HA Individualisierung in der Frühen Neuzeit am Beispiel von Hermann von Weinsberg
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1. Das Individuum als Erfindung der Renaissance?
Individuum est ineffabile – Goethes Feststellung aus seinem Brief an Lavater vom
20. September 1780, zitiert nach scholastischer Tradition1, benennt mit
lakonischer Schärfe das Problem, das wir haben, wenn wir von uns gegenwärtig
und auch über historische Personen2 als Individuen sprechen – das Individuum ist
„unausschöpfbar“, begrifflich nicht zu fassen. Die begriffliche Diskussion3 bringt
für das Individuum als viables historisches Konzept folgende Definition vor:
Individualität, also das, wodurch sich ein Individuum auszeichnet, ist der Grad, in
dem es sich von anderen seiner Art unterscheidet. Dass es sich dabei um
Menschen, Personen handelt, fügt dieser Bedeutung weitere Dimensionen hinzu –
ein individueller Mensch soll im folgenden so verstanden werden, als
selbstständig denkendes und sich von anderen unterscheidendes Wesen. Dabei
sind die Fragen, die sich daraus ergeben, auch richtungsweisend für die
vorliegende Untersuchung: Wodurch versucht sich ein Individuum von anderen
zu unterscheiden? Und strebt es dabei immer den Unterschied an? Oder anders
gefragt: Wie lässt sich Individualität aus Kontexten heraus verstehen, in denen
Individuen sich nach den bestehenden „Regeln“ ihrer Zeit selbstständig zuordnen
und einordnen, um sich damit einen eigenen Ort zu schaffen. Aber handelt es sich
bei der „Individualisierung“ nicht viel mehr um eine Befreiung des Menschen von
den Strukturen? Ist sie nicht viel mehr Leistung der immer unabhängiger
denkenden Menschen am Ende des Mittelalters? Die Lehrmeinung des 19.
Jahrhunderts, im Besonderen vertreten durch Jakob Burckhardt4, sah die
Renaissance als Keimzelle der modernen Welt. Entsprechend der Deutung der
Renaissance – etwa durch Petrarca – galt das Mittelalter als Epoche der durch die
Religion und soziale Normen und Riten gefesselten Menschen, die sich erst durch
die Wiederentdeckung der antiken Denkweisen Schritt für Schritt von den von
ihnen geschaffenen Strukturen emanzipieren konnten. Das Individuum galt so als
1 Dabei ist besonders die Theorie des Individuums von Duns Scotus hervorzuheben, vgl. Aertsen, Jan A.: Einleitung: Die Entdeckung des Individuums, in: Aertsen, Jan A./Speer, Andreas: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin u.a. 1996, S. XII-XIII.2 Darüber, dass auch der Begriff der Person wie überhaupt alle Begriffe, die den Menschen auf einen Punkt bringen wollen unscharf ist, bin ich mir bewusst. Ich meine an dieser Stelle unser Alltagsverständnis von „Person“.3 Aertsen, Die Entdeckung des Individuums, S. XV-XVI.4 Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928, S.131; auch: Dilthey, Wilhelm:
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Erfindung der modernen Welt, für das im Mittelalter kein Platz, in dem das
Allgemeine vor dem Individuellen, das Ideale vor das Reale gesetzt war. Diese
Lehrmeinung wurde in den letzten Jahrzehnten immer mehr durch eine breit
einsetzende Mittelalterforschung relativiert und teilweise aufgelöst; durch neue
literaturwissenschaftliche Theorien, durch die Sozial- und Phänomengeschichte,
nicht zuletzt auch durch das aufgehende Bewusstsein von Geschichte als
Konstruktion wurde deutlich, dass die klaren Epochenschnitte nicht viel mehr als
Konvention bedeuteten und damit auch die Grundlegung der Individualisierung
im Mittelalter selbst zu suchen waren. Die Techniken der Selbstdarstellung, die
Ordnungssysteme der ursprünglich kirchlichen oder zumindest
professionalisierten Genealogen und der Drang nach Identität mit der Bedeutung
einer sozialen Gruppe sind Bestandteile, nach denen sich in spätmittelalterlichen
