerdings dazu sagen, dass ich heute gerade bei der

jüngeren Generation viele positive Eigenschaften feststelle, die wieder mehr

mit Engagement und Leistung zusammenhängen. Wir haben wohl in den

letzten 20 bis 30 Jahren zum Teil falsche Kriterien angewandt bei der Aus-

wahl von Aufsichträten und Führungskräften. Professionelle Kenntnisse und

Cleverness waren zum Teil wichtiger als Charakter und Persönlichkeitswerte.

Ich hoffe aber, meine Damen und Herren, dass aus dieser Finanzkrise, und

auch aus anderen Skandalen wie zum Beispiel überhöhte Gehälter, das Ver-

halten gewisser Hedgefonds-Manager und übertriebene und kurzfristig aus-

gerichtete Verlagerungen ins Ausland sowie eine übertriebene Outsourcing-

Mentalität, aber auch das teilweise brutale Verhalten von Einkäufern sowie

die Zunahme von Korruption und schwarzen Kassen, dass aus all dem Lehren

gezogen werden, und man einsieht, dass solche Dinge letztlich nicht im Inte-

resse der Unternehmen und deren langfristigen Erfolgs sind.

| 8180

Page 82: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Damit ist eigentlich die Frage, ob Moral sich langfristig lohnt, beantwortet.

Trotzdem möchte ich anhand einzelner Fragen der Unternehmensführung

und der Unternehmenspolitik dem Stellenwert von Moral und seinem Nutzen

für nachhaltigen Erfolg mit den folgenden Bemerkungen nachgehen.

In diesem Zusammenhang bin ich mit dem Grundthema der diesjährigen Di-

alogtage nicht ganz einverstanden. Der Begriff „Moralisierung der Märkte“

ist für mich gewissermaßen zu moralisierend und kann leicht zur Heuchelei

und zur Verlogenheit führen. Und nichts wäre tödlicher für wirkliches und

konkretes moralisches Verhalten in der Unternehmenspraxis.

Kommen wir in diesem Zusammenhang gleich zum dem vielgepriesenen und

oft zitierten ethischen und sozialen Verhalten der Unternehmen.

Damit wird ein wichtiger Beitrag zum Wohlstand und zum Gedeihen der

Wirtschaft geleistet, wovon letztlich alle profitieren. Ein gutes Unternehmen

zahlt damit auch die für die Gemeinschaftsaufgaben notwendigen Steuern

und schließlich werden über eine erfolgreiche Unternehmensführung auch

die Arbeitsplätze gesichert, erhalten und vermehrt. Diese grundlegenden

Aufgaben eines Unternehmens sind deshalb auch dessen wichtigste soziale

und ethische Verantwortung.

Im Übrigen nehmen wir natürlich darüber hinaus unsere soziale, ethische

und ökologische Verantwortung wahr. Eine solche Haltung ist auch im lang-

Es gibt ja kaum einen Geschäftsbericht oder eine PR-Broschüre, in der

nicht steht: „Wir sind uns unserer gesellschaftlichen und sozialen Ver-

antwortung bewusst, und der Mensch steht bei uns selbstverständlich

im Mittelpunkt.“ Die Praxis sieht aber oft ganz anders aus. Lassen Sie

es mich klar sagen: Meine Damen und Herren, die wichtigste soziale

und ethische Verantwortung der Unternehmer ist es, langfristig am

Markt und im Wettbewerb erfolgreich zu sein, und damit den Ertrag

des Unternehmens nachhaltig zu sichern.

82

Page 83: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

fristigen Interesse des Unternehmens, weil dadurch das wichtige Image eines

Unternehmens gefördert wird, und auch die langfristige Motivation der Mit-

arbeiter erhalten bleibt. Übrigens haben derartige Haltungen soweit sie zu

zusätzlichen Ausgaben führen, da ihre Grenze, wo wir unsere Wettbewerbs-

fähigkeit gefährden, wenn die Wettbewerber nicht ähnliche Verhaltenswei-

sen an den Tag legen.

Hierbei wird ja oft die Frage gestellt: Wie stellen wir uns zur notwendigen

Rationalisierung und Restrukturierung eines Unternehmens, die oft auch mit

Reduzierung von Arbeitsplätzen verbunden ist?

Eine soziale Flankierung solcher Maßnahmen, eine Streckung über mehrere

Jahre etc. ist oft die beste Investition in die Mitarbeiter und deren Motiva-

tion wie auch in das Image des Unternehmens, was ja für das Bestehen im

Markt heute ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt.

Ich glaube auch, dass man mit einer solchen Politik betriebsbedingte Kün-

digungen vermeiden kann, wenn man alle Möglichkeiten nutzt und nicht

kurzfristig das Rationalisierungsziel schon erreichen möchte. Man sollte

beispielsweise die Erreichung der Pensionierungs- und Altersgrenze nutzen,

ebenso wie die normale Fluktuation und darüber hinaus durch Umschulun-

gen Mitarbeitern neue Arbeitsplätze vermitteln.

Nun besteht das Dilemma ja darin, dass sich der Unternehmer heute einer-

seits mit einer ständigen Zunahme der gesellschaftlichen Anforderungen in

Richtung Ethik, Ökologie, soziales Verhalten bis zu Sponsoring, Unterstüt-

Um es klar zu sagen: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, und damit lang-

fristig auch im Interesse der Arbeitnehmer erfolgreich zu sein, müssen

alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden in Richtung Rationalisierung

und Kostensenkung. Es kommt aber darauf an, wie man es macht,

und wie man damit umgeht.

| 8382

Page 84: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

zung von karitativen Einrichtungen und andererseits mit einer Zunahme der

Financial Pressures mehr in Richtung Kurzfristigkeit, Shareholdervalue und

Gewinnmaximierung konfrontiert sieht.

Hier als Unternehmenschef die richtige Balance zu finden im Sinne eines

langfristigen Unternehmensinteresses ist nicht immer einfach, aber sehr

wichtig.

Ich habe aber am Anfang schon gesagt, dass eine langfristige und erfolg-

reiche Unternehmensführung, und damit die Berücksichtigung auch morali-

scher Aspekte, in erster Linie von der richtigen Auswahl der Führungskräfte

abhängt.

