Eine Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf ... · Philosoph Mario Bunge und der...

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Fachkolloquium Soziale und ihre Wissenschaften Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit Vortrag, gehalten im Rahmen des Kolloquiums »Philosophische Grundlagen der Wissenschaften der Sozialen Arbeit« am 19. November 2004 an der Fachhochschule Emden, Ostfriesland. Entwurf; nicht zu Zwecken des Zitierens Druck: 5-Mrz-07 Eine Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf der Grundlage des Wissenschaftlichen Weltbildes Zur Wissenschaftstheorie der Handlungswissenschaften und im Besonde- ren der Wissenschaft der Sozialen Arbeit Werner Obrecht Hochschule für Soziale Arbeit Zürich Inhalt 1. Zwei Weltbilder, zwei Methodologien, zwei Professionsverständnisse 2. Die Sozialwissenschaften als nomologische Wissenschaften: Oder: der methodologi- sche (nicht aber der methodische) Pluralismus ist unhaltbar 21. Die beiden klassischen Dilemmata der Sozialwissenschaften und der Methodologische Monismus 22. Der Systemismus-Realismus als materialistische Lösung der Dilemmata im Rahmen ei- ner dritten Auffassung 22.1 Ontologie 22.2 Erkenntnistheorie und Methodologie 23. Welche Wissenschaftstheorie für den nomologischen Bereich der Wissenschaft Sozialer Arbeit? 3. Philosophische Probleme der Handlungswissenschaften 3.1 Handlungen als besondere Form von Akten 3.2 Menschliche Bedürfnisse als Quellen menschlicher Handlungen und praktische und kognitive Probleme 3.3 Deskriptive und normative Handlungstheorie als explizite Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis 3.4 Methodische und im besonderen technologische Handlungen 4. Schlussbemerkungen

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Fachkolloquium Soziale und ihre Wissenschaften

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit

Vortrag, gehalten im Rahmen des Kolloquiums »Philosophische Grundlagen der Wissenschaften der Sozialen Arbeit« am 19. November 2004 an der Fachhochschule Emden, Ostfriesland. Entwurf; nicht zu Zwecken des Zitierens Druck: 5-Mrz-07

Eine Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf der Grundlage des Wissenschaftlichen

Weltbildes

Zur Wissenschaftstheorie der Handlungswissenschaften und im Besonde-ren der Wissenschaft der Sozialen Arbeit

Werner Obrecht

Hochschule für Soziale Arbeit Zürich

Inhalt

1. Zwei Weltbilder, zwei Methodologien, zwei Professionsverständnisse

2. Die Sozialwissenschaften als nomologische Wissenschaften: Oder: der methodologi-sche (nicht aber der methodische) Pluralismus ist unhaltbar

21. Die beiden klassischen Dilemmata der Sozialwissenschaften und der Methodologische Monismus

22. Der Systemismus-Realismus als materialistische Lösung der Dilemmata im Rahmen ei-ner dritten Auffassung

22.1 Ontologie

22.2 Erkenntnistheorie und Methodologie

23. Welche Wissenschaftstheorie für den nomologischen Bereich der Wissenschaft Sozialer Arbeit?

3. Philosophische Probleme der Handlungswissenschaften

3.1 Handlungen als besondere Form von Akten

3.2 Menschliche Bedürfnisse als Quellen menschlicher Handlungen und praktische und kognitive Probleme

3.3 Deskriptive und normative Handlungstheorie als explizite Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis

3.4 Methodische und im besonderen technologische Handlungen

4. Schlussbemerkungen

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Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 3

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen

Am vergangenen Kolloquium war unter anderem von einer Bedrohung der Sozial-wissenschaften und der Sozialarbeitswis-senschaft die Rede, die für sie von den „life sciences“ ausgehe. Ich vertrete im Folgen-den die These, dass es sich hier nur dann um eine Bedrohung handelt, wenn man die Sozialwissenschaften als Geistes- oder, wie es heute heisst, Kulturwissenschaften auf-fasst (Reckwitz, 2002) und die Sozialar-beitswissenschaft als angewandte Kultur-wissenschaft versteht (Engelke 2004), das heisst als Wissenschaft, die auf philosophi-schen (ontologischen und erkenntnistheore-tischen) Prämissen beruht, die als idealis-tisch zu bezeichnen sind. Eine aktive Ausei-nandersetzung mit ihnen ist aber auch dann nötig, wenn man einen strengen Wissen-schaftsbegriff und mit ihm einen philoso-phischen Naturalismus vertritt, oder genau-er, eine materialistische (aber nicht physika-listische Ontologie) und eine realistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und Ethik. Aktiv deshalb, weil diese Wissen-schaften, was das Soziale betrifft, reduktio-nistisch sind, was in der Tat eine Bedrohung ist, indem dadurch den Sozialwissenschaf-ten die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Wie eine ontologisch mit Bezug auf das Soziale nicht reduktionistische Sicht aussieht und welche Anforderungen davon für eine Wissenschaftsphilosophie der Sozi-alarbeitswissenschaft ausgehen, möchte ich im Folgenden darlegen. Selbst die eher grosszügigen zeitlichen Rahmenbedingun-gen verlangen es allerdings, dass ich meine an sich schon gedrängten Überlegungen hier lediglich zusammenfasse.

1. Zwei Weltbilder, zwei Methodo-logien, zwei Professionsverständ-

nisse

Der Konflikt, in dessen Rahmen die Biowis-senschaften die Sozialwissenschaften be-drohen, ist einer zwischen zwei unverträgli-chen Weltbildern, den der Physiker und Philosoph Mario Bunge und der Biologie und Philosoph Martin Mahner kürzlich fol-gendermassen charakterisiert haben: "Bis auf den heutigen Tag ist unsere philoso-phisch reflektierende Weltsicht von zwei fundamental gegensätzlichen Ausgangs-punkten geprägt. Dem einen zufolge steht das menschliche Ich bzw. Bewusstsein, sei es individuell (mein Ich) oder kollektiv (un-sere miteinander kommunizierenden Iche), im Zentrum allen Fragens, wenn nicht gar im Zentrum der Welt. Bringt unser Geist nicht schon die ganze Welt hervor, so sind zumindest deren Eigenschaften nicht unab-hängig von unserer Erkenntnistätigkeit. Demnach ist das Geistige - in uns oder viel-leicht ausserhalb von uns existierend - das Primäre. Der anderen Sichtweise zufolge ist die reale Welt das Primäre und der Mensch ist ihr Produkt. Die Welt ist also vor uns und ausserhalb von uns da, und wir können sie erkennen, weil wir - samt unseres Geis-tes - Teil von ihr sind. Dem Menschen kommt darin keine zentrale Stellung zu: Er ist nicht der Nabel der Welt. Dieser Gegen-satz zwischen dem anthropologischen - ei-gentlich: anthropozentrischen - und dem kosmologischen oder naturalistischen An-satz (Scheibe 2000: 76) durchzieht die Philo-sophie-Geschichte als Idealismus-Materialismus-Dichotomie. Der Materialis-mus war hierbei immer in der Minderhei-tenposition. Zu einflussreich war die plato-nische Tradition - und die religiöse.i Doch das Bild hat sich gewandelt: Der Materia-

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lismus hat durch die Naturwissenschaften Verstärkung erhalten und dominiert inzwi-schen die in der analytischen Tradition ste-hende analytische Philosophie (...). Manche Philosophen gehen sogar so weit zu sagen, Begriffe wie "Materialismus" oder "Monis-mus" seien heute verzichtbar, weil ihre anti-thetischen Entsprechungen, gegen die sie sich definitorisch abgrenzen, längst philo-sophisch tot seien (Searle, 1996)" (Bunge & Mahner, 2004: 1).

Die hier beschriebene ontologische Spaltung der Wissenschaften in einen realistisch-nomologischen Bereich von Natur- und So-zialwissenschaften und einen der Geistes- oder Kulturwissenschaften hat seine methdologische Entsprechung in der Spal-tung der Sozialwissenschaften in einen nomo-logischen und einen hermeneutischen Zweig oder anders gesagt in eine Auffas-sung, die man methodologischen Monismus und nennt und eine, die sich heute als me-thodologischen Pluralismus (früher: Dua-lismus) bezeichnet. Während der methodo-logische Pluralismus eine Spaltung der Wis-senschaften in Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften postuliert, beruht diese Auffassung der Pluralisten in der Sicht der Monisten in einem falschen und vor allem veralteten (Selbst)Verständnis der Naturwissenschaften, was deren Ziele und Methode betrifft, kombiniert mit einer idea-listischen Ontologie.

Für die Soziale Arbeit ist diese Spaltung der Sozialwissenschaften, die in der Psychologie eine Entsprechung hat, grundlegend und fatal und führt unter anderem zu zwei un-vereinbaren Professionsbegriffen, zu einem, in dem Professionen, wie die Medizin, die Psychotherapie oder die Soziale Arbeit, Ver-fahren nutzen sind, die sich auf wissen-schaftliche Einsichten über Gesetzmässig-

keiten in ihren Interventionsbereichen stüt-zen, und zu einem anderen, der besagt, dass Theorie (wissenschaftlichen Wissen) keinen Nutzen für die Praxis bringe, so dass Pro-fessionen die Lebens- und Situationsauffas-sungen ihrer Klienten durch ein geisteswis-senschaftlich überlegenes Reflexionswissen unterstützen (Becker, 2003; Gabriel, 2004; Winkler, 1995). Streng genommen ist die Sozialarbeitswissenschaft in dieser Sicht eine Deutungs- und keine Handlungswis-senschaft.