bis frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen5 das Individuum in die Geschichte
gewissermaßen einschrieb. Dabei wird deutlich, dass die Rückbindung an
symbolische Formen und ritualisierte Selbstbekundungen, wie
Turnierbeschreibungen und -darstellungen, Wappenbücher oder Besitzurkunden
nicht sukzessive verschwanden, sondern weitertradiert wurden, um ein
größtmögliches Maß an sozialer Legitimation zu erreichen. Gleichzeitig zeigt die
Entstehung etwa von Familienbüchern aus pragmatischen Texten, wie
Rechnungsbüchern oder Urkundensammlungen, dass die Selbstdarstellung
keineswegs in einer Art Keimentschluss6 oder einer plötzlich evidenten
Selbsterkenntnis7 zu sich kommt, sondern sich vielmehr von sach- und
zweckbezogenen zu persönlichen Äußerungen hin entwickelt. In welcher Weise
diese Ausdifferenzierung geschieht und welche Diskurse das Persönliche mit
sozialer Bedeutung belegen, das bleibt noch zu untersuchen. Jedoch lässt sich der
scheinbare Ablöseprozess des Individuums auch als Nebeneinander von
strukturellen, von der mittelalterlichen ordo und der (gegen)reformatorischen
pietas geprägten Diskursen, die Bescheidenheit und Unterordnung verlangen und
reflexiven Ebenen des eigenen Geschichtsbewusstseins verstehen, die, zunächst
als Gegenbewegung dazu verstanden, die Ordnungsformen mit neuer, eigener
Bedeutung füllen und sie damit für sich funktionalisieren. Die „alte Ordnung“
5 vgl. von Krusenstjern, Benigna: Was sind Selbstzeugnisse. Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.6 Frank, Manfred: Archäologie des Individuums, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, S. 259-261.7 Wie es im 16. Jahrhundert etwa Descartes mit seiner Formel „cogito, ergo sum“ beansprucht.
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wird damit nicht etwa überwunden, sondern sie wird Rechtfertigung und
Rückversicherung des Individuums, das durch sie zwar zunächst bestimmt ist, das
aber durch Alphabetisierung im Schreiben und Reflektieren über die Strukturen
gewissermaßen von alleine zu sich selbst kommt.
Im Folgenden will ich am Beispiel des Buches Weinsberg von Hermann von
Weinsberg gewissermaßen die bis ins Scheitern perfektionierte Selbstdarstellung8
durch die Kombination von Innenwahrnehmung und äußerlich-institutioneller
Rückbindung anhand ausgewählter Textbeispiele darstellen. Dabei soll gezeigt
werden, dass Individualisierungsprozesse nicht allein in mystischer Innenschau
oder müßigem philosophischen Räsonnieren abgebildet werden können, sondern
vielmehr auch aus dem Zusammenspiel von reflektierter Struktur und strukturiert
verstandenem Selbstbild heraus entwickelt verstanden werden kann. Dabei soll,
im Rückgang auf den Aufsatz von Gregor Rohmann, deutlich werden, mit
welchem hohen Bewusstheitsgrad Hermann von Weinsberg seine Schriften
geradezu herstellt und rechtfertigt. Zum Schluss soll dann deutlich werden, dass
sich das Individuum an der (freilich konstruierten Epochen-) Grenze von spätem
Mittelalter und früher Neuzeit nicht als solches im modernen, rechtsstaatlichen
Verständnis begreift, sondern gewissermaßen durch die es scheinbar
bestimmenden Strukturen erst hervorgebracht wird.
2. Hermann von Weinsberg, er selbst und der Grund des Schreibens
Das Unternehmen, dem Hermann von Weinsberg sich im Sinne des Wortes
verschrieben hatte, war die Sichtung, Kompilation, Kommentierung und
Narration aller die Familie betreffenden sprachlichen und bildlichen Quellen. Hier
versammelte er bewusst alles, was er zu seiner Familie in Verbindung bringen
konnte und verband es mit eigenen Erinnerungen:
„[…] darin zu schreiben allerlei geschichten, handlungen, obligationes und contracten,
mich und die mine samt dem haus Weinsberch betreffende, wie ich dann allerlei vur
gedechtenis geschriben hab“9.