Aus meiner Sicht sind neben Ausbildung und beruflicher Erfahrung die fol-

genden Eigenschaften für Führungskräfte wichtig, und dies umso mehr, je

höher die Position ist, nämlich:

•Mut,NervenundGelassenheit

•Lernfähigkeit,SensibilitätfürNeues,Vorstellungsvermögenfür

die Zukunft oder „Vision“, wie man heute sagt

•Kommunikations-undMotivationsfähigkeitnachinnenund

nach außen

•FähigkeitzurSchaffungeinesinnovativenKlimas

•DenkeninZusammenhängen

•Glaubwürdigkeit

84

Page 85: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

•BereitschaftzurständigenVeränderungunddieFähigkeit,

den Wechsel zu managen

•internationaleErfahrungundVerständnisfür

andere Kulturen

und außerdem:

•Bescheidenheit(abermitStil),keinBeitragzurVerwilderung

der Sitten leisten, sondern eher beispielhaft wirken.

•Schließlich:EineEigenschaft,aufdieichganzbesonderenWert

lege, und die heute mehr denn je an Bedeutung gewonnen hat:

Charakter.

Zum Thema Mut gehört auch das nötige Rückgrat; man sagt ja: „Die Männer

haben alle eine Wirbelsäule, aber nur wenige ein Rückgrat.“ Mut und Nerven

sind vor allen Dingen auch dann gefragt, wenn es darum geht, trotz kurz-

fristiger Pressures die langfristigen Ziele des Unternehmens durchzuhalten.

Zur Betonung der Langfristigkeit haben in großen Unternehmen die Auf-

sichtsräte eine wichtige Verantwortung. Sie besonders müssen prüfen, ob

die Maßnahmen und Entscheidungen langfristig für das Unternehmen gut

sind. Sie können dies eher tun, weil sie nicht direkt im kurzfristigen, operati-

ven Geschehen tätig sind und von daher die Langfristigkeit stärker betonen

können.

Im Übrigen ist es ein Vorteil von vielen Familienunternehmen, dass sie auto-

matisch langfristiger denken, weil sie in Generationen denken.

Langfristiges Denken und Handeln muss eingebettet sein in unternehmens-

politische Grundsätze, die nicht jeden Tag geändert werden. Ich habe bei

| 8584

Page 86: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Nestlé die folgenden drei Grundsätze entwickelt:

1. Wir denken und handeln langfristig.

2. Wir sind im Zweifelsfall für mehr Dezentralisierung.

3. Wir sind mehr menschen- und produktorientiert als

systemorientiert.

Zum Grundsatz der Langfristigkeit muss gesagt werden, dass bei dem heu-

tigen Druck durch den verschärften globalen Wettbewerb und durch die

Finanzwelt es nicht immer einfach ist, langfristig ausgerichtetes Handeln

durchzuhalten. Zusätzlich kommen aber auch Eitelkeiten von Chefs hinzu,

die kurzfristig Erfolg zeigen möchten. Zum Teil führt auch die Gehaltspolitik

zur Kurzfristigkeit, weil einige Boni und Incentives zu stark auf das Jahreser-

gebnis und weniger auf die langfristige Entwicklung ausgerichtet sind.

Ein weiterer Punkt der die Langfristigkeit gefährdet ist zuviel Wechsel in den

Führungsetagen, da die Chefs dann schon kurzfristig zeigen wollen, was sie

für Helden sind. Ich habe in meiner zwanzigjährigen Amtszeit an der Spitze

von Nestlé vieles getan, was man nur langfristig begründen kann. Der Ein-

tritt in neue Länder, gewisse Akquisitionen, die Zeit brauchten bis sie sich

rentabilisieren, langfristige Personalentwicklung und –politik usw. Manches

kam erst voll zum Tragen als längst schon mein Nachfolger das Geschäft

führte, und er tut jetzt dasselbe und wird also vieles unternehmen und ent-

scheiden, was über seine Amtstätigkeit hinaus reicht.

Eine langfristige Politik ist natürlich umso leichter durchzuhalten, wenn ich

auch kurzfristig Gewinne erziele und der Share Value sich vernünftig entwi-

ckelt. Wenn einem kurzfristig das Wasser am Hals steht, sind die langfristige

Politik und die Moral zu Ende.

86

Page 87: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Zusammenfassend gesagt: Wer langfristig denkt, ist auch an einer Förderung

und Motivation der Mitarbeiter interessiert, vermeidet kurzfristige Rationa-

lisierungsmaßnahmen, die die Mitarbeiter verunsichern, und tut auch nichts,

was dem langfristigen Image eines Unternehmens schaden könnte. Eine sol-

che Politik ist am Schluss auch für die Aktionäre interessant, soweit sie auch

langfristig mit dem Unternehmen verbunden bleiben. Ich sage in diesem

Zusammenhang immer: „Mir sind Shareholders lieber als Sharetraders.“ Wir

können keine Unternehmenspolitik betreiben, die auf die kurzfristigen Jojo-

Aktionäre eingeht.

Auch im Marktgeschehen ist eine langfristige Politik besser. Das erfordert

natürlich auch Nerven.

Einige Bemerkungen zur Personalpolitik.

Neben dem bereits Gesagten, ist eine langfristige Entwicklung des Führungs-

personals sowie die Investition in die Schulung sehr wichtig. Fast noch wich-

tiger als die Schulung ist jedoch die Selektion der Führungskräfte.

Wenn Sie die falschen Leute haben, können Sie schulen soviel Sie wollen, der

Ertrag ist minimal.

Was die Bedeutung von sogenannten Assessment Centres für die Auswahl

von Führungskräften anbelangt, so halte ich persönlich nicht allzu viel da-

von. Ich bin überzeugt, dass das verlässliche Urteil erfahrener Mitarbeiter im

eigenen Unternehmen unerlässlich ist. Ich hatte stets den Leitspruch: „Look

in the eyes and not in the files.“

Ein Unternehmer darf sich auch nicht durch Quartalsberichte,

kurzfristige Forderungen eines Teils der Analysten und Börsianer

und ähnliche Dinge beeinflussen lassen.

| 8786

Page 88: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Natürlich ist es für eine langfristige Personalpolitik entscheidend, alles zu

tun, um langfristig die Motivation der Mitarbeiter zu erhalten.