Das Folgende geht davon aus, dass die So-zialarbeitswissenschaft keine Grundlagen-wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die sich allgemein mit dem wissenschaftsba-siertem methodischem Handeln und im Besonderen mit der Entwicklung von Me-thoden zur Lösung einer ganz bestimmen Klasse von praktischen Problemen, eben sozialen Problemen beschäftigt. In Thesen-formuliert heisst dies, dass Sozialarbeitswis-senschaft (1) eine besondere Form einer Handlungswissenschaft ist (Obrecht 1996), die sich (2) auf nomologisches Wissen stützt, dabei aber (3) weitere und zwar handlungstheoretische Fragen involviert, die durch die klassische Wissenschaftstheo-rie nicht bearbeitet wurde. Wie wir sehen werden, kommen zum ontologischen Mate-rie-Ideen-Konflikt und zum Verstehens-Erklärens-Konflikt noch ein dritter ebenfalls ontologischer Konflikt hinzu, jener zwi-schen Individualismus hinzu. Was ich im Folgenden darstelle, ist eine Lösung des zweiten methodologischen Konflikt durch eine Realistische Wissenschaftstheorie und des ersten und dritten durch eine syste-mistisch Ontologie.

Das erste Kapitel geht der Frage nach, ob die Sozialwissenschaften wirklich nach ei-nem methodologischen Pluralismus verlan-

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gen und kommt zu einem negativen Ergeb-nis. Dabei werde ich ferner zeigen, dass So-zialarbeitswissenschaft keine Basis- und auch keine angewandte, sondern eine Handlungswissenschaft ist., die sich aller-dings systematisch auf basiswissenschaftli-ches Wissen stützt. Im zweiten Kapitel möchte ich davon ausgehend die klassische Fragestellung der Philosophie der Basiswis-senschaften erweitern und einen Blick auf philosophische Kernprobleme der Hand-lungswissenschaften werfen. Im dritten Ka-pitel schliesslich komme ich auf die Soziale Arbeit zurück und ziehe Bilanz.

2. Die Sozialwissenschaften - sind sie Wissenschaften?

2.1 Die metatheoretischen Trilemmata der Sozialwissenschaften

Ausgehend von der Bedeutung der Psycho-logie und der Sozialwissenschaften für die Soziale Arbeit stellt sich die Frage, ob diese nomologische Wissenschaften, d.h. Wissen-schaften im klassischen Sinne sind oder nicht.ii Diese Frage ist praktisch so alt wie diese Wissenschaften und sie blieb Gegens-tand von Kontroversen bis in die Gegen-wart. ( für die Soziologie vgl. Bunge, 1996; Für die Psychologie vgl. z.B. Groeben & Erb, 1997; Jüttemann, 1991) iii. Ein Ja auf diese Frage und zum methodolo-gischen Monismus, nach dem es eine wis-senschaftliche Methode gibt, die auch in den SAW anwendbar ist, bedeutet, folgenden Items zuzustimmen, nämlich

— dass es soziale Dinge (Gebilde, Systeme) gibt und nicht nur Individuen oder Strukturen und Prozesse ohne Dinge,

— dass die Soziologie Fakten einer beson-deren Art untersucht, nämlich soziale

Fakten, die Zustände und Zustandsän-derungen solcher Dinge sind,

— dass die Entstehung, das Funktionieren und der Zerfall dieser Dinge Gesetzmäs-sigkeiten unterliegt und

— dass wegen a und b objektives Wissen über solche Dinge möglich ist und sozia-le Fakten, d.h. Zustände und Zustands-änderungen von solchen Dingen erklärt werden können.

Jene, die gegen den methodologischen Mo-nismus und für einen methodologischen Pluralismus plädieren, bestreiten alle diese Behauptungen oder alle ausgenommen b).

Grundlage der Ablehnung ist, dass sie menschliches Verhalten als sinnhaft auffas-sen und dieses als nicht erklärbar, sondern als ausschliesslich verstehbar:

1. Sie fokussieren deshalb insbesondere auf Individuen und betrachten deren Umwelt lediglich als etwas, in das hinein sie handeln, d.h. sie lehnen die Existenz sozialer Gebilde ab (oder betrachten Sie als aus Ideen beste-hend);

2. sie betrachten mentale Prozesse als Quelle alles Sozialen;

3. sie betrachten dieses als etwas Immaterielles, Begriffliches, und postulieren damit meist implizit, dass der Geist auf den Körper wir-ken kann, entsprechend

4. halten sie das gedankliche Nachvollziehen der geistigen Prozesse handelnder Akteure, sei es in der Variante von Dilthey (empathi-sches Nachvollziehen des Erlebens) oder in jener Webers, als das Ziel der Sozialwissen-schaften, indem sie diese Prozesse als un-verursacht auffassen.

(Ignoriert oder leugnet man, dass die inhalt-lichen Begriffe reale Referenten ausserhalb des Bewusstseins haben, kann sich diese Auffassung dahingehend radikalisieren, dass die soziale Welt eine (mentale) Kon-struktion (von Menschen) ist.).

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Ein Blick auf diese beiden konträren Auffas-sungen der Ziele und Mittel der Sozialar-beitswissenschaft zeigt, dass ihnen mindes-tens vier übergeordnete Gegensätze oder Dilemmata oder, wie wir sehen werden, Trilemmataiv, zugrunde liegen, nämlich

1. die Betonung der Existenz sozialer Ganzhei-ten versus die Negierung der Existenz sol-cher Gebilde und individueller Akteure (In-dividualismus-Holismus-Systemismus);

2. die Annahme der konkreten bzw. materiel-len Natur sozialer und psychischer Systeme versus ihr immaterieller (ideeller) Charakter (Materialismus-Idealismusv;

3. das Postulat der Gesetzmässigkeit der Pro-zesse in und zwischen diesen Ganzheiten versus Denken und Handeln als (Folgen von) Aktivitäten des autonomen immateriel-len Geistes von Individuen (Nomianismus-Antinomianismus).

4. die Auffassung, dass die existierenden Din-ge mittels der wissenschaftlichen Methode erfasst und in ihrem Aufbau und Verhalten erklärt werden können versus die Auffas-sung, dass es dazu einer ganz anders gearte-ten verstehenden Methode bedarf (Positi-vismus-Idealismus(Hermeneutismus)-Realismus).

Die ersten drei Gegensätze sind ontologi-scher, der vierte ist methodologischer Na-tur, und während die Gegensätze 1, 2 und 4 explizite Themen von metatheoretischen Auseinandersetzungen in den Sozialwissen-schaften waren, spielte der dritte in der Zeit des Neomarxismus eine rhetorische Neben-rolle, ohne dass das Thema Materialsimus in den Sozialwissenschaften ernsthaft disku-tiert worden wärevi.

Die Auseinandersetzungen zwischen Ver-tretern des individualistischen und des ho-listischen Lagers (Pkt. 1) einerseits und zwi-schen dem positivistischen und dem inter-

pretativen Lager (Pkte. 3 und 4) andererseits reichen teils weit ins 19. Jahrhundert zu-rück. Jede der vier Lehren kennt mehrere Varianten, wie etwa Webers methodologi-scher Individualismus und das von ihm abgeleitete rational Choice Programm einer-seits und Dilthey’s empathisches Verstehen andererseits. Dabei treten die Varianten der beiden Dilemmata in kombinierter Form auf und viele von ihnen werden bis heute als Alternativen verstanden.

< Grafik: Ind/Hol vs Pos/Verstehen >

Während die positivistisch-holistischen Auffassungen die Soziologie vor allem in den USA bis über die Jahrhundertmitte hin-aus dominierten (Bernstein, 1979), erwuch-sen diesem soziologischen Mainstream mit der „mikrosoziologischen Revolution“ von George C. Homans Rational Action Theory, Herbert Blumers Symbolischem Interaktio-nismus; Harold Garfinkels Ethnomethodo-logie und Alfred Schütz’s Phänomenologi-scher Soziologie anfangs der 60er Jahre (Alexander & Giesen, 1987; Obrecht, 1992) eine massive und schnell wachsende Oppo-sition, deren Vertreter bis heute als Alterna-tiven zum „Positivismus“ verstanden wer-den und die Träger des methodologischen Pluralismus sind (Flick, Kardorff, & Steinke, 2003). Obwohl sie eine enorme Wirkung entfaltete, kann man die mikrosoziologische Revolution gleichwohl nicht als erfolgreich bezeichnen, hat sie doch statt zu einer ver-besserten Integration der in Sozialanalysen involvierten ontischen Niveaus von Nano (Individuen) über Mikro (face-to-face Grup-pen), zu Meso (Organisationen, Departe-mente, Makro (Provinzen, Nationalstaaten) bis Mega (Weltgesellschaft) zu führen und dem Inrechnungstellen emotio-kognitiver Prozesse in Akteuren, dem Idealismus in den Sozialwissenschaften zu einem enor-

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men Auftrieb verholfen, und statt zu einer Konsolidierung und nachhaltigen Entwick-lung der Disziplin zu einer Chaotisierung verholfen, die sich nicht zuletzt auch Un-vermögen der Bewegung gezeigt hat, auch nur die Umrisse einer gehaltvollen Theorie interner Prozesse zu entwickeln. (Für eine Charakterisierung des Zustands der Diszip-lin vgl. den kurzen Text von Greshoff, 2003 im Anhang Greshoff, 2003.)

2.2 Der Systemismus-Realismus als ma-terialistische Lösung der Dilemmata im Rahmen einer dritten Auffassung

Es war Mario Bunge, der in seiner Philoso-phie der Sozialwissenschaft gezeigt hat (Bunge, 1996, 1998, 1999b, 2003a, 2004), dass der Konflikt zwischen diesen Dilemmata unauflöslich, sein Verständnis als unüber-windbar aber falsch ist. und dass der Kon-flikt statt als Konflikt zwischen zwei Di-lemmata besser als einem zwischen einem Dilemma, dem zwischen Idealismus und Materialismus und zwei Trilemmata ver-standen wird, nämlich dem ontologischen Individualismus-Holismus-Systemismus-Trilemma und dem erkenntnistheoretischen Positivismus-Idealismus-Realismus Tri-lemmavii.