8 Vgl. Rohmann, Gregor: Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 43-76, hier: S. 76.9 Hermann von Weinsberg: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Bd. 1, (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 16), Bonn 1886-1926 (Nachdruck Düsseldorf 2000), S. 4.
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Im Gegensatz zu einer Familienchronik oder einer reinen Familiengeschichte
war das narrative Element, in dem diese Erinnerungen ihre Platz fanden, die
Erzählung seines eigenen Lebens: „[…] das sulchs sinen anfank mit dem anfank
mines leben haben mogt“10. Damit schrieb Hermann nicht einfach die Geschichte
seiner Familie, er verknüpfte sie untrennbar mit der eigenen Perspektive und dem
eigenen Leben und gab ihr so einen konkreten historischen Ort. Ihm war es
wichtig, dass es sich eben nicht um eine klassische Familiengeschichte handelt;
das wird deutlich, wenn man liest, wie er erklärt, warum er seine Geschichten
nicht in dritter Person, wie es ihm wohl von bereits bestehenden Familienbüchern
bekannt war, geschrieben hat, sondern die erste Person verwendet, die ihn als den
persönlichen Schreiber kennzeichnet:
„Dan ich hab allezeit im sinne gehatt diss boich uch zuzuschrieben und zu vertrauwen,
dergestalt, glich als redte ich von mir und den meinen zu uch allein als zu meinem
groisten ungezweifelten frunde, darvor man sich nichtz dan alles goden zu versehen hat,
darvur man sich nit finssen ader einicher kunst der umbwege gebrauchen durft, dan ein
frunt sol pillich zu dem anderen offenherzich sin und im sin anligen eroffnenm der es
auch pillich halbar halten und bei im und anderen vertrauweten frunden, die es mit
angehet, bleiben sol lassen und nit gar ins gemein laissen komen, dan da es die noittorft
erfordert“.11
Es ist also genau diese Vertraulichkeit, die ihn mit dem Leser verbindet: Nicht
nur, dass es sich hier um einen fiktiven Leser handelt, den Hermann als
zukünftigen Hausvater und damit Erben seines ganzen Wissens charakterisiert,
vielmehr stellt er sich einen idealen Leser vor, der sowohl die Beweggründe als
auch jegliche Entscheidung des Autors nachvollziehen soll, um die
Bedeutungsfülle von Hermanns Arbeit verstehen zu können. Er gibt dem Leser
damit nicht nur eine Geschichte plus angehängtes Quellenmaterial an die Hand,
sondern er gibt auch klare Anweisungen, wie das Buch zu lesen sei:
„[…] als ir nuhe den anfank, inhalt und meinung diss mines gedenkboichs gnogsam
ingenomen und verstanden hatt, wils ich dan uch als dem hausfatter zugeschriben und