Zum Umgang mit Mitarbeitern möchte ich eine Story aus meinem Buch „Ma-

nagement Brevier“ zum Besten geben über den Umgang mit Pferden. Ich

habe hierbei einige interessante Gedanken von Jürgen Fuchs aus dessen Buch

„Lust auf Deutschland – Ein märchenhafter Roman für Menschen mit Mut“

wie folgt zitiert:

» (...) in den Überlieferungen vieler Naturvölker finden sich einige Hinweise

für das erfolgreiche Zusammenleben des Menschen mit seinem ältesten Be-

gleiter:

•DasPferdakzeptiertFührung,wennsieAutoritätausstrahlt,aber

nicht, wenn sie autoritär ist.

•DasPferdachtetFührung,wennsieklarundeindeutigist,aber

nicht, wenn die führende Hand zittert.

•DasPferdvergisstnie,werihminbedrohlicherSituationgeholfen

hat, aber auch nie, wer es verletzt hat.

•DasPferdhatLustaufLeistung,abernicht,wennesdazu

gezwungen wird.

•DasPferdlässtsichvoneinemMenschenführen,abernur,wenn

es Zeit hatte, mit ihm vertraut zu werden.

•DasPferdschafftunglaublicheLeistungen,abernur,wennes

seinem Reiter vertraut. Es geht sogar für ihn, im wahrsten Sinne

des Wortes, durchs Feuer. Ohne ihn geriete es dabei in Panik.«

88

Page 89: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Was hier für das Pferd beschrieben wird, lässt sich zwanglos auf uns Men-

schen übertragen.

Im Übrigen wird mit der Entwicklung und Pflege des Führungspersonals oft

die unterste Führungsschicht vergessen, obwohl sie mitunter noch am we-

nigsten zur Führung geeignet ist. Die unterste Führungsschicht ist aber die-

jenige, die mit dem Gros der Mitarbeiter umgeht.

Zum Thema Wertorientierung.

Nachhaltiges und moralisch einwandfreies Verhalten wird auch gefördert

durch eine langfristige Wertorientierung.

Bei der Betonung der Wertorientierung müssen wir uns natürlich auch die

Frage stellen: Welche Werte meinen wir?

Das erfordert zunächst eine Rückbesinnung auf die Hauptwurzeln unserer

Werte, nämlich die christlich-jüdischen und die griechisch-römischen Ent-

wicklungen. Schließlich kommen mit dem Beginn der Neuzeit und der Re-

naissance Ergänzungen zu diesen Werten bis zur Entwicklung des Materialis-

mus, des Individualismus, von Demokratie und Menschenrechten usw.

Wir müssen natürlich als Führungskräfte und Manager darüber etwas wissen,

um selbst unseren Unternehmen Orientierung geben zu können.

Je nach Gewichtung dieser vier Aspekte haben wir unterschiedliche gesell-

schaftspolitische Lösungen, Verfassungen, politische Programme und Ge-

Schließlich gilt es bei der Wertorientierung ständig vier Güter

gegeneinander abzuwägen, die von unterschiedlichen Menschen, Ge-

sellschaftsformen und Zeiten unterschiedlich gewichtet und beurteilt

werden, nämlich: Liberty (Freiheit), Equality (Gleichheit), Efficiency

(Effizienz) und Community (Solidarität und soziales Verhalten).

| 8988

Page 90: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

setzgebungen und schließlich dann auch unterschiedliche wertorientierte

Führungssysteme. Im Übrigen kann werteorientierte Führung nicht losgelöst

sein von der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation, von dem jet-

zigen Meinungsspektrum und vom Zeitgeist.

Anderseits soll Wertorientierung aber auch nicht nur den Zeitgeist reflektie-

ren, sondern Werteorientierung geht über den jetzigen Zeitgeist hinaus. Ir-

gendwie liegt also Führung immer zwischen der Notwendigkeit von Toleranz

einerseits und der Ausübung von Autorität und Orientierung andererseits.

In den modernen und entwickelten Gesellschaften, ganz besonders auch in

Deutschland, müssen wir uns natürlich auch ständig den Fragen stellen: Wie

gehen wir mit der Mitbestimmung um, mit der Mitwirkung der Arbeitneh-

mer und mit deren Rechten? Bei aller Berechtigung der Mitbestimmung der

Arbeitnehmer in einer modernen Industriegesellschaft glaube ich doch, dass

wir in unserem Lande etwas übertrieben haben. Wir haben in keinem ande-

ren europäischen Land so weitgehende Reglementierungen und Mitbestim-

mungsrechte.

Natürlich müssen wir auch in vielen anderen Fragen wissen, welche Werte

wir meinen. Ich nenne einige Beispiele:

Vergütung mehr nach Leistungen oder geringere Differenzierung der Lohn-

stufen und mehr Gleichheit? Förderung der Leistungsträger oder mehr Mühe

darauf verwenden, die weniger Guten nachzuziehen? Sich ausschließlich um

die aktiven Mitarbeiter kümmern oder auch um die Pensionäre und somit

das Alter und die Verdienste ehren? Hier kommt auch eine unterschiedliche

Wertschätzung von Jung und Alt zum Tragen. Berücksichtigung von Dienst-

jahren und Treue oder mehr die aktuelle Leistungsfähigkeit? Sind wir mehr

für einen kooperativen Führungsstil, Kollegialität bis zum Coaching oder

eine stärkere Betonung von Führung (Team mit Spitze)?

90

Page 91: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Zur Wertorientierung gehört auch die Behandlung von Lieferanten. Ich habe

meinen Mitarbeitern immer gesagt: „Geht mit unseren Lieferanten so um,

wie Ihr von Euren Kunden behandelt werden wollt.“

Wir müssen also immer abwägen und die richtige Balance finden. Mit Funda-

mentalismus oder moralischem Rigorismus kann man nicht leiten. Max We-

ber hat schon gesagt, „wir müssen unterscheiden zwischen Gesinnungsethik

und Verantwortungsethik.“ Als Verantwortungsethiker bezeichnete Weber

denjenigen, der bei seinem Handeln die Gesamtheit der Folgen seines Han-

delns bedenkt und der die Bewertung dieser Folgen zum Maßstab seiner Ent-

scheidung macht. Gesinnungsethiker nannte er denjenigen, der bestimmte

Handlungen kontextunabhängig als moralisch oder unmoralisch qualifiziert,

also ohne Rücksicht auf die Folgen bestimmter Handlungen oder Unterlas-

sungen das tut, was er für das sittlich Gebotene hält.