< Hinw. Grafik Anhang>metath.Trilemmata >

Was folgt, ist deshalb keine weitere Runde in der Auseinandersetzung zwischen den beiden verbrauchten Lösungsvarianten, sondern die Skizze einiger Grundvorstel-lungen des Materialismus-(Nomianismus)-Systemismus-Realismus, der die alten Ge-gensätze zu überwinden vermag. Dies al-lerdings um den Preis einiger weitreichen-der metatheoretischer, d.h. ontologischer, erkenntnistheoretischer, semantischer und methodologischer Theorien. Der Aufwand

lohnt sich, indem die systemistische Philo-sophie des Sozialen und der Sozialwissen-schaften u.a. mit der Philosophie der Phy-sik, der Biologie, der Psychologie und der realistischen Semantik, aber auch mit der moralisch-realistischen Ethik harmoniert, statt ihnen zu widersprechen und es des-halb erlaubt, biologische, psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien sys-tematisch miteinander zu verknüpfen. Ich beschränke mich hier auf die Ontologie und die Wissenschaftstheorie und beginne mit der ersteren.

2.2.1 Ontologie

Die Alternative zu den ontologischen Dokt-rinen des Individualismus und Holismus ist Systemismus, da er sowohl dem Indivi-duum wie auch Systemen Rechnung trägt und, wie wir sehen werden, im Besonderen individuellem Handeln und sozialer Struk-tur.

"Ein System ist ein komplexes Objekt, dessen sämtliche Teile oder Komponen-ten mit anderen Teilen desselben Objek-tes in einer Weise gekoppelt sind, dass das Ganze einige Charakteristika auf-weist, die seinen Komponenten fehlen, d.h. emergente Eigenschaften.

Systeme können konkret sein wie Zellen oder Schulen, begrifflich wie Theorien oder semiotisch wie Texte; nur semioti-sche Systeme sind hybrid.

Ein begriffliches System ist ein System, das aus Begriffen gebildet wird, die mitein-ander durch logische oder mathematische Operationen verknüpft sind.

Klassifikationen und Theorien sind begriffli-che Systeme.

Ein konkretes oder materielles System ist ei-nes, das gebildet wird aus konkreten Dingen, die miteinander durch nichtbegriffliche Bin-dungen verknüpft sind wie physikalische, chemische, biologische und soziale Linksviii.

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Atome und Moleküle, Zellen und Organe, Familien, Wirtschafts- und nichtgouverne-mentale Organisationen wie auch Regierun-gen und informelle soziale Netzwerke sind konkrete Systeme.

Konkrete Systeme, die für andere stehen oder andere Objekte repräsentieren, wie Sprachen, Texte und Diagramme, können semiotisch genannt werden." (Bunge, 1996: 20f, Her-vorhebung im Original, Übersetzung W.O).

Alle drei übergeordnete Arten von Syste-men und ihre wechselseitigen Beziehungen verlangen nach einer eigenständigen Analy-se; der Kürze halber beschränke ich mich auf konkrete Systeme. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein kon-

kretes System charakterisierbar durch seine

Zusammensetzung, seine Umwelt, seine

Struktur (oder Organisation oder Architek-tur) sowie durch seine Mechanismen oder anders gesagt jene internen Prozesse, die es

in Gang halten, d.h. die es in gewissen Hin-

sichten verändern, während sie es in ande-ren Hinsichten erhalten. Die Struktur eines

Systems ist das Gesamt der konkreten Bin-dungen unter den Komponenten des Sys-

tems wie auch zwischen diesen und Umwel-

titems. Die erstere bildet die interne oder Endostruktur, die letzteren die externe Struktur oder Exostruktur des Systems.

Ausschlaggebend für den emergenstitischen Systembegriff ist der Begriff der Emergenz, der wie folgt definiert werden kann:

“P ist eine emergente Eigenschaft eines Din-ges b wenn und nur wenn entweder b ein komplexes Ding (System) ist, von dessen Komponenten keine P besitzt, oder b ein In-dividuum ist, dass P dank dem Umstand be-sitzt, dass es Komponente eines Systems ist (d.h. b würde P nicht besitzen wenn es unab-hängig oder isoliert wäre)” (Bunge, 1996).

Entscheidend für den systemistischen Beg-

riff der Emergenz ist, dass er strikt ontolo-gisch ist und Emergenz als eine konkrete Folge der Interaktion der Komponenten

versteht und nicht, wie (idealistische) Ho-listen einschliesslich aller holistischen Sys-temtheoretiker meinen, eine erkenntnistheo-

retische Eigenschaft ist und Nichterklärbar-keit bedeutet. Schon gar nicht handelt es

sich dabei um etwas, was ontisch zu den

Komponenten hinzutritt und ihre Integrati-on in ein System erst ermöglicht oder er-zwingt (Luhmann, 1984).

Fakten sind in dieser Sicht Zustände oder Zustandsänderungen in konkreten Syste-men; Prozesse sind gerichete Abfolgen von

Zuständen also eine besondere Form von

Fakten.

Je nach ihren bindungsstiftenden Eigen-schaften und äußeren Bedingungen können

sich Dinge durch Selbstvereinigung zu Sys-

temen vereinigen und solche Systeme zu Systemen höherer Ordnung, so dass die ursprünglichen Systeme zu Subsystemen

werden (Allgemeine Evolutionshypothese).

Falls als Folge eines solchen Prozesses meh-rere Niveaus existieren, ist jedes System

Mitglied eines Niveaus oder einer integrati-ven Schicht im Rahmen einer Niveaustruk-

tur. Ein Niveau (eine Ebene, ein level) kann

dabei als eine Kollektion von Dingen aufge-faßt werden, die bestimmte gemeinsame Eigenschaften aufweisen und deren Verhal-

ten Gesetzmässigkeiten unterliegt, unter

denen mindestens einige für die das Niveau bildenden Systeme spezifisch sind (vgl. da-

zu (Bunge, 1989a)xi.

Danach können gegenwärtig auf der Erde folgende sechs Arten von konkreten, d.h.

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materiellen Systemen unterschieden wer-den:

1. natürliche wie Atome, das Sonnensystem, das Nervensystem, Organismen;

2. biopsychische (oder genauer: biospsychoso-ziokulturelle) wie Meerkatzen, Bonobos (Menschenaffen) und Menschen;

3. soziale (bzw. biosoziokulturelle) wie Famili-en, Cliquen, Schulen, Firmen, Netzwerke und Nationalstaaten;

4. technische und technologische unterschied-licher Art wie Maschinen, Strassen- und Fernsehnetzwerke, das Internet;

5. semiotische wie Sprachen, Musikscores, Pläne und Karten, zusammen mit ihren NutzerInnen.

Dies ist nur eine Typologie und keine Klas-sifikation, da (a) die meisten sozialen Sys-teme gleichzeitig künstlich als auch sozial sind: man denke an Spitäler, Banden oder Armeen; (b) einige soziale Systeme wie Bauernbetriebe, nicht nur Menschen, son-dern auch Maschinen, Tiere und Pflanzen umfassen; (c) alle semiotischen Systeme Artefakte sind; und (d) alle modernen sozia-len Systeme semiotische Systeme involvie-ren. Gleichwohl ist die obige Typologie eine grobe Repräsentation der hervorstechenden objektiven Charakteristika der Systeme, aus denen die Welt besteht.

Vorläufige Definitionen der obigen Begriffe sind: Ein konzeptuelles System ist eines, das aus Begriffen gebildet wird. Ein natürliches System ist eines, dessen Komponenten wie auch die Bindungen zwischen diesen zur Natur gehören, d.h. nicht menschengemacht sind; ein Biosysteme im Besonderen sind

halboffene, autopoietische und selbstgesteuerte

Chemosysteme, die reproduzierbar sind und

deshalb einer Selektion unterliegen (für eine

präzise, aber ausführliche Definition vgl. Mah-

ner & Bunge, 2000), ein biopsychisches Sys-

tem ist ein Biosysteme mit einen plastischen, d.h. lernfähigen Teil (Cortex) (und ein Mensch ist eine biopsychisches System einer besonderen Art, nämlich ein einer vokalen und syntaktischen Sprache und zu einem breiten Selbstbewusstsein fähiges Biosys-tem; ein soziales System ist eines, dessen Komponenten konspezifische Tiere sind und ein menschliches Sozialsystem ist eines mit menschlichen Individuen als Kompo-nenten zusammen mit ihren Artefakten (unbelebte wie Geräte und lebende wie Tie-re); technische und technologische Systeme sind Systeme, die durch Menschen mit Hilfe von technischem Wissen konstruiert und in Gang gehalten werden, ein semiotisches System ist zusammengesetzt aus Menschen, die künstliche Zeiten wie Worte oder Figu-ren benützen und ein artifizielles System ist eines, das menschengemachte Dinge ent-hält.

Die Klasse der artifiziellen Systeme ent-spricht dabei allen nicht natürlichen Syste-men. Dazu gehören insbesondere auch menschliche Gesellschaften sowie Men-schen, da diese durch menschliches Wissen (Kultur) mit gestaltet sind.

Für den Status der Sozialwissenschaften entscheidend ist dreierlei:

Erstens sind menschliche Individuen oder eine besondere Form von Biosystemen. (Für ein biopsychosoziokulturelles Modell des Individuums vgl. Obrecht, 2005)

Zweitens leben menschliche Individuen nicht in einem sozialen Vakuum, wie die methodologischen Individualisten anneh-men und die Ökonomen bis heute predigen, sondern eingebettet in soziale Systeme. D.h. es gibt soziale Systeme und Menschen – und nicht Handlungen (Weber, Parsons), Rollen (Linton), oder Kommunikationen (Luh-mann) – sind deren Komponenten und sol-

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che Systeme sind, wie ihre Komponenten auch, konkret, d.h. materiell. Bereits die Bindungen von Säuglingen an ihre Pflege-personen werden eingeleitet durch biologi-sche vorgegebene Verhaltenstendenzen, die auf biologisch vorgegebene Entsprechungen bei ihren Eltern oder Pflegepersonen treffen, und der Verlust subjektiv wichtiger Bin-dungen oder der sozialen Anerkennung innerhalb der sozialen Systeme freiwilliger Mitgliedschaft ist für Menschen nicht nur schmerzhaft, sondern führt, wenn sie aus-gedünnt werden, zu psychischen Störungen.

