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2005 1 Aargauer Mittelschullehrerinnen- und Mittelschullehrer-Verein aktuell Sonderheft Gymnasium – wohin?

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Gymnasium – wohin? amv-aktuell Sonderheft 2005/1 Inhalt Editorial 3 Stefan Läderach Das Gymnasium im Stress 4 Prof. Dr. Lucien Criblez Auf zu einem modernen Gymnasium! 13 Regierungsrat Rainer Huber Der Anspruch an die gymnasiale Bildung aus universitärer Sicht 17 Dr. Hans Weder Was erwartet die Wirtschaft von der Mittelschule? 19 Dr. Andreas Lauterburg Gymnasium und Universität: entfremdete Geschwister 22 Hans Peter Dreyer Das Gymnasium der Zukunft: Scheinprobleme und echte Aufgaben 28 Dr. Jürgen Oelkers Zur gesellschaftlichen Rolle des Gymnasiums 38 Stefan Läderach Postulate für das Gymnasium 40 KSGR (Konferenz der Schweizerischen Gymnasialrektoren)

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amv-aktuell Sonderheft 05/1 3

Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Seit bald vier Jahrzehnten befindet sich die Mittelschule in einem umfassenden Umgestaltungsprozess, ausgelöst und in Gang gehalten durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Demokratisierungs-bemühungen einerseits und den Bedürfnissen der Wirtschaft nach erheblicher Vergrösserung des Kader-nachwuchses auf der anderen Seite - eine Entwicklung, die sich, je nach Blickrichtung, als Erfolgsge-schichte oder als Verlustgeschichte interpretieren lässt.

Einer höchst erfolgreichen Anpassung an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernisse durch geographische Expansion und zunehmende Differenzierung des gymnasialen Angebots steht ein zuneh-mender Verlust an Identität und Exklusivität gegenüber. Die Bildungslandschaft hat sich grundlegend gewandelt: Das Gymnasium ist nicht mehr der alleinige Königsweg für den Hochschulzugang, die Be-rufsmaturität stellt eine ernst zu nehmende Alternative zum gymnasialen Angebot dar, während die Fachmittelschulen versuchen, einen mittleren Weg zwischen Praxisorientierung und Allgemeinbildung zu gehen. Gleichzeitig scheint immer weniger klar zu sein, was „gymnasiale Bildung“ heute bedeutet und wie das Gymnasium auf die Entwicklungen im Hochschulbereich antworten kann, um seine Schülerinnen und Schüler optimal auf das Studium vorzubereiten und weiterhin den allgemeinen Hochschulzugang so weit als möglich garantieren zu können.

Der Vorstand des AMV freut sich, Ihnen mit der vorliegenden Sondernummer des „AMV-aktuell“ eine Auswahl profilierter Analysen und Positionen höchst kompetenter Autoren zur Entwicklung des Gymna-siums vorlegen zu können. Einen Anspruch auf Originalität erheben wird damit nicht: Vielleicht werden Sie hier oder da einen Artikel finden, den Sie ganz oder teilweise bereits andernorts gelesen haben, und den Beitrag von L. Criblez („Das Gymnasium im Stress“) haben wir sogar bereits im „AMV-aktuell“ 2000/2 publiziert. Wenn wir ihn hier nochmals abdrucken, so einerseits, weil der Artikel schon beinahe als „Klas-siker“ bezeichnet werden kann, andrerseits aber auch, weil Herr Criblez als Hauptreferent an unserer bevorstehenden Jahresversammlung den Faden wieder aufnehmen und weiterspinnen wird.

„Gymnasium wohin?“ – die Fragestellung liegt in der Luft, angesichts des Spardrucks, der auch in unse-rem Kanton bereits zu einem schmerzhaften Abbau des gymnasialen Angebots geführt hat. Und sie drängt sich auf, wenn im Entwurf zu einem eidgenössischen Bildungsrahmenartikel das Gymnasium schlicht nicht erwähnt wird und in den Veröffentlichungen der EDK die „Idee Sekundarstufe II“ zuneh-mend als das Konzept der Zukunft postuliert wird.

„Gymnasium wohin?“: Denselben Titel wie unser Heft trägt auch ein angekündigtes Referat von Prof. Peter Bonati anlässlich des bevorstehenden Kongresses 2005 von VSG (Verein schweizerischer Gymna-siallehrerinnen und Gymnasiallehrer) und BCH (Berufsbildung Schweiz) in Zürich, der unter dem Titel steht: „Unterrichten auf der Sekundarstufe II im Jahr 2005. Was? Warum? Wie? Mit welchen Mitteln?" Peter Bonati, der langjährige Direktor der Abteilung für das Höhere Lehramt an der Universität Bern, hat sich angesichts der (unbeabsichtigten) Koinzidenz spontan bereit erklärt, in der nächsten regulären Nummer des AMV-aktuell die gemeinsame Fragestellung nochmals aufzugreifen und auf der Basis seiner neueren Forschungsergebnisse weiterzuentwickeln.

Mit Blick auf die Breite und Verschiedenartigkeit der abgedruckten Positionen braucht wohl kaum beson-ders betont zu werden, dass die einzelnen Artikel nicht unbedingt die „Meinung des Vorstandes“ – etwa im Sinne eines gemeinsamen Nenners – widerspiegeln. Das vorliegende Heft hat seinen Zweck dann erfüllt, wenn es die Diskussion um die gesellschaftliche Funktion des Gymnasiums in den Lehrerzimmern und in der aargauischen Bildungspolitik neu anzuregen und zu beleben vermag.

Allen Autoren sei an dieser Stelle für ihre Abdruckgenehmigung herzlich gedankt. Reaktionen von Ihrer Seite, liebe Leserin, lieber Leser, sind hoch willkommen! Stefan Läderach

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4 amv-aktuell Sonderheft 05/1

Das Gymnasium im Stress

Prof. Dr. Lucien Criblez

Privatdozent am Pädagogischen Institut der Universität Zürich, heute Leiter des Instituts "Wissen & Ver-mittlung" der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz Referat anlässlich der Veranstaltung "Gymnasium im Stress" des VPOD Zürich Lehrberufe, Gruppe Mit-telschulen, am 15. Juni 2000 in Zürich, überarbeiteter Text

1. Einleitung Als 1829 die stadtbernische

Realschule1 eröffnet wurde, wehrte sich einer der Promotoren dieser Schule, der Naturwissen-schaftler Bernhard Studer, gegen überkommene Ansichten im Be-reich gymnasialer Bildung, näm-lich gegen die "Ansicht, dass die Erlernung der alten Sprachen der einzige Weg zu allgemeinerer und höherer Geistesbildung überhaupt sei, dass eine weite, nie auszufüllende Kluft die Phi- lologen und durch Philologie Gebildeten von der übrigen Menschheit trenne, und alle Fort-schritte wahrer Cultur an die Alleinherrschaft der klassischen Sprachen in den Schulen noth-wendig gebunden sei" (Studer 1829, S. 24-25). Das historische Zitat zeigt am Beispiel der Einführung von Realgymnasien schön, dass die Definitions- und Abgrenzungs-probleme der Institution Gymna-sium nicht erst vor kurzem be-gonnen haben, sondern sich be-reits bei der Begründung des "modernen" Gymnasiums in den 1830er Jahren stellten. Dies hat einen einfachen Grund: Die Ein-heit des Bildungskanons zerfällt. Während das kirchlich-dogma-tisch bestimmte Gymnasium sich an einem solchen einheitlichen Kanon orientieren konnte, zer-brach die Einheit, als das Gym-nasium auf das reale Leben und auf Hochschulen vorbereiten

1 Die stadtbernische Realschule war

das erste bernische Realgymnasium (vgl. Lüscher 1880). In vielen Kanto-nen, so auch im Kanton Zürich, wur-den die Realgymnasien zunächst In-dustrieschulen genannt.

sollte, die ihrerseits ihre Absol-venten an einen Arbeitsmarkt, der differente und nutzbare Qua-lifikationen verlangt, abgeben müssen. Das Problem begleitet das Gym-nasium immer noch. Die Verän-derungen der Institution Gymna-sium werden im Folgenden je-weils jedoch nicht bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt. Der Zugang ist ein zeitgeschichtli-cher, im Zentrum stehen die in-stitutionellen Entwicklungen seit 1950. Zunächst sind jedoch drei Vorbemerkungen notwendig. Daran schliesst der Hauptteil in fünf Thesen an: ein Überblick über die wichtigsten Verände-rungen der Institution Gymnasi-um. Drittens werden einige Kon-sequenzen aus der institutionel-len Entwicklung für das Lehrper-sonal aufgezeigt. Einige zu-kunftsorientierte Überlegungen auf dem Hintergrund der Analy-sen schliessen den Text ab. Zunächst aber zu den drei Vor-bemerkungen: 1. Das Folgende ist keine Ge-schichte des Gymnasiums der

letzten fünfzig Jahre2. Viel eher geht es darum, thesenartig auf einige zentrale institutionelle Veränderungen hinzuweisen und diese Veränderungen in allge-meinen bildungspolitischen Ten-denzen zu verorten.

2 Eine solche Geschichte für die

Schweizer Gymnasien, die nicht an einer einzelnen Institution oder einem einzelnen Kanton orientiert ist, fehlt bislang. Es existieren lediglich zwei Überblicke über die Gymnasialpolitik, fokussiert auf die eidgenössische Maturitäts-Anerkennungsverordnung (vgl. Vonlanthen/ Lattmann/Egger 1978, Meylan 1996).

2. Der Titel des Referates "Das Gymnasium im Stress" suggeriert etwas Unmögliches. Natürlich kann das Gymnasium als Institu-tion nicht im Stress sein. Stress ist ein Phänomen, dass Perso-nen vorbehalten ist. Im Stress ist also allenfalls das Personal des Gymnasiums, sind die Lehrerin-nen und Lehrer des Gymna-siums, nicht die Institution selbst. Der Titel – so formuliert – enthält aber auch eine These. Sie lautet: Ein Teil der Belastung, denen Gymnasiallehrkräfte heute aus-gesetzt sind, hängt mit dem in-stitutionellen Wandel des Gym-nasiums, mit der Institution zusammen. Daneben existieren sicher weitere, individuelle Bela-stungsfaktoren, die mit der je spezifischen Biographie, der Lebens- und Arbeitssituation einzelner Lehrerinnen und Lehrer zu tun haben. Diese individuellen Belastungsfaktoren sind nicht Thema des folgenden Textes, der sich auf diejenigen Faktoren konzentriert, die durch die insti-tutionellen Veränderungen be-dingt sind, also alle Gymnasial-lehrerinnen und Gymnasiallehrer in ähnlicher Weise betreffen. 3. Forschung zum Gymnasium fehlt in der Schweiz im Moment fast vollständig – das ist vielleicht auch schon ein Teil der Diagno-se. Die Bildungsforschung muss das Gymnasium als Thema zu-nächst entdecken – und das Gymnasium muss bereit sein, Forschung zuzulassen. Was im Folgenden präsentiert wird, sind deshalb vorläufige Analysen. Dabei steht die Analyse im Vor-dergrund, auch wenn abschlies-send einige Perspektiven aufge-zeigt werden. Ohne seriöse Analyse ist wenig gewonnen, erst

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aufgrund einer seriösen Analyse der Entwicklungen kann über-haupt über mögliche Handlungs-strategien nachgedacht werden. Die Analysen sollten deshalb fortgesetzt werden. 2. Veränderungen der Insti-tution Gymnasium seit 1950

These 1: Das Selbstverständnis und die Zielsetzung des Gymna-siums hat sich von der Wissen-schaftspropädeutik zur Allge-meinbildung verschoben.

Diese Entwicklung ist von unter-schiedlichen Faktoren abhängig, die hier nicht alle ausgeführt werden können. Ganz grob lässt sich aussagen, dass sich das Gymnasium bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts als wissen-schaftliche Institution verstanden hat. Seine Haupt-, ja eigentlich seine ausschliessliche Aufgabe war die Vorbereitung junger Menschen auf die Universität und damit auf die Wissenschaft. Der Veränderungsprozess, der un-gefähr in den 1950er Jahren beginnt, relativiert die Bedeutung der wissenschaftlichen Propä-deutik zunehmend und ersetzt die wissenschaftliche Zielsetzung durch diejenige der Allgemeinbil-dung. Unter anderem spielen die folgenden drei Faktoren eine wichtige Rolle: • Die Differenzierung und Spe-

zialisierung der wissen-schaftlichen Disziplinen macht eine spezifische Wis-senschaftspropädeutik immer

schwieriger3, ein Ausweichen auf das "Allgemeine" scheint deshalb durchaus funktional.

• Der Ausbau der Gymnasien seit der Bildungsexpan-sionsphase ab Mitte der 1950er Jahre hat das Gym-nasium mit neuen Schüler-

3 Wobei man nicht vergessen darf,

dass das Gymnasium auch vor 1950 immer nur auf ein eingeschränktes Studienangebot vorbereitet hat, schwerpunktmässig auf die Studien-richtungen der philosophisch-historischen und der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten.

kategorien konfrontiert, was sich längerfristig auf die Ziel-definition auswirkte.

• Die Pädagogisierung und Didaktisierung der Lehrerbil-dung an den Universitäten hat eine neue Generation von Mittelschullehrkräften an die Gymnasien gebracht, de-ren Zielsetzungen und Aspi-rationen weniger im wissen-schaftlich-inhaltlichen Be-reich und mehr im pädago-gisch-didaktischen Bereich liegen. Zugespitzt formuliert: Die Professoren an den Gymnasien werden allmäh-lich durch Lehrer und Lehre-rinnen abgelöst.

Ablesen lassen sich diese Ent-wicklungen u.a. an den Jahres-berichten der Kantonsschulen und Gymnasien, in denen die wissenschaftlichen Beilagen ver-schwunden sind, an der Zeit-schrift der Profession, dem "gymnasium helveticum", das sich von einem Organ mit wis-senschaftlichem Anspruch zu einem Verbandsorgan entwickelt hat, oder ganz einfach daran, dass für Mittelschullehrkräfte in Zukunft der Professorentitel nicht mehr üblich sein wird. Letztlich findet diese Entwicklung ihren Ausdruck in der neuen Verord-nung des Bundesrates bzw. dem Reglement der EDK über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen vom 16. Januar bzw. 15. Februar 1995 (MAR). In Art. 5, einem ausführli-chen Zielartikel, finden sich ge-rade noch zwei schwache Hin-weise auf die Funktion des Gym-nasiums als wissenschaftspro-pädeutischer Institution: Zum einen: "Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener per-sönlichen Reife, die Vorausset-zung für ein Hochschulstudium ist ..." (MAR 1995, Art. 5, Abs. 1; Hervorh. LC). Beachtenswert ist, dass hier nicht von wissenschaft-licher Vorbereitung auf das Hochschulstudium, sondern von "persönlicher Reife" als "Voraus-setzung für das Hochschulstudi-um" die Rede ist. Zum zweiten formuliert das Anerkennungs-

reglement das Ziel der "Einsicht in die Methodik wissenschaftli-cher Arbeit" (MAR 1995, Art. 5, Abs. 2). Die Wissenschaftspro-pädeutik bezieht sich also auf die Arbeitsmethoden, nicht aber auf die Inhalte. Wenn die Wissenschaftspropä-

deutik kaum mehr vorkommt4: Wie lässt sich dann die Zielset-zung des Gymnasiums definie-ren? Die Tendenz zielt wie er-wähnt in Richtung Allgemeinbil-dung, wobei Allgemeinbildung auch nur teilweise inhaltlich ver-standen wird. Im Vordergrund steht offensichtlich die Persön-lichkeitsbildung. Dies hat u.a. mit der Pädagogisierung und der Didaktisierung des Gymnasiums zu tun, die wiederum nur auf dem Hintergrund der Entwicklung von der Eliteinstitution hin zum Mas-sengymnasium verständlich wird. Aber noch ein weiteres Phäno-men scheint in diesem Zusam-menhang bemerkenswert: Das Bildungsziel des Gymnasiums, wie es im Anerkennungsregle-ment formuliert ist, ist kaum un-terscheidbar von demjenigen der Diplommittelschulen oder der Berufsmittelschulen. Von letzte-rem unterscheidet es vor allem ein Nebensatz, dass nämlich die Schulen keine fachspezifische oder berufliche Ausbildung an-streben (MAR 1995, Art. 5, Abs. 1). Mit andern Worten: Das Gymnasium wird von seiner Ziel-setzung her von andern Ausbil-dungsgängen der Sekundarstu-fe II immer weniger unterscheid-bar. Seine Zielsetzung ist Allge-meinbildung, verstanden als Per-sönlichkeitsbildung – und nicht mehr wissenschaftliche Propä-deutik. Allgemeinbildung ist je-doch auch Zielsetzung der Di-

plommittelschulen5 und wird mit 4 In der Maturitätsanerkennungsverord-

nung vom 22. 5. 1968 (MAV) heisst es z.B. noch explizit: "Ziel der Matu-ritätsschulen aller Typen ist die Hoch-schulreife" (MAV 1968, Art. 7, Abs.1).

5 In den Richtlinien f. die Anerkennung

der Diplome von Diplommittelschulen (RAD) ist explizit als Ziel formuliert: "Sie vermitteln eine wirklichkeitsnahe Allgemeinbildung..." (EDK 1987, S.6)

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der Veränderung der Arbeitswelt

auch für die Berufsbildung6 im-mer wichtiger. These 2: Das Massengymnasium hat das Elitegymnasium abgelöst.

Die Bildungsexpansion, die in den 1950er Jahren einsetzte, hat das Gymnasium fundamental verändert. Sie zeitigt quantitative und qualitative Folgen, die das Selbstverständnis des Gymna-siums massgeblich verändern. Dieser Prozess der Bildungsex-pansion lässt sich zumindest in drei Teilprozesse aufgliedern: • Dezentralisierung der Mittel-

schulen7: Am deutlichsten wird die Expansion, wenn man sich die Standorte der Gymnasien vor Augen führt. Bis Mitte des 20. Jahrhun-derts verfügte zum Beispiel der Kanton Zürich über 3 Mit-telschulstandorte: die Kan-tonsschule in Zürich, die Töchterschule in Zürich und die Kantonsschule in Win-terthur – sowie, wenn man sie dazu rechnen will, die Kantonsschule Küsnacht, die bis Ende der 1930er Jahre kantonales Lehrerseminar war. Den Vergleich mit der heutigen Standortsituation braucht man wohl nicht aus-zuführen.

• Neben dieser Dezentralisie-rung ist selbstverständlich auf den quantitativen Ausbau hinzuweisen. Die Zahl der Zürcher Mittelschülerinnen und Mittelschüler hat sich zwischen 1950 und 1980 mehr als verdreifacht (1950: 4'060; 1980: 13'878; vgl. Im-hof/Delmore/Ottiger 1984, S.

6 Hier wird das Anliegen der Allge-

meinbildung zum Teil unter dem Schlagwort "Schlüsselqualifikationen" diskutiert (vgl. Gonon 1996, Weber 1993).

7 Die Dezentralisierung der Mittel-

schulen ist bislang vor allem für die Kantone Aargau und Zürich be-schrieben worden; vgl. Gretler 1993, Imhof/Delmore/Ottiger 1984.

24). Die Maturitätsquote8 ist gesamtschweizerisch von 10.6% im Jahre 1980 auf 17.5% im Jahre 1998 gestie-gen (Bundesamt für Statistik 1999, S. 4/13).

• Drittens wurden die Gymna-sien vor allem unter dem Aspekt der Begabtenförde-rung auch für neue Bega-bungstypen geöffnet. 1968 wurde der Maturitätstyp C als vollwertige Matur anerkannt, 1972 die Typen D (neu-sprachlicher Typ) und E (Wirtschaft). Zudem wurden mit den Unterseminaren bzw. den Lehramtsschulen im Kanton Zürich ähnlich wie in andern Kantonen musisch-pädagogische Gymnasien geschaffen, denen bis zur Reform der Maturitäts-Anerkennungsverordnung 1995 allerdings die eidge-nössische Anerkennung ver-wehrt blieb. Der Ausbau er-folgte also nicht nur quantita-tiv und durch Dezentralisie-rung, sondern auch im Sinne der Rekrutierung neuer Be-gabungspotentiale und neuer Begabungstypen.

Dieser Ausbau bewirkte, dass sich das Gymnasium vom Elite-gymnasium zum Massengym-nasium wandelte – auch wenn dieser Wandel in den Köpfen vieler Politikerinnen und Politiker, aber auch vieler Gymnasiallehr-kräfte noch nicht vollzogen ist. Der Mentalitätswandel dauert offensichtlich immer länger als der institutionelle Wandel. Geht man von einem seit dem 2. Weltkrieg steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften aus, ist der Wandel durchaus funktional. Vergleicht man die Entwicklung international (z.B. die vergleichende OECD-Statistik zur Sekundarstufe II in OECD

8 Das Bundesamt für Statistik definiert

die Maturitätsquote als Anteil der jährlich ausgestellten Maturitätszeug-nisse bezogen auf die 19jährige ständige Wohnbevölkerung in der Jahresmitte (Bundesamt für Statistik 1999, S. 6).

2000, S. 153), ist davon auszu-gehen, dass sie in dieselbe Richtung weitergeht. Die Ten-

denz zur Entberuflichung9 auf dem Arbeitsmarkt spricht zudem für eine weitere Förderung der Allgemeinbildung und gegen spezialisierte Ausbildungsgänge in der Berufsbildung. Ob der quantitative Ausbau das Anspruchsniveau der Gymnasien gesenkt hat, ist strittig und lässt sich kaum beurteilen, weil seriö-se historische Vergleichsdaten fehlen. Unsicher bleibt auch, inwiefern die benachteiligten Gruppen heute einen besseren Zugang zum Gymnasium haben als noch vor 50 Jahren, was mit der Bildungsexpansion explizit angestrebt wurde (vgl. Lamprecht/Stamm 1996 und 1997, Lévy et al. 1997). Profitiert haben sicher die Frauen: Die Maturitätsquote ist gesamt-schweizerisch seit 1993 höher als bei den Männern (1998: Frauen 18.7%; Männer 16.5%; vgl. Bundesamt für Statistik 1999, S. 12/13). Jugendliche aus Randregionen haben sicher von der Dezentralisierung profitiert, aber auch von den verbesserten Möglichkeiten der Mobilität und vom Siedlungsstrukturwandel. Weiter haben Jugendliche katho-lischer Konfession profitiert, dies aber vor allem wegen der allge-meinen Relativierung der Be-deutung religiöser Kontexte im gesellschaftlichen Leben. Wenig profitiert haben sicher Kinder und Jugendliche aus niederen Sozi-alschichten. Sicher ist jedenfalls, dass die Expansion die Zusammenset-zung der Schülerschaft verändert hat und diese Veränderungen sich auf das Selbstverständnis des Gymnasiums ausgewirkt haben – auch wenn der Wandel

9 Mit Entberuflichung ist die Tendenz

gemeint, dass für viele Berufe immer weniger spezialisiertes Know-how verlangt wird, sondern allgemeine Qualifikationen wie etwa die Anwen-dung von Informationstechnologien oder das Beherrschen von Fremd-sprachen (insbesondere des Engli-schen).

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in den Köpfen noch nicht unbe-dingt vollzogen ist. Sicher ist auch, dass die "geschützte Plat-zierung" von Eliten (Oelkers 1998, S. 147) im und durch das Gymnasium, die davon abhängig war, dass die Gymnasialquote eng gehalten werden konnte, nicht mehr funktioniert. Ob die Öffnung des Gymnasiums jedoch tatsächlich die geschützte Plat-zierung von Eliten verhindert oder ob diese sich nicht einfach verlagert hat (an die Hochschu-len), kann im Moment nicht ab-schliessend beurteilt werden. Ein letzter Punkt: Die Öffnung des Gymnasiums für neue Bega-bungstypen in den 1960er und 70er Jahren zeigt, dass das Gymnasium in der Lage war, institutionell auf die Herausforde-rung des grossen gesellschaftli-chen Bedarfs an wissenschaftli-chem Nachwuchs zu reagieren. Das den Gymnasien zu Grunde liegende einseitige Begabungs-konzept wurde dadurch erweitert. Die seit einigen Jahren wieder andauernde Begabtendiskussion ist dagegen sehr individualistisch geprägt, und es gehört vielleicht zu den Problemen des heutigen Gymnasiums, dass es noch kaum in der Lage war, darauf institutionell zu reagieren. These 3: Das Gymnasium, einst mit der Universität zusammen die "Kro-ne" des Bildungswesens, verliert seine herausragende Position im Bildungssystem.

Gymnasium und Universität wur-den von den liberalen "Erfindern" des modernen Bildungssystems in den 1830er Jahren und lange darüber hinaus als "Krone" des Bildungssystems konzipiert. Der quantitative Ausbau von Gymna-sium und Universität hat sicher den gesellschaftlichen Wert der Maturitätszeugnisse relativiert. Gleichzeitig ist zumindest auf drei weitere Entwicklungen hin-zuweisen, die den gesellschaftli-chen Wert der Maturitätszeug-nisse und damit das gesell-schaftliche Ansehen des Gymna-siums vermindern:

• Zunächst ist mit der Einfüh-rung der Berufsmittelschule bzw. der Berufsmaturitäten eine Institution entstanden, die mit dem Gymnasium in einen Konkurrenzkampf um gute Schülerinnen und Schüler getreten ist. Auf Pla-katwerbungen ist etwa zu le-sen: "In der Lehre kommst Du ins Studieren. Berufsma-turität – Praxis macht Schu-le" (vgl. dazu Moser-Léchot/Stalder/Ritter 2000). Auch wenn immer wieder beteuert wird, dass sich die Promotion für die Berufsma-turität nicht gegen die Gym-nasien richtet, bleibt es ein explizites bildungspolitisches Ziel, nicht noch mehr Schüle-rinnen und Schüler aus der Berufslehre an die Gymnasi-

en zu verlieren10. • Zweitens: Die Einführung von

Berufsmaturität und Fach-hochschulen vollendet eine Entwicklung, die sich seit längerer Zeit abzeichnete: Das Bildungssystem ist nicht mehr hierarchisch pyrami-denförmig organisiert, wobei Gymnasium und Universität die Spitze der Hierarchie bil-den, sondern es hat sich zu einem bifurkalen System entwickelt, zu einem System mit zwei Spitzen, den Uni-versitäten einerseits, den Fachhochschulen anderer-seits. Auch wenn der Zugang zu den Fachhochschulen für Inhaberinnen und Inhaber von Maturitätszeugnissen mit entsprechendem Praxisjahr gewährleistet ist, machen die politischen Verlautbarungen doch immer wieder deutlich, dass der Königsweg in die

10

Die Dachorganisation der Rektoren-konferenzen aller Vollzeitmittelschu-len in der Schweiz (TRI S2) hat in-zwischen das Ziel des Bundesrates einer Plafonierung der Zahl der Stu-dierenden an den traditionellen Hochschulen und die Vernachlässi-gung der auf Allgemeinbildung aus-gerichteten Vollzeitschulen der Se-kundarstufe II kritisiert (TRI S2 2000, S. 11/12).