Schlussbemerkungen.

Damit, meine Damen und Herren, komme ich zum Schluss und möchte meine

Bemerkungen wie folgt zusammenfassen:

Moralisches Verhalten in dem von mir definierten Sinn ist nicht nur eine

Frage von Ethik und Sittlichkeit im Sinne unserer allgemeinen Auffassungen

und Grundwerte und eventueller religiöser Anschauungen, sondern leistet

einen wichtigen Beitrag zum nachhaltigen Unternehmenserfolg.

Schon Epiktet hat mit seinem „Utilitarismus“ darauf hingewiesen, dass ethi-

sches Verhalten im Interesse des Unternehmers liegt. Ohnehin bin ich der

Meinung, dass Moral an sich wichtig ist, unabhängig von der Auswirkung

Gesinnungsethik kann man sich leisten, wenn man selbst keine Verant-

wortung trägt.

| 9190

Page 92: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

auf das Unternehmensinteresse. Und auch der Ökonom Wilhelm Röpke hat

ein Buch geschrieben über das Thema „jenseits von Angebot und Nachfrage“.

Lassen Sie mich am Schluss die Kardinaltugenden von Aristoteles erwähnen,

die mich als Richtschnur in meinem ganzen Leben begleitet haben, sie lau-

ten:

Tapferkeit

Weisheit

Mäßigung und Bescheidenheit

und Gerechtigkeit.

Und ganz am Schluss lassen Sie mich drei Dinge erwähnen, die ich letztlich

als Essenz der notwendigen Führungseigenschaften für nachhaltigen Erfolg

und moralisches Verhalten betrachte:

Herz und Verstand

Mens sana in corpore sano

(„Gesunder Geist in einem gesunden Körper“)

und die Verhaltensrichtlinie aus einem alten deutschen Sprichwort:

„Tue recht und scheue niemand“.

92

Page 93: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

| 9392

Page 94: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 95: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Festessen

Page 96: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

96

Page 97: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

| 9796

Page 98: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 99: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Worldcafé

Die Art und Weise, wie ausnahmslos alle Teilnehmer des Symposiums

eingebunden wurden in eine hochkonzerntrierte, interaktive Relfexion und

Aufarbeitung des Themas, war sicherlich ein, im Hinblick auf zukünftige

Bayreuther Dialoge, zukunftsweisender Erfolg.

Page 100: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Dialoge leben von interessanten und interessierten Dialogpartnern, die

sich einbringen. Bereits in den vergangen Jahren wurde deutlich, dass die

Bayreuther Dialoge offenbar Treffpunkt für Dialogpartner dieser Couleur

geworden sind. Um für den intensiven Austausch unter den Teilnehmenden

eine Zeit und einen Raum zu schaffen, wurde das Programm der V. Bay-

reuther Dialoge 2008 erstmalig um ein World Café erweitert.

World Café ist ein innovatives Dialogverfahren für große Gruppen. Es ermög-

licht, deren „kollektive Intelligenz“ zielgerichtet in die Veranstaltung ein-

fließen zu lassen und einen wahrhaften Dialog zwischen allen Teilnehmen-

den zu stimulieren. Durch das außergewöhnliche Format wird ein Austausch

über die verschiedenen Erfahrungshintergründe zur und Perspektiven auf die

Moralisierung der Märkte angeregt. Die durch die bisherigen Vorträge und

Workshops eingeleiteten Diskussionen, werden weitergeführt und vertieft.

Als simultane Übersetzung des Gespräches in Bilder und Grafiken macht Gra-

phic Recording den Dialog sichtbar. Es dient einerseits der Reflexion und

damit der Vertiefung des Dialogprozesses, andererseits der Dokumentation

und Ergebnissicherung.

100

Page 101: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Das World Café zur »Moralisierung der Märkte« fand am Vormittag des zwei-

ten Tages der V. Bayreuther Dialoge statt. Drei Stunden standen zur Verfü-

gung, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander zu vernetzen und

den Dialog zwischen allen Anwesenden zu vertiefen. Das Ziel bestand darin,

die bis dahin entstandenen Gesprächsfäden zu einem Gewebe zu verknüpfen.

Dazu sollten weiterführende Fragen identifiziert werden, um weise Entschei-

dungen in Hinblick auf die Moralisierung der Märkte treffen zu können. Für

das Café wurden die gewohnten Stuhlreihen der Vortragsveranstaltungen

aufgelöst und die Stühle in Vierer-Gruppen in Kombination mit mobilen

Tischen aufgestellt. Etwa 100 Personen nahmen an diesem Dialog teil. Durch

das World Café führte Ulrich Soeder von Integral Development. Die Graphic

Recordings wurden von Sabine Soeder angefertigt.

In drei Gesprächsrunden und zwei Plenumsdiskussionen sind zehn Fragen zur

Moralisierung der Märkte gemeinsam erarbeitet worden:

1. Wie könnte eine werteorientierte Erziehung und Bildung

gestaltet werden?

2. Welche Verantwortung trage ich bzw. welche Rolle spiele

ich?

3. Wie weit sind wir bereit, uns zu beschränken?

4. Gibt es eine Weltmoral für den Weltmarkt?

5. Wie können wir das Bewusstsein des Konsumenten für

seine Macht auf dem Markt stärken?

6. Wie kann ich in meinem direkten Umfeld für die

Moralisierung der Märkte sorgen?

7. Wo endet Verantwortung?

8. Welchen Rahmen brauche ich, um nach meiner

Wertvorstellung (und nach meinem Moralbegriff) zu

handeln?