Drittens ist deshalb das Soziale im Leben menschlicher Individuen nicht ihr Denken an andere, wie idealistische Lehren es wol-len, oder die Zugehörigkeit zu einer „Ge-sellschaft“ jenseits von ihnen – die Vorstel-lung der Soziologisten von Durkheim über Parsons zu Luhmann. Das Soziale im Leben menschlicher Individuen besteht vielmehr in ihren Handlungen in Bezug auf andere Menschen als Mitglieder eines sozialen Sys-tems und werden solche Systeme durch über Handlungen gebundene Menschen gebildet, in Gang gehalten und oft auch zerstört. Dabei sind Handlungen

- durch zentralvervöse Prozesse wie Bedürf-nisse bzw. Wünsche unterschiedlicher Art motiviert,

- werden gesteuert durch ikonische und be-griffliche Bilder des Handelnden seiner selbst in seiner natürlichen und sozialen Umwelt,

- erfolgen solche Handlungen entweder in Form von Routinen oder sind geplant (und involvieren dann einen Plan) und

- zielen Handlungen auf die Lösung eines praktischen Problems physikalischer, chemi-scher, biologischer, psychischer, sozialer, kultureller Art oder einer Kombination da-von. (Mehr zu Handlungen in Kapitel 3.)

Dabei werden die meisten Handlungen von Menschen mitbestimmt durch deren Bin-dungen zu anderen Menschen der selben Gesellschaft und die Position innerhalb ih-rer Positionsstruktur, die sie einnehmen, d.h. sie sind nicht nur durch endogene Mo-tive bestimmt, sondern auch durch die sozi-ale Umgebung des Einzelnen oder anders gesagt, durch die Struktur des sozialen Sys-tems, dessen Mitglied er ist.

Viertens sind zwar solche handlungserzeu-gende und –steuernde interne Prozesse sub-

jektiv, doch sind sie gleichwohl konkret und sie können deshalb auch mit geeigneten

Verfahren beobachtet, d.h. objektiviert wer-

den, wenn auch erst sehr grob. Vor allem sind sie für die Entstehung und Fortdauer sozialer Gebilde nicht minder wichtig, wie

die von ihnen erzeugten Handlungen selbst,

gehen doch alle sozialen Prozesse in sozia-len Gebilden durch die Köpfe ihrer indivi-

duellen Mitglieder. (Für eine schematische Darstellung dieser Beziehung vgl. Abb. X im

Anhang.)

Zumindest die Berücksichtigung subjektiver Prozesse ist damit kein Grund für einen methodogischen Spaltung, nicht zuletzt

auch deshalb nicht, weil Bioprozesse ge-

setzmässige Prozesse sind und psychische Prozesse lediglich eine spezielle Form sol-

cher Prozesse. Bleibt das Problem des Erklä-rens.

2.2.2 Erkenntnistheorie und Methodologie

Für den positivistischen Begriff des Erklä-rens, gegen den sich die Opposition der idealistischen „interpretativen“ und Verste-hensschulen sowie der „qualitativen For-schung“ richtete und richtet, beschränkt sich Erklären auf die (logische) Subsumtion eines neuen Items (Faktums) unter eine

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Verallgemeinerung („Gesetzmässigkeit“) der Beziehung zwischen zwei oder mehr Eigenschaften eines Dinges, (Covering-Law-Modell der Erklärung, vgl. Hempel & Op-penheim, 1948). Entsprechend beschränkt sich Wissenschaft auf das Postulieren sol-cher verallgemeinerter Beschreibungen, d.h. auf Beschreibungs- oder phänomenologi-sche, oder Black-Box-Theorien. Theorien waren mit anderen Worten in dieser Sicht nichts weiter als Systematisierungen von Daten, die sich im Verständnis des Neoposi-tivismus auf Erfahrungen (Phänomene) be-schränkten, und nicht etwa auf Dinge aus-serhalb von ihr. Aussagen über Dinge jen-seits unseres Erlebens, das Ziel des Wissen-schaftlichen Realismus, traf das Verdikt unzulässiger Metaphysik.

Ganz anders deshalb der Erklärungsbegriff des Wissenschaftlichen Realismus, der sei-ner materialistischen Ontologie und seiner realistischen Erkenntnistheorie wegen nicht diesen Beschränkungen unterliegt und der Dank des Begriffs eines konkreten Systems einen weiteren und gehaltvolleren Erklä-rungsbegriff ermöglicht, der sich nicht auf die Verallgemeinerung von Beziehungen zwischen (phänomenalen) Oberflächenei-genschaften betrachteter Dinge beschränkt, sondern diese Gesetzmässigkeiten als eine Folge der Aktivität der Komponenten der in Frage stehenden Dinge unter gegebenen äusseren Bedingungen versteht. Logische Subsumtion verschwindet nicht, sondern wird in diesem Verständnis zum logischen Aspekt des Erklärens, der um einen ontolo-gischen, jenen des Identifizierens der wirk-samen Mechanismen, ergänzt wird.

Eine Eigenschaft, eine gesetzmässige Bezie-hung zwischen Eigenschaften und im Be-sonderen ein Verhalten eines Systems zu erklären, heisst danach den Mechanismus

oder die Mechanismen aufzeigen, dem oder denen sie ihre Existenz verdanken.

Da emotio-kognitive Prozesse Bioprozesse einer besonderen Art sind, unterliegen sie, wie alles andere auch, Gesetzmässigkeiten und als interne Mechanismen können genau so erklärt werden wie irgend etwas anderes auch. Es ist richtig, dass solche Prozesse sowohl in einer mentalistischen als auch in einer neurotheoretischen Sprache beschrie-ben werden können, doch ist dies kein An-lass für Zweifel an der Hypothese, wonach das Erleben lediglich die Form ist, in der sich emergente neuronale Prozesse im Inne-ren von Systemen auftreten, die von Aussen einem anderen solchen System als ein sprachfähiges und zu komplexem Verhalten fähiges Biosystem erscheint. Abgesehen davon ist dieser Doppelaspekt Anlass zu interessanten Fragen wie jener der Überein-stimmung von neurologischen Indikatoren und Berichten über das eigene Erleben (Rilling et al., 2002).

Die Wissenschaftstheorie des logischen Po-sitivismus brach vor bald 50 Jahren zusam-men. Inzwischen hat sich der Begriff des mechanismischen Erklärens in den Natur-wissenschaften und in Teilen der Sozialwis-senschaften durchgesetzt und damit das Wissenschaftsverständnis des Wissenschaft-liche Realismus, das Mario Bunge in den letzten bald 40 Jahren in systematischer Weise im Rahmen eines philosophischen Systems entwickelt hat.

2.2.3 Welche Wissenschaftstheorie für die Wissenschaft Sozialer Arbeit?

Das Fazit dieser Überlegungen lautet: Sozi-alwissenschaften untersuchen Soziale Ge-bilde mit menschlichen Individuen als Komponenten. Sie sind konkret oder mate-riell weil ihre Komponenten konkret sind.

Kommentar: Mit dem Realismus dieser Wissen-schaftsphilosophie und ihrem Beg-riff komplexer Dinge (Systeme) hat sich auch der Begriff des Erklärens grundlegend geändert oder genauer: erweitert. Aus dieser Sicht war der positivistische Erklärungsbegriff auf den logischen Aspekt des Erklärens beschränkt, während der ontologi-sche notwendig unterbelichtet blieb:

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 12

Handlungen sind durch konkrete innere Prozesse im Rahmen von organismischen Subsystemen erzeugte objektive Fakten mit objektiven Folgen, die im günstigen Fall in der Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialen Gebilden bestehen, im ungünstigen in ihrer Zerstörung. Entsprechend können interne emotio-kognitive Prozesse sowie die von diesen gesteuerten Handlungen wie Prozesse in anderen Dingen erklärt werden, wenn auch über spezifische Theorien, die ihren emergenten Eigenschaften Rechnung tragen, die ihrerseits danach verlangen, mit eigenständigen Verfahren erfasst zu wer-den. Mit welchen Schwierigkeiten ein sol-cher Prozess verbunden ist, ist unerheblich, lauten doch die Behauptung des idealisti-schen Lagers nicht, dass Erklären in den Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften schwieriger, sondern dass unmöglich sei.

Die Sozialwissenschaften sind somit Wis-senschaften, wie jene auch, die sich mit bio-logischen (ohne plastische Nervensysteme) und physikalischen Dingen beschäftigen. Und somit sind der methodologische (nicht aber der methodische) Dualismus bzw. Plu-ralismus unhaltbar. Die Anforderungen an eine für den nomologischen Teil der Sozial-arbeitswissenschaft angemessene Wissen-schaftsphilosophie liegen damit auf der Hand: Eine solche Wissenschaftsphilosophie muss, da menschliche Individuen biopsy-chische Systeme und soziale Systeme bioso-ziale Systeme sind, in der Lage sein, einen für alle Natur- und Sozialwissenschaften gültigen Wissenschaftsbegriff zu formulie-ren, der einerseits der Struktur der in den verschiedenen Disziplinen verfügbaren Theorien Rechnung zu tragen vermag und der andererseits in der Lage ist, Wissen-schaft von Nichtwissenschaft zu unterschei-den, im besonderen von Pseudowissen-

schaft, Religion und Politik. Es ist der Wis-senschaftliche Realismus, der gegenwärtig als einzige Wissenschaftsphilosophie diese Bedingungen erfüllt, und dessen Philoso-phie der Sozialwissenschaften, weit davon entfernt, sich in einer vielversprechenden Programmatik zu erschöpfen, in ver-gleichsweise grosser Breite, Allgemeinheit und Systematik entwickelt ist (Bunge, 1996, 1998, 1999b).