Fachhochschulen über die Berufsmaturität und nicht über die allgemeinbildende Maturität führen soll (vgl. da-zu z.B. den neuen "Fach-hochschulführer Schweiz"; Schweizerischer Fachhoch-schulrat 2000, S. 8). Die eid-genössischen Räte haben in der Sommersession 2000 mit der Überweisung einer Mo-tion, welche die Einführung einer Fachprüfung für Maturi und Maturae für den Eintritt in die Fachhochschulen ver-langt, ein weiteres Zeichen in diese Richtung gesetzt. Die Matur ist nicht mehr einfach gleichbedeutend mit einem Hochschulzugangsausweis. Das neue Hochschulsystem, das als "gleichwertig aber andersartig" charakterisiert wird (Botschaft Fachhoch-schulen 1994, S. 16), hat da-zu geführt, dass die Matur nicht mehr als allgemeiner Hochschulzugangsausweis gelten kann.

• Eine dritte allgemeine Ent-wicklung bleibt zu bedenken: Die Bildungslaufbahnen wer-den länger. In einem System, in dem auf die Matur nur noch ein Universitätsstudium folgt und die Universität un-bestrittene Krone des Bil-dungssystems ist, kann der Wert der Matur nicht hoch genug eingeschätzt werden. In einem System des le-benslangen Lernens, in dem alternative Wege zur Bil-dungsspitze führen und die Matur nur einen dieser Wege darstellt, wird der Zusam-menhang von Gymnasiums-besuch und guter gesell-schaftlicher Position zuneh-mend aufgeweicht. Längst führen gewisse Studienrich-tungen an den Universitäten nicht mehr zu einem hohen Lebenseinkommen, gewisse Fachhochschulstudiengänge aber schon.

Tendenziell entwickelt sich das Gymnasium zur Schule der Se-kundarstufe II, die sich immer weniger von andern Ausbil-

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dungsgängen dieser Schulstufe unterscheidet. In dieser Richtung weisen auch Projekte in ver-schiedenen Kantonen, Berufs-schulen und allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe II unter einem Dach zu vereinigen, die Lehrkräfte einheitlich zu be-solden und die Lektionenver-pflichtung zu vereinheitlichen. In die gleiche Richtung zielt der Bericht der EDK-Projektgruppe Sekundarstufe II "Die Sekundar-stufe II hat Zukunft" (EDK 2000). Trotzdem hält der Zustrom zu den Gymnasien vorderhand an. These 4: Das Gymnasium verliert die Definitionsmacht über Selek-tion und Berechtigung

Selektion und Berechtigung wa-ren seit den 1960er Jahren im-mer wieder Thema bildungspoli-tischer und pädagogischer Dis-kussionen und Auseinanderset-zungen. Zu erinnern ist etwa an die Debatten um neue Beurtei-lungsformen, um die Reformen der Sekundarstufe I, aber auch an die Numerus Clausus-Debatte. Die Entwicklung in die-sem Bereich ist höchst komplex und verläuft schleichend. Zu beachten sind aus der Sicht der Gymnasien vor allem drei Ent-wicklungen: • Erstens hat das Gymnasium

in eigentlich allen Kantonen die ausschliessliche Defini-tionsmacht über die Ein-gangsselektion verloren. Die Aufnahmeentscheide sind in der Regel stark abhängig von der Empfehlung und/ oder dem Notendurchschnitt der abgebenden Schule. In Basel entscheiden die Eltern inzwi-schen abschliessend über den Eintritt ins Gymnasium. Schüler/innen müssen also zumindest für ein Probese-mester aufgenommen wer-den. Das Gymnasium ist damit nicht mehr die einzige Instanz, welche die Zusam-mensetzung der Schüler-schaft bestimmt.

• Die Durchgangsselektion, d.h. die Selektion innerhalb

des Gymnasiums, ist schwä-cher geworden. Dies ent-spricht zwar dem Zeitgeist – aber es dient nicht dem Image der Institution.

• Drittens muss das Gymna-sium Abstriche bei der Be-rechtigung hinnehmen. Nicht nur gilt die Matur nicht mehr als allgemeiner Hochschul-zugang, weil der direkte Zu-gang zu den Fachhochschu-len verwehrt ist (vgl. oben). Sondern mit der Einführung des Numerus Clausus in der Medizin wurde das Maturi-tätszeugnis faktisch abge-wertet. Es ist nicht mehr hin-reichende Voraussetzung für das Medizinstudium. Dage-gen haben die Universitäten, insbesondere in der franzö-sisch sprachigen Schweiz, den ausschliesslichen Cha-rakter des Zugangs zur Uni-versität via Maturitätszeugnis aufgeweicht, indem eine Zu-lassung auch über eine fach-spezifische Aufnahmeprü-fung möglich ist (eine Rege-lung, die übrigens für die ETH schon lange gilt).

Mit der Aufweichung des Zu-sammenhangs von Maturität und Hochschulzugang ist auch die institutionelle Verbindung von Universität und Gymnasium schwächer geworden. Und die schwächere Selektivität der Gymnasien hat nicht zuletzt dazu geführt, dass über Eingangs-selektionen an der Universität (vermehrte Prüfungen in der Studieneingangsphase) laut nachgedacht wird, bzw. solche Prüfungen zur Verhinderung weiterer Numerus Clausus-Mass-nahmen bereits eingeführt wur-den. Betrachtet man diese Entwick-lung aus Distanz und in einer längeren historischen Perspekti-ve, so hat sie durchaus ihre Lo-gik. Nachdem die Gymnasien im 19. Jahrhundert den eigenen Primarschulunterbau verloren haben, wurde in den 1950er und 1960er Jahren mit der vermehr-ten Einführung der sog. gebro-chenen Bildungswege (der Kan-

ton Aargau hatte diesen Weg bereits mit dem Schulgesetz von 1835 eingeführt) ein weiteres Stück Langgymnasium eliminiert. Die Gesamtschuldiskussion hatte die Frage der Sekundarstufe I als Einheitsschule neu akzentuiert. Während in der Primarschule zunehmend die Noten abge-schafft werden und die Selektion auf der Sekundarstufe I reduziert wird, ist nun auch das Gymnasi-um von dieser Entwicklung ein-geholt worden. Man spricht in-zwischen von einer einheitlichen Sekundarstufe II, in der die Un-terschiede zwischen den Schul-typen zumindest relativiert wer-den sollen. Die Typendifferenzen beginnen nach der Sekundar-stufe I also auch auf der Sekun-darstufe II zu verschwinden. These 5: Der Bildungskanon zerfällt und was Allgemeinbildung heisst, bleibt unklar.

Nicht nur - wie bereits erwähnt – hat sich die Wissenschaftspro-pädeutik aus den Gymnasien verflüchtigt, auch ist zwischen den universitären Studienfächern und den gymnasialen Fächern eine zunehmende De-ckungsungleichheit festzustellen. Auf Universitätsseite hat dies vor allem mit der fachwissenschaftli-chen Spezialisierung und der disziplinären Differenzierung zu tun, die insbesondere im natur-wissenschaftlichen Bereich fort-schreitet. Die Mittelschulfächer bilden die zukünftigen Studienfä-cher nur noch teilweise ab, die wissenschaftliche Propädeutik in den Gymnasien wird dadurch immer schwieriger. Auf der andern Seite hat vor allem das MAR 1995 die Kombi-nationsfächer geschaffen, mit der sicher positiven Absicht der In-terdisziplinarität, – aber in Ver-kennung der Realitäten auf Per-sonalebene. Interdisziplinäre Kombinationsfächer sind auf Lehrkräfte angewiesen, die die-sen Unterricht auch in der beab-sichtigten Art und Weise erteilen können. Die Höheren Lehrämter an den Universitäten jedenfalls sind mit solchen Kombinations-

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Ausbildungen bislang überfor-dert, einfach weil sie der univer-sitären Disziplinstruktur nicht entsprechen. Beides hat Konsequenzen für die wissenschaftliche Vorbereitung an den Gymnasien, aber auch für die universitäre Lehrerbildung für die Gymnasien. Entwickeln sich die Fachdefinitionen weiter aus-einander, werden die Pädagogi-schen Hochschulen (PH) eines Tages sich überlegen müssen, ob sie auch die fachwissen-schaftlichen Ausbildungsanteile der Gymnasiallehrerausbildung an der PH anbieten, obwohl dies heute in keinem der Projekte vorgesehen ist und eigentlich von keiner Interessengruppe ange-strebt wird. Gleichzeitig mit dem allmählichen Verschwinden der Wissen-schaftspropädeutik zerfällt auch der klassische Bildungskanon im Sinne normativ festgelegter und verbindlicher Inhalte für alle Gymnasiastinnen und Gymna-siasten. Der klassische Bildungs-kanon, welcher Fächer und Fachinhalte weitgehend festge-legt hatte, wird durch die Zielset-zung der Allgemeinbildung er-setzt, die inhaltlich vage und unbestimmt bleibt. Dies mag in einer pluralistischen Gesellschaft nicht tragisch erscheinen. Für das Gymnasium als Institution hat es jedoch Folgen. Institutio-nell ist die inhaltliche Einheit des Gymnasiums mit der Erweiterung der Maturitätstypen seit 1968 aufgegeben worden. Die Schaf-fung einer Einheitsmatur mit Wahlmöglichkeiten 1995 ka-schiert diese Entwicklung zwar, setzt sie aber eigentlich fort, in-dem die Kombinations- und Wahlmöglichkeiten gegenüber den einstigen Maturitätstypen vergrössert worden sind. Der als Koordinationsmittel zwischen den einzelnen Gymnasien und Kan-tonen geschaffene Rahmenlehr-plan für die Mittelschulen (EDK 1994) ist sehr offen formuliert und definiert den Bildungskanon nur in geringem Ausmass wirk-

lich.11 Gymnasium und Bil-dungspolitik haben nicht zu defi-nieren vermocht, welcher Bil-dungskanon unabdingbar ist, um die Studierfähigkeit zu erreichen. Die negativen Folgen trägt das Gymnasium. Es ist zur Bil-dungsinstitutionen geworden, die ihren Kernauftrag in der Allge-meinbildung sieht, ohne dass klar wäre, wie sich Allgemeinbildung definiert und wie sich die Allge-meinbildung im Gymnasium von derjenigen in der Diplommittel-schule oder der Berufsmittel-schule unterscheidet. 3. Folgen für das Lehr- personal Die geschilderten Entwicklungen – aufgezeigt wurden sicher nur die wichtigsten – schaffen für das Gymnasium eine Transformati-onssituation, die sich auf das Personal auswirkt. Der Verlust des "alten" Gymnasiums und die Unsicherheit über die Gestalt des neuen Gymnasiums belasten das Personal. Auch wenn dies nur einer der Belastungsfaktoren ist, darf doch nicht verkannt werden, dass diese strukturelle Belastung eben alle Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums betrifft. Dass im Moment auch noch Erfahrun-gen mit den neuen Ausbildungs-gängen aufgrund des neuen MAR gesammelt werden müs-sen, steigert diese Belastung. Die Einführung der neuen MAR-Ausbildungsgänge und die damit zusammenhängende Belastung wurden nicht thematisiert, weil nicht davon auszugehen ist, dass sich die Probleme mit dem all-mählichen Einpendeln der neuen Ausbildungsgänge verflüchtigen. Die MAR-Reform ist zunächst eine "innere" Reform des Gym-nasiums. Notwendig ist aber, Funktion und Stellung des Gym-nasiums nach aussen, gegen-über dem gesamten Bildungssy-stem, gegenüber den Abgeber-

11

Die inhaltliche Normierungskraft unterscheidet sich von Fach zu Fach. Zudem hat der Rahmenplan nur empfehlenden Charakter.

und Abnehmerinstitutionen sowie allgemein gegenüber der politi-schen Öffentlichkeit zu klären – und zu erklären. Wie wirken sich also die geschil-derten Entwicklungen auf das Personal aus? Sechs Aspekte sollen kurz thematisiert werden: • Erstens hat das ständige

Lavieren zwischen Wissen-schaftspropädeutik und Per-sönlichkeitsbildung, zwischen traditionellem Frontal-unterricht und neuen Lehr- und Lernformen, zwischen Elitenbildung und Volksbil-dung, zwischen persönlicher Lehrfreiheit und Corporate Identity, aber auch zwischen Verwaltungshörigkeit und Autonomie viele Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums verunsichert. Weder Schul-leitungen, Lehrergewerk-schaften, Bildungsverwaltung noch Bildungspolitik waren bislang in der Lage, Struktu-ren, Funktionen und Aufga-benbereiche des künftigen Gymnasiums befriedigend zu klären. Die Perpetuierung dieses Zustandes ergänzt die Unsicherheiten wohl mit ei-ner gehörigen Portion Fru-stration.

• Zweitens hat die Bildungsex-pansion der 1960er und 70er Jahre zur Anstellung einer grossen Generation von da-mals jungen Lehrpersonen in den Gymnasien, insbesonde-re in den Neugründungen, geführt. Diese Lehrerinnen und Lehrer nähern sich in-zwischen dem Pensionsalter. Gleichzeitig haben die Spar-massnahmen der 1990er Jahre dazu geführt, dass die Einstellung junger Gymnasi-allehrkräfte in den letzten zehn Jahren nur sehr restrik-tiv erfolgte, dass die jungen Lehrkräfte oft mit Teilzeit-stellen und Stellen auf Zeit Vorlieb nehmen mussten. Es ist deshalb davon auszuge-hen, dass die meisten Gym-nasien in der Schweiz ein Generationenproblem haben, das vor allem durch Wachs-

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tumsphänomene in Kombi-nation mit der Anstellungspo-litik bedingt ist. Dieses Gene-rationenproblem ist wahr-scheinlich eine zusätzliche Belastung für die Neupositio-nierung des Gymnasiums.

• Drittens liegen die Zielset-zungen und Aspirationen der jungen Mittelschullehrkräfte weniger im wissenschaftlich-inhaltlichen Bereich und mehr im pädagogisch-didaktischen Bereich. Sie treffen in den Gymnasien auf eine Generation Lehrkräfte, die zumindest teilweise am alten Selbstverständnis des Gymnasiums festhalten möchte, denen inhaltliche Präzision wichtiger ist als methodische Vielfalt und Persönlichkeitsbildung.

• Viertens hat sich damit das Selbstverständnis der Gym-nasiallehrkräfte vom Wissen-schaftler zum Lehrer ver-schoben. Dies entspricht dem Funktionswandel des Gymnasiums, hat aber auch Folgen für die Karrieremög-lichkeiten der Gymnasiallehr-kräfte. Mit der Veränderung des Selbstverständnisses geht nämlich einher, dass sich der wissenschaftliche Nachwuchs an den Univer-sitäten aus sich selber, aus dem akademischen Mittelbau rekrutiert. Die Verbindung von Gymnasium und Univer-sität wird also auch auf der Personalebene schwächer. Es ist heute kaum mehr möglich, dass Mittelschul-lehrkräfte den Sprung auf ei-ne Professur an der Univer-sität schaffen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war das eine der wesentlichen Motivationen für die wissen-schaftliche Tätigkeit am Gymnasium.

• Fünftens hat zwar die Einfüh-rung von Diplommittelschu-len und der Berufsmaturität die Einsatzmöglichkeiten für Mittelschullehrkräfte erwei-tert. Gleichzeitig verstärkt diese Entwicklung jedoch die

Tendenz hin zu einer Lehr-kraft der Sekundarstufe II, die nicht mehr primär an der wissenschaftlichen Propä-deutik, sondern an Allge-meinbildung und Per-sönlichkeitsbildung interes-siert ist.

• Letztlich hat die "Vermas-sung" des Gymnasiums dazu geführt, dass aus einer über-schaubaren Zahl von Kan-tonsschulprofessoren ein Be-ruf, nicht selten ein Teilzeit-beruf vieler geworden ist. Auch diese "Vermassung" hat Rückwirkungen auf das Ansehen des Berufsstandes.

Abschliessend und zusammen-fassend lässt sich sagen, dass das gesellschaftliche Ansehen des Gymnasiallehrberufes im Sinken begriffen ist. Dies gilt zwar für den Lehrberuf ganz allgemein, hängt aber beim Gymnasiallehrberuf sehr stark mit den erwähnten Veränderun-gen des Gymnasiums zusam-men. Deshalb kann eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz des Gymnasiallehrberufes nicht ein-fach auf gewerkschaftlichem Weg erreicht werden. Sie führt über eine Neupositionierung der Institution Gymnasium.

4. Einige Handlungsansätze Was ist zu tun? Ratschläge sind immer dann besonders schwie-rig, wenn die Analysen noch zu wenig weit fortgeschritten sind und unklar bleibt, wie Verände-rungen eigentlich zu bewirken bzw. zu steuern sind. Ich be-schränke mich deshalb auf fünf grundlegende Empfehlungen: • Forschung und Evaluation

am Gymnasium und über das Gymnasium muss zu-gelassen, ja gefördert wer-den. Sie soll auch dazu die-nen, die Stärken der Instituti-on zu kommunizieren. Eine vernünftige Reformstrategie braucht eine solide Wissens-basis, die Kommunikation gegenüber Behörden und Öffentlichkeit eine seriöse Datenbasis. Davon sind wir vorerst weit entfernt.

• Zweitens sollte an der Auf-hebung des Definitions- und Funktionsvakuums gearbeitet werden. Vielleicht braucht das Gymnasium wieder eine Expertengruppe wie die da-malige Expertenkommission "Mittelschule von morgen" (Expertenkommission 1972), die 1972 den Bericht "Mittel-schule von morgen" heraus-gab und die Zukunft des Gymnasiums vorstrukturierte. Jedenfalls müsste die Funk-tion und der Ort des Gymna-siums im Bildungssystem klarer definiert werden, das Leistungsprofil des Gymna-sium müsste dargestellt und kommuniziert werden, das, was heute Allgemeinbildung sein kann, müsste ebenso geklärt werden wie die Auf-gaben des Gymnasiums im Hinblick auf die Hochschul-vorbereitung bzw. im Hinblick auf die wissenschaftliche Propädeutik. Auf ein neues institutionelles Verständnis von Begabtenförderung am Gymnasium müsste hingear-beitet werden.

• Drittens ist das Verhältnis zu den Partnerinstitutionen, also zu den abgebenden und ab-nehmenden Schulen, aber auch zu den andern Schulty-pen der Sekundarstufe II zu klären. Die momentane Kon-kurrenzsituation, die sich nicht zuletzt im Konkurrenz-kampf um Schülerinnen und Schüler und um öffentliche Gelder zeigt, sollte einer de-finierten Funktionsteilung weichen. Dies erfordert ein Höchstmass an Kommunika-tion zwischen den Institutio-nen und einen radikalen Ab-bau von gegenseitigen Vor-urteilen. Zielsetzung müsste dabei zumindest sein, die Ausdehnung des Numerus Clausus zu verhindern und den allgemeinen Hochschul-zugang zu verteidigen, das Anforderungsprofil an die aufzunehmenden Schülerin-nen und Schüler und damit an die abgebenden Instituti-

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onen klar zu definieren und zu kommunizieren, die Un-terschiede zwischen den Schultypen der Sekundar-stufe II zu benennen und zu kommunizieren sowie die weitere Entkoppelung von Gymnasium und Universität zu verhindern.

• Viertens ist das Imagepro-blem des Gymnasiums auch ein Kommunikationsproblem. Nach einer hinreichenden Klärung von Funktionen und Aufgaben sind diese mög-lichst sinnvoll und breit öffentlich zu kommunizieren.

• Fünftens sind alle diese Auf-gaben ohne ideologischen Ballast und historische Re-miniszenzen anzugehen. Es wäre deshalb zu empfehlen, dass sich die Arbeiten auf das vierjährige Kerngymna-sium konzentrieren.

Für alle diese Massnahmen braucht das Gymnasium eigent-lich dreierlei: Zunächst ist eine Art bildungspolitischer Lobby notwendig. Ohne sie sind not-wendige Korrekturen weder in Parlamenten noch in Verwaltun-gen oder in den abgebenden und abnehmenden Bildungsinstitutio-nen durchzusetzen. Zweitens braucht das Gymnasium ein gros-ses Mass an guter öffentlicher Kommunikation. Aufgabe, Funk-tion und Inhalte, insbesondere aber die Stärken des Gymnasi-ums sind öffentlich immer wieder zu kommunizieren. Dies setzt die Definition von Aufgaben, Funk-tionen und Inhalten innerhalb des Gymnasiums voraus. Drittens ist ein offensives Konzept für For-schung und Evaluation notwen-dig. Die Kommunikation nach aussen, gegenüber einer kriti-schen Öffentlichkeit, kann nur auf einer seriösen Wissens- und Evaluationsbasis erfolgen, ideo-logische Spiegelfechtereien und Schlagworte helfen nicht weiter. Der Zürcher Erziehungsrat kam 1964 in einem Bericht mit dem Titel "Aktuelle Mittelschulfragen" zum Schluss, dass der Nachhol-bedarf an wissenschaftlichem und technischem Nachwuchs nur

aufzuholen sei, wenn sich "unse-re Mittel- und Hochschulen in den Dienst der grossen Zahl stellen und neue Wege in der Schulpolitik" beschreiten (Erzie-hungsrat 1964, S. 99). Diskutiert wurden auf diesem Hintergrund insbesondere die aus damaliger Zeit nicht mehr zeitgemässen Selektionspraktiken, die Ab-schaffung der Mittelschultypen zugunsten einer Einheitsmatur und der Umbau des Gymna-siums zu einer Volksschule. Der Prozess hin zur "grossen Zahl", der 1964 vom Zürcher Erzie-hungsrat gefordert wurde, ist inzwischen längst im Gang. Ob er sinnvoll ist oder nicht, ist zu-nächst eine nachgeordnete Fra-ge. Eine seriöse Analyse dieses Prozesses und seiner Bedin-gungsfaktoren wäre vordringlich. Dann erst kann und muss eine Bewertung erfolgen. Diese Be-wertung sollte davon ausgehen, dass der Prozess nicht einfach umkehrbar ist. Eine Rückkehr zum alten Gymnasium wird es nicht geben. Wichtig wären aber bewusste Entscheide zur Steue-rung der künftigen Entwicklungen und eine bewusste Definition von Funktion und Aufgaben des zu-künftigen Gymnasiums. Zwi-schen Elitegymnasium und Volksschule dürfte ein weites Feld von Möglichkeiten offenste-hen, um den Platz des Gymnasi-ums neu zu definieren. Insgesamt stellt sich dem Gym-nasium damit aber eine schwieri-ge Aufgabe. Es geht darum, ein neues Selbstverständnis zu etab-lieren, das sich vom traditionel-len, klassischen Gymnasium unterscheidet, aber nicht einfach allgemeinbildende Schule für alle Jugendlichen auf der Sekundar-stufe II, nicht einfach Volksschule ist, das sich weiterhin als Institu-tion der Hochschulvorbereitung definiert – im Bewusstsein, dass sich die Hochschullandschaft sehr schnell verändert und ein Hochschulstudium nicht zur künftigen Berufslaufbahn aller Gymnasiastinnen und Gymna siasten gehört. Es geht nicht zuletzt um ein Gymnasium, das

sich selbst klar im Bildungssys-tem verortet, also um ein selbstbewusstes Gymnasium. Das ist für das Gymnasium und seine Exponentinnen und Expo-nenten eine schwierige, aber auch eine spannende und her-ausfordernde Aufgabe. Literatur Botschaft zu einem Bundesgesetz über

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Auf zu einem modernen Gymnasium!

Regierungsrat Rainer Huber

Vorsteher Departement Bildung, Kultur und Sport des Kantons Aargau Referat anlässlich der Tagung „Welche Bildung für welche Zukunft?“ der Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektoren, am 26. Mai 2003 an der Kantonsschule Baden Aktualisierte Fassung

Sehr geehrte Rektorinnen und Rektoren Sehr geehrte Gäste

In der NZZ habe ich gelesen, wie sich die heutigen Mittelschü-ler/innen selber beschreiben: „Gymnasiasten sind wir nicht, das tönt uns zu elitär – und "Gy-meler" schon gar nicht, das erin-nert an kurze Hosen und Knieso-cken. Was wir sind? Ganz ein-fach: Kanti-Schüler.“ Die Bot-schaft dieses Zitats lässt sich meines Erachtens auch gut auf die ganze Mittelschule auswei-ten: Wir wollen weder elitäre noch veraltete Mittelschulen. Wie alle anderen Bildungsangebote entwickelt sich das Gymnasium ständig weiter. Bewährtes Altes wird dabei mit notwendigem Neuem ergänzt. Wie sollen unse-re Mittelschulen heute und in Zukunft aussehen? Was erwar-ten wir von einer modernen, zu-kunftsfähigen Mittelschule und was muss heute schon eingelei-tet werden, damit unsere Schu-len auch in zehn Jahren noch moderne Schulen sind? Wir brauchen sicher Schulen, die jene Kompetenzen vermitteln, welche die nächsten Generatio-nen befähigt, Lösungen für die zunehmend anspruchsvolleren Probleme unserer Zivilisation zu entwickeln. Aus Ihrer eigenen Erfahrung kennen Sie die Herausforderun-gen, mit welchen die Sekundar-stufe II heute und in der näheren Zukunft beschäftigt sein wird. Ganz ohne Anspruch auf Voll-ständigkeit und Endgültigkeit möchte ich auf einige meines Erachtens zentrale Herausforde-rungen eingehen und Ihnen dazu jeweils skizzieren, wie ich mir

eine Mittelschule von morgen vorstellen könnte. Ich nehme mir die Freiheit heraus, ein bisschen freier zu denken als gewöhnlich und auch Ideen und Entwick-lungsperspektiven zu skizzieren, die noch nicht auf ihre Machbar-keit geprüft sind und deren politi-sche Akzeptanz noch keines-wegs garantiert ist. Ausschöpfung des Potenzials an lern- willigen Jugendlichen Eine bildungspolitische Grund-frage ist für mich, wie viele Schülerinnen und Schüler eine Mittelschulausbildung absolvie-ren sollen und weshalb sie dies tun. Ein Blick auf die Bildungs-statistik der Schweiz zeigt, dass die Schülerzahlen an den Mittel-schulen seit Mitte der 60ger Jah-re um rund 80% (!) zugenommen haben. Die Schülerzahlentwick-lung im Aargau entspricht dabei ungefähr jener des Schweizer Durchschnitts. Im Aargau kann man das daran sehen, dass vor-her rund 160 Jahre lang ein Kan-tonsschulstandort im Aargau genügte – übrigens war dies im Gründungsjahr der Schule 1802 die erste öffentliche Kantons-schule in unserem Land – und die Bedürfnisse abdecken konn-te, bis heute jedoch auf dieser Stufe ein breites Angebot von sechs Kantonsschulen in allen Regionen des Kantons besteht. Nebst den Mittelschulen mit den verschiedenen Maturitätstypen etablierten sich die Diplom- und Handelsmittelschulen. Diese bemerkenswerte Entwick-lung verlief keineswegs linear: In den 60ger und 70ger Jahren erlebten die Mittelschulen einen

eindrücklichen Boom; die Anzahl Lernender verdoppelte sich. Im Anschluss an diese Bildungsex-pansion stiegen die Schülerzah-len während der 80ger Jahre nur wenig, nämlich um 5%. Zwischen 1988 und 1998 ist jedoch ein erneuter Anstieg von rund 30% zu beobachten. Die letzten sechs Jahre sind gesamtschweizerisch von einem leichten Aufwärtstrend gekennzeichnet (die einzelnen Kantone verzeichnen natürlich gewisse Schwankungen; dies trifft auch auf den Aargau zu). Die Gründe für dieses gesamt-hafte Wachstum sind vielschich-tig – einer ist sicher die Bevölke-rungsentwicklung. Während den 80ger Jahren ist der Rückgang auf ein 5%-Wachstum durch ge-burtenschwache Jahrgänge zu erklären. Die heutige Stagna-tionsphase ist zum Teil wiederum auf die tiefere Geburtenrate vor rund 15 Jahren zurückzuführen. Sollten sich die Prognosen be-wahrheiten, wird sich die demo-grafische Entwicklung auch in Zukunft stark auf das Gymna-sium auswirken. Die bei der schweizerischen Bevölkerung auf 1.4 Geburten pro Frau zurückge-gangene Geburtenziffer liegt heute deutlich unter dem für einen konstanten Bevölke-rungsstand notwendigen Wert von 2.1. Ohne willentliches bil-dungspolitisches Gegensteuern ist also mit einer spürbaren Ab-nahme von Lernenden zu rech-nen. Mit entscheidend für diese Entwicklung ist noch ein anderes Phänomen: Bis heute ist es uns nicht gelungen, die Herausforde-rung der Integration anders spra-chiger Jugendlicher nur annä-hernd genügend zu bewältigen.

