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  • »Der Freund der mir die Shorts besorgt hatte, verstecktemich in einer der Kabinen am Strand und ging zu meinemHaus, das jetzt von Polizisten mit Hunden bewacht wur-de. Er sagte, ich solle schnell ins Meer springen und michhinter einer Boje verstecken, da würden mich die Hundenicht aufspüren. « — Der Versuch, schwimmend eine ame-rikanische Militärbasis zu erreichen, scheitert. Es folgenGefängnis, Verhöre durch die Staatssicherheit, wiederGefängnis: Das Leben eines schwulen, oppositionellenDichters in Kuba. Reinaldo Arenas' Weigerung, sich zumHymnenschreiber Castros degradieren zu lassen, hätteschon ausgereicht, ihn zum Dissidenten zu machen. Ver-folgt wird er aber vor allem, weil er die Unverschämtheitbesitzt, seine Sexualität übermütig und ungezügelt aus-zuleben. Das macht ihn zum Vogelfreien. Als Arenasdieses Buch begann, konnte er nur in den Bäumen desLeninparks in Havanna ungestört schreiben — bevor esNacht wurde. »In einem Wettlauf gegen den Tod ge-schrieben, hingeschmiert, ... diktiert, gesprochen, ge-brüllt, ist dieses Buch sein Meisterwerk.« (GuillermoCabrera Infante in >lettre

  • Reinaldo Arenas

    Bevor es Nacht wird

    Ein Leben in Havanna

    Aus dem Spanischen vonThomas Brovot und Klaus Laabs

    Deutscher Taschenbuch Verlag

  • Von Reinaldo Arenasist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

    Reise nach Havanna (1 2740)

    Vollständige AusgabeJuli 2002

    4. Auflage August zoo5Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

    Münchenwww.dtv.de

    © Estate of Reinaldo ArenasTitel der Originalausgabe:

    >Antes que anochezca<der deutschsprachigen Ausgabe:

    Deutscher Taschenbuch Verlag, MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

    Umschlagbild: Javier Bardem in dem Film >Before night falls<© z000 Fine Line Features

    Gesetzt aus der SabonGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

    Printed in Germany • ISBN 3-4z3-1z986-7

  • Das Ende

    Im Winter 1987 dachte ich daran, zu sterben. Seit Mona-ten hatte ich furchtbares Fieber. Ich ging zum Arzt, und dieDiagnose war Aids. Da ich mich mit jedem Tag schlechterfühlte, kaufte ich mir ein Ticket nach Miami undbeschloß, am Meer zu sterben. Nicht in Miami direkt, son-dern am Strand. Aber ein teuflischer Bürokratismusscheint dafür zu sorgen, daß sich alles, was wir uns wün-schen, hinzieht, selbst der Tod.

    Ich will nicht sagen, daß ich wirklich sterben wollte,aber ich finde, wenn einem keine andere Wahl bleibt, alszu leiden und Schmerzen zu ertragen, ohne jede Hoffnung,dann ist der Tod tausendmal besser. Außerdem war ich einpaar Monate vorher in einem öffentlichen Pissoir gewe-sen, und es hatte sich nicht dieses Gefühl von verschwöre-rischer Erwartung eingestellt, das sonst immer da war.Niemand hatte mich beachtet, alle machten sie mit ihrenSexspielen einfach weiter. Mich gab es schon nicht mehr.Ich war nicht mehr jung. Dort kam mir der Gedanke, dasbeste wäre der Tod. Ich fand es immer erbärmlich, um dasLeben zu betteln wie um einen Gefallen. Entweder manlebt, wie man es sich wünscht, oder es ist besser, nicht wei-terzuleben. In Kuba hatte ich Not und Elend ertragen, weilmir die Hoffnung auf Flucht und die Aussicht, meineManuskripte zu retten, Kraft gaben. Jetzt war die einzigeFlucht, die mir blieb, der Tod. Ich hatte fast alle aus Kubaherausgebrachten Manuskripte überarbeitet, sie waren insicheren Händen bei Freunden oder schon veröffentlicht.In fünf Jahren Exil hatte ich außerdem einen Essaybandüber die kubanische Wirklichkeit geschrieben, Verlangennach Freiheit, sowie fünf Theaterstücke, die unter demTitel Verfolgung erschienen waren, und ich hatte die

  • Romane Der Portier und Reise nach Havanna abgeschlos-sen, obwohl ich mich beim letzten schon krank fühlte.Leid tat mir jedoch, daß ich sterben mußte, ohne daß ichdie Pentagonie beenden konnte, einen Zyklus von fünfRomanen, von denen Celestino vor dem Morgenrot, DerPalast der blütenweißen Stinktiere und Noch einmal dasMeer schon erschienen waren. Es tat mir auch leid, einigeFreunde wie Läzaro, Jorge und Margarita verlassen zumüssen. Mir tat der Schmerz leid, den ich ihnen und mei-ner Mutter mit meinem Tod bereiten würde. Aber der Todwar nun einmal da, und es blieb nichts anderes übrig, alsihn zu akzeptieren.