3. Philosophische Probleme der Handlungswissenschaften

Wie erwähnt waren und sind die meisten Wissenschaftstheorien mit einem nomologi-schen Wissenschaftsverständnis Wissen-schaftsphilosophien der Grundlagenwissen-schaften. D.h. sie beziehen sich auf einen eingeschränkten Bereich von kognitiven Operationen, im besonderen auf jenes des Beschreibens, Erklärens und der Prognose.

Entsprechend lagen die philosophischen Probleme des methodischen Handelns in der Regel ausserhalb ihrer Reichweite (Aus-nahme: der Wissenschaftliche Realismus), was erklärt, dass die Philosophie der Tech-nologie bis heute ein Nebendasein fristet und Handlungswissenschaften wie die Me-dizin oder die Psychiatrie, die Psychothera-pie mit ihren Problemen allein gelassen werden (Bunge, 2000).

In den folgenden Abschnitten sollen ele-mentare philosophische Probleme des me-thodischen Handelns in den Blick genom-men werden. Da sich der den Wissenschaft-liche Realismus Bunges auch auf Fragen der Philosophie der Technologie erstreckt, sind die folgenden Überlegungen lediglich Spezi-fikationen innerhalb dieser Philosophie der Wissenschaft und Technologie.

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 13

3.1 Handlungen als besondere Form von Akten

Planvolles Handeln und ganz besonders methodisches Handeln, involviert das Be-schreiben, Erklären und die Prognose (Er-wartung) von Fakten – die Themen der klassischen Wissenschaftstheorie, doch geht es weit darüber hinausxii. Deutlich wird dies, wenn wir auf der Grundlage des be-reits eingeführten Systembegriffs des emer-gentistischen Systemismus zunächst den Begriff des Aktes, dann jenen der menschli-chen Handlung definieren und diesen auf sein Zustandekommen hin analysieren. Der Begriff der sozialen Handlung liefert so-dann den Grundbegriff für die Definition sozialer Systeme nach.

3.2 Akte, menschliche und soziale Handlungen

Beginnen wir mit dem handlungstheore-tisch elementarsten ontologischen Begriff eines Aktes und der menschlichen Hand-lung.

Definition 1: Danach ist ein Akt ist das, was ein konkretes Ding einem anderen tut, das heißt eine Billardkugel einer anderen, ein Biomolekül in einer Zelle einem anderen, eine ein Jungtier fütternde Amsel ihrem Jungen, eine Ärztin einem Patienten oder eine Sozialarbeiterin einem Klienten, eine Organisation (eine Lieferfirma) einer ande-ren (Käufer).

Definition 2: Menschliche Handlungen (auch „Praxis“) sind Akte einer besonderen Art, nämlich was immer Menschen bewusst oder nicht (voll) bewusst, aber absichtlich einem anderen Ding tun. Einer selbstbewussten Handlung geht die Entwicklung eines (Hand-lungs)Plans voraus.

Da sie sich auf physikalische, chemische, biologische, (bio)psychische (das heißt auf Menschen), soziale Systeme (z.B. Gruppen, Organisationen) beziehen können, können Handlungen nach der Art ihrer Referenten unterschieden werden. Eine soziale Hand-lung lässt sich dabei wie folgt definieren:

Definition 3: Eine soziale Handlung ist eine Handlung, mit der ein Individuum ein an-deres (oder andere) zu verändern trachtet. Dabei ist die moralische Qualität der Hand-lung unerheblich. Anders gesagt sind auch Mord und das Führen eines Krieges soziale Handlungen (nicht aber das versehentliche Töten eines Menschen, das eine „fahrlässige Tötung“ ist); das Streicheln eines Säuglings nach der Geburt und die Geburtshilfe (nicht aber das Gebären, das ein biologischer Akt ist).

3.3 Bedürfnisse als Quellen menschlicher

Handlungen und praktische und kognitive Probleme

Nach Definition 2 und 3 kommen menschli-che Handlungen nicht aus dem (immateriel-len) Nichts. Vielmehr sind sie motiviert durch neuronale Mechanismen der Reduk-tion zentralnervös registrierter Ist-Soll-Differenzen des handelnden Akteurs, d.h. durch Bedürfnisse (Grawe, 2004; Obrecht, 1998). Menschliche Handlungen und im Besonderen geplante Handlungen sind da-nach Versuche der Lösung praktischer Prob-leme im Sinne der Aufhebung oder Verhin-derung gegenwärtiger oder künftiger Diffe-renzen zwischen gewünschten und fakti-schen Zuständen von Dingen – sei es des eigenen Organismus‘ oder von Dingen in seiner oder ihrer Umwelt. (Im Unterschied dazu betreffen kognitive Probleme Zu-standsdifferenzen innerhalb der möglichen Zustände des mentalen Systems des Han-delnden.)

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 14

Wie Handlungen können auch praktische Probleme nach der Klasse der konkreten Dinge klassifiziert werden, deren Zustände oder Vorgänge unbefriedigend sind oder zu sein drohen, nämlich in physikalische wie Probleme von Immissionen oder der Loko-motion, biologische wie Erschöpfung, me-chanische Verletzung oder Krankheit, (bio)psychische wie Konzentrationsschwä-chen, Orientierungslosigkeit oder Psycho-sen, (biopsycho)soziale wie mangelnde so-ziale Anerkennung (tiefer Rang), ungleicher Tausch, soziale Isolation, und (biopsychoso-zio)kulturelle wie Sprach- oder Schriftun-kundigkeit.

3.4 Die Rolle von Wissen im Handeln oder der Theorie-Praxis-Transfer.

Menschliches Leben ist in dieser Sicht gleichbedeutend mit dem Lösen praktischer Probleme aller Art, die zum Anlass genom-men werden können (aber nicht müssen), kognitive Probleme zu formulieren und zu lösen, deren Lösung ihrerseits zur Lösung der ursprünglichen praktischen Probleme verwendet werden können (Theorie-Praxis-Transfer in beiden Richtungen). Ein kogniti-ves Problem ist ein Problem im Bereich des Wissens des Akteurs und es kann alle As-pekte unseres Wissens betreffen, d.h. Wahr-nehmungen, Beschreibungen, Erklärungen, Prognosen, (funktionale) Bewertungen, Re-geln (und Normen), Pläne wie auch Fähig-keiten und Fertigkeiten. Und wie bei Hand-lungen und praktischen Problemen alle die-se Items auf unterschiedliche Arten von Objekten beziehen – einschliesslich den das Problem formulierenden Akteur selbst – d.h. auf physikalische, chemische, biologi-sche, psychische, soziale und kulturelle. Die Nutzung verfügbaren Wissens zur Steuerung von Handlungen ist die elemen-tare Form des Theorie-Praxis-Transfers, die

in dieser Form so alt ist wie Menschen und ihre Gesellschaften und der Theorie-Praxis-Transfers ist in dieser Form ein Transfer zwischen Alltagswissen und Alltagshan-deln, das vielfach die Form der Nutzung religiösen Wissens zur Lösung praktischer Lebensprobleme hatxiii. (Ontogenetisch be-ginnt das Erlernen des Lösens praktischer Probleme mit den sensu-motorischen Ope-rationen des Säuglings und es setzt sich fort im Zuge des Hineinwachsens des Kleinkin-des in seine familiale und gesellschaftliche Umwelt auf der Grundlage von biologisch übertragenen Dispositionen [Skelett-Muskelapparat; Schutz von pathogene Im-missionen, Orientierung in Raum und Zeit, Beziehungen zu Menschen und Erwerb von Sprachfähigkeit].) Das Formulieren von kognitiven Problemen setzt eine kritische Distanz zum eigenen Denken voraus und ihre methodische Lö-sung ein Verfahren, und sei es nur ein ele-mentares. Die Erfindung solcher Verfahren war gleichbedeutend mit der Erfindung der Logik (im griechischen Altertum), die die Gestaltung begrifflicher Operationen betraf, und der Wissenschaftlichen Methode (im modernen Sinne im 17. Jahrhundert durch Galileo Galilei), die sich auf die Erzeugung, Aufbereitung und Analyse von Daten über Fakten bezog.

3.5 Deskriptive und normative Hand-lungstheorie als explizite Theorie des Verhältnisses von Theorie und Praxis

Jede absichtsvolle Handlung orientiert sich an Wissen, sei’s bewusst oder nicht. Dar-über hinaus kann die Beziehung zwischen Wissen und Handeln auch zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Entsprechend der Unterscheidung von deskriptiver und der normativer Erkenntnistheorie (oder Me-thodologie) können in Bezug auf Handeln

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 15

objektwissenschaftliche und metatheoreti-sche oder philosophische Fragen unter-schieden werden. Antworten auf die erste-ren sind beschreibend und erklärend und werden in den verschiedensten Disziplinen gesucht, die sich mit Aspekten des mensch-lichen Handelns beschäftigen und die ver-schiedene Arten von Handlungen im Rah-men unterschiedlicher Settings unterschei-den, beschreiben und erklären (Straub & Werbik, 1999); Wahl, 1991 #512]. Der her-ausragende Ort dieser Beschäftigung ist die Handlungspsychologie, die die internen Prozesse der Orientierung, Motivation, Handlungsvorbereitung und Handlungsrea-lisierung in ihrer Struktur und unter variab-len Bedingungen untersucht (von Cranach & Tschan, 1997). Philosophisch ist die Frage nach der Quali-tät von (Arten von) Handlungen und den Werten, die dieser Beurteilung zugrunde liegt. Mit der Qualität von Handlungen und ihren Kriterien befasst sich die Praxeologie oder philosophische Handlungstheorie (Bunge, 1983, 1999a), während die Frage nach der Art und Herkunft der involvierten Werte das Thema der Axiologie ist. Zu-sammen mit der Ethik, der politischen Phi-losophie und der Methodologie ist die Pra-xeologie eine Komponente der praktischen Philosophie oder philosophischen Techno-logie (Bunge, 1988, 2001a, 2001b). Beispiele für Fragen der Praxeologie sind: Was ist eine Aktion, was eine menschliche Hand-lung und welche Rolle spielt Wissen, wenn überhaupt, im Handeln? Was sind prakti-sche Probleme im Unterschied zu kogniti-ven? Was ist eine rationale, was eine aratio-nale Handlung, was eine irrationale (Ratio-nalität)? Was ist – im besonderen Technolo-gie? Welche Rolle spielt Intuition, wenn überhaupt, im Rahmen rationalen Han-delns? Welche Rolle spielt wissenschaftli-

ches Wissen im professionellen Handeln? Was sind Pläne und welche Beziehung exis-tiert zwischen rationalem (professionellem) Handeln und Plänen? Welche Beziehung besteht zwischen kollektiven und individu-ellen Handlungen? Was sind die Beziehun-gen zwischen Politiken und Plänen? In wel-cher Beziehung stehen kollektive und indi-viduelle Handlungen? Ist die Entschei-dungstheorie hilfreich für die Planung von Handlungen? Kann eine politische Wissen-schaft gleichzeitig wissenschaftlich und mo-ralisch engagiert sein? Ist laissez-faire Poli-tik sowohl ökonomisch effizient als auch moralisch gerechtfertigt? (Bunge, 2003b: 221).