9. Wer macht Moral?

10. Für welche Werte wollen wir im globalen Markt einstehen?

| 101100

Page 102: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

102

Page 103: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Nach einer kurzen Einführung in die Gestaltungsprinzipien, Grundannahmen

und Anwendungsmöglichkeiten der World Café-Methode und einer kurzen

Erläuterung der World Café-Etikette stellten sich die Teilnehmenden zu-

nächst gegenseitig vor. Dazu berichteten Sie von einer Situation, in der sie

die Moralisierung der Märkte persönlich erlebt haben. Sehr schnell waren

die Anwesenden in angeregte und konzentrierte Gespräche vertieft. Der Di-

alog konzentrierte sich im Anschluss auf ethische Kriterien des persönlichen

Handelns: An welchen ethischen Kriterien orientieren Sie sich als Konsu-

ment/in bzw. Akteur/in des Marktes? Antworten auf diese Frage wurden im

Plenum ausgetauscht und in einem Graphic Recording festgehalten.

Nach einem ersten Wechsel der Gesprächspartner wurden im anschließenden

Hauptteil des World Cafés zunächst Themenbereiche für die Moralisierung

der Märkte identifiziert: Über welche Themen müssen wir sprechen, um

weise Entscheidungen in Hinblick auf die Moralisierung der Märkte tref-

fen zu können? Je Tisch wurden zwei Themenbereiche identifiziert und auf

Moderationskarten notiert. Diese Karten wurden eingesammelt, um sie in die

Dokumentation des Dialogs integrieren zu können.

| 103102

Page 104: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Nach einem weiteren Tischwechsel wurden diese Themenbereiche unmittel-

bar in Fragen übersetzt: Welche Fragen müssen wir stellen und beant-

worten, um weise Entscheidungen in Hinblick auf die Moralisierung der

Märkte treffen zu können? An jedem Tisch wurden die beiden wichtigsten

Fragen auf Moderationskarten notiert und anschließend dem Plenum vor-

gestellt.

In einem letzten Schritt wurden die Fragen von allen Teilnehmern mit fol-

gender Frage gewichtet: Welche dieser Fragen haben Ihrer Meinung nach

die größtmögliche Wirkung für das Ganze? Dazu hatte jeder drei Stim-

men, die er in Form von Klebepunkten den Fragen auf den Karten zuordnen

konnte.

Den Abschluss des Dialogs bildete eine (sehr kurze) Metareflexion im Plenum.

Das Gespräch bot über die Durchmischung der Teilnehmer Gelegenheit, neue

Kontakte zu knüpfen und neue Ideen kennen zu lernen, um darauf aufzu-

bauen. Durch die schrittweise Vertiefung sei eine hohe Komplexität des Dia-

logs möglich geworden.

Was kann ich / was können wir zur Beantwortung dieser Fragen am bes-

ten beitragen? Mit diesem Ausblick auf die ermittelten zehn Fragen wurde

das World Café zur Moralisierung der Märkte beendet.

Page 105: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 106: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 107: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Podiumsdiskussion

Wer bringt die Moral zurückin die Märkte?

Page 108: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Fragestellung der abschließenden Podiumsdiskussion erwies sich – über

das allgemeine Interesse an dem Spannungsfeld zwischen Wirtschaften und

Werten hinaus – als hochgradig aktuell. Die gerade an ihrem medialen Hö-

hepunkt angelangte Subprime-Krise erschien wohl vielen der rund hundert

Zuhörern in der Bayreuther Stadthalle als augenscheinlicher Präzedenzfall

dafür, dass das ungezügelte ökonomische Streben nach Mehr einer morali-

schen Gängelung bedarf.

Erfrischend querdenkerisch aber auch provozierend trumpfte somit die The-

se des diesjährigen Essay-Preisträgers der Veranstaltung Christopher Parets

auf. Der Philosophie-Student aus Tvübingen, u.a. Gewinner des mit 20.000 €

datierten St. Gallen Wings of Excellence Awards, verteidigte gegenüber den

drei weiteren Diskussionsteilnehmern seine Theorie, dass das Unterfangen

einer Moralisierung der Märkte ein von wenig Hoffnung auf Erfolg geprägtes

sein müsste. Der Konsument sei gegen jegliches Argument, auch ethischer

Art, völlig immun. Als homo ludens ganz und gar im spielerischen Kaufrausch

vertieft, könne man ihm, ähnlich einem in die Welt von Räubern, Gandarmen

und Puppenhaus entrückten Kind, mit keinem vernünftigen Grund zur Rück-

kehr und zum Handeln nach anderen Regeln als denen des Spiels bewegen.

Da Können stets Sollen impliziert, wäre nach dieser Analyse die Frage da-

nach, wer nun der Akteur einer ethischen Transformation des Marktes sein

solle, hinfällig. Weniger pessimistisch, aber dafür umso skeptischer, ob der

Ruf nach dem Staat die Antwort auf die Finanzkrise und Moraldefizite in

Marktwirtschaften im allgemeinen ist, positionierte sich Stefan Napel, Pro-

fessor für Mikroökonomie an der Universität Bayreuth. Da ein umfassender

gesellschaftlicher Konsens darüber, was ethisch korrektes Handeln darstelle,

„Wer bringt die Moral zurück in die Märkte?“

108

Page 109: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

nicht gegeben sei, wäre die direkte Forderung nach Moralisierung zu über-

stürzt. Aus wissenschaftlicher Perspektive sei ökonomisches Agieren zu-

nächst ein rein deskriptiv zu beschreibendes Phänomen. Es bedürfe sicherlich

gesetzlicher Einschränkungen, diese seien in der Bundesrepublik insgesamt

aber durchaus gegeben, was die Auswirkungen der Hypotheken-Krise abge-

schwächter habe ausfallen lassen als etwa in den deregulierten USA.

Über den rein juristischen Aspekt weit hinausgehend argumentierte der Wer-

begestalter und Unternehmensberater Martin Sambauer für einen umgrei-

fenden gesellschaftlichen Wandels. Wirtschaftliches Fehlverhalten wurzele

im Wesentlichen darin, dass Unternehmen es versäumten, sich öffentlichen

Diskussionen und der Kritik von Arbeitnehmern und anderer gesellschaftli-

cher Akteure zu stellen. Er forderte die Installation kommunikativer Plattfor-

men in Betrieben und politischer Alltagskultur, um die Privatwirtschaft für

gesellschaftlich relevante Aspekte zu sensibilisieren.