    Läzaro, der wußte, wie schlecht es mir ging, kam nachMiami geflogen und ließ mich, bewußtlos, ins New YorkHospital bringen. Meine Einlieferung war, wie er mir spä-ter erzählte, ein Riesenproblem, ich war nämlich nichtkrankenversichert. Das einzige, was ich in der Hosenta-sche hatte, war die Kopie des Testaments, das ich Jorgeund Margarita geschickt hatte. Ich war halb tot, aber dieÄrzte weigerten sich, mich aufzunehmen, weil ich nichtszum Bezahlen hatte. Zum Glück arbeitete ein französischerArzt in dem Krankenhaus, den Jorge und Margarita kann-ten; er sorgte dafür, daß ich doch noch aufgenommenwurde. Ein anderer Arzt, Dr. Gilman, sagte mir allerdings,ich hätte nur eine Überlebenschance von zehn Prozent.

    Ich kam in die Notaufnahme, wo alle mit dem Todkämpften. Überall hingen Schläuche aus mir raus, aus derNase, aus dem Mund, aus den Armen; ich sah wirklichmehr wie ein Wesen von einem anderen Stern aus als wieein Mensch. Ich will nicht von dem ganzen Auf und Aberzählen, das ich im Krankenhaus durchmachte. Jeden-falls starb ich damals nicht, obwohl wir alle damit rechne-ten. Der französische Arzt, Dr. Olivier Ameisen, der auchein exzellenter Komponist war, schlug mir sogar vor, ichsollte ihm Texte für ein paar Lieder schreiben, die er dann

  • vertonen wollte. Und mit all den Schläuchen, an ein Gerätzur künstlichen Beatmung angeschlossen, kritzelte ich, sogut es eben ging, den Text für zwei Lieder aufs Papier. Oh-vier kam immer wieder in den Krankensaal, wo wir dahin-starben, und sang uns die Lieder vor, zu denen ich dieWorte und er die Musik geschrieben hatte. Er hatte einenelektronischen Synthesizer dabei, der alle möglichen Töneerzeugte und jedes beliebige Musikinstrument imitierte.Die Notaufnahme hallte wider von den Tönen des Synthe-sizers und der Stimme Oliviers. Ich glaube, sein musikali-sches Talent war wesentlich größer als sein medizinisches.Ich selbst brachte natürlich kein Wort heraus, ein Schlauchin meinem Mund führte direkt in die Lunge. Ich war nurnoch am Leben, weil diese Maschine für mich atmete; mitein bißchen Anstrengung schaffte ich es aber, meine Mei-nung über Oliviers Kompositionen in ein Notizbuch zuschreiben. Mir gefielen diese Lieder wirklich. Eins hießEine Blume in der Erinnerung, das andere Hymne.

    Läzaro besuchte mich bei jeder Gelegenheit. Er brachteeine Gedichtsammlung mit, schlug sie auf gut Glück aufund las mir ein Gedicht vor. Wenn es mir nicht gefiel,schüttelte ich die an meinem Körper angebrachten Schläu-che und er las mir ein anderes vor. Jorge Camacho riefmich jede Woche aus Paris an. Der Portier wurde geradeins Französische übersetzt, und Jorge bat wegen ein paarschwieriger Wörter um Rat. Am Anfang konnte ich alsAntwort nur lallen. Dann ging es mir ein bißchen besser,und sie verlegten mich auf ein Einzelzimmer. Ich konntemich zwar nicht bewegen, aber es war angenehm, ein eige-nes Zimmer zu haben; da hatte ich wenigstens ein bißchenRuhe. Außerdem hatten sie mir inzwischen den Schlauchaus dem Mund genommen, und ich konnte wieder spre-chen. So wurde die Übersetzung von Der Portier dann fer-tig.

    Nach dreieinhalb Monaten wurde ich entlassen. Ich

  • konnte kaum laufen, und Läzaro half mir in meine Woh-nung hoch, die leider im sechsten Stock eines Hauses ohneAufzug liegt. Mit Müh und Not schaffte ich es bis oben.Lâzaro ging wieder, unendlich traurig, und ich fing an,wenigstens ein bißchen Staub zu wischen. Dabei entdeckteich auf dem Nachttisch einen Briefumschlag, der ein Rat-tengift namens Troquemichel enthielt. Darüber bekam icheine unglaubliche Wut, denn offensichtlich hatte dasjemand da hingelegt, damit ich es nahm. Jetzt war ich festentschlossen, meinen Selbstmord, den ich im stillen schongeplant hatte, erst einmal aufzuschieben. Wer immer mirdiesen Umschlag ins Zimmer gelegt hatte, diesen Gefallenwürde ich ihm nicht tun.