3.6 Methodische und im Besonderen technologische Handlungen

Planvolle Handlungen können systematisch sein oder nicht. Unter den systematischen Handlungen können solche, die sich weder auf systematisches wissenschaftliches Wis-sen in Bezug auf den Interventionsbereich noch auf eine allgemeine normative Hand-lungstheorie stützen, von solchen unter-schieden werden, für die das eine wie das andere gilt. Handlungen, die sich auf wis-senschaftliches Wissen stützen sind dabei Handlungen, die entweder wissenschaftli-che Beschreibungen der Handlungssituation oder wissenschaftsbasierte Verfahren invol-vieren, oder beides. Ein in diesem Sinne Handelnder wird seine Handlungen als Versuche verstehen, auf der Grundlage der Kenntnisse der Mechanis-men innerhalb eines Dinges, dessen Zu-stand oder Zustandsänderungen er ausge-hend von seinen Werten entweder gegen-wärtig oder künftig als nicht befriedigend einschätzt, durch die gesetzmässigen Pro-zesse, die seine eigenen Handlungen auslö-sen, so in den fokussierten Prozess zu inter-

Kommentar: (courses of action

Kommentar: Es sind solche Handlungen, die man als tech-nologisch oder, im Sinne unserer Definition in der Einleitung, als professionell im Strengen Sinne bezeichnen kann. Danach ist eine Handlung professionell, wenn sie eine technologische Hand-lung ist, die auf der Basis einer normativen Handlungstheorie genutzt wird. Anders gesagt ist eine professio-nelle, rationale Handlung eine Handlung, die einer Allgemei-nen normativen Handlungstheo-rie rationalen Handlung folgt und deren Kriterien erfüllt.

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 16

venieren, dass dessen Verlauf in einer Weise modifiziert wird, dass der gewünschte (be-fürchtete) künftige Zustand (nicht) eintritt. Eine Handlung, die diesem Handlungsver-

ständnis entspricht, involviert eine allgemei-ne normative Handlungstheorie, die davon ausgeht, dass eine rationale bzw. professio-

nelle Handlung eine Handlung ist, die eine

Reihe von kognitiven Operationen mit ein-schliesst und diese optimiert. Die kognitiven

Probleme, die jede solche Handlung zu lösen hat, sind in vereinfachter und linearer Dar-

stellung die folgenden (in Erweiterung von

Obrecht, 2004):

1. Feststellen eines praktischen Problems (P0) als Beschreibungsanlass, d.h. eines Zustandes oder Prozesses in einem System oder zwi-schen Systemen, der in der Sicht des han-delnden Akteurs als problematisch erscheint �

2. Beschreibung des als problematisch verstan-denen Zustandes oder Wandels des Systems (mittels Information [Daten] sowie Begriffen aus nomologischen Hypothesen und Theo-rien = nichtintegriertes begriffliches Bild) �

3. Erklärung der einzelnen Items des Bildes (=Fakten) (mittels nomologischen Hypothe-sen und Theorien = erklärtes, d.h. integriertes begriffliches Bild) �

4. Prognose der zu erwartenden Zustände des beschriebenen Systems zu einem künftigen Zeitpunkt (mittels erklärtem Bild plus nomo-logischer Theorie = Zukunftsbild) �

5. praktisches Problem (Vergleich Prognose mit Soll-Wert aufgrund der Werte des handeln-den Akteurs: Differenz = Problem P1) �

6. Handlungsziel (mittels Prognose, Werten und situativ mutmasslich effektiven Regeln der Intervention [Methoden] und Wissen über externe Ressourcen = Bild eines gewünschten zukünftigen Zustandes) �

7. Handlungsplan (mittels Gegenwartsbild, Ziel sowie Interventionsregeln [Methoden]) �

8. Realisation (mittels Gegenwartsbild, Ziel, Handlungsplan, Fertigkeiten und Wissen ü-ber externe Ressourcen) �

9. Evaluation (Vergleich zwischen dem neuen Gegenwartsbild und dem Ziel sowie Erklä-rung von Abweichungen mittels nomologi-scher Theorie).

Rationales Handeln ist m.a.W. eine Abfolge von (durch bewusste Werte getriebenen und durch Emotionen gesteuerten) kognitiven Operationen, die ihrerseits Sequenzen von zielorientierten Handlungen steuern. In die-sen Operationen spielen – nebst Informatio-nen über psychische und soziale Fakten und expliziten Werten – nomologische Theorien als kognitive Ressourcen eine entscheidende Rolle, denn sie sind eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung sowohl für die Erzeugung von Bildern aller Art wie auch von Systemen wissenschaftsbasierter Interventionsregeln (technologische oder professionelle Handlungstheorien)xiv. Un-mittelbar gesteuert werden rationale Hand-lungen jedoch nicht über nomologische Theorien, sondern über ikonische (Wahr-nehmungen) und begriffliche Bilder, d.h. über Beschreibungen von gegenwärtigen, zukünftig erwarteten (Prognose) und ge-wünschten Zuständen (Ziele) sowie über Systeme wissenschaftsbasierter Interventi-onsregeln (technologische oder professio-nelle Handlungstheorien. Eine herausra-gende Rolle spielt dabei das (erklärte) Ge-genwartsbild (vgl. oben, Schritte 1 und 2) als Ausgangspunkt aller weiteren Operationen und mit ihm die nomologische Theorie, aus der die begrifflichen Mittel der Beschrei-bung und die Hypothesen für die Erklärung stammen. Im Unterschied zu technischen Handlungen

wie traditioneller Haus- oder Strassenbau, Nahrungskonservierung und –zubereitung,

Heilverfahren, sind technologische Hand-

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 17

lungen wie die hier beschriebene Handlun-

gen, deren Regeln (Verfahren, Methode) auf (erklärenden) wissenschaftlichen Theorien basieren. Technologien sind dabei Systeme

von Regeln, deren Wirksamkeit einerseits mit der wissenschaftlichen Methode nach-gewiesen, andererseits auf der Basis wissen-

schaftlicher Theorie erklärt werden kann.

Nach der Art des Objektes, dessen Modifika-tion das Ziel einer Handlung ist können physikalische, chemische, biologische, bio-psychische, soziale und kulturelle und hier im besonderen philosophische Technologien wie die Ethik oder die Praxeologie (Bunge) unterschieden werden. Eine soziale Techno-logie wie die Soziale Arbeit macht dabei Gebrauch von nomologischen Theorien im Bereich sozialen Handelns und sozialer Sys-teme, d.h. von Theorien, wie sie im ersten Teil als für die Sozialwissenschaften möglich und wünschbar dargestellt worden sind.

Professionen, die humanbiologische, bio-psychische und soziale Technologien benut-zen, sind nach unserer Definition Professio-nen im strengen Sinne. Ihnen gegenüber stehen Professionsbegriffe, die das Professi-onen kennzeichnende Expertenwissen als geisteswissenschaftlicher Natur sehen. Das Problem dieses Wissens ist, dass es keine Theorie enthält, die seine Wirksamkeit er-klärt und sei es nur deshalb, weil eine solche Theorie Gesetzmässigkeiten involvieren würde, deren Existenz die Behauptung wi-derlegt, auf welcher der methodologische Pluralismus basiert. Die Rolle der nomologischen Theorie als Mittel der Bilderzeugung innerhalb dieser Handlungstheorie übernimmt im system-theoretischen Paradigma der Sozialen Ar-beit die (systemistische) Theorie sozialer Problemexv, wodurch sie – und mit ihr die systemistische Ontologie – innerhalb der

allgemeinen Handlungstheorie der Sozialen Arbeit eine zentrale pragmatische Funktion erhält. Die Verfahren der Sozialen Arbeit sind entsprechend Verfahren der Lösung sozialer Probleme. Dies im Unterschied zur Medizin, die sich mit biologischen, oder der Psychiatrie und psychologischen Therapie, die sich mit psychischen Problemen beschäf-tigen. Gemeinsam ist diesen Professionen, dass sie sich idealiter an einer systemisti-schen Metatheorie, einschliesslich einer all-gemeinen Handlungstheorie sowie an systemistischen Objekttheorien orientieren, während sie sich gemäss ihrer der unter-schiedlichen Klassen von Problemen, die sie bearbeiten, in den Objektheorien unter-scheiden sowie in den Methoden, mit denen sie die besondere Art von Probleme ihrer Problemssion verhindern, lindern oder lö-sen.