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Der nach wie vor sehr geringe, ja ungenügende Anteil anders sprachiger Schülerinnen und Schüler an unseren Gymnasien ist eine wenig rühmliche Bestäti-gung dieser Tatsache. Hier bleibt mit Sicherheit ein Bildungspoten-zial ungenutzt, welches unsere Wirtschaft und Gesellschaft in verschiedenen Bereichen nötig hätten. Andere Ursachen für den Ent-wicklungsverlauf der Schüler-zahlen liegen im tief greifenden Wandel unserer Gesellschaft. Der Bildungsboom der 60ger und 70ger Jahre war bedingt durch das rasante Wirtschaftswachs-tum seit den 50ger Jahren und erhielt insbesondere durch den so genannten Sputnikschock (1957) einen starken Anschub. Im Wettlauf um die technologi-sche Vorherrschaft wurde die bessere Ausschöpfung der Be-gabungsreserve postuliert: Das Potenzial von Mädchen/jungen Frauen wie auch Knaben/jungen Männern aus allen sozialen Schichten sowie aus Stadt und Land sollte genutzt werden. Vor diesem Hintergrund wurden bil-dungspolitische Programme der Chancengerechtigkeit und Nach-wuchsförderung durchgeführt. Der zweite Bildungsboom in den 90ger Jahren wurde durch die Weiterentwicklungen in der Tech-nologie, Globalisierung, Kommu-nikation, Bevölkerungsstruktur und zahlreichen weiteren Um-feldfaktoren begünstigt. Eine Auswirkung davon sind die stei-genden und veränderten Anfor-derungen an Qualifikationen und Leistungen in der Arbeitswelt. Die Bildungslandschaften der Schweiz und Europas sind dar-an, darauf zu reagieren. Insbe-sondere im Tertiärbereich ist mit dem Aufbau der Fachhochschu-len in der Schweiz und der Um-setzung der Bologna-Deklaration (Harmonisierung des europäi-schen Hochschulraums durch Einführung des zweistufigen Studiums mit Master- und Bache-lortiteln) einiges in Bewegung geraten. Dies zeitigt Folgen für die vorher gehenden Schulstu-

fen, in unmittelbarer Weise na-türlich für die Sekundarstufe II (10.-13. Schuljahr). Ich sehe jedoch das Bildungssys-tem nicht nur in einer reagie-renden Rolle. So ist es interes-sant zu sehen, dass in den 80er Jahren trotz geburtenschwachen Jahrgängen ein Schülerwachs-tum von 5% festzustellen ist – sicher auch ein Erfolg der Matu-ritätsreformen von 1968 und 1972 und der damit verbundenen Einführung neuer Maturitätsprofi-le. Die grossen Schwankungen der gesamtschweizerischen Ent-wicklung, die grossen Unter-schiede zwischen den Kantonen und zwischen den verschiedenen Nationen zeigen deutlich, dass der Entwicklungsverlauf der Schülerzahlen in den Mittelschu-len auch stark beeinflusst wird durch die Politik und durch ge-schickte Bildungsreformen. Eine aktive und vorausschauende Bildungspolitik und -praxis kann die Entwicklung mit steuern und durch gezielte Massnahmen beeinflussen. Gerade angesichts der zunehmenden Wichtigkeit tertiärer Bildungsabschlüsse und auf Grund hoher Anforderungen in der Arbeitswelt sollten wir eine aktive, leistungsorientierte Förde-rungspolitik betreiben. Das Po-tenzial an lernwilligen und leis-tungsfähigen Jugendlichen soll optimal ausgeschöpft werden, und diese Nachwuchspolitik muss erfolgen ohne Herabsen-kung des Leistungsniveaus. Zu-mindest im Kanton Aargau haben wir auch heute noch jedes Jahr viele Schülerinnen und Schüler, die sich trotz Eintrittsberechti-gung nicht für den Besuch einer Mittelschule entscheiden. Wenn sich unsere Gymnasien an jene Jugendlichen richten, die im An-schluss eine universitäre Hoch-schule, eine Ausbildungsstätte für Lehrpersonen oder allenfalls auch eine andere Fachhoch-schule besuchen wollen, dann müssen wir die nötigen Anreize schaffen, dass wir jene Jugendli-chen auch an unsere Schulen holen können – besonders in Zeiten insgesamt rückläufiger

Schülerzahlen. Gleichzeitig müs-sen wir natürlich auch die be-rechtigten Ansprüche der Wirt-schaft, besonders auch der KMU, auf eine genügende Zahl von Berufslernenden mit guten bis sehr guten schulischen Fähig-keiten respektieren und deren Erfüllung sicherstellen, sind es doch die KMU, welche auch in einer globalisierten Wirtschaft das Fundament unserer Wirt-schaft bilden. Ohne die Berufs-bildung zu diskreditieren, müssen wir alles in unserer Macht ste-hende Kleine und Grosse dafür tun, um die Gymnasien langfristig attraktiv zu erhalten und weiter zu entwickeln. Zum einen gilt es sehr vorsichtig darauf zu achten, wie wir den Zugang zum Gymna-sium gestalten. Was das Gym-nasium selbst betrifft, stehen für mich zum andern drei grosse Herausforderungen im Vorder-grund: Die Umsetzung und Kon-solidierung der Teilautonomie, die Profilierung der Einzelschulen sowie die inhaltlich-strukturelle Weiterentwicklung des Bildungs-angebots. Herausforderung 1: Teilautonomie der Schulen Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen und Erfahrun-gen aus der Praxis weisen darauf hin, dass die Qualität von Pro-zessen innerhalb von Schule und Unterricht verbessert werden kann, wenn die Entscheidungs-autonomie der Einzelschule hö-her ist als dies bisher der Fall war. Dahinter steht die Überzeu-gung, dass Aufgaben und Pro-bleme am besten und schnell-sten dort gelöst werden können, wo sie auftreten. Die zentrale Frage ist nun, wie weit der Ge-staltungsraum der Schulen ge-hen soll und welche Konsequen-zen dies auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems hat. Mit dem Inkrafttreten des Geset-zes über die Anstellung der Lehrpersonen (GAL) und den dazugehörigen Folgeerlassen sowie den damit verbundenen Änderungen in den Organisa-

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tionserlassen für den Mittelschul-bereich sind im Kanton Aargau erste wichtige Voraussetzungen für den Übergang vom bisherigen Rektorat zu einer umfassend verstandenen Schulleitung ge-schaffen worden. Die Rege-lungsdichte konnte damit abge-baut und zahlreiche Kompeten-zen an die Schulleitung delegiert werden. Dieser obliegt die Füh-rung des lokalen Qualitätsmana-gements, die Organisation und Administration des Schulbetriebs, die Information und Kommunika-tion sowie die Personalführung. Die Schulleitung übernimmt die Führungsverantwortung für die Lehrpersonen sowie das Verwal-tungs- und Betriebspersonal und legt in Absprache mit der Schul-kommission und unter geeigne-tem Einbezug der Lehrpersonen im gesamtkantonalen Kontext die längerfristigen lokalen Entwick-lungsziele für Unterricht und Schule fest. Die Autonomie von Schulen kann in Finanz-, Organi-sations- und Lehrplanautonomie unterteilt werden. Unter die Fi-nanzautonomie fällt auch die Personalautonomie. Diese ist durch das GAL und dessen Fol-geerlasse festgelegt worden. Die neuen personalrechtlichen Erlas-se sind deshalb als wichtiges Element auf dem Weg zur neuen Führungsmethodik zu betrach-ten. Diese wird künftig ergänzt durch die Einführung der Wir-kungsorientierten Verwaltungs-führung (WOV) und damit ver-bunden mit der Einrichtung eines Leistungsvertrags mit Global-budget für die Mittelschulen, was den Handlungsspielraum der Mittelschulen zusätzlich erwei-tert. Nebst solchen Rahmenvor-gaben sollte sich die Politik und Verwaltung auf die Beurteilung der von den Schulen erbrachten Leistungen und Wirkungen be-schränken. Die künftige Einbin-dung der Mittelschulen in einen Controllingkreislauf erlaubt den vorgelagerten Führungseinhei-ten, diese zu steuern. Die Fremdevaluation der Schulen durch interkantonale Teams wird bei diesem Steuerungsverfahren

eine grosse Bedeutung erlangen, sind doch damit innerkantonale wie auch interkantonale und na-tionale Vergleiche zur Standort-bestimmung der einzelnen Schulen und Systeme vermehrt möglich. Diese vergleichende Art von Qualitätsmessungen wird uns erlauben, auch im internatio-nalen Leistungswettbewerb der Bildungsinstitutionen erfolgreich zu bestehen. Herausforderung 2: Profilie-rung der Einzelschule Vor dem eben skizzierten Hinter-grund haben die Mittelschulen in Zukunft eine gewisse Chance, sich als Einzelschule zu profilie-ren. Ehrlicherweise muss hier angefügt werden, dass der Spiel-raum der Profilierung bei uns im Kanton vorläufig durch die Tat-sache begrenzt ist, dass die Stundentafeln für den obligatori-schen Unterrichtsteil kantonsweit einheitlich ausgestaltet sind. Dennoch: Die einzelnen Schulen gewinnen einen grösseren Spiel-raum, sich als Institution ein ei-genständiges Profil zu geben, indem sie auf der Basis des neu-en MAR in einzelnen Fachgebie-ten spezielle Schwerpunkte set-zen. Auch eine geschickte Per-sonalpolitik ist dem Ruf einer Schule förderlich, wozu GAL sehr gute Voraussetzungen geschaf-fen hat. Ausserdem sind Quali-tätsstandards, Schulklima und Schulleben sowie auch die re-gionale Verankerung und das überregionale Beziehungsnetz der Schulen wichtige Faktoren, um die jeweiligen Stärken einer Institution zu kommunizieren. Insgesamt kann sich also ein geschicktes Schulqualitätsmana-gement positiv auf die Entwick-lung eines eigenständigen Profils einer oder auch mehrerer Mittel-schulen auswirken. Gestatten Sie mir auch die Frage, wie weit eine ausgeprägte, heute noch wenig spürbare Mitwirkung und Mitver-antwortung der Studierenden diese Profilierung verstärken könnte. Wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Vergleich zur interna-

tionalen Konkurrenz und zum Bedarf des Arbeitsmarktes ten-denziell eher zu wenig Personen auf Hochschulniveau ausbildet, sind gut positionierte Schulen mit einem hohem Qualitätsanspruch, die es verstehen, dadurch auch eine neue Kundschaft anzuzie-hen, enorm wichtig. Wie ich an-fangs bereits erwähnte, haben wir vor allem auch im internatio-nalen Vergleich das Potenzial an begabten Schülerinnen und Schülern für die Sekundarstufe II noch keineswegs ausgeschöpft – sei dies nun eher im Bereich der Mittelschulen oder Berufsmatu-ritätsschulen. Sie sehen: Ich setze grosse Hoffnungen in die Profilierungskraft der einzelnen Schulen! Herausforderung 3: Inhaltliche und strukturelle Schulentwicklung Nun möchte ich mich noch zu einem Bereich äussern, der in Zukunft weitgehend im Verant-wortungsbereich der Schulen liegen wird: der eigentlichen Schulentwicklung ohne ständige Orientierung an Politik, Verwal-tung und Kundschaft. Seit weni-gen Wochen liegen die Ergeb-nisse der ersten Evaluationspha-se der Maturitätsreform vor. Es ist Zeit, Schlüsse daraus zu zie-hen für die künftige inhaltliche Entwicklung. Die Berichterstat-tung darüber ist zum Teil er-nüchternd, oft auch kritisch. Er-neuerungsvorschläge beziehen sich mehrheitlich auf einen mittel-fristigen Planungshorizont. Diese Diskussion ist notwendig und nützlich, aber sie geht mir ein-deutig zu wenig weit. Was ich mir wünschte, wäre in Ergänzung dazu eine langfristige, auch visi-onäre Diskussion über inhaltli-che, didaktische und unterrichts-organisatorische Entwicklungs-perspektiven der Gymnasien. Um das Gymnasium wirklich weiter zu entwickeln, wären markantere Änderungen notwendig als sie gegenwärtig in der Bildungspoli-tik diskutiert werden. Persönlich bin ich davon überzeugt: Wenn wir diese Chance nicht packen,

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werden wir die Attraktivität der Gymnasien längerfristig kaum erhalten können. Ich denke hier – ganz frei – an die Prüfung folgender Ideen: Ist es nicht unumgänglich, ange-sichts unserer technologischen Entwicklung einen technischen Ausbildungsschwerpunkt einzu-führen (oder soll das Gymnasium dieses zukunftsweisende, stark männlich geprägte Feld gänzlich den Berufsmaturitätsschulen überlassen)? Müsste im Hinblick auf die Studierfähigkeit in den letzten beiden Jahren des Gym-nasiums nicht ein stärkeres Ge-wicht gelegt werden auf ein wis-senschaftliches Propädeutikum? Gibt es Möglichkeiten, die indivi-duelle Entwicklung der Lernen-den besser zu fördern durch eine ausgeprägte innere Differenzie-rung nach Eignung und Neigun-gen? Könnte es Sinn machen, den Unterrichtsbetrieb modular aufzubauen anstatt vertikal zu gliedern? Werden die Gestal-tungsmöglichkeiten in Bezug auf eine vielseitige Unterrichtsorga-nisation mit Projektunterricht, Präsenzzeiten für Lernende in der Schule, Lernlandschaften, E-Learning etc. nur annähernd ausgeschöpft?

Schlussbemerkungen zur Machbarkeit Ich habe nun einige Ideen skiz-ziert, welche Massnahmen für eine weiterhin starke Sekundar-stufe II in Zukunft denkbar und wünschbar wären. Wenn ich die folgenden Bemerkungen noch anfüge, dann nicht, um diesen Ansatz gleich wieder zu relativie-ren, sondern vielmehr um zwei unsere Arbeit ständig begleiten-de Tatsachen im Auge zu behal-ten. Erstens limitiert die Frage nach den Kosten die Machbarkeit in einzelnen Bereichen, setzt aber gleichzeitig Anreize für in-novative, kostengünstige Lö-sungsansätze. Zweitens sind Bil-dungsversprechen erst in lang-fristiger Perspektive einlös- und beurteilbar. Es können, wo auch immer wir ansetzen, mittel- und langfristige Wirkungen und ihre Wirkungszusammenhänge sogar nicht immer genau eruiert und nachgewiesen werden. Der Übergang von der Schulpraxis und der Verwaltungsleistung zur klar erkennbaren Wirkung erfolgt in einem Bereich, der massgeb-lich durch die direkte Begegnung zwischen lebendigen Menschen geprägt ist und deshalb nicht immer so direkt und linear ab-läuft, wie dies von der Politik und Öffentlichkeit gewünscht wird. Einige Veränderungen und Er-gebnisse lassen sich durch unse-re Leistungen steuern. Andere Wirkungen sind letztlich nur mit Hilfe von Annahmen, Idealen,

politischen Zielen und Wünschen erklärbar. Und selbst wenn wir Massnahmen ergreifen, bleibt die Ungewissheit bestehen, ob sie die Wirkung genau in dem ge-wünschten Sinne verändern: Bildungseinrichtungen können zwar etwas verändern, aber bei weitem nicht alle gesellschaftli-chen Probleme lösen. Bis zu einem gewissen Grad müssen wir anerkennen, dass im Bil-dungsbereich nicht alles mach-bar, erklärbar und steuerbar ist. Es scheint mir wichtig, dass wir dies im Hinterkopf behalten, wenn wir daran gehen, an den Schräubchen zu drehen und Veränderungen vorzunehmen. Wir sind verpflichtet, Umset-zungsaktivitäten sorgfältig und verantwortungsvoll zu planen und zu realisieren. Vielschichtige Wirkungen lassen sich meistens nur mit ganzen Bündeln auf-einander abgestimmter Mass-nahmen verändern. Der Erfolg hängt von einer intelligenten Verknüpfung der Programme sowie von einer geglückten Ge-wichtung, Intensität und kompe-tenten Durchführung einzelner Reformen ab. Ich wünsche uns allen, dass wir auf diesem gemeinsamen Weg das Richtige im richtigen Mass tun und freue mich, an diesem Aufbruch zu einem modernen Gymnasium zumindest in unse-rem Kanton und in der so oft unterschätzten interkantonalen Zusammenarbeit mitwirken zu können. Danke!

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Der Anspruch an die gymnasiale Bildung aus universitärer Sicht

Prof. Dr. Hans Weder

Rektor der Universität Zürich

Ein gutes Gymnasium bereitet die Jugendlichen auf ein erfolg-reiches Studium an der Universi-tät vor. Hier liegen aus universi-tärer Sicht Kernkompetenz und zentrale Aufgabe des Gymna-siums – was freilich nicht bedeu-tet, dass eine Matura aus-schliesslich zum Universitäts-studium befähigt.

Die Vorteile, welche die Universi-tät aus einer sorgfältigen Gym-nasialbildung zieht, sind evident: Zunächst profitiert sie von der Qualitätssicherung des Gymna-siums. Im Rahmen eines minde-stens vierjährigen Beobach-tungszeitrahmens wird die Hoch-schulreife der Schülerinnen und Schüler individuell erarbeitet und beurteilt; es ist mir kein anderer Selektionsmechanismus be-kannt, der dies so adäquat zu leisten vermag. Bildungsrelevan-te Unterschiede der sozialen Herkunft werden im Gymnasium ausgeglichen. Die Matura stellt eine inhaltlich glaubwürdige und formal leicht handhabbare Rege-lung des Universitätszugangs dar. Sie reduziert die Selek-tionsmassnahmen in der An-fangsphase des Studiums und ermöglicht damit wissenschaftli-ches Arbeiten bereits ab dem ersten Semester. Die Universität kann sich darauf beschränken, die Eignung der Studierenden für bestimmte Studiengänge zu überprüfen.

In mancherlei Hinsicht knüpft die Universität an das Gymnasium an. Das Gymnasium vermittelt Bildung: Es häuft nicht einfach Berge von Wissensinhalten an, sondern es lehrt die Schülerin-nen und Schüler, exemplarisch zu verstehen und die Zusam-menhänge hinter den Einzelfak-ten zu erkennen. Auch in der

Universität geht es nicht in erster Linie um die Aneignung von Fak-tenwissen oder intellektuellen Fingerfertigkeiten. Die Studie-renden lernen hier, Wissen zu problematisieren und weiter zu entwickeln.

Das Gymnasium vermittelt All-gemeinbildung: Es legt die Grundlagen zum Verständnis unterschiedlicher wissenschaftli-cher Inhalte. Dabei übernimmt es die schwierige und verantwor-tungsvolle Aufgabe, grundlegen-des Bildungsgut zu identifizieren und von weniger Wichtigem zu trennen. Solides Wissen verbin-det sich mit punktuellen Einsich-ten, in der Geschichte oder Lite-raturwissenschaft ebenso wie in der ethischen Reflexion, in den Naturwissenschaften ebenso wie in der Musik. Durch das Ver-ständnis von Vergangenheit und Gegenwart öffnet sich den Schülerinnen und Schülern ein mündiger Blick in die Zukunft. Auch hier knüpft die Universität an. Zwar spezialisieren sich ihre Studierenden auf eine Fachrich-tung. Die Wissenschaft ist aber darauf angewiesen, dass Fach-leute über die Grenzen der eige-nen Disziplin hinaus kommunizie-ren können, dass sie über ein Grundverständnis anderer Diszi-plinen verfügen und dadurch zum interdisziplinären Dialog befähigt werden. Es kann also keine Re-de davon sein, die gymnasiale Vorbereitung auf die Universität widerspreche dem Anliegen der Allgemeinbildung.

Das Gymnasium vermittelt die Fähigkeit des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks. Es ver-langt von seinen Absolventen einen souveränen und fehler-freien Umgang mit der Mutter-sprache. Das ist gar nicht hoch

genug einzuschätzen, beeinflusst die Sprachbeherrschung doch die Denk- und Wahrnehmungs-fähigkeit erheblich. Die präzise Beschreibung von Sachverhalten gehört zu den Kernaufgaben jeder Wissenschaft. Schwierig-keiten im Studium entpuppen sich bei näherem Betrachten häufig als mangelnde Sprachbe-herrschung. Neben der Mutter-sprache sind für die universitäre Bildung gute Kenntnisse des Englischen nötig. Als lingua fran-ca der Wissenschaften bietet das Englische – in der Nachfolge des Griechischen und Lateinischen – eine Plattform der weltweiten Forschungsvernetzung. Einzelne Teile von universitären Gradu-iertenstudien werden auch bei uns bereits in englischer Sprache durchgeführt. Dass mit der Privi-legierung des Englischen eine gewisse Gefährdung der kultu-rellen Vielfalt Europas einher-geht, sei nicht verschwiegen.

Das Gymnasium vermittelt Grundkenntnisse und Erfahrun-gen im Umgang mit Informatik-mitteln. Ohne diese Grundqualifi-kation der Studienanfänger wäre der heutige Universitätsbetrieb gar nicht mehr denkbar. Der Computer spielt in sämtlichen Wissenschaften eine entschei-dende Rolle, die Informatisierung der Organisationsvorgänge schreitet stetig voran.

Dies also einige Anknüpfungs-punkte. Allen Kontinuitäten zum Trotz bedeutet die Schnittstelle zwischen Gymnasium und Uni-versität für die angehenden Stu-dierenden eine drastische Ver-änderung der Lernumgebung; namentlich die im Gymnasium mögliche intensive Betreuung wird an der Universität kaum mehr geboten.

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Wie müsste nun aus der Optik der Universität ein „gutes Gym-nasium“ aussehen?

Hierzu einige Thesen:

Ein gutes Gymnasium bereitet die Studienwahl sorgfältig vor.

Es erlaubt den Schülerinnen und Schülern, ihre Neigungen auf ganz unterschiedlichen Gebieten zu erkunden. Vor-handene Begabungen werden unvoreingenommen beurteilt. Für ein erfolgreiches Studium sind Neigung und Begabung grundlegend.

Ein gutes Gymnasium bereitet die Selbstorientierung und Selbstorganisation der Studie-renden vor.

Es bringt seinen Schülerinnen und Schülern bei, Informatio-nen eigenständig zu beschaffen und auf Zuverlässigkeit und Plausibilität hin zu befragen. Es vermittelt die Fähigkeit, Ar-beitsprozesse ohne äussere Vorgaben selbstständig zu planen und zu organisieren.

Ein gutes Gymnasium bereitet die Eigenmotivation der Studie-renden vor.

Die Universität verzichtet weit-gehend auf Verfahrensanwei-sungen; sie setzt voraus, dass die Studierenden von sich aus an einem Thema interessiert sind und sich aus eigener Moti-vation auf die Lehrveranstal-tungen vorbereiten. Diese Grundhaltung liesse sich al-lenfalls fördern, wenn obere Gymnasialklassen vermehrt mit den universitären Lehrformen der Vorlesung oder des Semi-nars vertraut gemacht würden.

Ein gutes Gymnasium bereitet die Verarbeitung von wissen-schaftlichen Texten vor.

Wer ein universitäres Studium antritt, sollte in der Lage sein, Fachtexte adäquat zu rezipie-ren. Er sollte aus dem Gymna-sium die Fähigkeit mitbringen, Gelesenes kritisch zu reflektie-ren und im Hinblick auf eine

bestimmte Fragestellung auf den Punkt zu bringen. Nützlich könnte es hierfür sein, das Zu-sammenfassen von Texten systematisch zu erlernen und zu trainieren.

Ein gutes Gymnasium übt das wissenschaftliche Denken und Arbeiten ein.

Es pflegt eine sachgerechte Argumentationskultur, etwa bei der Textinterpretation, und schärft das Verständnis für Kritik und Metakritik. Ein gutes Gymnasium überwindet das Klischee des abgehobenen Intellektualismus und bekennt sich zur Intellektualität. Dass das Gymnasium dabei seinen Praxisbezug verliere, gehört ins Reich der Märchen. Wissen-schaftliches Denken hat einen enormen Lebensbezug. Es befähigt dazu, alltägliche Situa-tionen zu analysieren und sinn-haft zu machen, es stiftet Orien-tierung und hilft seinen Trägern mindestens ebenso sehr, sich in der Welt zurechtzufinden, wie es scheinbar praxisnähere Fer-tigkeiten tun.