    Ich hatte furchtbare Schmerzen und fühlte mich unend-lich müde. Ein paar Minuten später kam Ren é Cifuentes,er half mir beim Saubermachen und kaufte etwas zu essenein. Dann war ich wieder allein. Da ich zu schwach war,um mich an die Schreibmaschine zu setzen, fing ich an, dieGeschichte meines Lebens auf Band zu sprechen. Ichredete eine Weile, ruhte mich aus und machte weiter.Meine Autobiographie hatte ich bereits in Kuba begon-nen, davon später mehr. Ich hatte sie Bevor es Nacht wirdgenannt, weil ich mich in einen Park geflüchtet hatte undschreiben mußte, bevor die Nacht hereinbrach. Nunrückte die Nacht wieder heran, noch bedrohlicher. Es wardie Nacht des Todes. Jetzt mußte ich wirklich zusehen, mitmeiner Autobiographie fertig zu werden, bevor es Nachtwurde. Ich nahm es als Herausforderung. Und so arbeiteteich weiter an meinen Erinnerungen. Ich besprach eine Kas-sette und gab sie einem Freund, Antonio Valle, damit er sieabschrieb.

    Ich hatte schon mehr als zwanzig Kassetten vollgespro-chen, und es wurde immer noch nicht Nacht.

    Im Frühjahr 1988 kam Der Portier in Frankreich her-aus. Der Roman war ein Erfolg, bei der Kritik wie bei den

  • Lesern. Zusammen mit zwei anderen war er als bester aus-ländischer Roman für den Prix Médicis nominiert. DerVerlag schickte mir ein Flugticket; ich war eingeladen, alsGast der Sendung Apostrophes im französischen Fernse-hen aufzutreten. Es war die Kultursendung mit der höch-sten Einschaltquote in Frankreich, und sie wurde in ganzEuropa ausgestrahlt; es war eine Live-Sendung. Ich nahmdie Einladung an, obwohl ich nicht wußte, ob ich über-haupt die Treppe meines Hauses hinunterkommen und esbis zum Flugzeug schaffen würde. Aber die Ermunterungdurch Jorge und Margarita hat mir wohl geholfen. Ich flognach Paris und fuhr ins Studio. Kaum einer wußte es, aberwährend ich in dieser Sendung redete, die eine Stunde odernoch länger dauerte, stand ich mit einem Bein schon imGrab. Ich blieb ein paar Tage in Paris und kehrte an meineAutobiographie zurück. Während ich daran arbeitete, sahich die hervorragende Übersetzung durch, die Liliane Has-son von Der Berg des Engels anfertigte, einer sarkastisch-liebevollen Parodie auf Cirilo Villaverdes Cecilia Valdés.

    Doch der körperliche Verfall war nicht aufzuhalten; imGegenteil, es ging immer schneller. Ich bekam wieder einePCP genannte Lungenentzündung, genau so eine, wie ichsie schon einmal gehabt hatte. Jetzt waren die Chancen,mit dem Leben davonzukommen, noch geringer, meinKörper war noch geschwächter. Ich überstand die Lun-genentzündung, aber dort im Krankenhaus bekam ichandere entsetzliche Krankheiten wie Krebs, Kaposi-Sar-kom, Venenentzündung und etwas ganz Furchtbares, dasToxoplasmose heißt und das Blut im Gehirn vergiftet.Selbst der Arzt, der mich behandelte, Dr. Harman, sahmich mit soviel Mitleid an, oder zumindest kam es mir sovor, daß manchmal ich ihn zu trösten versuchte. Jedenfallsüberlebte ich auch diese Krankheiten, das heißt, ihreschlimmsten Krisen. Ich mußte die Pentagonie zu Endebringen. Im Krankenhaus fing ich an, den Roman Die