4. Schlussbemerkungen

Als Handlungswissenschaft, sowohl die Rolle des Mentalen bei der Entstehung und Durchführung von Handlungen wie auch deren faktische Wirkungen erklären können muss, ist die Sozialarbeitswissenschaft auf eine Wissenschaftsphilosophie und Philoso-phie der Technologie angewiesen, die mit dem Wissenschaftlichen Weltbild verträg-lich ist. Es gibt gegenwärtig eine (und nur eine) Philosophie der Wissenschaft und Technologie, Wissenschaftlichen Realismus, die in der Lage ist, diese Doppelnatur von Handlungswissenschaften wie der Sozialar-beitswissenschaft gerecht zu werden. Der Wissenschaftliche Realismus ist dabei

3) eine Philosophie der Basiswissenschaf-ten, mit ihren Kernfragen der Beschrei-bung, Erklärung und Prognose,

4) eine Philosophie an Behandlung der klassischen Probleme anschliessende Philosophie der Handlungswissenschaf-

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 18

ten und der Technologie mit ihrer Beto-nung auf praktischen Problemen, Zielen, Methoden und Plänen,

5) ein umfassender metatheoretischer Ap-proach für das theoretische Kernprob-lem der Sozialarbeitswissenschaft, das Integration von verschiedenartigen Ob-jektheorien, namentlich solchen, die Ob-jekte unterschiedlichen ontischer Ni-veaus betreffen,

6) eine Wissenschaftsphilosophie, die mit einer moralisch-realistischen Ethik kor-respondiert, die die Existenz von morali-schen Fakten postuliert, die im Mittel-punkt der Theorie sozialer Probleme stehen, wie sie das SPSA vorschlägt, ei-ner Ethik, die darüber hinaus dem Ty-pus nach systemistisch ist und sich von der individualistischen Utilitarismus wie auch von der holistischen Deontologie abgrenzt und so der Sozialen Arbeit Werte und Prinzipien vorgibt, die mit ihrer sonstigen systemischen Ausrich-tung harmonieren,

7) eine Wissenschaftsphilosophie, die gleichzeitig auch eine Grundlage der auf der Grundlage der realistischen Seman-tik, die mit dem Systemismus harmo-niert, Dimensionierung des kognitiven Apparates erlaubt

Zusammenfassend habe ich die Auffassung verteidigt, dass Soziale Arbeit insoweit eine Profession ist, als sie sich auf die Sozialwis-senschaften als nomologische (und ideogra-fische) Wissenschaften stützt. Die These impliziert, dass alle die heute so modischen idealistischen Absagen an einen nomolo-gisch orientierten Wissenschaftsbegriff und der im Zuge solcher Absagen postulierte methodologische Pluralismus ungerechtfer-tigt sind, da sie auf einem unzureichenden oder falschen Verständnis der Ziele und Verfahren der Faktenwissenschaften beru-hen.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist primär ein handlungstheoretisches und erst sekundär eines der Beziehung zwischen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Die Analyse der Beziehung zwischen der Produktion und Anwendung von Wissen im Rahmen je spezialisierter Organisationen ist ein soziologisches Problem, deren Ergeb-nis nicht nur von der angewandten sozio-logischen Theorie, sondern vor allem von der philosophischen Handlungstheorie ab-hängt, auf die sich die Analyse stützt. Das verbreitete Konfusion dieser beiden Ge-sichtspunkte erklärt zusammen mit den verbreiteten idealistischen Auffassungen der Natur von Wissen und Handeln die Unfruchtbarkeit der meisten Analysen. Oh-ne einen gehaltvollen Wissens- und Wissen-schaftsbegriff auf der Grundlage einer seriö-sen Wissenschaftsphilosophie müssen Ana-lysen der Beziehung zwischen Theorie und Praxis scheitern. Selbstverständlich gilt dies erst recht für das Operieren mit intuitiven Begriffen von Theorie und Praxisals Gegen-sätze, wie dies im Rahmen des Alltagsden-kens verbreitet ist. Eine solche Vorstellung kratzt nicht einmal an der Oberfläche des Problems.

Eine mit dem wissenschaftlichen Wissen harmonierende Auffassung von menschli-cher Praxis sieht diese als durch Kognitio-nen (Wissen) gesteuerten neuro-motorischen Prozess, in dem ein Mensch ein anderes konkretes Ding und im Besonderen einen anderen Menschen absichtlich zu ver-ändern trachtet. Ein solcher Prozess kann bewusst sein oder nicht, er kann im ersten Fall geplant sein oder nicht und er kann sich, wiederum in ersten Fall, an einer Vor-stellung methodischen Handelns orientie-ren. Dies kann eine wissenschaftsbasierte Handlungstheorie sein oder nicht und im

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 19

ersten Fall wissenschaftsbasierte Methoden, d.h. Technologien, involvieren. Professionel-le sind Mitglieder sozialer Systeme (Profes-sionen), die praktische Probleme einer be-sonderen Art auf der Basis einer allgemei-nen Handlungstheorie und unter Zuhilfe-nahme von Technologie zu verhindern, lin-dern oder lösen versuchen. Jede solche Ziel-setzung involviert Werte, die im Falle von Professionen explizit zu machen sind und die im Rahmen einer expliziten Moral („E-thik“) begründet sein müssen.

Bemerkenswert sind die Implikationen des hier entwickelten Verständnisses des Ver-hältnisses von Theorie und Praxis für die Frage nach der Beziehung zwischen All-tagshandeln und professionellem Handeln, im Besonderen im Bereich des Sozialen. Die Fähigkeit zu sozialem Handeln ist natürlich kein Privileg von Professionellen sondern gehört zu den Fertigkeiten, die – mit Bezug auf die vertrauten Akteure der eigenen strukturellen Umgebung die überwiegende Zahl der Menschen erwerben. Sie sind da-durch gleichzeitig mehr oder minder befä-higt, täglich auftretende soziale Problemen genau so zu lösen, wie sie lernen, bestimmte klassen von physikalischen und biologi-schen zu bewältigen. Der Unterschied zum Professionellen ist lediglich der, dass sich erstens dessen Kompetenzen auch auf ihm oder ihr vollkommen unvertrauten Men-schen erstrecken darunter auch zu solchen, die sich an deutlich anderen Werten und kognitiven Bezugssystemen orientieren als sie selber und zweitens, dass er oder sie die (wichtigsten) Mechanismen kennt, die zu den Problemen führen, die ihre KlientInnen aufweisen sowie der Wirkungsweise der Verfahren, mit denen sie diese in der Lö-sung dieser Probleme unterstützen. Die Kenntnisse solcher Mechanismen schützt

Professionelle nicht vor strukturellen Situa-tionen, die ihr eigenes Problemlösungsver-mögen überschreiten und dazu führen, dass sie professionelle oder andere Hilfe benöti-gen.

Wissenschaftstheorie der Wissenschaften der Sozialen Arbeit 20

TeilnehmerInnen am Kolloquium „Zur Wissenschaftstheorie der So-

zialarbeitswissenschaften der Sozialen Arbeit“, FHS Emden, 19./20.

Nov. 2004 mit Interessen an einer Word-Datei des Referats:

Obrecht, W. (2004) Zur Wissenschaftstheorie der Sozialarbeitswissenschaft als integrati-ve Handlungswissenschaft.. Vortrag, gehalten im Rahmen des Kolloquiums »Phi-losophische Grundlagen der Wissenschaften der Sozialen Arbeit« am 19. Novem-ber 2004 an der Fachhochschule Emden, Ostfriesland. (Entwurfsfassung)

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HOCHSCHULE FÜR SOZIALE ARBEIT ZÜRICH

Zur „desolaten Lage der Soziologie“

In einer Einleitung zur Ausschreibung

zu der kommenden Tagung der Sektion

Soziologische Theorie der Deutschen

Gesellschaft für Soziologie heisst esxvi:

„Schon seit einiger Zeit gibt es in der

Soziologie eine ganze Reihe von Stim-

men, die das Leistungsvermögen der

Disziplin, was die theoretische Konsoli-

dierung und praktische Verwendung

anbelangt, nicht besonders hoch ein-

schätzen. Auch aus anderen Disziplinen

und von ausserhalb der Wissenschaft

sieht sich die Soziologie mit ähnlich kri-

tischen Beurteilungen konfrontiert. Als

Gründe für den konstatierten Mangel

werden immer wieder bestimmte Punkte

angeführt:

1. Die fehlende konzeptuelle Einheit der Disziplin, die insbesondere durch ih-ren ungeklärten multiparadigmati-schen Zustand zum Ausdruck kommt und den Eindruck von Beliebigkeit vermittelt.

2. Die fortwährende Auslegungs-Beschäftigung mit ihren Klassikern, die nicht nur für eine mangelnde Wei-terentwicklung, sondern auch für ei-ne Desorientierung der Soziologie als eine Art von Literaturwissenschaft spricht,

3. Die verbreitete essayistische Verfassung vor allem ihrer theoretischen Grund-lagen, die dokumentieren, dass man nicht den Anspruch erfüllen will o-

der kann, eine exakte Wissenschaft zu sein.

4. Die einflussreiche sozialphilosophische Orientierung in der Soziologie, die kein ausgeprägtes Interesse hat daran aufkommen lassen, empirisch orien-tierten Erklärungen sozialen Gesche-hens zu erarbeiten.

