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Prof. Dr. Peter Gallmann Jena, März 2007

Laut-Buchstaben-Beziehungen III: s-Schreibung

Es gibt zwei s-Laute im Deutschen:

– Der eine s-Laut wird schwach gesprochen, in der Standardsprache stimmhaft, das heißt als [z] = stimmhafte Lenis, in der mittel- und oberdeutschen Umgangssprache meist stimmlos als [z.] = stimmlose Lenis.

– Der andere s-Laut wird stark, das heißt als stimmlose Fortis gesprochen: [s].

Die folgenden Regeln sind hierarchisiert (das heißt, die nachgeordneten Regeln decken nur diejenige Fälle ab, die von den vorangehenden Regeln noch nicht entschieden worden sind). Sie gelten innerhalb einzelner Morpheme. Wie einfache Morpheme zählen: 1. Verbindungen mit unsilbischen Suffixen, 2. Verbindungen mit vokalisch anlautenden Suffixen.

(Zur Lautschrift: Der Ersatz von Schwa plus Sonorant durch silbische Sonoranten in der Um-gangssprache ist vernachlässigt.)

1. In Clustern mit Obstruenten steht [s], geschrieben ‹s›:

‹Skelett› = [ske"lEt], ‹Xylophon› = [ksylo"fo…n], ‹Psyche› = ["psy…ç´], ‹hopsen› = ["hOps´n], ‹Rätsel› = ["RE…ts´l], ‹wachsen› = ["vaks´n], ‹Kasten› = ["kast´n], ‹Knospe› = ["knOsp´]

2. In Clustern des Typs s-Laut plus Sonorant steht [s], geschrieben ‹s›:

‹Snob› = [snOp], ‹Sri Lanka› = [sri…"laNka], ‹Bosnien› = ["bOsni´n], ‹Osmose› = [Os"mo…z´], ‹Israel› = ["Israe…l]

3. In Clustern des Typs Sonorant plus s-Laut steht [z], geschrieben ‹s›:

‹Pinsel› = ["pInz´l], ‹emsig› = ["EmzIç], ‹Hirse› = ["hIRz´], ‹Hülse› = ["hYlz´] (Aber nach Regel 1: ‹garstig› = ["gaRstIç], ‹günstig› = ["gYnstIç])

– Aber mit Auslautverhärtung [z] → [s]:

‹Gans, Gänse› = [gans, "gEnz´], ‹Puls, pulsieren› = [pUls, pUl"zi…R´n]

4. Ein einfacher s-Laut am Anfang eines silbischen Morphems wird [z] gesprochen und ‹s› geschrieben:

‹Sonne› = ["zOn´], ‹subsidiär› = [zUpzidi"E…R], ‹Schicksal› = ["SIkza…l], ‹wachsam› = ["vaxza…m]

5. Ein einfacher s-Laut nach einem kurzen Vokal wird als stimmlose Fortis realisiert. Wenn ein weiterer Vokal folgt, ist er ambisyllabisch. Neue Schreibung: ‹ss› (gleiche Regelung wie bei ‹ff›, ‹tt› usw.; früher: stellungsbedingt teils ‹ss›, teils ‹ß›):

‹Pass› = [pas], ‹Pässe› = ["pEs´]; ‹passen› = ["pas´n], ‹es passt› = [Es past]; ‹passieren› = [pa"si…R´n] (Früher: ‹Paß, Pässe; passen, es paßt; passieren›)

– Ausnahmen in der Rechtschreibung (analog zu den allgemeinen Verdoppelungsregeln):

‹bis›, ‹es›, ‹das›, ‹was›, ‹des› (aber regelhaft: ‹dessen›), ‹wes› (aber: ‹wessen›)

‹Geheimnis› (aber regelhaft: ‹Geheimnisse›, ‹hineingeheimnissen›, ‹sie geheimnisst hin-ein›), ‹Globus› (aber: ‹Globusse›)

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Laut-Buchstaben-Beziehungen III: s-Schreibung 2

– Nach Schwa [´] steht am Wortausgang nur ‹s›:

‹des Baumes› = [dEs "baum´s], ‹die Kirmes› = [di… "kIRm´s], ‹Neviges› (Nordrhein-Westfalen) = ["ne…vIg´s]

6. Ein einfacher s-Laut nach einem langen Vokal oder einem Diphthong wird je nachdem als [z], geschrieben ‹s›, oder als [s], geschrieben ‹ß›, realisiert:

‹Muse› = ["mu…z´], ‹reisen› = ["RaIz´n] ‹Muße› = ["mu…s´], ‹reißen› = ["RaIs´n]

– Die Unterscheidung wird in weiten Bereichen des deutschen Sprachraums nicht beachtet; es wird dann einheitlich stimmlose Lenis gesprochen: [z.].

– Mit Auslautverhärtung [z] → [s]:

‹Glas, Gläser› = [gla…s, "glE…zå]; ‹Haus, Häuser› = [haUs, "hOYzå]

Fazit

Die s-Varianten stehen standardsprachlich in weitgehend komplementärer Distribution, das heißt, sie lassen sich als Allophone eines einzigen s-Phonems auffassen. Einzig nach langen Vokalen und Diphthongen stehen sie in Opposition (in der Schreibung: ‹s› versus ‹ß›).

Zur Schreibung

– Der Normalfall für die s-Schreibung ist einfaches ‹s›.

– Die Verdoppelung ‹ss› tritt immer dann auf, wenn nach den allgemeinen Verdoppelungs-regeln zu erwarten.

Die Ausnahmen (und die Ausnahmen von den Ausnahmen) sind von der gleichen Art wie bei den allgemeinen Verdoppelungsregeln, zum Beispiel bei Funktionswörtern und Suffi-xen: ‹bis› (vgl. ‹mit›, ‹von›); ‹des› vs. ‹dessen› (vgl. ‹in› vs. ‹innen›); ‹dass› (vgl. ‹dann›); ‹-nis› vs. ‹-nisse› (vgl. ‹-in› vs. ‹-innen›).

Sonderproblem (Grundlage: nicht Lautprinzip, sondern Homonymieprinzip): ‹das› vs. ‹dass›.

– Das Eszett ‹ß› erscheint im einzigen Kontext, wo standardsprachlich eine Opposition zwi-schen zwei s-Lauten besteht, nämlich für den einfachen stimmlosen s-Laut nach Langvo-kalen und Diphthongen.

Anhang

– Minimalpaare ‹s› [z] versus ‹ß› [s]: ‹Geisel› / ‹Geißel›; ‹gries(grämig)› / ‹Grieß›; ‹kreisen› / ‹kreißen›; ‹lies› / ‹ließ›; ‹Muse› / ‹Muße›; ‹reisen› / ‹reißen›; ‹weis[e]› / ‹weiß› (Adjek-tiv), ‹weiß› (Verbform)

– Minimalpaare ‹ss› [s] versus ‹ß› [s]: ‹Busse› / ‹Buße›; ‹Masse› / ‹Maße›; ‹(sie) flössen› / ‹(Holz) flößen›, ‹ruß-› / ‹russ-› (zum Beispiel: ‹rußig› / ‹russisch›)

– Schwankende Aussprache: ‹das Geschoss› [O] / ‹das Geschoß› [o…]; ‹Löss› [{] / ‹Löß› [P…]; ‹Spass› [a] / ‹Spaß› [a…] (Variante ‹Spass› allerdings aus unbekannten Gründen stan-dardsprachlich nicht anerkannt).