  • Farbe des Sommers zu schreiben. In meinen Händen steck-ten verschiedene Nadeln mit einem Serum, weshalb mirdas Schreiben einigermaßen schwerfiel; ich nahm mir abervor, so weit wie möglich damit zu kommen. Ich beganndiesen Roman (für mich das Kernstück des Zyklus) nichtmit dem Anfang, sondern mit einem Kapitel, das ich DieOmnibumse nannte. Als ich aus dem Krankenhaus kam,schloß ich meine Autobiographie ab (mit Ausnahme die-ser Einleitung natürlich) und arbeitete weiter an Die Farbedes Sommers. Außerdem redigierte ich zusammen mitRoberto Valero und Maria Badias Der Überfall, den fünf-ten Roman der Pentagonie. Eigentlich war es eher einRohmanuskript, das ich in allergrößter Eile noch in Kubageschrieben hatte, uni es außer Landes bringen zu können.Robertos und Marias Aufgabe bestand nun darin, dasBuch aus einem fast unverständlichen Idiom ins Spanischezu übertragen. Irgendwann war die Reinschrift desRomans fertig und ließ die Sammlung meiner Original-texte in der Firestone-Bibliothek der Princeton Universityanwachsen, wo sie jedermann zugänglich sind.

    Inzwischen war meine Mutter aus Kuba zu Besuchgekommen, mit einer dieser abgefeimten Genehmigungenfür Rentner, mit denen Castro Dollars eintreibt. Mir bliebnichts anderes übrig, als nach Miamni zu reisen. MeineMutter bemerkte nicht, wie nah ich dem Tod in Wirklich-keit war, und ich begleitete sie bei ihren Einkäufen. Ichsagte ihr nichts von meiner Krankheit, und nicht einmaljetzt (im Sommer 1990) habe ich ihr davon erzählt. InMiami holte ich mir wieder eine Lungenentzündung.Zurück in New York, kam ich gleich ins Krankenhaus. Ichkam wieder raus und flog nach Spanien, in das Landhausvon Jorge und Margarita. Dort konnte ich saubere Luftatmen.

    Ich weiß noch, wie wir in Jorges Haus auf der Finca LosPajares (das war im Herbst 1988) auf die Idee kamen,

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  • Fidel Castro einen offenen Brief zu schreiben, in dem wirihn aufforderten, ein Plebiszit abzuhalten, so ähnlich, wiees Pinochet gemacht hatte. Jorge sagte, ich sollte den Briefverfassen, und gemeinsam gingen wir ans Werk. Dannunterschrieben er und ich; selbst wenn wir keine weiterenUnterschriften kriegen sollten, würden wir Castro denBrief mit unseren beiden bescheidenen Unterschriftenschicken. So kam es aber nicht; wir bekamen Tausendezusammen, darunter die von acht Nobelpreisträgern. Wirschufteten Tag und Nacht in dieser Finca, wo es wederfließend Wasser noch elektrisches Licht gab. Der Briefwurde in der Zeitung publiziert und war ein furchtbarerSchlag für Castro, denn er machte deutlich, daß seine Dik-tatur noch schlimmer war als die Pinochets, daß er freieWahlen nie zulassen würde. Die Leute, die so naiv sindund immer noch meinen, mit Castro einen Dialog führenzu können, sollten sich an seine Reaktion auf diesen Brieferinnern: erst hat er die Unterzeichner »Agenten der CIA«genannt, dann »Hurensöhne«. Es liegt auf der Hand, daßCastro heute nur noch ein Ausweg bleibt, um sich an derMacht zu halten, und zwar der Dialog mit dem Exil. DasUnglaubliche ist, daß viele Exilanten, die als Intellektuellegelten, sich für so einen Dialog aussprechen. Das heißtaber, die Persönlichkeit Castros und seinen Ehrgeiz völligzu verkennen. Es ist doch klar, daß Castro die Komiteesfür den Dialog von Kuba aus gegründet hat, und derenMitglieder geben sich sogar als Vorsitzende von Men-schenrechtskomitees aus. Auf der einen Seite haben wirdie Agenten Castros, im Ausland und im Land selbst, diefür ihn arbeiten; auf der anderen die Ehrgeizlinge, dieüberall dabeisein wollen; und obendrein noch die Halun-ken, die meinen, sie könnten bei dem Geschäft mit demDialog etwas »absahnen«.

    Eines Tages wird das Volk Castro natürlich stürzen,und das mindeste, was es tun wird, ist, diejenigen zu rich-