Zu einem gewissen Grade existiere die Offenheit von Unternehmen für die

moralisch motivierten Wünsche ihrer Kunden bereits. Darauf machte zumin-

dest der vierte Diskutant, Patrick Fruth, aufmerksam. Der Werkstattkette

Auto-Teile-Unger, für die er als Leiter des Bereiches „customer’s excellence“

tätig ist, sei derartig gestaltete Kundenansprüche durchaus wichtig. Unum-

wunden gestand er jedoch auch ein, dass solches Handeln nicht genuin mo-

ralisch, sondern vielmehr eigeninteressiert seien.

Heterogenität und Lebendigkeit prägte diese Podiumsdiskussion und spie-

gelte damit, so fassten es die Moderatoren Yannik Bendel und Sebastian

Becker in ihrem abschließenden Fazit zusammen, den Stand der Debatte um

Märkte und Moral wieder: Interesse an den Fragestellungen im Zentrum und

an der Peripherie des Themas besteht gesellschaftlich übergreifend aus den

verschiedensten Blickwinkel; die Standpunkte zu diesen sind jedoch ebenso

divergent.

| 109108

Page 110: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 111: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Christoph M. Paret

Die standardmäßige Kulturkritik konnte sich die Tatsache, dass sich das

kapitalistische System bester Gesundheit erfreut, nur dadurch erklären, dass

sie seine Teilnehmer als verblendete, hohle Masse abqualifizierte

Die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums und die Bürde der Moral

Page 112: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

hat der Medienwissenschaftler Norbert Bolz einmal formuliert. Angesichts

eines solchen schwerelosen Konsumierens jenseits handfester Bedürftigkeit

bringt die Moralisierung des Konsumenten einen ungewohnt ernsten Ton ins

Spiel. Aus dem Konsumakt wird plötzlich eine ethische Entscheidung. Dass

der Konsument als Adressat moralischer Forderungen entdeckt wird, ist nun

allerdings nicht weiter verwunderlich.

Wo die moralischen Anforderungen der Politiker in Form von rechtlichen

Auflagen und die moralischen Anforderungen der kritischen Massenmedien

in Form von Skandalisierungen den Unternehmen regelmäßig nur Gewinn-

ausfälle bescheren, treten in Gestalt des Kunden dem Unternehmen morali-

sche Anforderungen nicht als Kosten, sondern als Gewinnaussichten entge-

gen. Und auch liberale Ethiker dürften zufrieden sein: Plötzlich erscheint

Ethik nicht mehr in der problematischen Form staatlicher Freiheitseinschrän-

kungen (wie etwa beim Korrekturmechanismus des Sozialstaats), sondern ist

mit freien Kaufentscheidungen kompatibel.

Bevor man aber allzu große Hoffnungen in eine Moralisierung des Konsu-

mierens steckt, sollte man sich Gedanken über das Rätsel des Konsumierens

machen. Dieses Rätsel stellt den blinden Fleck der liberalen Weltsicht dar. Die

liberale Ethik hat über der Frage warum was gekauft wird, mit dem dezenten

Hinweis auf den drohenden Paternalismus ein Schweigegebot verhängt: Was

Die unerträgliche Leichtigkeit des Konsums und die Bürde der Moral

„Wenn die Menschen nur einkaufen gehen würden, weil sie etwas brauchen, und wenn sie nur kaufen würden, was sie brauchen, wäre die kapitalistische Wirtschaft längst zusammengebrochen“1

112

Page 113: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Konsumenten kaufen, das soll allein ihre Sache sein. Und die liberale Wirt-

schaftstheorie bewegt sich nun schon seit über hundert Jahren munter in

dem Zirkel, der da besagt:

Wenn man also fragt: Warum die Menschen dies und jenes konsumieren,

bekommt man zur Antwort: Weil es ihnen Nutzen bringt. Will man dann wei-

terhin wissen, warum es ihnen Nutzen bringt, wird einem beschieden: Sonst

hätten sie es ja nicht gekauft!

Gegenüber solchen normativen und theoretischen Blockaden einer Theorie

des Konsums kommt es zunächst einmal darauf an, einen Sinn zu gewinnen

für die Frage nach der Motivlage des Konsumenten. Diese Frage gewinnt

umso mehr an Brisanz, wenn man eine Beobachtung berücksichtigt, die der

Soziologe Niklas Luhmann über einen Unterschied moderner zu vormoder-

nen Gesellschaften gemacht hat. Gerade in vormodernen Gesellschaften

kann man

Warum also kauft und kauft und kauft man, wo doch im Kapitalismus einge-

standenermaßen Geld „nicht alles ist“?

Die standardmäßige Kulturkritik konnte sich die Tatsache, dass sich das ka-

pitalistische System bester Gesundheit erfreut, nur dadurch erklären, dass

sie seine Teilnehmer als verblendete, hohle Masse abqualifizierte. Ihr Rezept

(wenn es denn eines gegeben hat) lautete: Aufklärung. Je länger sie aber auf-

klärte, desto mehr wurde die Kulturkritik sich darüber klar, dass ihre Aufklä-

rung keinen Unterschied machte: Die Leute waren aufgeklärt und – kauften

„Nutzen ist diejenige Eigenschaft der Güter, die den Individuen ihren Erwerb wünschenswert erscheinen lässt, und die Tatsache, dass die Individuen Güter

zu kaufen wünschen, zeigt wiederum, dass sie Nutzen haben.“ 2

„für Geld so gut wie alles kaufen (…): auch Freunde und Frauen, auch See-lenheil und politischen Einfluss und sogar Staaten, auch Steuereinnahmen,

Kanzleitaxen, Adelstitel usw.“3

| 113112

Page 114: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

weiter. Im Konsum scheint sich das Bonmot Oscar Wildes zu materialisieren,

dass es nichts Notwendigeres gebe als das Überflüssige. Die entscheidende

Frage in diesem Zusammenhang lautet: Gibt es Illusionen, die ihre Wirkkraft

nicht einbüßen, wenn sie enttarnt werden? Gibt es Phänomene, die ernst

werden, obwohl sie niemand ernst nimmt? Ja. Etwa im Spiel, das gut als Er-

klärungsprinzip des Konsumierens herhalten kann.