Ein gutes Gymnasium achtet auf die Wissenschaftsorientie-rung der Lehrerschaft.

Sicher ist es so, dass wissen-schaftliche Exzellenz alleine noch keinen guten Gymnasial-unterricht garantiert; sie kann pädagogisches Geschick und didaktische Qualität nicht erset-zen. Das Umgekehrte ist aber ebenso richtig: Pädagogik und Didaktik ersetzen nicht die not-wendige Wissenschaftsorientie-rung, die das Gymnasium von anderen Schulen unterscheidet. Entscheidend ist hier das Selbstverständnis der Lehrer-schaft. Ihre Einbindung in einen wissenschaftlichen Kontext kann über Weiterbildungsange-bote, bisweilen auch über die Möglichkeit einer doppelten Lehrtätigkeit an Gymnasium und Universität (z.B. Privatdo-zierende) gefördert werden.

Ein gutes Gymnasium übt per-sönliche Qualitäten ein, die für ein Universitätsstudium wichtig sind.

Die Matura sollte nicht nur Wis-sen und Intelligenz bescheini-gen. Sie sollte im besten Falle auch bezeugen, dass jemand dem Leben und seinen Inhalten mit Neugierde, Engagement, Ehrlichkeit und Verantwor-tungsbewusstsein begegnet. Universität und Wissenschaft leben davon, dass sich alle Beteiligten persönlich der Wahrhaftigkeit verpflichtet füh-len. Sie bauen auf ethische Verantwortung und ausseror-dentliche Leistungsfähigkeit.

Ein gutes Gymnasium wider-steht der Kultur der Mittelmäs-sigkeit.

Es ist in der Schweiz immer noch heikel, das Wort „Elite“ in den Mund zu nehmen. Dieses Wort passt irgendwie nicht zu unserer Mentalität. Dabei be-deutet Elitenbildung keines-wegs Vernachlässigung oder gar Verachtung der weniger Begabten und der weniger Leistungsbereiten. Im Gegen-teil: Bisher wurden eher die Hochbegabten etwas verges-sen. Gymnasium und Universi-tät können hier einen Akzent setzen, indem sie ihr attraktives Angebot mit einem hohen An-spruch verbinden und sich durch ihr wissenschaftliches Selbstverständnis profilieren.

Letztlich ist ein Gymnasium immer so gut wie seine Lehre-rinnen und Lehrer. Sie sind es, die ihre hohe Bildung, ihre Wis-senschaftlichkeit und Originali-tät in der Schule zur Geltung bringen. Wenn es ihnen gelingt, den Schülerinnen und Schülern nicht nur ein solides Grundwis-sen, sondern auch kritisches Denken, Eigeninitiative und fachliche Begeisterung mit auf den Weg zu geben, dann steht auch die universitäre Bildung auf einem stabilen Fundament.

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Was erwartet die Wirtschaft von der Mittelschule?

Dr. Andreas Lauterburg

Unternehmer (Glas und Kunststoffindustrie), Präsident des Fachhochschulrates FHZ Referat anlässlich der Tagung des Luzerner Mittelschullehrervereins, am 7. November 2003

Dass ich als Vertreter der Wirt-schaft eingeladen wurde, freut mich, wenngleich ich mir bewusst bin, damit nur einen Teil des Marktes für den maturitär ausge-bildeten Nachwuchs zu vertreten. Ich werde in meinem Referat eine kritische Haltung zur Mittel-schulbildung einnehmen. Wir feiern ja kein Jubiläum, wo man nur nett miteinander sein darf, sondern Sie erwarten prägnante Aussagen, die zum Widerspruch oder auch zum Handeln auffor-dern. Die Mittelschule ist die letzte Bildungsstufe, auf welcher die elementaren Kulturtechniken vermittelt und trainiert werden. Die darauf folgende tertiäre Aus-bildung ist vorwiegend dem Wis-sen und Spezialkompetenzen gewidmet. In der Wirtschaft stellen wir bei jungen neu eintretenden Mitar-beitern mit höherer Ausbildung einen eklatanten und zunehmen-den Mangel an Basiskönnen fest. Einen Mangel an analytisch–mathematischem, sprachlich–kom-munikativem und sozial–füh-rungstechnischem Können. Und genau diese "Könnensbereiche" oder Basisfertigkeiten bilden die Grundlage aller Kadertätigkeiten. Unsere jungen Nachwuchsleute sind kluge Sachbearbeiter auf ansprechend hohem akade-misch/technischem Niveau. Das ist für die Wirtschaft ein Problem, ein lästiges und ein sehr teures – und dabei sind Sie, die Mittel-schule, vielleicht nicht ganz un-beteiligt.

Was erwartet die Wirtschaft generell von der Bildung?

Wir erwarten mehr "Können" und weniger "Wissen".

In der real existierenden Wirt-schaft zählt in erster Linie das Können, das gut eintrainierte Be-herrschen der Grundfertigkeiten. Analysieren, Kommunizieren und Führen sind die Conditiones sine qua non für jede anspruchsvolle Tätigkeit in der Wirtschaft. Für zwei davon, Analyse/Logik und Kommunikation sind Sie, ist die Mittelschule, abschliessend zu-ständig. Politiker betonen die Wichtigkeit von "Wissen als Kapital". Tönt gut, ist aber falsch oder zumin-dest unpräzis. "Können als Ka-pital" wäre richtig, tönt aber nicht so elegant, das gebe ich zu. Wissen als Kapital ist auf die einzelne Person bezogen Un-sinn. In Realität zählt beim Wis-sen nämlich nur gerade derjenige Anteil, der effektiv präsent ist und verarbeitet werden kann. Nur dieses Wissen, das unmittelbar präsente, ist in der direkten Kommunikation, im kreativen Prozess, in der Technik, im Ver-kauf, ihn der Administration, an Sitzungen in Teammeetings etc. einsetzbar. Enzyklopädisch bib-liothekarisch verwaltetes Wissen, das im Hirn nicht präsent ist, ist grundsätzlich nutzlos. Das Prob-lem ist nur, dass wir nur relativ wenig Wissen in unserem Rapid Access Memory präsent halten können. Und vor allem können wir nicht mehr Wissen speichern, als heute in den Köpfen unserer Jungen vorhanden ist, das ist vollkommene Illusion. Was wir demzufolge beherrschen müs-sen, ist, uns dank wirkungsvoller Techniken auch in einem Umfeld,

wo uns das Wissen fehlt, rasch zu orientieren und gewissermas-sen ortskundig zu werden. Bei guten Kadern kann ich mich da-rauf verlassen, dass sie inner-halb von Stunden Situationen analysieren und sich innerhalb von Wochen in neue Wissensge-biete einarbeiten. Das aber ist Technik und Können und nicht Wissen. Die Japaner sind keine Wissens-gesellschaft sondern eine "Kön-nensgesellschaft". Sie sind be-eindruckend gut im raschen Er-arbeiten von Wissen und sind hervorragend in der systemati-schen Analyse und Aufbereitung von neuen Informationen. Das hat mit Wissen nichts zu tun, sondern mit Können. Man hat die Japaner disqualifiziert als Kopis-ten. Kopisten waren Sie schon – aber erfolgreiche. Na und? Wir Europäer könnten das nie. Wir sind analytisch schwach, kom-munikativ ungenügend und zu wenig fleissig. Darum sind uns die Japaner überlegen. Die Ja-paner beherrschen die Technik, die Dinge zu erfassen und zu verstehen. Europäer, auch Schweizer wissen zwar vieles, was andere schon längst wissen – und beherrschen das Basis-können nicht, Erkenntnisse zu verwerten und umzusetzen. Von meinen 10 grössten euro-päischen Industriekunden sind 8 asiatisch dominiert, mit europäi-schen Niederlassungen. Wir sind zu Kolonialarbeitern der Japaner und Koreaner geworden. Wer sich daneben noch selbständig wähnt, ist Zulieferer zu asiati-schen Unternehmen. Haben Sie das schon bemerkt? Früher nannte man dies Kolonialismus. Ich nenne es Versagen des euro-päischen Ausbildungsmodells.

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Wenn ich mehr Können fordere, geht es um zwei Grundfertigkei-ten: Um Analyse/Logik und um Kommunikation. Analyse/Logik "Analyse und Logik" ist eine Kulturtechnik, ohne Wenn und Aber. Sie ist rational, sie ist un-beugbar, sie ist lern- und trai-nierbar und chronisch vernach-lässigt – gerade auch auf Ihrer Bildungsstufe. Analysieren heisst das Aufgliedern verwischter Bil-der in fassbare Teilbilder oder Teilprozesse, das Gruppieren und das Erfassen von Mustern im verwischten Chaos. Das Er-kennen von Systematiken, deren grafisch-visuelle Darstellung und letztlich das quantitative Erfas-sen, sprich Modellieren der sto-chastischen Prozesse. Fächer-mässig bildet die Mathematik die Grundlage, weitere Disziplinen wie Physik, Chemie, Geografie, Biologie wirken als systemisch geprägte Wissenschaften hinein, aber nur, wenn diese sich auf die systemisch analytische Methodik und nicht auf das Pauken enzy-klopädischen Wissens konzen-trieren. Konkret heisst dies in der Ma-thematik, dass das numerische Modellieren von Alltagsprozes-sen, das Beherrschen einfacher statistischer Methoden und der Visualisierungstechnik von Da-tenmengen vor höherer Algebra, Kurvendiskussion und Integral-rechnung zu kommen haben. Wer eine demografische Kurve erstellen und die Wahlresultate aller Gemeinden eines Kantons grafisch und numerisch erfassen und interpretieren kann, ist bes-ser für das durchschnittliche Ka-derleben gerüstet, als wer Glei-chungssysteme mit mehreren Unbekannten korrekt auflösen und die dritte Ableitung einer logarithmischen Kurve erstellen kann. Korrelationskoeffizient kommt vor Trigonometrie. Beides ist interessant, aber nur eines ist Pflicht, das andere Kür. Ich ziehe es vor, wenn Ihre Schüler die Pflicht beherrschen. Zur Pflicht gehören zum Beispiel Signifi-

kanzdiskussionen in Normalver-teilungen. Solche Kenntnisse (kommt von Können!) bräuchten fast alle Ihrer Absolvierenden, ob in Wirtschaft oder Verwaltung – die realen Kenntnisse sind bla-mabel. Ein anderes, mir nahe liegendes Beispiel aus dem Fach Geogra-fie: Hier müsste das Verstehen und Trainieren von Analysetech-niken anhand des Systems Erde vor der Wirtschaftsgeographie kommen. Wer das System der atmosphärischen Zirkulation und dessen Wirkung auf Klima und Boden versteht, kann die Wir-kung auf Mensch und Wirtschaft selbst ableiten und hat sich erst noch in Analyse und Logik geübt. Was Ihre Absolvierenden jedoch mitbringen, ist wenig Verständnis für die Basismechanismen und viel halb verdaute geografische Enzyklopädie. Das ist wie je-mand, der Lauchsuppe und Ossobucchi kochen kann, aber den Unterschied zwischen Dämpfen und Braten nicht verstanden hat. Kommunikation Bei der Kommunikation als zweiter Kernfertigkeit geht es um Inhaltsvermittlung. Nicht nur um verbale sondern auch um non-verbale. Es geht gleichwertig um Emission, Transmission und Rezeption von Information. Es geht um das Beherrschen von Vermittlungstechniken, um die Verbindung von Sprache, visuel-len Techniken und deren Rezep-tion. Es ist offensichtlich, dass Mittelschüler und Studierte nicht sprechen, nicht visualisieren, nicht rezipieren können. Zitat SF DRS letzte Woche "wir sind nicht unter die Fittiche der SVP geschloffen" oder einer meiner Kader-Mitarbeiter vor zwei Wo-chen "als ich mit dem alten Lift gefahren bin, schauderte es mich richtig". Weitere Beispiele gefäl-lig? Die Masse der gescheiten Leute versagt beim Eintritt ins Berufs-leben im kommunikativen Be-reich. Dass diese Personen dafür "brave new world", "animal farm",

James Joye, Voltaire, Ramuz und Döblin gelesen haben (nicht aber verdaut) nützt mir einfach nichts, wenn sie keinen geraden und logischen Satz hinkriegen (in keiner Sprache), keine Notiz-techniken beherrschen und das was in ihrem Kopf steckt nicht verständlich darstellen und übermitteln können. Kommunikation bedingt die si-chere Beherrschung der Sprach-regeln, soweit diese im Dienste der Sprachpräzision stehen und nicht Selbstzweck erfüllen. Kommunikation bedingt ebenso die rasche und umfassende Er-fassung von Texten, die präzise Analyse, die stichwortartige Er-fassung, das Erkennen des nicht Gesagten und der Zwischentöne, ebenso die eminent wichtige Technik des Diagonallesens. Erst sekundär, wenngleich natürlich unabdingbar, ist die zumindest mündliche Beherrschung von zwei Fremdsprachen. Ich betone die Mündlichkeit, weil ich dem spontanen Verständnis und der reaktiven Spontaneität im aktiven Sprachgebrauch nach meiner Erfahrung einen viel höheren Stellenwert beimesse, gerade auch auf Kaderebene, als der fremdsprachlichen Schriftlichkeit.

Im Sprachunterricht kommt Lin-guistik vor Literatur, Sprach-struktur vor Poesie, Eloquenz vor Exposé und zum Beispiel das präzise, kurze und spontan ver-ständliche Erzählen von fremd-sprachlichen Witzen und der verbale Disput über Fussball und Mode vor der Interpretation von Gedichten Ingeborg Bachmanns und gequälten Frontaldiskussio-nen über halb verdaute Literatur. Im Sprachunterricht muss münd-lich trainiert werden, Gehörtes zu notieren und wiederzugeben, in anderem Zusammenhang, in anderer Sprache, mit wechseln-den Kommunikationstechniken. Das ist Sprache in Wert gesetzt. Ob es dann Deutsch, Franzö-sisch oder Englisch ist, ist nicht wichtig. Es braucht sowieso alle drei. In der Kommunikation bildet der Sprachunterricht aber nur die

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Basis. Kommunikationstraining muss auch in der ästhetischen Erziehung (Visualisierungstech-nik), in Geschichte und Naturwis-senschaften erfolgen. Das be-dingt aber, dass sich die ent-sprechenden Fachlehrkräfte auf die Kommunikationstechnik ihrer Schüler achten, diese auch be-werten und dem gewohnten Vor-rang der Wissensabfrage den Laufpass geben. Warum visuali-sieren Sie im Zeichenunterricht nicht die letzten Nationalratswah-len oder den anstehenden Vor-trag im Biologieunterricht statt die unwürdigen Künstlerinnen und Künstler mit Tusche und Mal-techniken zu quälen und abge-hobene Diskussionen über Beuys und Renoir zu führen? Die gestalterisch Talentierten unter Ihren Schülerinnen werden das von selbst begierig tun. Das Ba-siskönnen, eben die Visualisie-rungstechnik, zu lernen, ge-schieht aber nicht von selbst. Was ich hier erzähle, ist Praxis nicht Theorie. Ich erlebe, dass viele Leute, die ich in meinem Unternehmen als Frischlinge auf-nehme oder die ich in Partnerun-ternehmen als Gesprächspartner erlebe, ihr manchmal be-eindruckendes Wissen nicht in Wert setzen können, weil sie weder trainiert sind, Systeme zu analysieren, weil sie Mathematik nicht praxisnah gelernt haben und unsinnige Techniken beherr-schen und weil sie nicht im ent-ferntesten fähig sind, präzise

hinzuhören, diszipliniert zu lesen geschweige denn sich verständ-lich verbal, schriftlich und visuell auszudrücken. Mit anderen Worten: Die Wirt-schaft, wenn ich diese so selbst-herrlich vertreten darf, will, dass Ihre Maturi und Maturae mehr können statt wissen, dass sich die Mittelschulen mehr konzent-rieren auf Fertigkeiten und nicht auf Wissensvermittlung, oder noch einfacher ausgedrückt "we-niger aber besser, wäre mehr", das Wenige aber trainieren, trai-nieren, trainieren. Disziplin in der Technik statt Spass an der Mate-rie. Der Spass kommt von selbst, aber nur dann, wenn die Grund-techniken besser beherrscht werden. Wer als Schüler nicht bereit ist, die Disziplin für das Training im Basiskönnen aufzu-bringen und nicht genü-gend Eigenmotivation hat, dieses trainierte Basiskönnen in der selbstständigen Wissenserweite-rung einzusetzen, gehört nicht an eine Mittelschule, oder jedenfalls später nicht auf entsprechendem Niveau in die Wirtschaft. Ich weiss, das sind hohe Anforde-rungen, aber unsere Konkurrenz erfüllt sie, da können Sie sicher sein.

Mittelschulpädagogik zwischen Wettbewerb und Motivation Die Welt war immer und wird immer eine Welt sein, in welcher alles und jedes miteinander im

Wettbewerb steht. Die Aufforde-rung gilt: "Bewegen wir uns heu-te, sonst wird es morgen unser Konkurrent getan haben". Unsere Konkurrenz sitzt nicht an den Sekundarschulen, nicht an der Kanti Hochdorf oder Beromün-ster. Unser Konkurrent sitzt in den aufstrebenden osteuropäi-schen Ländern, in Skandinavien, in Japan, Taiwan, Südkorea und in Ostchina. Ich hätte Ihnen ger-ne bestätigt, dass unsere modu-lar, individualisiert und auf Bil-dung ausgerichteten Mittelschü-ler und -schülerinnen gerade wegen dieser Vorzüge beson-ders gut im Wettbewerb bestün-den. Dem ist aber nicht so. Indi-vidualisierung, Modularität, 15 Schwerpunktfächer lassen grüs-sen, sind Zuckerguss, der viel-leicht nur etwas bringt, wenn darunter das Basiskönnen be-herrscht wird. In diesem Sinne bitte ich Sie: Helfen Sie mit, dass wir uns "wieder einmal zuerst bewegen", vor unserer Konkur-renz. Wenn Ihre Schülerinnen und Schüler in drei Jahren viel mehr "können" auf Kosten von halb verdautem "Wissen", leisten Sie einen entscheidend wichtigen Beitrag auch für unser wirtschaft-liches Wohlergehen.

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Gymnasium und Universität: entfremdete Geschwister

Hans Peter Dreyer

Präsident des VSG (Verein Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer), Physik- und Mathematiklehrer Kantonsschule Wattwil Artikel aus "Gymnasium Helveticum" 6/04

Einerseits ist die Universität auf qualifizierte Studienanfängerin-nen und -anfänger angewiesen, andererseits bildet sie die zu-künftigen Gymnasiallehrkräfte aus. Sie legt damit eine wichtige Komponente für die Qualität im System fest. Sparmassnahmen, permanente Reformen und Parti-kularinteressen haben den Re-gelkreis aus dem Gleichgewicht

gebracht. Im folgenden Beitrag1 wird die komplexe Situation nach der Maturitätsreform von 1995 beleuchtet und die Befürchtung untermauert, bis 2010 könnte das Gymnasium mit der Berufs-schule zu einer High School zu-sammengeschmolzen werden. Dieser unerfreulichen Entwick-lung sollten Gymnasium und Universität gemeinsam entge-gentreten.

Symptome der Entfremdung In der «guten» alten Zeit war alles einfacher: Zweck des Gym-nasiums war die Vorbereitung auf die Hochschule. Diese war nach dem Ideal von Humboldt organisiert und durfte von den neu Eintretenden eine breite Allgemeinbildung verlangen. Über deren Inhalt konnte man zwar endlos debattieren: Ob Bildung ohne Latein überhaupt denkbar sei, oder ob die Natur-wissenschaften nicht eher an die Gewerbeschule gehörten. In der Praxis war durch den Konsens in den Fachgruppen und die Eidge-nössischen Maturitätsprüfungen das Geschehen – Inhalte und

1

Zuerst publiziert im Bulletin 29 (2/3). August 2003 der Vereinigung Schweizerischer Hochschuldozenten (VSH); angepasst für „Gymnasium Helveticum“ 6/04.

Anspruchsniveau – auch an den staatlichen Schulen de facto in weiten Teilen bestimmt. Die Maturitätsreformer der neun-ziger Jahre forderten «Entrüm-pelung», «Verschlankung» und «Konzentration auf das Wesent-liche». Modisch war, mehr Selbstbestimmung für die Ju-gendlichen zu verlangen, nach «Europakompatibilität» zu rufen und auf Durchlässigkeit zu po-chen. Im Hintergrund standen unterschiedliche, oft standespoli-tische Motive: Steigerung der Maturandenquote, breitere All-gemeinbildung für Berufe wie Kindergärtnerinnen und Kran-kenpfleger, Anhebung der (Volksschul-) Lehrerausbildung auf Hochschulstufe usw. Bemer-kenswert ist, dass massgebende Personen durch die Maturitätsre-form unbewusst oder sogar be-wusst die Anbindung des Gym-nasiums an die Universität schwächten. Die Formulierung im neuen Maturitätsanerkennungs-regelement (MAR) ist deutlich: «Die anerkannten Maturität-sausweise gelten (sic!) als Aus-weise für die allgemeine Hoch-schulreife.» Zusatzanforderun-gen wie Latinum und Mediziner-prüfungen sind die Folge. In die-sem Umfeld wurde die Ver-schmelzung von Gymnasium, Diplommittelschule und Be-rufs(maturitäts)schule zur «Se-

kundarstufe II» postuliert.2 Wir kommen darauf zurück.

2

EDK: Die Ausbildung der Lehrer für die Sekundarstufe II. Bern 1989; Projekt Sekundarstufe II. Bern 1996; Die Sekundarstufe II hat Zukunft. Bern 2000.

Neuverteilung der Aufgaben

Im laufenden Jahrzehnt werden die Hochschulen neu strukturiert. Dabei stehen die Reformer vor der Herkulesaufgabe, den Bo-logna-Prozess nicht bloss umzu-setzen, sondern auch sinnvoll auszugestalten. Es hiesse Eulen nach Athen zu tragen, hier den vielen Ausführungen – u.a. im

VSH-Bulletin3 – noch Einzelhei-ten hinzufügen zu wollen. Symp-tomatisch aber ist, dass die Rückwirkungen von «Bologna» auf das Gymnasium nur am Rand gestreift werden. Dabei ist (loc. cit. p. 8) «die Förderung der Mobilität durch Überwindung der Hindernisse (…) [beim] Zugang zu Studien- und Ausbildungsan-geboten» eine eindeutige Abkehr vom gesicherten Hochschulzu-gang mit Maturitätszeugnis hin zum angelsächsischen System der Auswahl durch universitäre Instanzen. Die Nachselektion in einer Assessment-Stufe (p. 29) und die Ausgestaltung der Ba-chelor-Stufe zu einem Gefäss, in dem die Allgemeinbildung nach-geholt oder zumindest vertieft werden soll, nehmen dem Gym-nasium wesentliche Ziele weg. Diese Neuverteilung der Aufga-ben zwischen dem kleinen Bru-der und der grossen Schwester ist nur wenigen Hochschulange-hörigen bewusst. Leider ist sie bisher kaum öffentlich diskutiert oder gar von politisch Verant-wortlichen bewusst entschieden worden.

3 Christoph Metzger und Sascha

Spoun: Der Bologna-Prozess an der Universität St.Gallen: eine inhaltliche Reform. In: VSH-Bulletin 29 (1). April 2003. p. 31.