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  • ten, die ungestraft mit dem Tyrannen kollaboriert haben.Die Leute, die einem Dialog mit Castro das Wort reden,obwohl sie (wie alle Welt) wissen, daß Castro die Machtnicht freiwillig aus den Händen geben wird und daß er nureine Erholungspause und Wirtschaftshilfe braucht, umwieder zu Kräften zu kommen, machen sich ebenso schul-dig wie die Schergen, die das Volk foltern und morden,vielleicht sogar noch schlimmer, denn in Kuba herrschtder absolute Terror. Draußen kann man sich zumindestfür eine gewisse politische Würde entscheiden. All dieseWichtigtuer, die davon träumen, beim Händedruck mitFidel im Fernsehen zu erscheinen und eine wichtige Rollein der Politik zu spielen, sollten realistischere Träumehaben: sie sollten von einem Strick träumen, an dem sie imParque Central von Havanna baumeln werden, dennwenn die Stunde der Wahrheit kommt, wird Kubas Volksie in seiner Großmut aufhängen. So werden sie aufs ange-nehmste sterben, wenigstens bei ihnen wird es kein Blut-vergießen geben. Vielleicht wird dieser Akt der Gerechtig-keit für die Zukunft als Beispiel dienen, denn im Verhält-nis zu seiner Bevölkerungszahl bringt Kuba einfach zuviele Halunken, Verbrecher, Demagogen und Feiglingehervor.

    Zurück zum Plebiszit: Den Brief unterschrieben meh-rere gewählte Präsidenten und zahlreiche Intellektuellealler politischen Richtungen. In meiner Wohnung gabensich Fotografen und Journalisten die Klinke in die Hand,was mir körperlich noch mehr zu schaffen machte. Ichkonnte kaum sprechen, der Krebs hatte schon meinenKehlkopf angegriffen, und trotzdem mußte ich im Fernse-hen auftreten. Andererseits war ich noch nicht mit demRoman Die Farbe des Sommers fertig, der einen Großteilmeines Lebens behandelt, besonders meine Jugend, dasalles in unbefangenen, phantasievollen Bildern. Es istaußerdem ein Buch, das die Geschichte eines alt und ver-

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  • rückt gewordenen Diktators erzählt und Homosexualitätoffen beim Namen nennt, ein Tabuthema für fast alleKubaner und fast die gesamte Menschheit. Der Romanspielt auf einem großen Karneval, wobei es dem Volkgelingt, die Insel von ihrem Schelf zu lösen und mit ihr inSee zu stechen, als wäre sie ein Boot. Als sie schließlich aufhoher See sind, kann man sich nicht einig werden, wo manAnker werfen und was für eine Regierung man wählenwill. Es kommt zu einem Riesenkrawall nach kubanischerArt, und bei dem ganzen Getrampel versinkt die Insel, diekeinen Festlandsockel mehr hat, im Meer.

    Noch vollauf mit diesem mehr als sechshundertseitigenRoman beschäftigt, machte ich mich an die Durchsichtmeiner poetischen Trilogie Leprosorium, die inzwischenim Druck ist, und der ausgezeichneten englischen Überset-zung von Der Portier, die Dolores M. Koch anfertigte unddie demnächst erscheint.

    Ich sehe, ich bin fast am Ende der Vorstellung ange-langt, an meinem eigenen Ende in Wirklichkeit, und ichhabe noch nicht viel zu Aids gesagt. Ich kann es nicht, ichweiß nicht, was das ist. Niemand weiß es wirklich. Ichhabe Dutzende Ärzte aufgesucht, und für alle ist es einRätsel. Man behandelt die mit Aids zusammenhängendenKrankheiten, doch Aids selbst scheint ein Staatsgeheimniszu sein. Ich kann nur versichern, daß es zwar eine Krank-heit ist, aber keine Krankheit wie alle anderen, die mankennt. Jede Krankheit ist ein Produkt der Natur, und dadie Natur nicht perfekt ist, kann man sie bekämpfen undsogar ausrotten. Aids ist ein perfektes Unheil, weil esaußerhalb der menschlichen Natur steht, und sein Zielbesteht darin, mit dem menschlichen Wesen so grausamund systematisch wie möglich Schluß zu machen. Nochnie war die Menschheit einer so unaufhaltsamen Katastro-phe ausgeliefert. Diese teuflische Perfektion ist es, dieeinen manchmal auf den Gedanken bringt, daß der

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  • Mensch dabei seine Hand im Spiel hat. Die Regierendenauf der ganzen Welt, die reaktionäre Klasse, die immer ander Macht ist, die Machthaber in egal welchem System, siehaben allen Grund, sich über Aids zu freuen, denn ein gro-ßer Teil der an den Rand gedrängten Bevölkerung, dienichts anderes will als leben und die darum jedes Dogmaund jede politische Scheinheiligkeit ablehnt, wird durchdieses Unheil verschwinden.

    Doch es sieht nicht so aus, als ob die Menschheit, diearme Menschheit, leicht vernichtet werden könnte. Es hatsich gelohnt, das alles durchzumachen, denn wenigstenshabe ich den Zusammenbruch eines der finstersten Reicheder Geschichte erleben dürfen, des stalinistischen Reiches.