Seit einigen Jahren wird von Leuten wie Slavoj Zizek4 oder Robert Pfaller5

wieder darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet zu spielen. Zwei

Dinge sind dabei besonders interessant. Erstens: Spiel ist ernster als das Le-

ben. Gerade beim Spielen werden Leidenschaften entfesselt, die weit über

das alltägliche Normalmaß hinausgehen: Gute Freunde, die sich im Alltag nie

streiten würden, geraten sich beim Kartenspielen in die Haare. Renommierte

Boxer bringen sich um Titel, Ehre und Preisgeld, wenn sie im Spielrausch

anfangen, ihren Kontrahenten die Ohren abzubeißen. Zweitens: Obwohl es

doch ernster als das Leben ist, nehmen die Spieler das Spiel gar nicht so

ernst. Kein Spieler vergisst, dass es „bloß ein Spiel“ ist. Vom großen Kultur-

historiker Johan Huizinga stammt die Anekdote eines Vaters, der sein 4-jäh-

riges Söhnchen dabei antrifft, wie es auf dem vordersten einer Reihe von

Stühlen sitzt und „Eisenbahn“ spielt. Er hätschelt das Kind, dies aber sagt:

Nicht das Kind ist so blöd sich ernsthaft mit einer Eisenbahn zu verwechseln,

die Wagen sind so naiv. Spieler geraten also nicht deshalb in Rage, weil sie

für einen Moment den Unernst des Spiels mit dem Ernst des Lebens verwech-

seln würden – das würde ja auch gar nicht erklären, warum das Spiel einen

mehr in Beschlag nehmen kann als das Leben, nein: Spieler sind äußerst auf-

geklärte Menschen: sie vergessen nie, dass sie bloß Beteiligte eines blöden

Spiels sind, und sind dennoch mit Feuereifer dabei. Robert Pfaller spricht in

einer paradoxen Wendung von „Illusionen ohne Subjekt“.

„Vater, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, es wäre nicht echt.“6

114

Page 115: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Kann uns dieses Paradox des Spielens - dass es einerseits Leidenschaften

entfesselt, die weit über Sinn und Verstand hinausgehen, dass es aber ande-

rerseits selbst nie für voll genommen wird - nicht das Geheimnis des Kon-

sumrausches schlagend erklären? – Konsumfreude ist, so meine These, also

sehr wohl kompatibel mit einer distanzierten Einstellung gegenüber dem

Konsum. Unter diesem Blickwinkel werden auch erst das ganze Ausmaß und

die Begrenztheit der Moralisierung des Konsums deutlich. Dahinter verbirgt

sich nämlich der Versuch, dem Konsum seine Schwerelosigkeit in der Schwe-

be zwischen Ernst und Unernst zu nehmen, indem man aus ihm eine ganz

und gar ernste, nämlich eine moralische, Angelegenheit macht. Fraglich ist,

ob dieses Unterfangen nicht auf einem Missverständnis der Motivlage beim

Konsumieren beruht. - Wollen die Verfechter eines moralischen Konsums ei-

nen anderen Konsum oder nicht lieber gar keinen, weil ihnen die Leichtigkeit

des Konsums unerträglich ist?

1 Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 97.2 Joan Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft, München 1968, S. 60.3 Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 239.4 Slavoj Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, Berlin 1991, S. 49 f.5 Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, Frankfurt am Main 2002.6 Johan Huizinga, Homo Ludens, Hamburg 1987, S. 17

| 115114

Page 116: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 117: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Die Partner der Dialoge

Page 118: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 119: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

„Verantwortung tragev“ meint die aktive Verantwortung für andere und

für die eigene Lebensgestaltung und nicht, in die Verantwortung gezogen

werden. Sie kann weder delegiert noch übertragen werden.

Vom Wesen der Verantwortung

Dr. Alexandra Hildebrandt

Page 120: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Nachhaltige Veranstaltungen wie die Bayreuther Dialoge verweisen auf das,

was wir wirklich wollen: „Verantwortung tragen“. Und sie schieben Inno-

vationen an dort, wo es nottut: in Wirtschaft und Bildung. Die Teilnehmer

der diesjährigen Bayreuther Dialoge gehörten zu den ersten, die sich zum

gleichnamigen Projekt der Arcandor AG bekannten. Die Idee hinter dem Pro-

jekt: Menschen auf der ganzen Welt – Prominente, Manager, Künstler, Me-

dienvertreter, Kulturschaffende, Mitarbeiter und Geschäftsführer von NGOs,

Sportler, Geistliche und Wissenschaftler – beantworten die Frage, was „Ver-

antwortung tragen“ für sie konkret bedeutet. Damit wird ein allgemeines

Thema auf eine Ebene geholt, die einen persönlichen Bezug hat. Denn: „Ver-

antwortung ist immer konkret. Sie hat einen Namen, eine Adresse und eine

Hausnummer“, sagte schon der Philosoph Karl Jaspers.

 

So unterschiedliche Menschen wie Graf Faber-Castell, Günther Beckstein,

Franz-Theo Gottwald, Franz Ehrnsperger, Gerhard Meir, Oliver Kahn und

Günther Netzer, die bereit sind, für andere und für sich Verantwortung zu

übernehmen, haben sich bislang an diesem Projekt beteiligt. Ebenso nam-

hafte Aufsichtsräte, Geschäftsführer, Betriebsräte, aber auch Menschen des

120

Page 121: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Alltags, die auf ihre Weise verantwortlich handeln. Das Projekt selbst ist der

Nachhaltigkeit verpflichtet: Es wird finanziert aus den Tantiemen des Buches

„Die Andersmacher. Unternehmerische Verantwortung jenseits der Business

Class“ (Kamphausen Verlag, Bielefeld 2008), in dem Querdenker und Lebens-

unternehmer vorgestellt werden, die nachhaltig und verantwortungsbe-

wusst handeln, die für andere da sind und sich selbst nicht verlieren. Auch

für das neue Projekt ist es - im wahrsten Sinne des Wortes – entscheidend,

„Gesicht(er)“ zu zeigen – Menschen, die bereit sind, in die Verantwortung zu

gehen und andere zu motivieren, dies ebenfalls zu tun. Die Studenten der

Bayreuther Dialoge gehörten zu den Vorreitern.