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Die neue Maturitätsregelung – eine verpasste Gymnasial-reform Das neue MAR wird durch den Bund und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erzie-hungsdirektoren (EDK) gleichbe-rechtigt getragen. Die neue Ma-turitätsregelung setzte allerdings bloss eine Strukturreform in Gang: Anstelle von fünf Typen gibt es nun viele Wahlmöglichkei-ten mit Schwerpunkt- und Er-gänzungswahlfächern um einen gemeinsamen Kern. Dieser um-fasst drei Sprachen und Mathe-matik. Die Naturwissenschaften verlieren ebenso an Gewicht wie die «Geistes- und Sozialwissen-schaften», denn sie werden zu je einem Block zusammengefasst. Dazu kommen die aufgewerteten musischen Fächer und der Sport. Neu ist «Wirtschaft und Recht» ein obligatorisches Fach, was in unserer Dienstleistungsgesell-schaft gerechtfertigt ist. Das ein-zige echt innovative Element des MAR ist die Maturaarbeit: «Schülerinnen und Schüler müs-sen allein oder in einer Gruppe eine grössere eigenständige schriftliche oder schriftlich kom-mentierte Arbeit erstellen und mündlich präsentieren.» Richtschnur für die konkreten Lehrpläne der einzelnen Schulen sind die so genannten Rahmen-lehrpläne (RLP), die für alle Fä-cher Zielsetzungen auf einer recht abstrakten Ebene festhal-ten. «Lokale Ausgestaltung» heisst das Schlüsselwort für die von Schule zu Schule variieren-den Stundentafeln und Stoffka-taloge. An die Stelle der ur-sprünglich versprochenen Ver-einfachung ist eine «neue Unübersichtlichkeit» getreten. Statt die Mobilität zu erleichtern hat das MAR dazu geführt, dass der Schulwechsel von Gonten AI nach Urnäsch AR schwieriger geworden ist …

Weitere Folgen der Reform

Was sind weitere Folgen der Reform, von der manche Prota-gonisten sich dank Wahlfreiheit ungeahnte Schülermotivation

erhofft haben? Das Standard-gymnasium ist ein neusprachli-ches Gymnasium mit den Schwerpunkten Englisch, Spa-nisch oder Italienisch. Latein ist auf dem Weg in die gleiche Ex-klusivität wie das Griechische. Das Wirtschaftsgymnasium be-steht unverändert. Das mathe-matisch-naturwissenschaftliche Gymnasium ist in die Schwer-punkte Biologie – Chemie und Physik – Anwendungen der Ma-thematik aufgespalten worden, die einzeln eine weniger gute Hochschulvorbereitung liefern und insgesamt weniger Schüle-rinnen und Schüler anziehen können als der Typus C. Hinge-gen findet das musische Gymna-sium grossen Zulauf. Der Schwerpunkt Philosophie-Psy-chologie-Pädagogik – eine für diese Altersstufe merkwürdige Mischung – wird mancherorts nicht angeboten, gewinnt aber in anderen Kantonen eine Schüler-zahl, die weit über das frühere Lehrerseminar hinausgeht. Ob die Rolle des Ergänzungsfachs kompensatorisch oder komple-mentär ist, was konkret unter «Geschichte» oder «Sport» an-geboten wird und wie viele «Kunden/-innen» diese Angebote nutzen, ist unbekannt. Niemand hat genaue Daten für die ge-samte Schweiz – die Statistik bezüglich Nutzvieh ist hier viel umfassender! Rückgang von Wissen und Können

Eine durch den Verein Schweize-rischer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (VSG) bei seinen Mitgliedern durchgeführte Befra-gung zum MAR brachte wenig Positives zum Vorschein. Und die von der Konferenz der Gym-nasialrektoren bei den Studien-anfängern durchgeführte Ein-schätzung des Gymnasiums

«Übergang ins Studium»4 kann

4 Studie:

www.bbw.admin.ch/html/pages/services/publikationen/bildung/2003-5-d.pdf Kommentar: www.ksgr-cdgs.ch/de/index/html

so interpretiert werden, dass 1995 keine Notwendigkeit für eine radikale Veränderung der Maturitätsregelung bestanden hätte. Der von Mittel- und Hoch-schule diagnostizierte Rückgang von Wissen und Können der Maturandinnen und Maturanden ist aber vermutlich weniger durch das MAR als durch die gleichzei-tig erfolgte Verkürzung der gym-nasialen Unterrichtszeit um rund 15% verursacht. Nur selten ha-ben Politiker eingestanden, dass es sich um eine reine Sparmass-nahme gehandelt hat. Oft wurde pädagogisch spekuliert, und der Ruf mancher Hochschuldozenten nach jüngeren Studienanfängern lieferte gratis Munition. Späte Einschulung, Warteschlaufen in der Volksschule, Militärdienst oder Werkstudentenmentalität wurden nicht ernsthaft mit gewo-gen. Frustrierend für die Gymna-siallehrkräfte ist die von politisch Verantwortlichen vorgebrachte Behauptung, durch die Verkür-zung und andere Sparmassnah-men (steigende Klassengrösse, weniger Praktika …) sei kein Qualitätsverlust entstanden. Weil keine Einigkeit über Qualitäts-massstäbe in diesem komplexen Metier besteht und niemand ver-sucht hat, zumindest einige Qua-litätsmerkmale vor und nach der Reform zu messen, können solch unverfrorene Behauptungen nicht widerlegt werden. Es fehlte das Geld

Eine sachlichere Beurteilung wird möglich sein, wenn die Ergebnis-se des grossen Evaluations-

Projekts EVAMAR5 vorliegen. Man kann hoffen, dass dessen Resultate breiter beachtet und sorgfältiger genutzt werden als diejenigen von PISA (Volks-schule) und von TIMSS (Gymna-sium). Immerhin darf man fest-stellen: Der Aufwand zur Umset-zung des MAR war für viele Be-teiligte gewaltig, aber vorwiegend papieren. Die Chance, im Gym-nasium nachhaltig das Lehren zu modernisieren, das Lernen zu 5 www.evamar.ch

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intensivieren und innerhalb des föderalistischen Systems zweck-mässig zu koordinieren, wurde verpasst. Eine seriöse Schulre-form hätte sorgfältiges Vorgehen verlangt: Reflexion der Zielset-zung und überprüfbare Ausfor-mulierung wichtiger Details (Ent-wicklung und Erprobung entspre-chender Lehrmittel und Evaluati-onsformen, Instruktion der Lehr-personen und Anpassung der juristischen Rahmenbedingun-gen). Doch dafür fehlte das Geld. Meist wurde im Reformeifer zu-dem nicht bedacht, dass Neues immer auf Kosten von Bestehen-dem geht: Auch die Schule ist kein Perpetuum mobile. Hoffent-lich wird in zehn Jahren die Bi-lanz der Hochschulen über «Bo-logna» freundlicher tönen! Umbruch in Gesellschaft und Schule Die Gesellschaft ist weltweit im Umbruch. Die Globalisierung des Wettbewerbs erschüttert unser exportabhängiges, aber tenden-ziell konservatives Land. Im öf-fentlichen Raum verlieren Kirche und Politik an Autorität, und im privaten Rahmen vermag die Familie immer weniger Gebor-genheit zu bieten. Die multikultu-relle Gesellschaft ist auch im Bergdorf Tatsache und manche Medien postulieren die postin-dustrielle Freizeit-Society als das bereits eingetretene Paradies. Gleichzeitig steigt die Arbeitslo-sigkeit rapide an. Man versucht natürlich, den Herausforderun-gen auch durch Änderungen im Schulwesen Rechnung zutragen. Hier wird kräftig umgebaut. Ver-mutlich werden sich in zehn Jah-ren die Veränderungen im Vor- und Volksschulbereich als von grösserer Bedeutung erweisen. Wenn über 50% der Kinder keine Landessprache als Mutterspra-che besitzen und die Eingliede-rung der Eltern grösstenteils ebenfalls durch schulnahe Aktivi-täten erfolgt, dann bleibt für Le-sen und Rechnen weniger Zeit und Energie. PISA bestätigte bloss, was aufmerksame Be-obachter längst wussten.

Aber auch auf der Gymna-sialstufe hat sich die tägliche Arbeit verändert. Der Bundesvor-sitzende des deutschen Vereins zur Förderung des mathema-tisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts MNU schrieb im ver-

gangenen Jahr6: «Die gesell-schaftlichen Rahmenbedingun-gen verschieben die Gewichtung innerhalb der Kategorien [Unter-richten, Erziehen, Beraten, Be-urteilen, Innovieren, Organisie-ren] zu Ungunsten des Unter-richtens.» Dass die vielen Wahl-möglichkeiten mehr Beratung und neue Unterrichtsformen mehr Sitzungen erfordern, ist einsichtig. Wirklich gravierend aber ist, dass der Aufwand für die (Nach-)Erziehung für viele Gymnasiallehrerinnen und -lehrer zu einer psychischen Belastung und zur Hauptursache von Burn-out geworden ist. Ausländische Fehlentwicklungen nachvollziehen?

Zur Sekundarstufe II: «Verschie-denartig, aber gleichwertig» ist ein gut klingender Slogan. Er erschallt sowohl im Spannungs-feld von Berufsmaturitätsschule und Gymnasium als auch im Verhältnis von Fachhochschule und Hochschule. Er hinterfragt nicht nur die Position des Gym-nasiums, sondern tangiert auch das Selbstverständnis seiner Lehrkräfte: Unbestreitbar war die Einführung der Berufsmaturität eine notwendige und wichtige Aufwertung des Berufsbildungs-wesens, um das uns immer noch viele Länder beneiden. Eine «Passerelle», die von der Berufs- in die akademische Welt über-führt, ist für Spätberufene wich-tig, denn die im Alter von 15 Jah-ren getroffene Wahl für eine Be-rufslehre darf in keine Sackgasse führen. Ergibt sich daraus, dass es einen einheitlichen Sekundarstufe-II-Lehrer geben muss, wie er in Genf schon eingeführt ist und

6 Arnold a Campo: Über den Beruf des

Gymnasiallehrers […]. MNU 56 / 3. April 2003 (p. 170)

beispielsweise mit den Bildungs-

zentren im Kanton Zürich7 anvi-siert wird? Bestimmt haben Päd-agogik und Didaktik für Vollzeit-schulen und für Berufsmaturi-tätsschulen viel Gemeinsames. Es sind jedoch wirtschaftliche Überlegungen, die politischen Druck in Richtung Nivellierung bewirken. Die Stichworte Gene-ralisierung, Kooperation, Be-darfsorientierung und Wirtschaft-lichkeit (loc. cit.) sind deutlich. Wenn aber am Gymnasium nicht nur eine breitere, sondern auch eine tiefer gehende Allgemeinbil-dung erworben werden soll, müsste es auch spezifische fachdidaktische Angebote geben. In letzter Zeit pervertiert die Ent-wicklung. Die Tagespresse rät Jugendlichen allen Ernstes: «Wer bis jetzt keine passende Lehrstelle gefunden hat, sollte die Kantonsschule in Erwägung ziehen.» Wir scheinen auf dem Weg zu einer Verschulung des Lebensabschnitts zwischen sechzehn und zwanzig in der Art zu sein, die erstmals in den USA mit der Einrichtung der High School verwirklicht worden ist. Die Probleme sind bekannt. Schon vor fünfzig Jahren hat der US-Admiral Rickover einen um-fangreichen Vergleich anstellen lassen und unter einem für uns schmeichelhaften Titel veröffent-licht: «Swiss Schools and Ours:

Why Theirs Are Better»8. Müs-sen wir ausländische Fehlent-wicklungen gegen besseres Wis-sen und uneigennützige Mah-nungen nachvollziehen?

Gymnasium – nicht High School! Was ein Polymechaniker oder eine Kauffrau mit Berufsmaturität können, ist offensichtlich. Die Diskussionen um die Ausgestal- 7 Höhener, H.J.: Bildungszentren: Ver-

längerung der Pilotphase bis 2006. In: Medienmitteilung der Bildungsdi-rektion [des Kantons Zürich] vom 28. Mai 2003.

8 H. G. Rickover: Swiss Schools and Ours: Why Theirs Are Better. New York 1962 (Little, Brown & Company).

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tung oder gar Abschaffung der Diplommittelschulen zeigen aber, dass nicht klar ist, was für Fähig-keiten und Kenntnisse die Absol-ventinnen dieses Bildungswegs besitzen. Und noch undeutlicher sind die Ziele des Gymnasiums. Sie sind zwar in Artikel 5 des MAR breiter und schöner um-schrieben als in der alten Ver-ordnung: «Maturandinnen und Maturanden finden sich in ihrer natürlichen, technischen, gesell-schaftlichen und kulturellen Um-welt zurecht, und dies in Bezug auf die Gegenwart und die Ver-gangenheit, auf schweizerischer und internationaler Ebene.» (§ 5 Absatz 4) Wir müssen jedoch zugeben: Man kann sich in der Welt auch ohne gymnasialen Bildungsgang zurechtfinden! Je länger, desto häufiger wird moniert, dass vernetztes Denken und Interdisziplinarität gemäss §5 Absatz 3 die zentralen Errun-genschaften des MAR und des-halb Spezifika des Gymnasiums seien: «[Maturandinnen und Maturanden] sind nicht nur ge-wohnt, logisch zu denken und zu abstrahieren, sondern haben auch Übung im intuitiven, analo-gen und vernetzten Denken. Sie haben somit (sic!) Einsicht in die Methodik wissenschaftlicher Ar-beit.» Abgesehen von der merk-würdigen Definition wissen-schaftlicher Methodik, leidet das MAR unter einem Widerspruch: Wie kann sich dieses vernetzte Denken zeigen, wenn bereits im §5 Absatz 1 abgewehrt wird: «Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufli-che Ausbildung.» In einer Zeit, in der Sparapostel nach dem Ge-sundheitswesen auch den Bil-dungsbereich für die Tagespolitik entdeckt haben und die unbe-queme, aber berechtigte Frage stellen, ob die rund 20 000 Fran-ken, welche die öffentliche Hand pro Jahr für jeden Mittelschüler ausgibt, auch gut investiert seien, liefert das MAR keine überzeu-genden Argumente. Durch das Vermeiden von konkreten Zielen

und fassbaren Qualitäten der angestrebten Allgemeinbildung ist die Position des Gymnasiums geschwächt worden. Welche Ziele will man erreichen?

Über das allgemeine Ziel sind sich die Interessierten weitge-hend einig: Das Gymnasium will intellektuell talentierten und in-teressierten jungen Menschen zu einer guten Allgemeinbildung verhelfen und sie dadurch opti-mal auf Hochschulstudien vorbe-reiten. Natürlich ist der Stoff wichtig. Man könnte sich bei-spielsweise fragen, ob nicht erst Sprachen wie Arabisch und Chi-nesisch, statt Italienisch oder Spanisch in Kombination mit dem Französischen, eine echt gym-nasiale Herausforderung böten. Wichtiger aber ist, genauer als bisher festzulegen, welche ope-rationalisierten Ziele man errei-chen möchte und wie diese ge-prüft werden können. Zwischen dem Luxus maximaler Lehrfrei-heit in der Schweiz und dem deutschen Zentralabitur oder gar dem bürokratischen Joch à la française muss ein vernünftiger Mittelweg gefunden werden. «Treffpunkte», für deren Errei-chung höchstens zwei Drittel der zur Verfügung stehenden Unter-richtszeit benötigt würden, sind bereits vorgeschlagen worden. Die Entwicklung der dafür und auch für die anzustrebende Indi-vidualisierung im Unterricht (mit und ohne Web) nötigen Materia-lien ist aufwändig und kann nicht im etablierten kantonalen Rah-men erfolgen. Qualität und Intensität der Arbeit

Noch wichtiger als Strukturen und Inhalte sind Qualität und Intensität der Arbeit: Maturandin-nen und Maturanden müssten in der Lage sein, mit vernünftigem Aufwand komplexe Probleme aus verschiedener Sicht wahrzu-nehmen, vertieft zu recherchie-ren, in abstrakter Weise zu ana-lysieren und die Ergebnisse ihrer Überlegungen sachgerecht und fliessend in ihrer Muttersprache mündlich und schriftlich darzule-

gen. Mathematik als analytische Methodik, Englisch als Lingua Franca, Naturwissenschaften als Informationsbasis über unsere materiellen Rahmenbedingungen und Geistes- und Sozialwissen-schaften als Reflexionsinstru-mente unserer Existenz liefern dafür nötige Voraussetzungen. Entscheidend ist, dass die intel-lektuelle Arbeit der Gymnasia-stinnen und Gymnasiasten eine Intensität und Qualität erreicht, die man bei gleichaltrigen Musi-kerinnen und Sportlern für selbstverständlich erachtet. Die Crux des Ist-Zustandes ist die grassierende «Null Bock & No Future»-Stimmung, die sich in Konsumhaltung und Leistungs-minimalismus äussert. Die Umstrukturierungen auf der Sekundarstufe II haben viele Brüche hinterlassen, besonders was die Anerkennung von Zeug-nissen betrifft. Es ist bedenkens-wert, dass man trotz Matura nur mit Zusatzprüfung ins Konserva-torium oder die Kunstgewerbe-schule, zur Physiotherapie- oder zur Journalismusausbildung zu-gelassen wird. Wer jedoch dort scheitert, muss ohne Zusatzan-forderungen von der Universität fürs gleiche Studienfach aufge-nommen werden. Umgekehrt ist der Weg vom Gymnasium in die technischen und wirtschaftlichen Fachhochschulen auch mit Hin-dernissen versehen. Bei den kommenden Anpassungen im Schulsystem sollten die Politiker daran denken, dass es nicht um das Prestige von Institutionen, sondern um die Zukunft der jun-gen Menschen geht: Wie können ihre zweifellos unterschiedlichen Fähigkeiten und Neigungen op-timal gefördert werden? Akade-mische Diplome sind ja längst keine Garantie mehr für Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Anwälte, Ärztinnen und Gymnasiallehrer Ein Zeichen für die Entfremdung zwischen Universität und Gym-nasium ist der Eiertanz um die Positionierung der Gymnasialleh-rerausbildung. Seit je bereiten

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die Universitäten nicht nur für wissenschaftliche Karrieren, sondern auch auf konkrete Be-rufstätigkeiten vor. Klassische Beispiele sind Anwälte und Ärz-tinnen; an den technischen Hochschulen sind es Architektin-nen oder Bauingenieure. Müsste für die Ausbildung der Gymna-siallehrkräfte nicht der gleiche Aufwand betrieben werden wie – beispielsweise – für polnische Nachkriegslyrik oder funktionelle Genomik? Dies ist leider keine rhetorische Frage! Die Gymnasiallehrerausbildung

«Bologna» birgt Chancen und Risiken für die Gymnasiallehrer-ausbildung. Wenn ohnehin alles im Umbruch ist, mag es leichter sein, auch diese akademische Berufsausbildung in die Hoch-schulen zu integrieren. Dabei stellen sich meines Erachtens vier Aufgaben:

1) Unumstritten ist, dass gymna-siale Lehrkräfte in ihrer Ausbil-dung ernsthaft mit fachwissen-schaftlicher Forschung in Kontakt kommen müssen. Gymnasialfä-cher wie «Deutsch» oder «Biolo-gie» und erst recht MAR-Konstrukte wie «Anwendungen der Mathematik» haben jedoch heute an den Universitäten kein adäquates Gegenüber mehr. In Zukunft müsste es vermehrt An-gebote geben, die näher bei den Gymnasialfächern liegen und trotzdem universitäres Niveau erreichen.

2) Allgemeindidaktik, Pädagogik und Lernpsychologie sollten durchgehend von Personen er-teilt werden, die ständig mit dem Alltag der anvisierten Schulstufe in Kontakt stehen.

3) Die notwendige, aber kost-spielige Begleitung bei der Be-rufseinführung könnte optimiert werden. Ein Referendariat nach deutschem Vorbild ist zu bürokratisch, aber eine Anlehnung an die Situation in der Romandie wäre zu studieren.

4) Den Fachdidaktiken kommt eine zentrale Rolle zu. Sie ver-mitteln zwischen den wissen-

schaftlichen Disziplinen, den Erziehungswissenschaften und der Schulrealität. Die Hochschu-len sollten sich fachdidaktische Institutionen leisten, in deren Rahmen Lehre und angewandte und grundlegende Forschung betrieben werden. Die dafür nöti-ge Doppelqualifikation müsste geklärt und mit der nötigen Flexi-bilität gehandhabt werden, was im Ausland möglich ist. Hierzu-lande hat man das bisher als Luxus betrachtet und – abgese-hen von Mathematik an der ETHZ – sich mit teilentlasteten Gymnasiallehrern als Dozieren-den zufrieden gegeben. Das ist wohl ein Grund dafür, dass sich am Gymnasium viele eher als Anglistinnen, Ökonomen oder Leistungssportler fühlen und weniger als diejenigen, die ihre disziplinären Kompetenzen in den Dienst der Allgemeinbildung junger Menschen stellen. Fachdidaktische Institutionen

Fachdidaktische Institutionen brauchen eine kritische Grösse und kosten natürlich Geld. Eine sprachregionale Arbeitsteilung ist unumgänglich. Die Studierenden werden dorthin gehen müssen, wo die Umstände zu einem Fachdidaktikangebot geführt haben. Beispielsweise sollte an der ETHZ das grösste Physikde-partement der Schweiz zur Füh-rung einer professionellen Phy-sikdidaktik verpflichtet werden. Bei den Universitäten könnte – beispielsweise und unter ande-rem – Zürich einen Schwerpunkt in Deutsch, Basel in Geschichte, Bern in Französisch und St. Gallen in Wirtschaft und Recht setzen. Wenn den Universitäten diese Absprache nicht gelingt, wird die Gymnasiallehreraus- und -fortbildung auf Fachhoch-schulniveau angesiedelt, zu-sammen mit der nach anderen Schwerpunkten orientierten Aus-bildung der Volksschullehrkräfte. Das wäre für die Attraktivität des Berufs und die Qualität des Gymnasiums katastrophal. Unklar ist, ob die EDK bei der Anerkennung von Lehrdiplomen

weiterhin an der «Empfehlung», die effektiv eine Vorschrift ist, festhält, dass Gymnasiallehr-kräfte zwei Fächer unterrichten können sollen. Das wäre mit den Master-Vorstellungen schwerlich zu vereinbaren und wird wohl noch diskutiert werden müssen. Junge Menschen als «fachspezi-fische Spezialistinnen und Spe-zialisten für Allgemeinbildung» heranzuziehen, ist eine Aufgabe, welche die Hochschulen als Ganzes und auch die einzelnen Departemente oder Fakultäten fordern. Das Gymnasium hat zwar ein breites Publikum, aber keine so effiziente Lobby wie etwa die Ärzteschaft. Der VSG ist oft überfordert, weil er sich mit den Entwicklungen beim Bund, der EDK und den 26 Erzie-hungsdirektionen gleichzeitig auseinander setzen müsste. Kontakt und Koordination Gymnasium und Universitäten haben gemeinsame Anliegen. Beide richten sich an die weitge-hend gleichen rund zwanzig Pro-zent intellektuell talentierter und interessierter junger Menschen. Das Gymnasium darf und will ebenso wenig weiter in Richtung High School driften, wie die (For-schungs)-Universitäten die Un-terschiede zu den Fachhoch-schulen verwischt sehen möch-ten. Beide dürfen in dieser dy-namischen Zeit nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Sie müssen klarlegen, welche Ziele sie errei-chen wollen. Daraus ergibt sich der Bedarf an Zeit und Geld. Schulleitungen und Lehrerschaft an den Gymnasien müssen aus dem Dornröschenschlaf aufwa-chen, eine gehörige Portion Kirchturmpolitik überwinden und die unaufhaltsamen Veränderun-gen mit zu gestalten versuchen.

Kontakte, wie sie durch die Kommission Gymnasium–Uni-versität KGU vermittelt werden, sind essentiell. Wünschenswert wäre, dass die Zusammenarbeit an der Schnittstelle «Maturität und Hochschulzulassung» inten-siviert würde. Neben der schwei-zerischen Maturitätskommission,

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die stark vom Prüfungswesen absorbiert ist, müssten die Zu-lassungsstellen und die für das Grundstudium zuständigen Pro-rektoren und Dekane stärker mit den Gymnasialrektoren und den Lehrerverbänden auf der politi-schen Ebene zusammenwirken. Die Betroffenen und die fachlich und didaktisch Sachverständigen müssten Kriterien für jene Quali-tät festlegen, die dem ISO-Trend folgend überall zertifiziert wird – oft genug von Institutionen mit Know-how bloss im organisato-risch-psychologischen Bereich und ohne inhaltlichen Sachver-stand.

Universität und Gymnasium müssen zusammenrücken Mittel- und Hochschule haben sich leider voneinander entfernt. Zur Entfremdung trägt neben der

Vermassung auch die Speziali-sierung bei: Heute ist es prak-tisch nicht mehr möglich, dass sich eine Gymnasiallehrperson, von der ein «professionalisierter» Unterricht erwartet wird, zusätz-lich wissenschaftlich so weiter qualifizieren kann, dass sie oder er in einem Berufungsverfahren eine Chance hätte. Und doch gibt es viele Gelegenheiten, die ver-mehrt genutzt werden müssen: Aktionen zur Gewinnung von Studierenden, die Mitarbeit in Schulbehörden, Gespräche bei Besichtigungen und Vorträgen. Einen institutionalisierten Anlass bieten gute Maturitätsarbeiten. Diese stossen oft in Bereiche vor, wo die Kenntnisse und Aus-stattungen der Gymnasien nicht ausreichen und die Unterstüt-zung durch ein Hochschulinstitut

zu einem Gewinn für alle Betei-ligten führt. Das Gymnasium benötigt die Unterstützung der Universitäten und wissenschaftlichen Akade-mien. Vielleicht hilft eine ketzeri-sche Forderung, das Gespräch zwischen den entfremdeten Ge-schwistern zu intensivieren: Am Gymnasium erfolgreich abge-schlossene Schwerpunktkurse sollen Kreditpunkte zum Bache-lorstudium an der Universität beisteuern dürfen! – Wenn die grosse Schwester Universität und der kleine Bruder Gymnasi-um nicht näher zusammenrü-cken, droht dieser bis 2010 spur-los in einer Sekundarstufe II zu verschwinden, die der High School erschreckend ähnlich ist.

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Das Gymnasium der Zukunft: Scheinprobleme und echte Aufgaben

Prof. Dr. Jürgen Oelkers

Leiter des Pädagogischen Instituts der Universität Zürich Der vorliegende Text ist eine Kompilation aus zwei Referaten von Jürgen Oelkers, gehalten auf der Jah-restagung der Westfälischen Direktorenvereinigung am 22.11.2004 in Hamm und anlässlich des 375-jährigen Bestehens des Ludwig-Georg-Gymnasiums in Darmstadt am 15. Mai 2004

Mein Vortrag beginnt mit einer konstruktivistischen Version der Wirklichkeit. Das “herkömmliche Gymnasium”, heisst es in einer deutschen Kritik aus dem Jahre 2000, ist gekennzeichnet durch fünf negative Kriterien: • Lebensferne • Fachliche Beschränktheit und

Scheinwissenschaftlichkeit • Kognitive Überfrachtung und

reduziertes Menschenbild • Institutionelle Konzeptlosigkeit

und Indifferenz • Gesellschaftlich-historische

Überlebtheit und Niveau-verlust

(MOEGLING 2000, S. 25ff.).

“Lebensferne” heisst, dem Gym-nasium fehle die Vernetzung mit dem Umfeld und den Lebens-welten der Schüler; “Beschränkt-heit” und “Scheinwissenschaft-lichkeit” werden auf die Speziali-sierung der Fächer und die stän-dige Praxis des “Auswendigler-nens” bezogen; “kognitive Über-frachtung” wird gegen “sinnliche, emotionale und soziale Erfah-rung” gesetzt; “Konzeptlosigkeit” meint, dass im heutigen Gymna-sium kein “übergreifendes pä-dagogisches Konzept” vorhan-den sei; und “Überlebtheit” soll andeuten, dass das Gymnasium am Kernproblem der heutigen Ausbildung von Jugendlichen, die “Erziehung zur Selbststän-digkeit”, vorbeigehe. Das wäre eine formidable Krise, die unmittelbar nach Rettung verlangt. Rettung kann es aber in einer so verfahrenen Situation

nur geben, wenn etwas grundle-gend anders wird, wenn, wie man heute sagt, ein “Paradig-menwechsel” erfolgt. Aber stimmt die Kritik? Die Sprache der Kritik am Gymnasium – Lebensferne, Beschränktheit, Scheinwissen-schaftlichkeit, Überfrachtung, Überlebtheit – lässt sich in den letzten zweihundert Jahren an vielen Stellen nachweisen, ohne dass die Praxis je der Kritik ge-folgt wäre. In diesem Sinne han-delt es sich um Scheinprobleme, Aufgeregtheiten der Kritik, die ausser Stande sind, den Punkt zu treffen. Das hat Methode: Im deutschen Sprachraum gibt es seit Beginn des 19. Jahrhunderts Hunderte von Autoren, FRIEDRICH NIETZ-SCHE an der Spitze, die das Gymnasium unter Anklage ge-stellt haben, alle mit sehr ähnli-chen Argumenten, die oft hohe Zustimmung erhielten, merkwür-digerweise auch von den Lehr-kräften, aber die immer an der Praxis vorbei gedacht waren. Mit Vorwürfen, die nicht wirklich auf den institutionellen Rahmen des Gymnasiums bezogen sind, lässt sich ausser einer Dramatisierung der Sprache nichts anfangen. Die Rhetorik beeindruckt folgenlos. Oder anders, “Lebensferne”, “Überfrachtung” und “Überlebt-heit” haben seit IGNATIUS LO-RINSERS Kritik an der “Überbür-dung” der Schüler, also seit 1836, die Kritik bewegt, aber nicht die Praxis. Aber stimmt nicht wenigstens die Perspektive? Muss nicht, wie es in der Kritik heisst, zeitgemässer

Gymnasialunterricht “problemori-entiert” sein, “interdisziplinär”, “handlungsbezogen” und interes-siert vor allem an der “Selbst-ständigkeit” der Schüler? An der Kritik ist ein Hinweis zu-treffend: Es gibt, wie sich gleich zeigen wird, ein Problem im Be-reich überfachlicher Kompeten-zen, die im heutigen Gymnasium klar vernachlässigt werden. Da-neben stellen sich aber ganz andere Probleme, die in der Kritik nicht gesehen werden, weil sie in der deutschen Pädagogik kaum Thema sind, nämlich Fragen der Qualitätsentwicklung, der Trans-parenz, des Wettbewerbs und der Aufsicht sowie der internen Abstimmung und der übergrei-fenden Standardisierung der Inhalte. Alltag für Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer sind regel-mässige Beurteilungen der Schü-lerinnen und Schüler nach Se-quenzen des Fachunterrichts, meistens mit einem Notensche-ma und am Ende mit einem Durchschnittswert, der die Rang-folge in der Klasse ermittelt. Das ist das Kerngeschäft: Unterricht und fortlaufende Beurteilung der Leistungen. Eine Schlüsselfrage der Entwicklung von Gymnasien wird sein, ob mehr möglich ist und was diesen Mehrwert be-stimmt. Anders als viele Kritiker insgeheim unterstellen, gehe ich nicht davon aus, dass in den nächsten Jahren eine Revolution der Schule stattfinden wird, schon gar nicht eine Revolution des Gymnasiums.