    Außerdem gehe ich, ohne die Beleidigung des Altersertragen zu müssen.

    Als ich vom Krankenhaus in meine Wohnung zurück-kam, schleppte ich mich zu einem Foto von VirgilioPiüera, das dort an der Wand hängt; Virgilio ist 1 979gestorben. Ich sagte zu ihm: »Hör gut zu, was ich dir jetztsage, ich muß noch drei Jahre leben, um mein Werk zubeenden, das ist meine Rache an fast der ganzen Mensch-heit.« Ich glaube, Virgilios Antlitz verfinsterte sich, alshätte ich ihn um etwas ganz Ungeheuerliches gebeten. Seitdieser verzweifelten Bitte sind bald drei Jahre vergangen.Mein Ende ist ganz nah. Ich hoffe, meine Gelassenheit biszum letzten Augenblick zu bewahren.

    Danke, Virgilio.

    New York, August 1990

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  • Die Steine

    Ich war zwei Jahre alt. Ich stand da, nackt; ich bücktemich und leckte mit der Zunge über die Erde. Der ersteGeschmack, an den ich mich erinnere, ist der Geschmackder Erde. Ich aß Erde zusammen mit meiner CousineDulce Ofelia, die auch zwei Jahre alt war. Ich war einmageres Kind, aber mit einem ganz dicken Bauch; daskam von den Würmern, die in meinem Magen gewachsenwaren, weil ich soviel Erde aß. Wir aßen die Erde im Ran-cho des Hauses; der Rancho war der Ort, wo die Tiereschliefen, das heißt die Pferde, Kühe, Schweine, Hühnerund Schafe. Der Rancho stand gleich neben dem Haus.

    Irgendwer schimpfte mit uns, weil wir Erde aßen. Werwar das, der da mit uns schimpfte? Meine Mutter, meineGroßmutter, eine meiner Tanten, mein Großvater? EinesTages hatte ich fürchterliche Bauchschmerzen; ichschaffte es nicht mehr, aufs Klo hinter dem Haus zu gehen,und benutzte den Nachttopf, der unter dem Bett stand, woich zusammen mit meiner Mutter schlief. Das erste, washerauskam, war ein riesiger Wurm, ein rotes Tier mit vie-len Füßen, wie ein Tausendfüßler, und er sprang imNachttopf herum; bestimmt raste er vor Wut, weil ich ihnauf so gewaltsame Weise aus seinem Element verstoßenhatte. Dieser Wurm machte mir große Angst, und seitdemerschien er mir jede Nacht und versuchte, sich in meinenBauch zu bohren, während ich mich an meine Mutterklammerte.

    Meine Mutter war eine sehr schöne, sehr einsame Frau.Sie hatte nur einen Mann kennengelernt: meinen Vater.Seine Liebe gehörte ihr nur wenige Monate. Mein Vaterwar ein Abenteurer: er verliebte sich in meine Mutter, batmeinen Großvater um »ihre Hand», und nach drei Mona-ten verließ er sie. Meine Mutter lebte damals ins Hausihrer Schwiegereltern; dort wartete sie ein Jahr lang, doch

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  • mein Vater kam nicht wieder. Als ich drei Monate alt war,kehrte meine Mutter zu ihren Eltern zurück; sie kam mitmir, der Frucht ihres Unglücks. An den Ort, wo ich gebo-ren wurde, kann ich mich nicht erinnern; die Familie mei-nes Vaters habe ich nie kennengelernt, ich glaube aber, derOrt lag im nördlichen Teil der Provinz Oriente, auf demLand. Meine Großmutter und alle anderen im Haus ver-suchten immer, mir einen großen Haß auf meinen Vateranzuerziehen, weil er meine Mutter »betrogen« hatte, daswar das Wort. Ich kann mich noch an ein Lied erinnern,das sie mir beibrachten; darin wurde die Geschichte voneinem Kind erzählt, das seinen Vater tötete, um seine ver-lassene Mutter zu rächen. Ich sang dieses Lied vor der gan-zen Familie, und alle lauschten verzückt. Das Lied war zujener Zeit sehr populär, es berichtete von den Schicksals-schlägen einer Frau, die von ihrem Geliebten entehrt wor-den war; kaum hatte er ihr ein Kind gemacht, schon war erverschwunden. Die letzte Strophe des Liedes ging so:

    Der Knabe wuchs und wurde zum Mann,dann zog er ins Gefecht,den Vater erschlug er, er hat sich gerächt.So handelt ein Sohn, der lieben kann.