 

Da das Projekt regional und global ausgerichtet ist, kam es darauf an, ein

Dingsymbol zu finden, das in allen Kulturkreisen bekannt ist und für sich

selbst spricht. Der limitierte Sammlerteddy der Hermann Teddy GmbH aus

Hirschaid ist solch ein kulturelles Zuwendungsobjekt, das die Rolle eines

Freundes einnimmt. Seine Botschaft ist leise und unaufdringlich wie dieses

Projekt selbst. Allerdings ist nicht entscheidend, dass allein der Name eines

Unternehmens in die Welt getragen wird, sondern der Inhalt einer nachhal-

| 121120

Page 122: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

tigen Aktion, die allen zugute kommt. Deshalb freut es uns um so mehr, dass

sich neben Einzelpersonen auch zahlreiche Verbände, Institutionen sowie

namhafte Medien angeschlossen haben.

 

Verantwortung tragen meint die aktive Verantwortung für andere und für

die eigene Lebensgestaltung und nicht, in die Verantwortung gezogen wer-

den. Sie kann weder delegiert noch übertragen werden. Zuweilen verweisen

Menschen darauf, weisungsgebunden zu sein. Die Last der Entscheidung wird

dann auf viele Schultern verteilt, um sie in der Unverbindlichkeit der Grup-

pe bequem abzulegen. Doch das entschuldigt nichts, denn Verantwortung

reicht über die eigene Aufgabe hinaus, die einem unmittelbar zugewiesen

ist. „Geben wir hingegen schon im Voraus die Verantwortung an die Sache

ab, indem wir jede schmerzliche Entscheidung für unethisch halten, schütten

wir nicht nur das Kind mit dem Bade aus. Der nahe liegende Kurzschluss,

ethisches Handeln sei mit den Anforderungen des Alltags unvereinbar, öffnet

die Tür zu resigniertem Umgang mit Ethik und Moral – und lässt die Herzen

gefrieren“, schreibt der Autor Hans Jecklin. Die Psychoanalytikerin Margare-

te Mitscherlich, Grande Dame der deutschen Psychoanalyse, ist überzeugt,

dass ohne Selbstverantwortung keine Veränderung zum Besseren hin mög-

lich ist. Wer sich seiner Verantwortung bewusst wird und den Mut hat, sich

zu bekennen, erfährt sich selbst als Lebensgestalter und nicht Verwalter.

„Verantwortung tragen“ ist ein Bekenntnis, aber auch eine Haltung und ein

Lebensgefühl: „Ich tue es!“. Es geht um Selbstverantwortung statt passiver

Verdrossenheit, darum, das eigene Tun nicht als Last, sondern als Lust zu

empfinden.

 

Die Vorträge und Ergebnisse der diesjährigen Bayreuther Dialoge machen

Mut und zeigen, dass es klare Anzeichen dafür gibt, dass der Markt jene

Menschen und Unternehmen belohnt, die sich auf den Weg machen und

nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und ökologische Verantwor-

tung tragen.

Page 123: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 124: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008
Page 125: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Das Team der Bayreuther Dialoge 2008

P r o j e k t l e i t u n g B i a n c a F l i ß J o h a n n e s A u e r n h e i m e r M a r c

P h i l l i p G r e i t e n s D o k u m e n t a t i o n Y a n n i k B e n d e l R e f e r e n -

t e n S t e p h a n G ö n c z ö l L e o n J a c o b H e n d r y k S u c h o m s k i S i m o n

B i n d e r A l e x a n d r a B l i c k l i n g A n n a H o f m a n n S p o n s o r i n g &

F i n a n z e n M a x i m i l i a n S c h w e f e r I s a b e l l J e h l e S a s k i a B u s k i e s

J o h a n n e s T h o l l V e d a t B a y r a m O p e r a t i v e s A n d r e a s E i c h l e r

A n n e W a r z i n i a k E s t h e r M e y e r H a n n a F r e u d e n r e i c h B e n n y

F r a n k e B a r b a r a F a r i a M a r k e t i n g D a n i e l S c h u b e r t S v e n j a

H i p p e l J e n n i f e r F e y e r M a r l e n e R ö h r k e n P h i l i p W a l l m e i e r

A n d r é S c h m e l z e r T i m W i n k e J u l i u s H a b e n s c h u s s P h i l i p p

S c h ä c h t e l e I n h a l t & K o n z e p t J u l i a n L a n g e r U l r i c h B e r g -

m a n n J u l i a n Z u b e r K i m H e c k e r A d r i a n W e n k e A l e x a n d e r

C l a u s s e n - E l l e r G r e g o r G e i s t

Page 126: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

„Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind

civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und

Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr

viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser

Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren

Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus. [...] Alles Gute aber,

das nicht auf moralisch=gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter

Schein und schimmerndes Elend.“

Kant

Page 127: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

Impressum

Herausgeber Team der Bayreuther Dialoge 2008

Redaktion Johannes Auernheimer, Sebastian Becker, Yannik Bendel,

Marc Philip Greitens, Anna Hofmann, Julian Langer

Unterstützt durch:

Bildnachweis [6, 94, 96, 100, 103, 104, 106, 110, 124, 128]

Bayreuther Dialoge

[20, 38, 52, 74, 78, 120, 121, 123]

Frank Schultze, Copyright: Arcandor AG

[118] Ingo Boddenberg, Copyright Arcandor AG

[5] sxc.hu

[98, 102, 105] Ulrich Soeder, integral development

Gestaltung & Corporate Design

Kontakt Universität Bayreuth

Philosophy & Economics

Bayreuther Dialoge

95440 Bayreuth

Die Übernahme und Wiedergabe, auch in Auszügen, bedürfen der Genehmigung des Herausgebers.

www.sol lenundsein.de

Page 128: Dokumentation Bayreuther Dialoge 2008

www.bayreuther-dialoge.de