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1. Der Idealtypus gymnasialer Bildung Eine der populärsten Begrün-dungen für die schulischen Lei-stungsprofile der Zukunft ist die Lehre von den “Schlüsselqualifi-kationen” (siehe Kasten, Anm. d. Hrsg.). Diese Lehre stammt aus Forschungen zur Entwicklung des Arbeitsmarktes, aus denen eine sehr weitgehende Schulkri-tik resultierte. Die Kritik mündet in der Behauptung, das von der Schule, besonders vom Gymna-sium, erzeugte Wissen und Kön-nen sei in keiner nennenswerten Hinsicht für den Arbeitsmarkt der Zukunft tauglich, daher müsse Unterricht in Schulfächern durch die Ausbildung von Schlüssel-qualifikationen ersetzt werden. Das ist zu unterscheiden von Kompetenzen, die sich fachlich wie überfachlich verstehen las-sen. Schlüsselqualifikationen setzen im Prinzip kein Fach vor-aus. Sie werden psychologisch begründet und sollen allgemein gelten. Nach diesem Konzept muss je-der Unterricht von externen Ver-wendungszwecken her bestimmt werden. In der Konsequenz hies-se das: • Mathematikunterricht ist nur

dann sinnvoll, wenn er kreati-ves “Problemlösen” fördert,

• Sportunterricht, wenn “Team-fähigkeit” ausgebildet wird,

• Musik, wenn der Unterricht “soziales Lernen” beeinflusst,

• Deutsch, wenn “Texterfas-sungskompetenz” entsteht,

• oder Französischunterricht, wenn basale “Kommunika-tionsfertigkeit” entwickelt wird.

Träfe das zu, könnte kein Unter-richt im Weitsprung mehr erteilt werden, wäre Französisch schnell am Ende und müsste der Musikunterricht auf das En-semble und nicht auf die Musik achten. Im Ernst: In den diversen Listen, was unter “Schlüsselqua-lifikationen” verstanden werden soll, fehlen notorisch Fachan-sprüche, die mit überflüssigem Wissen gleichgesetzt werden.

Schlüsselqualifikationen (nach MERTENS 1974):

„Förderung der Fähigkeit zu lebenslangem Lernen und zum Wechsel sozialer Rollen, Distanzierung durch Theoretisie-rung, Kreativität, Relativierung, Verknüpfung von Theorie und Praxis, Technikverständnis, Interessenanalyse, gesell-schaftswissenschaftliches Grundverständnis; Planungsfähig-keit; Befähigung zur Kommunikation, Dekodierungsfähigkeit; Fähigkeit hinzu zu lernen, Zeit und Mittel einzuteilen, sich Zie-le zu setzen, Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Ausdauer, zur Konzentration, zur Genauigkeit, zur rationalen Austragung von Konflikten, zur Mitverantwortung, zur Verminderung von Entfremdung, Leistungsfreude“.

Dazu Oelkers 1998: „Wie diese „Fähigkeiten erreicht werden sollen, wird nicht ge-sagt, auch nicht, was gerade sie in den Rang von „Schlüssel-qualifikationen“ erhebt und welcher Lernaufwand mit den ein-zelnen Kategorien verbunden ist. Man könnte darin einen ra-dikalen Beitrag zur Schulzeitverkürzung sehen, weil niemand sich vorstellen kann, wie neun oder dreizehn Schuljahre aus-gefüllt werden können, um „Kommunikation“, „Kreativität“ oder die „Fähigkeit zur Zusammenarbeit“ zu lernen. (...)

Die Liste von Schlüsselqualifikationen ist vermutlich wegen dieser schnellen Ironisierbarkeit beliebig verlängerbar. Nimmt man heutige Vorschläge, dann dominieren Konzepte wie „Teamfähigkeit“, „vernetztes Denken“, „Lernen des Lernens“, „Problemlöseverhalten, neuerdings auch „emotionale Intelli-genz“ oder „multiple Persönlichkeit“, allesamt formale Ziele ohne eine bestimmte materiale Anbindung, begründet mit va-gen informationstheoretischen Ansätzen, die Gewinnung, Verstehen und Verarbeitung beliebiger „Informationen“ von der Logik der Fächer abstrahiert sehen wollen. (...)

Die Kritik hat verschiedentlich auf das Triviale, Diffuse und Konturlose des Konzepts hingewiesen. Es handelt sich um „Leerformeln“ (...), die weder irgend eine innere Konsistenz noch einen praktischen Bezug zur Schule haben. Warum hat dann aber das Konzept eine erstaunliche Akzeptanzkarriere hinter sich, deren Zenit noch nicht erreicht ist? „Schlüsselqua-lifikationen“ versprechen die Zukunft der Bildung, sie verheis-sen einen Modernisierungsschub und haben den Vorteil, nicht verlässlich getestet zu sein. Das Konzept wirkt, weil es be-hauptet, die Probleme der Schule am Ende des 20. Jahrhun-derts erfolgreich bearbeiten zu können. (...)

Dieser Befund gilt für alle heute bekannten „Schlüsselqualifi-kationen“. Sie sind suggestiv, weil sie leer sind und aber gros-se Effekte versprechen. Wer hätte nicht gerne die Qualifikati-on der Zukunft vor Augen, wenn mühsam Schulunterricht gegeben werden muss? Aber kein Unterricht erzeugt direkt, unabhängig von seinen inhaltlichen Bezügen, „Schlüsselqua-lifikationen“. (...)

Nur wer auf Fakten schaut und Wissen lernt, erkennt die Möglichkeit, Fragen zu stellen.“ Aus: J. Oelkers: Die Zukunft der Höheren Bildung: Standards des Gymna-siums. Referat zum 30jährigen Jubiläum der KS Luzern, 2.2.1998.

Quelle: www.ksluzern.ch/diversicum/archiv/vortragsreihe1998/oelktext.htm

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Aber kreativ wird “Problemlösen” erst dann, wenn eine Wissens-basis vorhanden ist. Sonst ver-wechselt man “Lösung” mit “Lee-re”. Im Zentrum der Listen für Schlüsselqualifikationen stehen Wörter wie “Kommunikation”, “Präsentation”, “Kreativität” oder “Teamfähigkeit”; Unterricht soll wenn, dann im Blick darauf erteilt werden. Aber das ist aus einem sehr banalen Grunde irreführend. Jeder Unterricht muss ein Thema oder einen Gegenstand haben, und es dürfte schwierig werden, neun oder dreizehn Schuljahre “Schlüsselqualifikationen” zu un-terrichten. Wer lediglich für nach-schulische Verwendungszusam-menhänge “Schlüsselqualifika-tionen” ausbilden will, kann Fachansprüche reduzieren, auf sie käme es dann primär nicht mehr an. Fachansprüche aber sind nötig, weil anders keine Standards für das formuliert werden können, was den Niveausprung ausma-chen muss, wenn Vorankommen gesichert werden soll. Für jeden guten Koch ist selbstverständlich, dass er kreativ erst dann wird, wenn er sein Fach beherrscht, was viele Übungssituationen und auch negative Belehrungen über den Stand des eigenen Könnens voraussetzt. Man kommt nicht voran, wenn man nicht weiss, wo man schlecht ist, während man lange braucht, um in einem Fach wirklich gut zu sein. Kreativität setzt also einen fachlichen Kon-text voraus, sie ist nicht “an sich” wirksam, und das gilt für alle “Schlüsselqualifikationen”. Team-fähigkeit in einer Consulting-Firma ist etwas Anderes als Teamfähigkeit im Gesangverein. Schliesslich: “Präsentation”, die nichts zu sagen hat, wirkt “ge-lernt”, und ist eine besondere Form der Peinlichkeit. Dieser Befund lässt sich verall-gemeinern. Bildung hat zu tun mit der Ausbildung von Interes-sen, mit einem Sinn für Schwie-rigkeiten und mit der Akzeptanz von Niveauforderungen, die Fä-cher und im Weiteren Bildungs-

kulturen voraussetzen. Die Ni-veauforderungen kann man auch “Standards” nennen, sie sind Fächern implizit, also brauchen nicht künstlich erfunden zu wer-den. Standards in Englisch, Ma-thematik oder Sport müssen nicht mit dem höheren Segen von Regierungskommissionen versehen werden, es gibt sie, nur heute in wenig verbindlicher und zu wenig expliziter Form (OELKERS 2004). Gymnasien unterscheiden sich von anderen Schularten und Schulstufen vor allem durch ihren Fachanspruch, daher ist das Erreichen fachlicher Standards zentral für das Zu-standekommen gymnasialer Bildungsqualität. Das schliesst dazu passende Lernstrategien und überfachliche Kompetenzen mit ein, nur dürfen diese nicht isoliert betrachtet werden. Ausgehend von der Liste lässt sich sagen:

• Das Problemlösen findet im Mathematikunterricht statt, es gibt nicht eine “Problemlöse-kompetenz” als psychische Instanz und daneben den Un-terricht, sondern Aufgaben und Leistungen des Unter-richts, die mehr oder weniger gut gestellt und bearbeitet werden.

• Die Schlüsselqualifikation ist die zunehmend bessere Be-herrschung der Französi-schen Sprache einschliesslich der französischen Kommuni-kation mit ihren Nuancen und stilistischen Anforderungen, die deutschsprachige Lerner nicht deswegen beherrschen, weil sie über “kommunikative Kompetenz” verfügen.

• Musikalische Kompetenz be-zieht sich auf die Anforderun-gen der Musik, das soziale Lernen mag davon profitieren, aber doch wohl nur so weit, wie das Ensemble reicht.

• Und was immer “Texterfas-sungskompetenz” sein mag, sie hat zu tun mit Literatur und Lektüre, nicht einfach mit “Texten”.

Gymnasien erteilen nicht nur die Berechtigung für den Zugang zur Universität – übrigens ein im internationalen Vergleich einzig-artiges Privileg –, sie eröffnen auch den Zugang zu Bildungskul-turen, die sich dadurch aus-zeichnen, dass sie in Probleme einführen, Interessen binden und Niveauunterschreitungen nicht so sehr bestrafen als sichtbar ma-chen. Man muss lernen, sich in diesen Kulturen sicher zu bewe-gen, also den Zustand des ewi-gen Anfängers zu überwinden. In diesem Sinne ist Bildung nicht-lineares Vorankommen, eine Bewegung des Lernens mit zu-nehmender Qualität, die Umwe-ge einschliesst. Es gibt kein In-stant-Erlebnis, man ist nie sofort und nie abschliessend “gebildet”, sondern ist fortlaufend mit dem konfrontiert, was man nicht kann und aber lernen muss, um vor-anzukommen. Bildung ist so persönliche Qualitätssicherung, wenn Sie mir den modischen Ausdruck nachsehen. Gegen die These der Initiation in Bildungskulturen durch Schulen kann die zunehmende Bedeu-tung ausserschulischer Bil-dungsangebote ins Feld geführt werden, etwa dass das Aus-landjahr und nicht der Eng-lischunterricht für Sprachkom-petenz sorgt oder Lernstudios dafür zuständig sind, dass trotz durchgehend schlechter Mathe-matikleistungen am Ende doch noch knapp die Maturitätsprüfung bestanden wird. Tatsächlich nimmt die Konkurrenz zu, Schu-len sind heute keine in sich ge-schlossenen Bildungsräume mehr wie die Lateinschulen des 16. und 17. Jahrhunderts. Bil-dung ist vielfältig zugänglich, und Schulen verfügen nicht länger über ein Monopol des Wissens. Höhere Bildung ist deutlich auch Investitionsobjekt, schliesslich verlangt das Gymnasium jahre-lange Arbeit, an deren Ende der Erfolg stehen soll. Gleichwohl ist die Schule der entscheidende Träger der Bildung. Alle Sonder-Investitionen erfolgen nur, weil

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die Schule die Ansprüche stellt und die Zugänge öffnet. Aber kann man mit schulischer Bildung wirklich etwas anfangen? Eine Testfrage wäre, was man behält und was man vergisst. Diese Frage ist interessanterwei-se nicht gut untersucht, ich muss also spekulieren. Man könnte ad hoc vermuten, dass vergessen wird, was nach dem Abitur nicht genutzt werden kann. Doch die Frage ist so falsch gestellt. Nie-mand behält alles Wissen, das im Unterricht vermittelt wurde. Die Bildungsqualität zeigt sich tatsächlich nicht im Vielwissen, sondern darin, Qualität über-haupt zu erkennen und zu ak-zeptieren. Dazu gehört die Erfah-rung, • dass andere besser sind als

man selbst, • dass darin eine Herausforde-

rung liegen kann, • dass Lernen erfolgreich sein

kann, obwohl man den Erfolg für unmöglich gehalten hat,

• und dass Vorankommen mit Anstrengungen verbunden ist, die sich lohnen, weil man tat-sächlich besser wird.

Das gilt unabhängig von der Be-gabung. Auch und gerade Hoch-begabte nutzen ihre Potentiale nur dann, wenn sie die Grunder-fahrung machen, dass Lernen und Anstrengung die eigene Qualität sichtbar verbessert. Nichts ist quälender in der Schu-le als die Erfahrung, sich Mühe zu geben und nicht voranzu-kommen. Und daran sind nicht einfach nur die Schüler Schuld. Gymnasien müssen für einen Niveausprung in der Hinsicht sorgen, dass Qualität der Bildung in Unterscheidung zur Alltagser-fahrung gesucht wird. Dabei ist die Einstellung zum Lernen zent-ral, also das, was die Lehrkräfte die “Lernhaltung” nennen oder was neuerdings mit “Lernstrate-gien” bezeichnet wird. Man ist nicht zufrieden mit dem, was man weiss und kann, sondern setzt sich Lernanforderungen aus, die Anstrengung verlangen und die nicht leicht zu haben

sind. Ich weiss, dass unmöglich alles “schwer” sein kann, aber die zentrale Lernerfahrung, das, was man vor allem mit nimmt vom Gymnasium, muss darin bestehen, • gestuft voranzukommen, • die nächste Schwierigkeit

nicht zu vermeiden, • sondern sie zu überwinden, • einen Sinn für die Probleme

zu entwickeln • und steigende Lernanforde-

rungen zu akzeptieren.

Das ist der Kern meines Idealty-pus: Die Qualität gymnasialer Bildung ist vom Erreichen be-stimmter Niveaus abhängig, die zum persönlichen Lernhabitus werden müssen. Dafür muss die typische “Schülerhaltung” über-wunden werden, die nicht nur die Schüler, sondern auch die Schu-le zu verantworten hat, also das passive Hinnehmen des Unterrichts, das Interesse an schnellen Lösungen, das Ver-meiden von Schwierigkeiten und der Minimalismus des persönli-chen Aufwands. Ich komme da-rauf zurück, bleibe aber zunächst positiv. Die Leistungen der Schulen wer-den in der Öffentlichkeit gele-gentlich etwas verzerrt wahrge-nommen, weil oft Einzelfälle eine schnelle Generalisierung erfah-ren, ohne in der Breite generali-sierbar zu sein. Schulen sind sozusagen die Qualitätssiche-rung der Bildung, weil mit ihnen institutionelles Gewicht gegeben ist, eine Ordnung des Lernens, die nicht beliebig verändert wer-den kann oder darf. Hinter dem allmählich wachsenden Können der Schüler steht ein Curriculum oder die Struktur eines Schulfa-ches, das Qualität nach oben hin offen definieren kann und aber nach unten hin abgrenzen muss. Man kann nie zu viel, aber muss erfahren haben, wann man zu wenig kann. In diesem Sinne müssen Gymnasien die Lernni-veaus sichern und ihre Ansprü-che offensiv vertreten, ohne da-bei die Lernförderung zu ver-nachlässigen.

Gymnasiale Bildung gelingt dann, wenn Einseitigkeit ausge-schlossen ist und ständig ver-schiedene Fächer oder Wis-sensformen beteiligt sind (OELKERS 2003, S. 165ff.). Das ist eine schwierige Herausforde-rung, die sich tatsächlich an der Akzeptanz der Lernniveaus ent-scheidet, also nicht einfach in der Beherrschung der Lehrbücher. Sie sind Mittel zum Zweck und nicht die letzte sichere Grösse der Didaktik. Bildung als Habitus hat vor allem mit Lernfähigkeit zu tun, wobei sich “Lernfähigkeit” nicht psychologisch leer bestim-men lässt. Gemeint ist die fort-laufende Beschäftigung mit Themen, Problemen und Wis-sensformen bei genügend ho-hem Ersteinstieg. Der Erfolg zeigt sich in der Beherrschung je neuer Stufen, und von “Erfolg” kann nur dann die Rede sein, wenn die Stufen nicht hinab füh-ren. Aber das ist leichter gesagt als getan, auch weil mein Ideal-typus gymnasialer Bildung immer vor dem Hintergrund seines ge-sellschaftlichen und politischen Umfeldes verstanden werden muss. Haben wir dafür den richtigen Unterricht? Müssen wir den wis-sensbasierten Fachunterricht zugunsten eines Lernens redu-zieren, das an Verfahren des Problemlösens ausgerichtet ist? Diese Frage steht im Zentrum vieler heutiger Diskussionen. Ich werde in meinem letzten Teil ausführlicher darauf eingehen und zunächst fragen, was ein zureichendes Konzept gymna-sialen Unterrichts ist und welche Wirkungen der heutige Unterricht erzielt. (...)

Gymnasien unterrichten nicht mehr so, dass die Metapher des “Nürnberger Trichters” zutreffen würde. Angesichts der Theorie der Ressourcennutzung kann man auch bezweifeln, ob das je der Fall war, wie die Kritik unter-stellt, weil Unterricht immer et-was damit zu tun hat, wie die Ressourcen des Lehrens und Lernens eingesetzt werden. In diesem Sinne ist auch die Idee

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der “blossen Wissensvermittlung” fragwürdig, die oft als Kritik des Gymnasiums gebraucht wird. Auch und gerade der Gymna-sialunterricht hat nur dann Erfolg, wenn Lernzeit, Zugänge zum Wissen, Medien und Strategien des Lernens optimal genutzt werden. Das ist nicht der Fall, wenn einfach nur Lektionen ver-gehen. Wie immer, was lässt sich über den Ertrag des gymnasialen Un-terrichts sagen? Wenn pädago-gische Autoren über das Gymna-sium schreiben, dann entsteht zumeist ein Bild von Dissidenten. Das Gymnasium wird leiden-schaftlich, abstrakt und folgenlos kritisiert, die Kritiker behalten am Ende immer nur deswegen Recht, weil sie sich konkret auf das Feld gar nicht einlassen. Auf der anderen Seite stehen Selbst-darstellungen, wie wir sie aus der Leitbildflut kennen. Auch hier ergibt sich kein realistisches Bild, weil “gut” sein soll, was gar nicht geprüft wurde. Im ersten Fall kann das Gymnasium gar nicht schlecht genug, im zweiten Fall gar nicht gut genug sein; im Pendel von Kritik und Selbstdar-stellung ist Jahrzehnte lang ein Diskurs geführt worden, der den Charme hatte, für Aufregung zu sorgen, ohne sich entscheiden zu müssen. Externe Evaluatio-nen sind eingeführt worden, um diesen Zirkel zu durchbrechen und ein objektives Bild zu gewin-nen. 2. Wirklichkeiten des Gym-nasiums im Spiegel von Evaluationen Im Kanton Zürich werden die Absolventen der Gymnasien regelmässig zwei Jahre nach Abschluss der Maturitätsprüfung befragt, wie sie die Qualität ihrer Ausbildung im Blick auf fachliche und überfachliche Kompetenzen einschätzen. In der dritten Ehe-maligenbefragung (2000) des Kantons Zürich, die insgesamt eine hohe Zufriedenheit ergeben

hat1, wird die “zeitliche Belastung durch die Schule” zentral ge-wichtet, die kaum Raum lasse für die Entwicklung persönlicher Interessen (Befragung 2001, S. 22). Die Mittelschulen werden vornehmlich als Institutionen für die Vermittlung kognitiver Fähig-keiten wahrgenommen, wobei der Ausbildungsstand in den obligatorischen Fächern weit besser beurteilt wurde als der in den fakultativen. (...)

Mängel werden aus der Sicht der Absolventen wesentlich im Be-reich der überfachlichen Kompe-tenzen gesehen (ebd., S. 25). Im Blick auf diesen Befund wurde eine weitere Studie in Auftrag gegeben, die näher erfassen sollte, warum die Ausbildung von überfachlichen Kompetenzen offenkundig vernachlässigt wird (MAAG-MERKI 2002). Befragt wurden im Jahre 2001 alle 10. und 13. Klassen der Zürcher Gymnasien. Neben positiven hat die Studie auch negative oder bedenkliche Resultate erbracht. Die problematischen Ergebnisse beziehen sich auf alle drei Di-mensionen der Befragung, näm-lich die Strategien des Lernens und Arbeitens, politische Kom-petenzen und der Umgang mit Gesundheitsrisiken. (...)

Generell gesagt und unterschie-den nach Gruppen: Defizite im Bereich von Lern- und Arbeits-strategien lassen sich bei schwä-cheren Schülern, männlichen Schülern und Schülern aus bil-dungsferneren Elternhäusern feststellen. Das geschlechtsspe-zifisch ungleich verteilte Interes-se und die divergenten Selbsteinschätzungen werden von zahlreichen Studien bestätigt und sind weder eine Besonder-heit noch eine Überraschung. Das generell eher schwache Politikinteresse der Zürcher Mit-telschüler und damit zusammen-hängend die geringe Kompetenz, 1 87% der Ehemaligen äussern sich

positiv zu ihrer Mittelschule (die kan-tonsrätliche Vorgabe liegt bei 85%) (Befragung 2001, S. 10).

lassen sich nicht allein der Schule zuschreiben, auch nicht der Schulkarriere, also der Ge-samterfahrung während der Schulzeit. Eher dürften genera-tionenspezifische Faktoren eine Rolle spielen, die wiederum in einem engen Zusammenhang mit den heutigen Kinder- und Jugendkulturen gesehen werden müssen. Leider sind diese Zusammen-hänge in den vorliegenden Stu-dien nicht erhoben worden. Ame-rikanische Studien (STEINBERG 1997) deuten darauf hin, dass Bildungsnähe oder Bildungsferne nicht allein durch Elternhäuser beeinflusst wird, sondern kom-plexer oder weniger gut sichtbar auch durch informelle Kulturen der Schülerschaft, die sich weni-ger durch Bildungsferne als durch Bildungsfeindschaft aus-zeichnet. Eine ähnliche Erklärung dürfte auch für die Gesundheits-gefährdungen nahe liegen. Die Probleme ergeben sich aus den internen wie externen Gruppie-rungen der Schülerschaft, die oft wie abgeschlossene Cliquen operieren. Es ist sehr schwer, auf die Meinungsbildung und das Verhaltensrepertoire dieser Gruppen Einfluss zu nehmen, was natürlich nicht heissen soll, auf derartige Anstrengungen zu verzichten. Generell aber muss die Beurteilung der Möglichkeiten einer Schule immer vor dem Hintergrund ihres sozialen und kulturellen Umfeldes erfolgen. (...)

Die Schweizer Gymnasien gehen inzwischen mit Schülerjahrgän-gen um, • die sich bei den Mittelschulen

zur Aufnahmeprüfung anmel-den,

• sich parallel dazu um Lehr-stellen der unterschiedlichsten Art bewerben,

• Schleifen im Kauf nehmen wie ein zehntes Schuljahr im Ausland

• und die dann das wählen, was als erstes Erfolg verspricht, ohne viel über die Unter-schiede zu wissen.

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Gymnasien werden lernen, mit diesen Problemen umzugehen. Eine andere Frage ist, wie sie ihre eigene Qualität sichern kön-nen, wenn sie mit Schülern un-terschiedlicher Herkunft und Nei-gung zu tun haben, die das gym-nasiale Bildungsangebot oft sehr utilitaristisch betrachten und den maximalen Ertrag nicht zwingend mit der maximalen Leistung er-reichen wollen oder können. In gewisser Hinsicht zwingt die Schweizer Maturitätsordnung auch zum Utilitarismus, der also in Grenzen ertragen werden muss. Gymnasien haben es mit Jugendlichen und jungen Er-wachsenen tun, die unter “Le-ben” nicht nur “Unterricht” ver-stehen. Umso erstaunlicher ist die Qualität mancher Maturaar-beit, der Leistungsstand in vielen Klassen und die Motivationskünste der Mehrzahl der Lehrkräfte. (...) 3. Qualitätssicherung und die Entwicklung des Gym-nasiums Die Zukunft des Gymnasiums ist nicht einfach gleichbedeutend mit der Zukunft der Bildung. Histo-risch gesehen sind die Gymna-sien im deutschen Sprachraum der Ort der Elitebildung, aber mit dem Besuch des Gymnasiums ist heute nicht mehr automatisch eine Eliten-Platzierung verbun-den. Einkommenseliten sind nicht mehr identisch mit Bil-dungseliten, und die höheren Bildungsabschlüsse sind nicht mehr mit einer de facto Eliten-Berechtigung verbunden. Das gilt umso mehr, als sich die Dynamik der Eliten selbst verändert hat. Dauerhafte Platzierungen sind abhängig vom ökonomischen Erfolg, der Bildungsabschluss ist dafür eine Voraussetzung, mit der Zugänge geöffnet oder ver-schlossen werden. Eine Garantie ist damit nicht mehr verbunden. Der erfolgreiche Besuch eines Gymnasiums definiert eine Le-benschance, nicht jedoch den Zugang zu einer Kaste oder eine Berechtigung, die mit dauerhafter

sozialer Sicherheit verbunden wäre. Man hat es, anders als in meiner Generation, nach der Maturitätsprüfung nicht einfach “geschafft”, die Berechtigung zum Studium definiert einfach weiteren Wettbewerb, der sich zusehends verschärft, weil auch Studienabschlüsse allein keine Garanten mehr sind, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. Der Erfolg ist konjunkturabhängig und von Abschluss zu Abschluss mit wechselnden Chancen ver-bunden. Dann aber fragt sich, wozu Gymnasien dienlich sind oder was ihren Zweck bestimmt, wenn es nicht mehr die Bil-dungseliten alter Art sind und sein können. Mit den alten Bil-dungseliten ist auch die alte Form der Gymnasien ver-schwunden; die Gymnasien ha-ben sich sehr nachhaltig geöffnet und damit auch verändert. Sie sind wohl noch die Schulen des Bürgertums, aber das ist soziolo-gisch gesehen eine breite Schicht geworden, deren Ränder schwer zu bestimmen sind. (...)