    Einmal waren meine Mutter und ich auf dem Weg zumHaus einer meiner Tanten. Als wir zum Fluß hinuntergin-gen, kam uns ein Mann entgegen; er war stattlich, groß,dunkelblond. Plötzlich raste meine Mutter vor Wut; siefing an, Steine vom Ufer aufzusammeln und sie dem Mannan den Kopf zu schmeißen, der trotz des Steinhagels weiterauf uns zuging. Er kam bis zu mir, griff in seine Hosenta-sche, gab mir zwei Pesos, streichelte mir über den Kopfund rannte weg, ehe ihm ein Stein den Schädel einschlagenkonnte. Den Rest des Wegs weinte meine Mutter, und alswir bei meiner Tante ankamen, begriff ich, daß dieser

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  • Mann mein Vater gewesen war. Ich habe ihn nie wiederge-sehen, auch nicht die zwei Pesos; meine Tante borgte siesich von meiner Mutter, und ich weiß nicht, ob, sie ihr dasGeld je zurückgegeben hat.

    Meine Mutter war eine »sitzengelassene« Frau, wie esdamals hieß. Es war praktisch unmöglich für sie, einenneuen Mann zu finden; die Ehe war etwas für Senoritas,und sie war betrogen worden. Wenn sich ein Mann an sieheranmachte, dann wollte er sie nur, wie man es damalsnannte, »mißbrauchen « . Darum mußte meine Muttersehr mißtrauisch sein. Zu den Tanzvergnügen gingen wirimmer zu zweit, obwohl ich erst vier Jahre alt war. For-derte ein Mann sie auf, setzte ich mich derweil auf eineBank; nach dem Tanz kam meine Mutter zurück undsetzte sich neben mich. Lud jemand meine Mutter zueinem Bier ein, nahm sie mich ebenfalls mit; ich trank keinBier, dafür mußte der Freier mir viele »Geraspelte« spen-dieren; so nannten wir auf dem Land das Eis, das voneinem Eisblock gehobelt und mit Sirup übergossen wurde.Meine Mutter dachte vielleicht, bei diesen Tanzabendeneinen ernsthaften Mann zu finden, der sie heiratete; siefand ihn nicht oder wollte ihn nicht finden. Ich glaube,meine Mutter blieb immer der Untreue meines Vaters treuund wählte die Keuschheit, eine bittere und vor allemwidernatürliche, grausame Keuschheit, sie war damalsschließlich erst zwanzig. Die Keuschheit meiner Mutterwar schlimmer als die einer Jungfrau, weil sie die Lust füreinige Monate kennengelernt und dann für den Rest ihresLebens darauf verzichtet hatte. All das machte sie zu einerzutiefst unbefriedigten Frau.

    Eines Abends, als ich schon im Bett lag, stellte mir meineMutter eine Frage, die mich in dem Moment ganz ver-störte. Sie fragte mich, ob ich sehr traurig wäre, wenn siesterben würde. Ich klammerte mich an sie und fing an zuweinen; ich glaube, sie weinte auch und sagte mir, ich

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  • sollte die Frage schnell vergessen. Später, vielleicht auchschon im selben Augenblick, wurde mir klar, daß meineMutter daran dachte, sich das Leben zu nehmen, und ichhatte sie davon abgehalten.

    Ich blieb ein häßliches Kind, ein Dickbauch mit riesen-großem Kopf. Ich glaube nicht, daß meine Mutter damalsden nötigen praktischen Sinn hatte, um ein Kind zu versor-gen; sie war jung und unerfahren und lebte im Haus mei-ner Großmutter, und so übernahm diese die Aufgaben derHausherrin. Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: siewar es, die im Haus »die Zügel in der Hand hatte«. MeineMutter war eine unverheiratete Frau mit Kind, die zudemkeinen eigenen Hausstand hatte. Sie konnte keinerleieigene Entscheidung treffen, nicht einmal über mich. Ichweiß nicht, ob meine Mutter mich damals liebte; ich erin-nere mich nur, daß sie mich, wenn ich zu weinen anfing,auf den Arm nahm, was sie aber immer derart ungestümtat, daß ich ihr manchmal über die Schulter rutschte undmit dem Kopf auf den Boden schlug. Oder sie wiegte michin einer Hängematte aus Jute, die sie jedoch so hastiganschubste, daß ich ebenfalls auf den Boden fiel. Ichglaube, das war auch der Grund, weshalb mein Kopf sovoller Schrammen und Beulen war, doch ich überlebtediese Stürze; zum Glück hatte das Haus, eine riesige Bau-ernhütte, einen Lehmfußboden.