Diese Punkte betreffen zentrale Aspekte

einer Selbstverständigung der Soziologie

über ihre Grundlagen. Schon in der Ver-

gangenheit waren sie Thema der grossen

Debatten, in denen es um die Orientierung

der Soziologie ging. Zu denken ist an den

Positivismusstreit, die Verstehen-Erklären-

Kontroverse sowie die Theorie-Vergleichs-

Debatte. Diese Auseinandersetzungen

sind all mehr oder weniger versandet und

haben im Nebel des multiparadigmatischen

Soziologie-Alltags Konturen verloren. Die

Frage nach allgemeinen Kernbestandteilen

der Grundlagen der Soziologie ist weitge-

hend von der Tagesordnung ver-

schwunden. Damit einher geht ein Ver-

lust von Problemperspektiven, der zu der

oben angedeuteten desolaten Lage der

Soziologie mit beigetragen hat. Auch das

Ende der 80er Jahre publizierte Heske-

mer Manifest hat daran nichts Wesentli-

ches geändert.“

Hervorhebungen nicht in Original

HOCHSCHULE FÜR SOZIALE ARBEIT ZÜRICH

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Anmerkungen i Die interessante These, dass der Idealismus lediglich ein Religionsersatz ist, vertritt Stove (Stove, 1991:

87-89), Hervorhebungen im Original: That idealism is a child of religion, needs no argument: ist is ob-vious.An idealist is a person of a philosophical turn of mind, who can no longer stomach either the raw barbarisms of the popular religioni (divine births, marriages, adulteries, wars, deaths, etc.), or the me-taphysical cooking which may suffice, at an intermediate stage, to disguise the pungendy of these pri-mitive materials; but a person, whom, nevertheless, the religious determination to habe the universe gongenial ist still sovereign. (....) All idealist are engagedd, abovbe everythin eles in sartisfying the re-ligious demand for the universe to be reassuring or consoling, or at the very least, kindred. (...) The problem was howto part with the absurdities of Christianity, while keeping cosmic consolation: (....) (F)or those, who combined a powerful religious impulse with the philosophical turn of mind, there was only one possible solution; idealism. That is, something like Berkeley’s pan-spiritualism, as long as it could be freeed from its emarrassing implication of universal hallucination. If Berkeley’s too gazeous world could be solified (so to speak), or at least ‚jellied‘, by being passed through a strong field of Kant-Hegel radiation: that would be the very thing. Let the refugees from Christianity be told, on the highest possible philosophical authority, the Nature is Thougt, that the Universe is Spirit, that the Ab-solute is experience, that the dualism of matter and mind (...) is a superficial one, and ‚ultimeately‘ (as

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the Hegelians loved to say) even a self-contradictory one. That shoud buck them up, as nothing else could.“

ii Genauer geht es bei dieser Frage nicht um den Gegensatz sondern um die Frage, ob die Sozialwissen-schaften über ideografische Ziele auch nach gesetzmässigen sozialen Prozessen suchen oder nicht. Die Verneinung dieser These geht mit der Behauptung einher, dass es im Rahmen sozialer Prozesse keine Gesetzmässigkeiten gebe, da dieses das Ergebnis menschlichen Handelns und dieses wiederum sinn-haft und frei und damit nicht gesetzmässig sei.

iii Nach der einen Auffassung beschäftigen sich die Sozialwissenschaften mit sinnhaftem Handeln von in ihren Handlungsentscheidungen freien Menschen beschäftigen würden und dieses sei, da es nicht er-klärbar, sondern nur verstehbar sei, der wissenschaftlichen Methode nicht zugänglich, sondern bedürfe eigener „qualitativer“ oder „hermeneutischer“ Verfahren. Diese Vorstellung richtet sich namentlich ge-gen „positivistische“ Auffassungen der Soziologie, deren Gegenstand und Problematik der Untersu-chung der Dynamik Sozialer Systeme und das Verhalten von Akteuren in hohem Mass durch solche Systeme determiniert sehen.

iv Ein vierter Gegensatz, der aber weitgehend Teil jenes zwischen Materialismus und Idealismus ist, ist der zwischen Nomianismus und Antinomianismus, der Vorstellung also, wonach die Dinge der Welt in ihrer Herkunft, ihrem Aufbau und in ihrem Verhalten (keinen) Gesetzmässigkeiten unterliegen (Nomianismus-Antinomianismus). Während ideelle Dinge per definitionem keinen Veränderungen unterliegen, sind Gesetzmässigkeiten Eigenschaften materieller Dinge, nämlich die, dass bestimmte ih-rer Eigenschaften in einer invarianten Weise verbunden sind. Gesetzmässigkeiten in Aufbau und Ver-halten von Dingen äusseren sich darin, dass diese sich unter bestimmten Bedingungen nur auf eine be-stimmte Weise verhalten können, während andere Verhaltensweisen ausgeschlossen sind. Das allge-meine Schema ist dies: „Wenn ein Ding die Eigenschaft A hat, dann hat es auch die Eigenschaft B“ (vgl. dazu und für mehr z.B. Bunge & Mahner, 2004: 40ff.). Kausalität ist allerdings nur eine von ge-setzmässigen Arten des Verhaltens (oder Werdens); daneben sind stochastische sowie teleonome Ge-setzmässigkeiten zu unterscheiden.

v Es gibt darüberhinaus Doktrinen, die neben Materie und Ideen oder statt Ideen noch eine weitere Art von Substanz betonen, mitunter sogar einen Monismus auf deren Grundlage, wie namentlich der E-nergetismus (vertreten von Wilhelm Ostwald Ende den 19. Jhd.) oder aktuell der vor allem in den Wis-senschaften verbreitete Informationismus. Zur Kritik vgl. Bunge und Mahner 2004.

vi Dies erklärt sich einerseits daraus, dass diese Phase vor dem Beginn der Erfolgsgeschichte der Neuro-wissenschaften lag, die die philosophische Diskussion dieses Themas auf eine neue wissenschaftliche Basis stellte, zum anderen wohl nicht minder aus dem Umstand, dass die marxistische Sozialtheorie mit ihrem Begriff von materieller Basis und kulturellem Überbau faktisch dualistische und keine ma-terialistische Ontologie vertrat.

vii Bunges breit entwickelte Philosophie der Sozialwissenschaften ist nur ein Teil seiner systemistischen Systemphilosophie, die punkto Breite, Tiefe und Klarheit und systematischem Wissenschaftsbezug einzigartig ist. [Für eine der aktuellen Debatten über Bunge’s Philosophie vgl. Pickel, 2004 #6236; Bun-ge, 2004 #6238; Bunge, 2004 #6301 sowie die verschiedenen Beiträge zu den beiden Ausgaben (Nr. 2 und 3) von Philosophy of the Social Sciences von diesem Jahr)]. Seine Lokalontologie des Sozialen, die von einer sozialwissenschaftlichen Methodologie begleitet ist (Bunge, 1996), harmoniert mit seinen an-deren Lokalontologien wie der Philosophie der Physik (Bunge, 1973), der Biologie (Mahner & Bunge, 2000) und der Psychologie (Bunge & Ardila, 1990) wie auch mit seinen zahlreichen Beiträgen zu ande-ren Bereichen der theoretischen und praktischen Philosophie. Das Hauptwerk Bunges ist der 8-Bändige Treatise on Basic Philosophy (Bunge, 1989b) mit Bänden zur Semantik, Ontologie, Erkenntnis-theorie, Methodologie und Natur- und Sozialtechnologie und zur Ethik. Für eine Sammlung von über 30 Arbeiten zur allgemeinen Ontologie, zur Philosophie der Physik, der Biologie, der Sozialwissen-schaften, der Semantik, der Wissenschaftstheorie, der Ethik und der politischen Philosophie vgl. (Mahner, 2001)

viii Im Original: ökonomische, politische und kulturelle links. Hier zusammengefasst, weil die genannten links bei Bunge links innerhalb von funktionalen Subsystemen von Gesellschaften sind.

HOCHSCHULE FÜR SOZIALE ARBEIT ZÜRICH ix Emergente physikalische Eigenschaften von Dingen sind etwa Durchsichtigkeit (von Flüssigkeiten,

Glas etc. oder (thermodynamisches) Gleichgewicht; biologische sind lebend sein (eine emergente Ei-genschaft von Zellen), Warmblütigkeit), psychische emergente Eigenschaften sind Wahrnehmung oder Gefühle (als emergente Eigenschaften bestimmter Systeme von Neuronen); Beispiele emergenter Eigen-schaften moderner Gesellschaften sind deren funktionale Differenzierung, ihre Differenzierung in Sta-tussubsysteme (Schichtungen) und der Grad der Kristallisation zwischen Status-Subsystemen (Schich-tung), die Kohärenz des Systems, der Typ des politischen Systems und die Geschichte eines sozialen Systems oder – im Falle von Märkten – Knappheit und Preis. Beispiele für emergente Eigenschaften von Akteuren bedingt durch die Einbindung in solche Systeme sind ihre Positionen in Netzwerken, Rollen, Statuskonfigurationen, Bürgerrechte.

xii Was ihre Hervorbringung betrifft, so sind Handlungen eine Klasse von Veränderungen an der Oberflä-

che von Organismen durch innere Prozesse (Bedürfnisse) motiviert sind; sie zielen auf die Verände-rung des Zustandes des eigenen Organismus oder von solchen in seiner Umwelt (U=df). Das Folgende sieht allerdings ab von der Frage der Motivation und interessiert sich ausschliesslich die Art der Hand-lungssteuerung, d.h. die Interaktion zwischen neuro-motorischen Operationen und Kognition.

xiii Religion kann definiert werden als „...der Glaube an numinose Wesenheiten personalen oder imperso-nalen Charakters – Götter, Geister, Dämonen, Engel oder göttliche Mächte –, die bestimmte Eigenschaf-ten und Wirkungsmöglichkeiten haben und daher für das Schicksal der Menschen um damit auch für ihr Heil von Bedeutung sind, und (...) eine damit verbundene Praxis der Mitglieder der betreffenden Gruppen, die geeignet ist, der Macht dieser Wesenheiten Rechnung zu tragen und sie im Sinne des ei-genen Heils zu beeinflussen, also eines Kultur, der durch eine Heilstechnologie geprägt ist“ (Albert, 2000: 142).

xiv Für die Rolle von nomologischen Theorien bei der Erzeugung von wissenschaftlichen Interventions-theorien (=technologischen oder Handlungstheorien) vgl. Obrecht 1996a, Kap. II.7.

xv Dies im Unterschied zum älteren und in der Soziologie verbreiteten Begriff sozialer Probleme als Rate von Mitgliedern eines Systems, die den Zustand des Systems in mindestens einer Hinsicht als proble-matisch betrachten. Diese Rate ist eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass es in einer Gesellschaft zur Institutionalisierung professioneller Sozialer Arbeit kommt.

xvi Greshoff, R. (2003). Methodologien, Perpektiven, Modelle – Was erklärt die Soziologie? Zur Herbstta-gung der Sektion "Soziologische Theorie" der DGS, 21.-22.11.2003 in Hagen. Kölner Zeitschrift für Sozio-logie und Sozialpsychologie, 55(2), 412f.