Schulen werden bekanntlich nicht nur wegen ihrer mutmassli-chen Qualität, sondern auch aufgrund ihrer Abschlüsse nach-gefragt. In staatlichen Systemen wie in Deutschland oder in Frankreich wird oft sogar nur der Abschluss nachgefragt, weil un-abhängige Qualitätseinschätzun-gen gar nicht vorliegen. Die an-gesichts der impliziten Risiken erstaunliche Nachfrage gymna-sialer Bildung erfolgt nicht vor dem Hintergrund fortlaufender Evaluationen, sondern hat den historischen Nimbus vor Augen und speist sich aus ebenso va-gen wie wirksamen Verwer-tungsannahmen. Es gibt keine Rankings, aber man kann zwi-schen den Schulen Qualitätsdif-ferenzen vermuten, die sich auf die Nachfrage jedoch kaum aus-wirken, weil der Abschluss ent-scheidend ist und nicht die Schulqualität. Das Maturzeugnis bescheinigt die Hochschulreife und öffnet pauschal den Zugang zu den Universitäten, ohne dass irgendeine Instanz die Qualität

der einzelnen Schulen prüfen würde. Wenn der Besuch von Gymna-sien nicht gleichsam die Folge des Elternwunsches sein soll, dann sind Systemanpassungen unerlässlich. Dazu gehört die Evaluation der je erreichten Schulqualität, damit Eltern und Schüler wissen, was sie wählen. Auch die Schulwahl selbst sollte frei gestellt sein, wie dies im Kanton Zürich der Fall ist. Die Schulqualität und das konkrete Anforderungsprofil müssen transparent sein, bevor die Schulwahl erfolgt. Zugleich soll-ten die Geschäftsgrundlagen klar sein, jedes Elternpaar und jeder Schüler müssen sich vorher da-rüber informieren und fortlaufend bestimmen können, was der Besuch des Gymnasiums für ihr Kind bedeutet. Das ist nur mög-lich, wenn Standards definiert sowie Lern- und Verhaltenspro-gramme formuliert sind, die das Angebot der Schule transparent darstellen. Aber es geht nicht nur um Transparenz, sondern auch um Verbesserung der Qualität. Für die innere Entwicklung der Gymnasien ist diese Frage zent-ral. Die Schulen sollten die Lei-stungen ihrer Schüler, also den Kern ihrer Qualität, mit hoch transparenten Verfahren beurtei-len und ihre internen wie exter-nen Evaluationen darauf einstel-len. Die Ergebnisse sollten ver-standen werden als Anreize für die weitere Entwicklung. Wenn inhaltliche Standards als Rah-men vorgegeben sind, können Schulen sehr individuelle Wege gehen, sie zu erreichen, sie müssen nur über Gestaltungsau-tonomie verfügen, also dürfen nicht zentralistisch verwaltet werden. Der staatliche Einfluss beschränkt sich tatsächlich auf Rahmenvorgaben, vor allem im Blick auf die fachlichen Anforde-rungen und die Kriterien der Leis-tungsbewertung. (...)

Erfolg und Misserfolg werden immer mehr sichtbar. Mit jeder Evaluation kann besser über Stärken und Schwächen kom-muniziert werden, und die Trans-

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parenz erhöht den Druck, weil Misserfolge nicht einfach im Dis-kussionsraum stehen bleiben dürfen und blosse Selbstbe-hauptungen ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Die Kommunikation über Bildung verliert so die allei-nige Orientierung an möglichst grossflächigen und möglichst unverbindlichen Idealen; Ziele und tatsächliche Effekte werden in ein Verhältnis gesetzt, das nicht beliebig mit Erwartungen besetzt werden kann, sondern sich an Resultaten orientieren muss. Auch für die Gymnasien gilt daher, dass die Orientierung am Resultat deutlich die neue politische Steuerungsgrösse ist, und darin liegt keine Beleidigung des Ideals zweckfreier Bildung, sondern die einzige Möglichkeit, Bildung in ihrer Qualität unab-hängig von kruden Verwen-dungssituationen nachzuweisen.

Die Fächer des Gymnasiums werden sich in Zukunft viel expli-zierter standardisieren, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Das gilt auch für die Prüfungsorganisation und No-tengebung, also die Kontrolle der Leistungsanforderungen, die das Rückgrat jeder Bildungsinstitution darstellt. Die Leistungsbeurtei-lung muss ihren individuellen Charakter überwinden und auf verbindliche Standards und so echte Bezugsgrössen bezogen werden. Heute werden Noten gegeben, ohne auf Vergleiche achten zu müssen, die Diskus-sion von Bildungsstandards macht aber dann Sinn, wenn sie der Massstab sind für verglei-chende Leistungsbeurteilungen (FITZNER 2004), für die im Übri-gen immer mehr Internetformate entwickelt werden. Nach Schwei-zer Erfahrungen akzeptieren die Lehrkräfte vergleichende Leis-tungstests dann, wenn sie gut zugänglich sind, tatsächlich Auf-schluss geben über die Qualität ihrer Klasse und freiwillig erfol-gen. Entwicklungen wie diese sollten auf eine starke Evaluationsfor-schung zurückgreifen können, die mit einer erweiterten Fachdi-

daktik zusammen arbeitet und die Entwicklung des Feldes fort-laufend beobachtet. Anders las-sen sich neue Formate des Un-terrichts ebenso wenig durchset-zen wie neue Formen der Kon-trolle. “Standardisierung” ist nicht, wie manchmal behauptet wird, Uniformierung, sondern verlangt Autonomie und Indivi-dualität der einzelnen Schule, weil es immer verschiedene We-ge geben kann, Fachstandards zu erreichen. Evaluationsfor-schung steigert einfach die Wahrscheinlichkeit, dass die Schulen sich vergleichen lassen und so von einander lernen, oh-ne vorauszusetzen, sie seien eigentlich alle gleich gut. Das Pädagogische Institut der Uni-versität Zürich hat aus diesem Grunde den Auftrag übernom-men, eine Evaluationsstelle für Gymnasien und Berufsschulen aufzubauen. Die Grundidee der “Qualitätssi-cherung” stammt aus angelsäch-sischen Ansätzen der Reform der öffentlichen Verwaltung. Zentral wurde hier die Frage der Effi-zienz und Wirksamkeit des Ver-waltungshandelns, das nicht länger von Dienstvorschriften und Hierarchien her beurteilt werden sollte. Die Frage, ob die Regeln des New Public Mana-gements auf Schulen übertragen werden können, ist Mitte der neunziger Jahre in der Schweiz intensiv diskutiert worden und hat zu gross angelegten Versuchen geführt, die mit positiven Resul-taten verbunden waren. Viele Kantone haben inzwischen er-weiterte Schulleitungen einge-führt, sind dabei, die herkömmli-che Schulaufsicht durch Evalua-tionsagenturen zu ersetzen, las-sen Leistungsmessungen durch-führen, entwickeln Standards, stellen die Finanzierung auf Glo-balbudgets um und verlangen regelmässige Mitarbeiterbeurtei-lungen.

Qualitätssicherung geht so ein-her mit Systementwicklung, hat also nichts zu tun mit der Verwal-tung des Status Quo. Ausschlag-

gebend sind dabei mindestens sechs Elemente: • Aufbau von Schulleitungen

mit Kompetenzen und Wei-sungsbefugnissen,

• grösst mögliche Transparenz des schulischen Angebots,

• Verbesserung der internen Kommunikation und Abstim-mung von Standards,

• Mitarbeiterbeurteilung und interne Evaluationen,

• regelmässige externe Evalua-tionen,

• Offenlegung der dabei er-zeugten Daten und

• Zielvereinbarungen im Blick auf die nächste Etappe der Schulentwicklung.

Das sind keine Folterwerkzeuge, sondern Instrumente der Profes-sionalisierung, die heute interna-tional üblich sind. Die Entwick-lung in Deutschland vollzieht nur nach, was in skandinavischen oder angelsächsischen Syste-men vor fünfzehn oder zwanzig Jahren begonnen wurde. Im Blick darauf trügt der Eindruck nicht, dass Bildungssysteme auf dieser Linie modernisiert werden, mit Qualitätsgewinnen, wie der Ver-gleich zwischen guten und weni-ger guten Ländern der PISA-Studie zeigt (OELKERS 2003). Eine in der Diskussion wenig beachtete Funktion dieser In-strumente ist, dass sie die In-transparenz des schulischen Geschehens überwinden sollen. Von der Leistungsbeurteilung bis zu den Kriterien des guten Unter-richts ist im Schulalltag zuviel undurchsichtig und zu wenig wirklich explizit, also von Eltern, Schülern und Kollegen nachvoll-ziehbar. Die tatsächlichen Krite-rien zum Beispiel der Notenge-bung sind oft nur der Lehrkraft bekannt, während Schüler hier nicht selten dramatische Schick-sale erleben, die auf ihre Schul-karriere nachhaltigen Einfluss ausüben. Soll sich das ändern, muss Transparenz zur Grundre-gel werden, und zwar nach innen und aussen gleichermassen. Und

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das ist wirklich leichter gesagt als getan. Kein einziges Element von “Qua-litätsmanagement” lässt sich verordnen, sondern nur überzeu-gend entwickeln. Schulleitungen sind sensible Einrichtungen, die sich vor Ort und also je anders bewähren müssen, Lernpro-gramme, die das schulische An-gebot darstellen, werden keine einheitliche Form annehmen, und selbst die viel zitierten Bildungs-standards müssen lokal ange-passt werden, wenn sie praktika-bel sein sollen. Die Schulorgani-sation muss sich selbst gestalten können, was sich verändert, ist das Verhältnis von Autonomie und Kontrolle. Evaluationen sind Versuche, die Stärken und Schwächen einer Schule zu be-stimmen, die mehr sein muss als die Summe des Kollegiums. Man kann nicht zugleich das Einzel-kämpfertum beklagen und es an dieser Stelle nutzen. Nochmals: Das Credo ist Entwicklung der Schule, die ein transparentes Klassenzimmer voraussetzt.

An der Liste fällt freilich auf, dass sie nur auf Schule abhebt, die ja seit den achtziger Jahren als die grundlegende Handlungseinheit des Systems verstanden wird. Diese Optik hat eine uner-wünschte Nebenfolge, die Schü-lerinnen und Schüler kommen nicht mehr vor. Das “Qualitäts-management” bezieht auf die Leitung der Schulen, auf die Lehrkräfte, die Eltern, die Schul-pflege, die Öffentlichkeitsarbeit, aber nicht auf diejenigen, denen der ganze Aufwand gilt, nämlich die Schüler, deren Rolle auf selt-same Weise unberührt zu sein scheint von allen Reformen. Ihre Leistungen sind interessant, aber nicht ihre Rolle, genauer: Die Leistungen werden auf eine Schülerrolle bezogen, die nicht selbst entwickelt werden muss. (...)

4. Schüler und Schulent-wicklung

Schüler sind wohl Adressat der Reformen, aber nicht ihr Aktivpo-

sten, sie sind keine “Player”, wie es neudeutsch heisst, sondern eher “Flyer”, auf denen gedruckt ist, was andere für wichtig halten. In den heute üblichen Modellen der Organisationsentwicklung wird oft übersehen, wie abhängig der Erfolg jedes Unterrichts von den Schülern ist. Interessant ist, dass sich nur die Lehrkräfte und nicht auch die Schüler “professi-onalisieren” sollen. Die Schüler leben und arbeiten in Rollenmo-dellen des 19. Jahrhunderts, während sie als Kinder und Ju-gendliche an den Konsumkultu-ren des 21. Jahrhunderts teilha-ben. Wer den Einfluss der schul-kritischen und zum Teil schulzy-nischen Jugendkultur auf die Einstellungen und Lernhaltungen der heutigen Schülerinnen und Schüler vor Augen hat, muss hier ein erstrangiges Problem sehen und nicht einen Nebenschau-platz, der vom Kerngeschäft ab-lenkt. Auch die Rede vom “Kern-geschäft” im Übrigen bezieht sich ausschliesslich auf die Lehrkräf-te, als hätten die Schüler kein solches Kerngeschäft und als sei es für sie nicht zunehmend schwieriger, sich auf dieses Ge-schäft einzulassen. Die heutigen Probleme der Ver-schulung sollten mit den Schü-lern offen und offensiv kommuni-ziert werden. Schulen sind nicht das, was in Southpark davon ankommt, Unterricht ist kein Vi-deogame, und Pokémon ist in schulischer Hinsicht vermutlich nur sehr begrenzt ein Lernge-winn. In einer Erfahrungswelt, die strenge Grenzen kaum noch kennt, muss das deutlich gesagt werden. Schule ist eine Abgren-zung, sie ist kein Ort des Kon-sums, sondern der Bildung, und das muss auch gegen Unlustge-fühle deutlich werden. Es gehört zur Kommunikation der Schüler-rolle, dass Unterricht ernsthafte Einstellungen verlangt und dass Lernhaltungen nicht vom Himmel fallen. Sie entstehen nicht ne-benbei und auch nicht einfach durch ständige Aufforderung, die eher die Lehrkräfte belastet als die Schüler motiviert.

Das wichtigste Kapital von Schulen sind die Schüler und die Lehrkräfte. Das zu sagen, ist nicht trivial, weil oft sehr abstrak-te Bestimmungen, etwa des Qua-litätsmanagements, im Spiel sind, die von der einfachen Tat-sache absehen, dass Personen lehren und lernen. Die soziale Basis des Unterrichts wie des Schulalltags sind fragile Bezie-hungen, die unverzichtbar sind und schon aus diesem Grunde leicht gestört werden können. Diesem Tatbestand wird rheto-risch Rechnung getragen, wobei in der Literatur auffällt, dass das reale Leben im Klassenzimmer (JACKSON 1990) oft zugunsten von Idealisierungen übersehen wird. Störungen sind so unerklär-liche Enttäuschungen von hoch gespannten Erwartungen, die sich leicht abnutzen können. Auffällig ist auch, dass die Ideali-sierungen sehr viel häufiger und präziser auf die Lehrkräfte als auf die Schüler bezogen werden, während umgekehrt die Lei-stungserwartungen sehr viel genauer die Schüler als die Leh-rer betreffen. Für die Arbeit der Lehrkräfte gibt es keinen sichtbaren Ausdruck, vergleichbar den Noten, die die Schüler erhalten. Der Unterricht ist auf die Leistungen der Schüler zugeschnitten; was genau die Qualität der Lehrkräfte dazu bei-trägt, dass die Leistungen zu Stande kommen, ist wesentlich nicht sichtbar. Allein die Gestal-tung der sozialen Beziehungen in einer Klasse, der Umgang mit

zum Teil ganz neuen Konflikten2 oder die Strategien der Stress-bewältigung verlangen hohe Kompetenzen, die wenn, dann informell gewürdigt werden. Be-lastungen sind individuelles Schicksal, die Schule hat immer noch kein wirkliches Konzept für diesen Teil der Personalent-wicklung, mit dem sich auf den

2 Darunter solchen, die die Schule

verursacht, ohne es zu wollen, etwa negative körperliche Reaktionen von Schülern auf sehr faire und sehr transparente Leistungserwartungen.

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zunehmenden persönlichen Ver-schleiss reagieren liesse. Hinzu kommt, dass auch hier die Kon-struktion des 19. Jahrhunderts zunehmend mehr aufgelöst wird. Der Lehrerberuf ist immer weni-ger attraktiv als Lebensberuf, und dies nicht nur, weil die Belastun-gen unkalkulierbar erscheinen, sondern weil die Lebenskonzepte nicht mehr zu den Anstellungs-bedingungen passen. Das gilt mutatis mutandis auch für die Schüler, deren persönli-cher Aufwand für das Erbringen von Leistungen eben so wenig in Rechnung gestellt wird wie das Stresserlebnis, die Härten einer Anstrengung oder die Wahl sub-versiver Strategien. Auffällig ist, dass der Einfluss der informellen Schülerkultur nie eine Rolle spielt, wenn Leistungen bewertet oder ihr Zustandekommen erklärt werden. Als Grundrelation gilt der seinerseits stark idealisierte “pä-dagogische Bezug” zwischen der Lehrkraft und dem Schüler, der die Meinungsbildung unter den Schülern, die Entwicklung ihrer Einstellungen zur Schule, weder wahrnimmt noch in Rechnung stellt. Auf der anderen Seite ist “Schülersein” nie wirklich als Beruf (MUTH 1966) entwickelt worden. Die Lehrkräfte üben Berufe aus, die Schüler nicht, obwohl deren Arbeitszeit in Spit-zenzeiten kaum geringer ist als die der Lehrkräfte, die Belastun-gen zunehmen und von einer Berufsförmigkeit der Abläufe sehr wohl die Rede sein kann. Seltsam, dass diese Wirklichkei-ten im “Qualitätsmanagement” kaum vorkommen. Die Diskussi-on konzentriert sich auf die Ent-wicklung des Personals der Schule, zu dem die Schüler of-fenbar nicht gehören. In fast allen Texten der einschlägigen Re-formliteratur wird die Schülerrolle entweder negiert oder unverän-dert vorausgesetzt, nicht entwi-ckelt. Die Negation der Schüler-rolle geschieht mit der Rhetorik von diskursiver “Partnerschaft”, die wesentlich nur dazu führt, die realen Machtverhältnisse zu ver-schleiern und den Status Quo zu

bestätigen. Die Differenz der Rollen und die Asymmetrie der Verhältnisse definieren, was man die Leistungspartnerschaft der Schule nennen könnte. Leistun-gen der Schüler kommen nicht einfach “selbst organisiert” zu Stande, sondern verlangen kor-relative und dazu passende Lei-stungen der Lehrkräfte, ohne diese Beziehung symmetrisch regeln zu können. Die Rollen sind unterschiedlich, also müs-sen sie auch unterschiedlich entwickelt werden. Die vorlie-genden Vorschläge sind einseitig auf die Lehrkräfte ausgerichtet, ohne die Anforderungen zu be-nennen, die sich für die Schüle-rinnen und Schüler stellen, wenn sich Schulen mit Instrumenten wie Zielsteuerungen, Leistungs-tests und fortlaufender Beurtei-lung entwickeln sollen. Von ihren Anstellungsbedingun-gen her gesehen leben eigentlich auch die Lehrkräfte im 19. Jahr-hundert. Niemand entwirft mehr sein Leben auf dreissig und mehr Jahre hin, während Lehrkräfte unter der Voraussetzung ange-stellt werden, dass sie froh sein können, eine Stelle zu erhalten und daher dankbar sein müssen, wenn sie dreissig und mehr Jah-re ohne Rotation an ein- und demselben Ort verbringen dür-fen. Genauer: Sie müssen dank-bar sein, wenn sie ihre Stelle über dreissig Jahre lang mit nicht nachlassendem Eifer, nimmer-müde und bescheiden am glei-chen Ort und möglichst ohne grosse Lohnforderungen aus-üben können. Niemand lebt so, und vermutlich haben auch Lehr-kräfte in früheren Epochen diese Erwartungshaltung immer unter-laufen. Auf der anderen Seite stehen die realen Aufgaben des Geschäfts. Was von den Lehrkräften abver-langt wird, ist in vieler Hinsicht paradox. Sie müssen • individuell fördern und gesell-

schaftliche Selektionsent-scheide treffen,

• Verständnis für die Schüler aufbringen und Disziplin durchsetzen,

• Interesse für ihren Unterricht erzeugen und voraussetzen,

• Grenzen setzen und sie ver-schieben,

• allen Schülern gerecht wer-den, ohne mit allen gleich gut arbeiten zu können.

Ein schwieriger bis ziemlich un-möglicher Job also, von dem viele Beobachter sagen, dass sie froh seien, ihn nicht machen zu müssen. Die Lehrkräfte geben in Belastungsstudien immer wieder an, dass ihr zentrales Stresser-lebnis die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit sei, die pädagogisch und nicht profan erwartet wird. Personalentwicklung muss hier ansetzen, also vom Berufsalltag ausgehen, aber eben nicht nur vom Berufsalltag der Lehrkräfte, sondern gleichermassen vom Berufsalltag der Schüler. Die Professionalisierung des Schü-lerberufs ist - auch in der interna-tionalen Literatur – nicht voran-gebracht worden. Es gibt kaum Hinweise auf eine sinnvoll verän-derte Schülerrolle, die sich auf die erwartbaren Entwicklungen von Schulorganisation und Unter-richt beziehen würden. Schüler werden nicht ausreichend auf veränderte Leistungserwartun-gen vorbereitet, erhalten keine besonderen Funktionen in Lern-programmen und sind in den Leitbildern von Schulen nur rhe-torisch präsent. Natürlich sagt kein einziges Schulleitbild, dass die Schüler nicht im Mittelpunkt stehen, aber was diese Formel konkret besagen soll, wozu sie verpflichtet, was sie einschliesst und was sie ausschliesst, wird erstaunlich wenig thematisiert. Die Rolle “Schülerin” und “Schü-ler” selbst ist diffus und schwankt zwischen starkem Gelenktwer-den und übertriebener Eigenver-antwortung. Wofür die Schüler genau zuständig sind und was ihren Auftrag ausmacht, ist nir-gendwo explizit. Die Praxis wird de facto zwischen der einzelnen Lehrkraft und den jeweiligen Schülern ausgehandelt, wobei keine klaren Spielregeln definiert

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sind. Die "checks and balances" in den Beziehungen werden überwiegend von den Lehrkräf-ten definiert und dominiert, die Macht der Schüler artikuliert sich oft nur subversiv, es gibt keine oder viel zu wenig regelmässige Bilanzen, bei denen die Quali-tätseinschätzungen der Schüler wirkliches Gewicht erhielten. Aber Schulerfolg hängt ganz wesentlich davon ab, dass die Schüler wissen und einsehen, warum sie lernen, was sie lernen. Die viel zitierte und oft falsch beschworene “Motivation” der Schüler ist nicht zuletzt eine Fol-ge transparenter und nachvoll-ziehbarer Leistungserwartungen, für die gute Gründe und nicht Allerweltserklärungen zur Verfü-gung stehen müssen. Oft verste-hen die Schüler nicht, was die Ziele des Unterrichts sind, und noch öfter wissen sie nicht, ob die Ziele erreicht wurden oder nicht. Negative Einschätzungen der Schüler über Sinn und Zweck eines Themas oder einer Unter-richtseinheit werden von den Lehrkräften vielfach nicht wahr-genommen oder gelten als un-begründeter Widerstand. Das Potential der fortlaufenden Be-obachtungen und Bemerkungen der Schüler zum Unterrichtsge-schehen wird kaum genutzt, weil Feedbackformen entweder gar nicht bestehen oder Scheinver-anstaltungen sind. Weit reichende Reformen der Schulorganisation wie zum Bei-spiel die Umstellung auf Stan-dards und Evaluationen sind

ohne eine darauf eingestimmte, professionelle Schülerschaft, die die Entwicklung mit trägt und die lernt, ob und wie sie davon profi-tiert, nicht zu haben. Die Refor-men müssen die Kritik der Schü-lerschaft finden, und mehr noch, die Kritik muss von Anfang an gesucht werden, wenn wirklich eine Entwicklung zustande kom-men soll, die von Selbstkorrektu-ren lebt. Das ist heute nicht der Fall, wir haben in verschiedenen Hinsichten immer noch die Schu-le des 19. Jahrhunderts vor uns. Wenn ich recht habe, ist das nicht mehr ausreichend, und dies gerade dann, wenn man will, dass das Ludwig-Georg-Gymnasium als altsprachliches Gymnasium sein 400jähriges Jubiläum erreicht. Das sage ich als Vater eines Sohnes, der sehr zu meiner Überraschung Latein gewählt hat, obwohl er das nicht musste. Literatur Befragung ehemaliger Zürcher Mittel-

schülerinnen und Mittelschüler. Er-stellt vom Statistischen Amt des Kantons Zürich. Zürich 2001.

Befragung ehemaliger Zürcher Mittel-schülerinnen und Mittelschüler. Er-stellt vom Statistischen Amt des Kan-tons Zürich. Zürich 2004.

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Zur gesellschaftlichen Rolle des Gymnasiums

Stefan Läderach

Präsident AMV

Der institutionelle Wandel der vergangenen Jahrzehnte im Mit-telschulbereich ist geprägt von folgenden Entwicklungen, die in verschiedenen Artikeln dieses Heftes näher dargestellt worden sind:

• Erhebliches quantitatives Wachstum durch Vermehrung der Standorte einerseits, Rek-rutierung neuer Begabungs-potentiale mittels Typendiffe-renzierung und (seit 1995) „Einheitsmatur“ mit starker In-dividualisierung der Profile auf der anderen Seite

• Infragestellung und Verlust des inhaltlichen Kanons des 19. Jahrhunderts in vielen Fä-chern, Ersatz des verbindli-chen Kanons durch „exempla-risches Prinzip“ im inhaltlichen Bereich und zunehmendes Gewicht auf formale Qualifi-kationen („Schlüsselqualifikationen“)

• Erhebliche Erweiterung des Fächerangebots und der Stofffülle, zwangsläufig auf Kosten der traditionellen Fä-cher, bei gleichzeitiger erheb-licher Erweiterung der Lehr- und Lernformen

• Zunehmendes Auseinander-driften von Gymnasium und Universität; Auseinanderent-wicklung der Fächerdefinitio-nen infolge zunehmender Spezialisierung auf der Hoch-schulstufe

• Abschwächung des wissen-schaftspropädeutischen Cha-rakters der gymnasialen Bil-dung zugunsten einer nur va-ge definierten „höheren All-gemeinbildung“

• Fortschreitender Verlust der Definitionsmacht über Zulas-sung und Hochschulzugang durch Einführung von Ab-schlussprüfungen auf der Se-

kundarstufe I und des Nume-rus Clausus bzw. von Zulas-sungsprüfungen zu einzelnen universitären Fächern an den Hochschulen

• Verlust des Monopols auf die Vorbereitung für die Hoch-schule durch Herausbildung des dualen Bildungssystems (mit Berufsmatur und Fach-hochschule als bedeutender Konkurrenz zu Gymnasium und Universität)

• Institutionelle Vereinheitli-chungstendenzen auf der Se-kundarstufe II (Bildungszent-ren).

Betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, so ent-steht der Eindruck, dass das Gymnasium ein Stück weit das Opfer seines eigenen Erfolgs geworden ist: Im Zuge seiner beispiellosen Expansionsbewe-gung hat es sich kontinuierlich vom „Königsweg zur Hochschu-le“ weg in Richtung auf einen „Königsweg für die höhere All-gemeinbildung“ hin entwickelt und dabei Schritt um Schritt an klar fassbarem Profil und gesell-schaftlichem Ansehen verloren. Öffnung des Gymnasiums für neue gesellschaftliche Gruppen Angesichts der Bedürfnisse der Gesellschaft und des Arbeits-marktes und angesichts der fort-schreitenden Spezialisierung auf der Hochschulstufe erscheint der eingeschlagene Weg allerdings durchaus folgerichtig. Zahlen-mässige Expansion und Qualität stehen so lange nicht in einem Widerspruch, als die Erhöhung der Maturitätsquote konsequent und ausschliesslich durch eine Verbreiterung der „Rekrutie-rungsbasis“ zustande kommt, wie dies die politische Reformrhetorik

von allem Anfang an gefordert hat. Und in der Tat ist in dieser Hinsicht durch den Einbezug neuer Begabungspotentiale (Maturtypen C, D, E, PSG) und durch die Individualisierung der gymnasialen Ausbildung (MAR 95) viel erreicht worden: Das berühmte „katholische Mädchen vom Lande“ (der katholische Bevölkerungsteil, die Frauen, die Landbevölkerung) hat auf der Mittelschulstufe enorm zugelegt, die weiblichen Studierenden sind an den Aargauer Mittelschulen inzwischen sogar in der Mehr-zahl. Doch nach wie vor bleibt einiges zu tun, so lange es intel-ligente Volksschulabgänger/ -innen in bildungsfernen Milieus gibt, denen der Zugang zur Mit-telschule aus kulturellen Gründen faktisch versperrt ist, und so lan-ge es informelle Schülerkulturen gibt, in welchen Bildungsfeind-lichkeit als Lebenshaltung zeleb-riert wird. Hier ist die Volksschule weiterhin stark gefordert, und sie ist sich der Problematik durchaus bewusst. Neue Formen der Ein-schulung wie die Grund- oder Basisstufe gehen in die richtige Richtung und sind auch aus der Sicht des Gymnasiums ein drin-gendes Desiderat. Qualität beruht auch auf einem Konsens über ver-bindliche Inhalte Aus dem Gesagten ist zu schlies-sen, dass eine Erhöhung der Maturitätsquote nicht automa-tisch als Qualitätsverlust zu be-werten ist. Und selbst ein wahr-nehmbarer Leistungsabbau in einem einzelnen Bereich ist für sich genommen noch kein Indi-kator für einen generellen Quali-tätsverlust der gymnasialen Bil-dung, wenn er die Folge einer Gewichtsverschiebung zu Guns-ten anderer, neuer Inhalte, Fä-

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cher und Fertigkeiten ist: Wahr-scheinlich kennen heutige Matu-rand/-innen die Klassiker der deutschen Literatur schlechter als ihre Kollegen vor 50 Jahren, dafür verstehen sie mit Sicherheit mehr von Informatik oder Molekularbiologie. Problematisch ist allerdings, dass gleichzeitig mit der Gewichtsver-schiebung von der Wissen-schaftspropädeutik zur höheren Allgemeinbildung in etlichen Fä-chern der Konsens über die we-sentlichen Inhalte eben dieser „höheren Allgemeinbildung“ ver-loren gegangen ist und ein (wie auch immer überholter) Konsens im Sinne der humanistischen Bildung durch eine starke Indivi-dualisierung der Stoffauswahl ersetzt wurde – theoretisch un-termauert durch Konzepte wie das „Exemplarische Prinzip“ und die Theorie der „Schlüsselqualifi-kationen“. Auch wenn viele formale Bil-dungsziele anhand unterschied-lichster Inhalte erreicht werden können: Die Studierenden haben ein feines Gespür und in der Regel wenig Verständnis für grössere inhaltliche Unterschiede im Programm verschiedener Lehrpersonen des gleichen Fachs (wobei hier natürlich nicht vom Projektunterricht die Rede ist, in welchem das Erlernen der Methode explizit selbst der Inhalt ist); und ihnen sowie der politi-schen Öffentlichkeit sind solche Differenzen nur schwer plausibel zu machen. Was in der öffentli-chen Wahrnehmung resultiert, ist ein diffuser Eindruck von inhaltli-cher Beliebigkeit in einzelnen Bereichen der gymnasialen Aus-bildung.

Dabei wären die Positionen doch keineswegs unvereinbar: Wer der Überzeugung ist, auf die Inhalte komme es weniger an als auf die im Unterricht erworbenen fachlichen und menschlichen Qualifikationen, müsste sich ei-gentlich unschwer mit einem vorgefundenen – und noch viel leichter mit einem zeitgemässen, neu definierten „Kanon“ im Sinne eines in der Fachschaft diskursiv ausgehandelten Konsenses ar-rangieren können. Allgemeinbildung muss klarer definiert werden Wenn das verheissungsvolle Angebot des Gymnasiums in Zukunft tatsächlich eine qualifi-zierte „höhere Allgemeinbildung“ sein soll – und das ist immerhin ein Angebot, das weder Volks-schule, Berufsschule noch Uni-versität je werden leisten können – so muss in den einzelnen Fä-chern dringend wieder ein höhe-rer Konsens über relevante Inhal-te gefunden werden. Nur so bleibt das Gymnasium gegen-über der Gesellschaft – und nicht zuletzt gegenüber seinen Studie-renden – glaubwürdig. Dies gilt selbst dann (und vielleicht erst recht dann), wenn in der Gesell-schaft „draussen“ die Überfülle und Beliebigkeit der Angebote zur einzigen Konstante geworden ist. Wo kein intuitiver Konsens über eine Hierarchie der Werte mehr existiert, muss er (so zu sagen zu „Schulzwecken“) dis-kursiv ausgehandelt werden – und dies in gewissen Abständen immer wieder neu. Inhaltliches „Change-Management“ muss an die Stelle von Beliebigkeit treten.

Die Formulierung – und periodi-sche Aktualisierung – verbindli-cher nationaler Standards unter aktiver Beteiligung (und Bezah-lung) der Gymnasiallehrpersonen und in enger Zusammenarbeit mit den Hochschulen kann ein gangbarer Weg sein. Und wenn es denn tatsächlich Minimalstan-dards sind, die nicht mehr als etwa zwei Drittel der Unterrichts-zeit beanspruchen, so bleibt da-neben genügend Zeit für die einzelne Schule und für die ein-zelne Lehrperson, um individuel-le Schwerpunkte und Akzente zu setzen, die für die Attraktivität und Lebendigkeit des Unterrichts ebenfalls von wesentlicher Be-deutung sind. Es kommt dem Gymnasium zu Gute, wenn wir anerkennen, dass die individuelle Lehrfreiheit in Bezug auf die Inhalte ihre Grenzen haben muss. Sie hatte sie auch früher, nämlich in einem mehr oder weniger freiwilligen, stillschweigenden Konsens der Gesellschaft (bzw. der gesell-schaftlichen Eliten) und der Leh-rerschaft über die adäquaten Inhalte gymnasialer Bildung und die geeigneten Unterrichtsformen zu ihrer Vermittlung. Es gibt wohl kaum eine gesellschaftliche Insti-tution neben dem Gymnasium, die besser imstande wäre, sich in einer Zeit der Beliebigkeit für verlässlichere Werte mit etwas höherer Halbwertszeit zu enga-gieren. Mit dem Angebot einer in diesem Sinne durch die Fach-schaften möglichst konkret defi-nierten „höheren Allgemeinbil-dung“ kann dem Gymnasium auch in Zukunft eine zentrale gesellschaftliche Rolle zukom-men. Auf diese Chance sollten wir nicht freiwillig verzichten.

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Postulate für das Gymnasium

KSGR – Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektoren 20.10.1999

Die schweizerische Bildungslandschaft ändert sich schnell und auf allen Ebenen. Was lange Zeit zum Bil-dungsselbstverständnis der Gymnasien gehört hat, wird in Frage gestellt oder diskussionslos aufgege-ben. Durch die Entwicklungen der nicht gymnasialen Sekundarstufe II ist die ursprüngliche Funktion des Gymnasiums, eine breite und gleichsam zweckfreie Allgemeinbildung zu vermitteln, mehr und mehr in Frage gestellt worden. Dass diese Entwicklungen auch für unsere Schulen günstige Auswirkungen haben können, steht ausser Frage. Trotzdem ist ihr Resultat eine gewisse Orientierungslosigkeit. In dieser Situation muss die Konferenz schweizerischer Gymnasialrektoren sich zu Wort melden, sie muss versuchen, in der Bildungspolitik eine Rolle zu spielen mit einem ihrer Bedeutung angemessenen Gewicht. Dafür ist ein Konsens in grundlegenden Bildungsfragen unabdingbar. Diesem Zweck dienen die vorliegenden Thesen (Postulate). Sie umschreiben die Ziele der gymnasialen Ausbildung, sie fordern aber mittelbar auch die Verwirklichung der Rahmenbedingungen.

A. Das Wesen der Allgemeinbildung

1. Bildung ist ein unverzichtbares Element unse-rer Gesellschaft. Als Prozess eröffnet sie den Zugang zu allen Bereichen der Kultur.

2. Bildung besteht im Erwerb und der Umsetzung von Kenntnissen, in der Aneignung von Fertig-keiten und im Erkennen und Entwickeln von Werthaltungen.

3. Bildung entwickelt die Fähigkeit, die Vorgänge in der Welt selbständig zu analysieren, sie in ihren Kontext einzuordnen und zu beurteilen.

4. Bildung stärkt die persönliche Verantwortung und das Engagement zugunsten der Gemein-schaft.

5. Bildung ist ein Prozess der persönlichen Ent-wicklung, der nie abgeschlossen sein kann.

6. Bildung erfordert Zeit und Musse.

B. Bildung als Aufgabe des Gymnasiums

1. Das Gymnasium versteht seine Aufgabe im Sinne des oben umschriebenen Bildungsbe-griffs.

2. Das Gymnasium bereitet seine Absolventen auf das Studium an einer Hochschule vor.

3. Das Gymnasium vermittelt grundlegende Fä-higkeiten und fördert die geistige Offenheit und das selbständige Urteil.

4. Das Gymnasium vermittelt eine breit gefä-cherte, ausgewogene und kohärente Bildung.

5. Das Gymnasium fördert gleichermassen die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten.

6. Das Gymnasium entwickelt sowohl das lo-gisch-abstrakte Denken als auch die Fähigkeit, intuitiv, analogisch und vernetzt zu denken.

7. Das Gymnasium geht aus von den persönli-chen Erfahrungen von Lehrenden und Lernen-den. Diese tragen zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Realität, mit dem Verhalten der Menschen und den gesellschaft-lichen Normen bei.

8. Die gymnasiale Bildung benötigt Hingabe und Zeit. Sie lässt sich nicht nach rein ökonomi-schen Kriterien der Produktivität beurteilen.

9. Die gymnasiale Bildung fördert und erfordert Leistungsbereitschaft, Motivation, Neugierde und Lernwillen.

10. Die Bildung der Jugendlichen ist eine Investi-tion in die Zukunft. Das Gymnasium benötigt daher Perspektiven. Die Darstellung der Ver-gangenheit und der Gegenwart muss auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen gesehen werden.

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C. Rahmenbedingungen des Gymnasiums

1. Die gymnasiale Ausbildung dauert mindestens vier Jahre.

2. Beim Übertritt ins Gymnasium wird eine sorg-fältige Analyse und Beurteilung der Entwick-lungsmöglichkeiten der Kandidatinnen und Kandidaten vorgenommen.

3. Die Ausbildungsprogramme werden periodisch überprüft. Die Zuständigkeit liegt bei der Schweizerischen Maturitätskommission (SMK).

4. Die Ausbildungsprogramme erfüllen nachste-hende Anforderungen: 1. Den Lernenden werden auf verschiedenen

Stufen der Ausbildung Wahlmöglichkeiten eingeräumt.

2. Die Fachausbildungsgänge müssen in den letzten beiden Jahren der Ausbildung zu-nehmend verknüpft werden.

3. Die selbständige Lernarbeit nimmt im Verlauf der Ausbildung stetig zu.

4. Den Lernenden ist zunehmend mehr Ver-antwortung zu übertragen.

5. Die Ausbildungsprogramme umfassen alle Kompetenzbereiche gemäss Rahmenlehr-plan.

6. Lehrende und Lernende sind zu Begrün-dung, Reflexion und Sinngebung des eige-nen Tuns verpflichtet.

5. Die zu bildenden Kompetenzen, Fertigkeiten und Haltungen werden permanent mit den Ab-nehmern diskutiert.

6. Die Schulen treffen Massnahmen zur Quali-tätssicherung und -entwicklung.

7. Die Ausbildung der Lehrkräfte umfasst ein abgeschlossenes Fachstudium sowie ein pä-dagogisch/didaktisches Grundstudium mit

Unterrichtspraxis. Für die berufspraktische Ausbildung sind Qualitätsnormen zu definieren und zu überprüfen.

8. Die Lehrkräfte sind zur regelmässigen Weiter-bildung in fachlichen, didaktischen und pä-dagogischen Belangen verpflichtet.

9. Die Ausbildungs- und Bildungsarbeit vollzieht sich in teilautonomen Schulen, deren Leiterin-nen und Leiter in Führungsaufgaben ausgebil-det sind. Sie erhalten die notwendige organi-satorische und administrative Unterstützung.

10. Damit die Lehrkräfte ihre anspruchsvolle Bil-dungsarbeit leisten können, sind folgende Rahmenbedingungen zu erfüllen: 1. Die Einrichtungen und Zeitgefässe ermög-

lichen einen zeit- und aufgabengemässen Unterricht.

2. Das Pflichtenheft für die Lehrkräfte um-fasst neben dem Unterricht auch die Vor- und Nachbereitung, die Weiterbildung, die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen, die Unterrichtsentwicklung, die Mitarbeit in der Schulentwicklung, die indi-viduelle Betreuung der Lernenden sowie die Kontakte mit den Eltern.

3. Die Grösse der Lerngruppen richtet sich nach pädagogischen Kriterien.

4. Die Entlöhnung trägt der Ausbildungszeit der Lehrkräfte und ihrer hohen Kompetenz Rechnung.

11. Die Gymnasien sind Kulturträger in ihrer Re-gion und öffnen Angebote auch für Interessen-ten ausserhalb der Schule. Sie nehmen aktuel-le Probleme auf und ziehen für spezielle Auf-gaben schulfremde Fachkräfte bei.

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INSERAT

„Haben Sie Lust, in 20 Jahren ein Museum zu besuchen, um etwas über Symphonieorchester zu erfahren? – Nein?

Darum lautet meine Devise: Die Jugend von heute ist das Publikum von morgen!“ Interview mit Matthias Kofmehl, Geschäftsführer des ASO (Aargauer Symphonie- Orchester)

von Philipp Stössel*

Herr Kofmehl, wären Sie so gut und würden Sie sich kurz vorstellen? Nach der Matura liess ich mich zum Primarlehrer ausbilden. Nach fünf Jahren in diesem Be-ruf entschloss ich mich, am Konservatorium Zürich Horn zu studieren. Daneben spielte ich auch Klavier, Geige, Bratsche und Alphorn. Nach 16 erfolgreichen Jahren im Tonhalle Or-chester erlitt ich einen Ohrenschaden, der mich zwang, wegen der hohen Lautstärke das Spielen im Orchester aufzugeben. Ich höre zwar immer noch gut und kann auch noch musi-zieren. Ich habe aber die Umschulung zum Kulturmanager gemacht und bin auf diese Weise Geschäftsführer des ASO geworden. Diese Arbeit bereitet mir viel Spass, da ich mein ganzes Know-how anwenden kann. Welches sind die Kernaufgaben des Geschäftsführers eines Symphonieorchesters? Wie sieht Ihr Berufsalltag aus? Mein Berufsalltag sieht „verrückt“ aus (lacht)! Ich bin eigentlich Mädchen für alles, d.h. ich muss alle anfallenden Projekte „managen“. Zum Beispiel bin ich mit dem Chefdirigenten Douglas Bostock verantwortlich für die Programme sowie für Solisten und Dirigenten. Ich bin verantwortlich für das ganze Rechnungswesen, die Buchhaltung, das Fundraising und das Personal; und ich bin auch verpflichtet, das Defizit so gering wie möglich zu halten. Ein Symphonieorchester kann ja nicht profitabel sein. Mein Berufsalltag ist überaus abwechs-lungsreich und abhängig von den Prioritäten. Das Spektrum reicht von Arbeit am Laptop im Zug über Büroarbeit bis hin zu Sponsorensuche oder Eruieren von Konzertlokalitäten. Wenn ich ein klassisches Konzert besuche, halte ich meistens erfolglos Ausschau nach Altersgenossen. Gezwungenermassen fühle ich mich als Aussenseiter, der das Durchschnittsalter mindestens ein bisschen senkt! Wie charakterisieren Sie das Publikum des ASO? Auch das ASO-Publikum setzt sich vorwiegend aus älteren Zuhörern (Arbeitstätige über 50 und SeniorenInnen) zusammen. Zwei Altersgruppen fehlen dabei ganz klar: Die Jugend und das Segment der zwischen 30- und 40-Jährigen – dort müssen wir den Hebel ansetzen. Die Liebhaber klassischer Musik drohen auszusterben. Warum ist klassische Musik in jugendlichen Kreisen so unpopulär? Ganz klar weil bis jetzt zu wenig unternommen worden ist! Man muss mit vereinten Kräften an dieses Problem herangehen; nicht nur von Orchesterseite sondern auch von der Seite des Bildungssektors. Musikunterricht darf auf keinen Fall vernachlässigt werden, wie eine berühmte Studie aus Berlin zeigte. Unpopulär kann man in diesem Sinn nicht sagen. Klassische Musik ist schlicht und einfach zu wenig bekannt. Kinder von Eltern, die keine klassische Musik hören, werden leider auch keine hören.

Sie als Geschäftsführer haben wohl alle nötigen Fäden in den Händen, um potentiellen Jugendlichen den Konzert-besuch schmackhaft zu machen. Unternehmen Sie etwas gegen die Überalterung im Konzertsaal? Welches ist Ihre Geschäfts- bzw. Marketingstrategie?

* Philipp Stössel, Jg. 1987,ist Schüler der Alten Kan-tonsschule Aarau und be-sucht das SchwerpunktfachMusik.

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INSERAT

Mein Motto lautet: „Die Jugend von heute ist das Publikum von morgen“, und das ist mir ein sehr grosses Anliegen. Wir versuchen, möglichst alle Altersstufen vom Kindergarten bis zum Gymnasium in die Welt der symphonischen Musik einzuführen. In Schülerworkshops bieten wir Schulklassen die Möglichkeit, eine Orchesterprobe live mitzu-erleben und zwar sitzen die Kinder im Orchester zwischen den Musikern, schauen zum Diri-genten und sehen seine Mimik und Gestik. Ein anderes Mittel ist eine Konzerteinführung für das Publikum durch Kantonsschüler aus dem Schwerpunktfach Musik. Die erste Ausgabe war genial und fand grossen Anklang. Es ist natürlich auch marketingmässig oder strategisch meine Idee, dass auf diese Weise der Publikumskreis erweitert wird. Wie steht es im ASO mit Jugendförderung? Haben junge Solisten eine Chance, mit Ihrem Orchester aufzutreten? Das ist meine nächste Devise. Ich möchte jungen, hervorragenden Solisten die Chance ge-ben, mit einem Berufsorchester aufzutreten, weil ich weiss, dass in den renommierten Or-chestern vor allem bereits berühmte Solisten eingesetzt werden. Das ASO durfte den 23-jährigen Sänger Ruben Drole am Schenk-Workshop 2003 begleiten. Ich hörte ihn 5 Minuten lang singen und wusste sofort, dass er in einem unserer nächsten Konzertzyklen Solist sein würde. Kurz nach diesem Einsatz als Solist im ASO erhielt er Engagements von der Berliner Philharmonie und vom Opernhaus Zürich. Wir sind stolz darauf, Junge zu finden, die eine grosse Zukunft vor sich haben und sich mit dem ASO profilieren können. Das hilft einerseits den jungen Solisten, andererseits natürlich auch uns. Das Publikum ist gespannt, welche Entdeckungen es mit dem ASO machen kann. Gibt es junge Musiker aus der Schweiz, die in Ihr Orchester kommen? Ja, es gibt junge Schweizer Musiker, die ins ASO kommen. Die Konkurrenz ist jedoch riesig (die Ausländer machen bis 90% der Bewerbungen aus). Im Normalfall laden wir alle Schweizer zum Probespiel ein. Würden Sie als erfahrener Musiker und Manager einem jungen Menschen ein Mu-sikstudium empfehlen? Wenn er sehr begabt ist auf jeden Fall! Aber man muss sich bewusst sein, dass die Kon-kurrenz riesig ist und man extrem gut sein muss. Es müssen viele Kriterien stimmen, und auch eine Portion Glück ist häufig nötig. Ich empfehle den jungen Menschen immer, erst mit dem Studium zu beginnen, wenn man einen anderen Abschluss in den Händen hält. Eine Garantie auf Erfolg gibt es nämlich nie. Wie wird das ASO finanziert? Den grössten Teil haben wir dem Kanton und dem Kuratorium zu verdanken. Der zweit-grösste Teil kommt von Sponsoren, Mitgliedern, Exklusivmitgliedern, Gönnern, Abonnenten, Stiftungen und Spenden. Die dritte Einnahmequelle sind die Ticketeinnahmen. In der heutigen Zeit mit be-rüchtigten Sparmassnahmen kommt auch die Frage auf, ob der Kanton Aargau ein eigenes Symphonieorchester braucht. Was sagen Sie dazu? Der Kanton Aargau braucht auf jeden Fall ein Symphonieorchester! Es wird und ist bereits jetzt ein wichtiges Aushängeschild des Kantons, das den Ruf des Kantons hinaus trägt und mit guten Kritiken wirbt. Der Aargau liegt zwar in-mitten grosser Konzertzentren wie Zürich, Basel, Bern und Luzern. Viele Leute kommen aber zu mir

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und sagen, dass sie das ASO schon früher anstelle der Orchester in den grossen Zentren besucht hätten, wenn ihnen die hervorragende Qualität des ASO bewusst gewesen wäre. Wir merken, dass das ASO ein super Nischenprodukt ist, mit welchem man Projekte durch-führen kann, die man mit einem grossen Symphonieorchester nicht machen könnte, zum Beispiel die Schülerworkshops oder Events mit Crossover-Charakter. Das Bedürfnis ist auf jeden Fall da. Darum ist es angebracht, dass der Kanton ein Sympho-nieorchester unterhält. Jetzt müssen wir mit der Marketingstrategie die Leute zum Konzert-besuch anregen. Welches ist das lustigste Ereignis, das sich im Laufe Ihrer Tätigkeit beim ASO er-eignet hat? In einem Schülerworkshop sagte ein Zweitklässler: „Sie, ich weiss noch einen Witz!“ Ich liess ihn natürlich sprechen… Er fragte: „Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Geige und einem Kontrabass?“ Ich nahm an, dass er darauf hinaus wollte, dass der Kontrabass länger brennt. Er sagte aber: „Der Kontrabass hat keinen Kinnhalter!“ (lacht laut) Matthias Kofmehl, besten Dank für das Interview!

DAS ASO PRÄSENTIERT

Lust auf mehr ASO? Die ASO-Geschäftsstelle ist für Sie da! Telefon 062 834 70 00 Email: [email protected] www.aso-ag.ch

Zyklus 4

Symphonische Grössen Wolfgang A. Mozart (1756-1791) Ouvertüre zur Oper „Die Zauberflöte“

Dmitrij Schostakowitsch (1906-1975) Violinkonzert Nr. 2, cis-Moll, op. 129 (1967)

Franz Schubert (1797-1828) Symphonie Nr. 9, C-Dur, D 944 „Die Grosse“

Solist: Marc Paquin, Violine Leitung: Douglas Bostock Aarau Sonntag, 13. März 2005, 17 Uhr

Kultur & Kongresshaus

Dienstag, 15. März 2005, 20 Uhr Kultur & Kongresshaus Hors d’oeuvre musical (19 Uhr) Gestaltet von den Musikfachklassen der Alten Kantonsschule Aarau

Baden Mittwoch, 16. März 2005, 20 Uhr Trafohalle Hors d’oeuvre musical (19 Uhr) Gestaltet von den Musikfachklassen der Alten Kantonsschule Aarau

Möriken Donnerstag, 17. März 2005, 20 Uhr Gemeindesaal

Wohlen Freitag, 18. März 2005, 20 Uhr Katholische Kirche

Muri Samstag, 19. März 2005, 20 Uhr Festsaal

Zyklus 5

Romantische Geschichten Jean Sibelius (1865-1957) „Karelia“-Suite op. 11

Robert Schumann (1810-1856) Konzert für Klavier und Orchester, a-Moll, op. 54 ************* Zoltan Kodaly (1882-1967) Tänze aus Galanta (1933)

Pjotr I. Tschaikowsky (1840-1893) Fantasieouvertüre „Romeo und Julia“ Solist: Christoph Berner, Klavier Leitung: Douglas Bostock Aarau Sonntag, 22. Mai 2005, 17 Uhr

Kultur & Kongresshaus

Dienstag, 24. Mai 2005, 20 Uhr Kultur & Kongresshaus Hors d’oeuvre musical (19 Uhr)

Baden Mittwoch, 25. Mai 2005, 20 Uhr Trafohalle Hors d’oeuvre musical (19 Uhr)

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