    In diesem Haus wohnten noch weitere Frauen; ledigeTanten, die so jung waren wie meine Mutter, und andere,die als alte Jungfern galten, weil sie schon über dreißigwaren. Eine Schwiegertochter lebte ebenfalls dort, sitzen-gelassen von einem Sohn meiner Großeltern; das war dieMutter von Dulce Ofelia. Außerdem kamen noch die ver-heirateten Tanten ins Haus und blieben immer eine ganzeWeile; sie brachten ihre Kinder mit, die schon größerwaren als ich und zu denen ich voller Neid aufschaute,weil sie ihren Vater kannten. Das verlieh ihnen eine Unge-

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  • zwungenheit und Sicherheit, wie sie mir nie vergönntwaren. Fast alle diese Verwandten wohnten nicht weitweg vom Haus meines Großvaters. Manchmal kamen siezu Besuch, dann machte meine Großmutter eine Süß-speise, und es wurde ein richtiges Fest. In diesem Hauswohnte auch meine Urgroßmutter, eine alte Frau, die sichfast nicht mehr vom Fleck rührte und die meiste Zeit aufeinem Stuhl saß, vor einem Detektorempfänger, den sienie hörte.

    Der Mittelpunkt des ganzen Hauses war meine Groß-mutter, die im Stehen pinkelte und mit Gott sprach; stetsverlangte sie Rechenschaft von Gott und der JungfrauMaria für alles Unheil, das uns auflauerte oder heim-suchte: für die Dürre, für die Blitze, die in eine Palme ein-schlugen oder ein Pferd töteten, für die Kühe, die anirgendeiner Krankheit starben, gegen die es kein Mittelgab, für die Besäufnisse meines Großvaters, der sie schlug,wenn er heimkam. Meine Großmutter hatte damals elfledige Töchter und drei verheiratete Söhne; mit der Zeitfand jede dieser Töchter vorübergehend einen Ehemann,der sie mitnahm und, wie meine Mutter, nach ein paarMonaten sitzenließ. Es waren attraktive Frauen, nurkonnten sie aus irgendeinem fatalen Grund keinen Mannfesthalten. Bei so vielen Töchtern mit dickem Bauch undverheulten Bälgern wie mir wurde es eng im Haus meinerGroßeltern. Die Welt meiner Kindheit war bevölkert vonsitzengelassenen Frauen; der einzige Mann, den es imHaus gab, war mein Großvater. Mein Großvater, früherein Don Juan, war jetzt ein kahlköpfiger alter Mann. ImUnterschied zu meiner Großmutter sprach er nicht mitGott, sondern mit sich selbst; nur manchmal sah er zumHimmel hoch und stieß einen Fluch aus. Er hatte mehrereKinder von anderen Frauen aus der Umgebung, die mit derZeit ebenfalls zu meiner Großmutter kamen, um bei ihr zuleben. Da beschloß meine Großmutter, nicht mehr mit

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  • meinem Großvater zu schlafen; so daß auch sie sich fortanin Enthaltsamkeit übte und so verzweifelt war wie ihreTöchter.

    Mein Großvater bekam manchmal seinen Rappel; dannsagte er kein Wort mehr und war stumm wie ein Fisch, ver-schwand aus dem Haus und ging in den Wald, wo erwochenlang unter den Bäumen schlief. Er nannte sicheinen Atheisten, wünschte aber sein Leben lang die Mut-tergottes zum Teufel; vielleicht machte er das, um meineGroßmutter zu quälen, die immer wieder mitten im Feldauf die Knie fiel und den Himmel um irgendeine Gnadeanflehte; eine Gnade, die ihr im allgemeinen nicht gewährtwurde.

    Der Obsthain

    Meine Kindheit war, glaube ich, unvergleichlich schön,weil sie sich im absoluten Elend, aber auch in absoluterFreiheit abspielte; im Wald, inmitten von Bäumen, Tieren,Gespenstern und Menschen, denen ich völlig gleichgültigwar. Meine Existenz war nicht einmal gerechtfertigt, undniemand interessierte sich dafür; das ließ mir einen unge-heuren Raum, mich davonzustehlen; niemand kümmertees, wo ich steckte und wann ich nach Hause kam. Ich klet-terte in den Bäumen herum; von dort oben sahen dieDinge sehr viel schöner aus, man überblickte die Wirklich-keit in ihrer ganzen Fülle und spürte eine Harmonie, ander man sich nicht erfreuen konnte, wenn man unten war,zwischen dem Gekeife meiner Tanten, den Flüchen meinesGroßvaters und dem Gackern der Hühner... Die Bäumehaben ein geheimes Leben, das sich nur dem offenbart, derhinaufklettert; auf einen Baum steigen bedeutet, eine ein-zigartige, rhythmische, magische und harmonische Weltzu entdecken; Würmer, Insekten, Vögel, Ungeziefer, lau-

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