10 Ebd.11 Das Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 9.
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befollen hab, durch dissen minen schriftlichen sentbreif, dan ein epistel ader sentbreif ist
ein rede und sprach des abwesenden gegen den abwesenden.“12
Hier könnte man die Angst um das mögliche Missverständnis vermuten (die, wie
sich zeigte, auch nicht ganz unberechtigt war); näher liegt aber, dass sich
Hermann als Individuum, als das er sich augenscheinlich wahrnahm, im Text
selber zu jeder Zeit erkennbar sein sollte. Dieses Konzept spiegelt bereits die
Zweigleisigkeit des Unternehmens wider: Einerseits ging es, wie Hermann
bekannt gewesen sein dürfte, um das Familienbuch als Bedeutungslegitimation
innerhalb der Gesellschaft, weniger als öffentliches Bekenntnis, sondern mehr als
Gesamtdeutung zum Selbstverständnis der Nachkommen. Er stiftete nicht nur die
memoria an seine Familie, nicht nur „[…] die Verwandtschaftsgruppe als Medium
ihrer selbst in ihrem institutionellen Rahmen, der überzeitlichen Ordnung des
‚Hauses Weinsberg’ unter der patriarchalischen Gewalt des Hausvaters“, sondern
er erschuf auch ein Universum von sich und seiner ihm eigenen Welt, die sich
auch und besonders in seinen vielen Rückgriffen auf Lektüren13, insbesondere bei
Erasmus von Rotterdam, in der intellektuellen, religiösen und historiographischen
Dimension seiner Zeit wiederfand. Überhaupt spielt die Geschichtsschreibung ein
großes Thema in Hermanns Reflexionen, besonders im Bezug auf die Bewahrung
von Wissen und Bedeutung im Hinblick auf die Ewigkeit:
„Dan was hilf uch alles ur gut und was ir hie uff erden angetriben hatt, wan dasselb mit
uch under die erde begraben sult werden und ure gedächtnis under urem geblode vergain
sulte?“14
5. Geschichtsschreibung als Rückversicherung
Trotz des deutlichen Bezugs auf die Familie vergisst Hermann nicht, sich immer
wieder an das Weltgeschehen rückzubinden. Auch die Verbindung von
alltäglicher Erzählung und geschichtlichen Ereignissen, die darüber hinausgehen,
12 Das Buch Weinsberg, Bd.1, S. 15.13 Vgl. Stein, Joseph: Über die Auswahlpublikation, Fußnoten 17-62 (!), Internetquelle: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Projekt/Weinsberg/Weinsberg.htm, gel. am 04.07.07, 23:56. Auch erschienen als Einleitung zu: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Fünfter Band: Kulturhistorische Ergänzungen (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XVI), bearb. von J. Stein, Bonn 1926 (Nachdruck der Ausgabe: Düsseldorf 2000).14 Das Buch Weinsberg, Bd.1, S. 16.
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wird von Hermann als Konzept reflektiert. So erfüllen etwa „groisse kreichs- und
religionssachen“15 zwei Funktionen: Erstens soll die Wichtigkeit der alltäglichen
Erzählungen dadurch relativiert werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie
würden mehr Bedeutung als die kollektiven Ereignisse beanspruchen. Dieser
Diskurs lässt sich als die von der Struktur her kommende verstehen: Hier schreibt
Hermann von Weinsberg als frommer Christ, der möglichen Missverständnissen
des (idealen) Lesers durch Bescheidenheitsbekundungen vorbeugen will.
Zweitens sollen aber die „geringere[n] Sachen“ durch eben diese Einflechtungen
größerer Zusammenhänge lesbarer werden; letztere sollen es dem Leser
ermöglichen, sich auf einer Art „Zeitstrahl“ zu verorten, um gewissermaßen in
einer synchronischen Lesart sich der historischen Zusammenhänge zu versichern:
„Das ich aber die heroica und namhaftige groisse kreichs- und religionssachen, auch von
groissen herren, stetten, landen und leuden herzu gesatzt hab, ist uis zweierlei ursachen
gescheit. Zum ersten, das min und miner frunde sachen, die dan gar geringe sint, durch
disse groisse sachen, die darunden verspreidt sint, damit etwas verzeret worden. Zum
andern, ob man der geringer sachen mode worde zu lesen, das man dan durch die andern,
die dan wirdich sint zu lesen, etwas ergetzet worde, und mogen sunst hie auch groisse
und klein sachen wol bei einanderen geduldet werden; dan ich verzelle, was sich in
minem leben und zeiten zugetragen hat, das hat ehe hie wol stat, das ich es nach ordnung
nach einander und under einander schreib, wie es ergangen und gescheit ist, und ist
darumb auch wol lustich, uff das man bei zeiten eins edern gebort, bestatnis ader
absterben auch etwas mirkligs finde, was umb die zit gescheit ist, zu starkunk der
gedechtnis.“16
Der zweite, dem ersten gegenläufige, Diskurs nimmt dialektisch die erste
Funktion, die Relativierung der alltäglichen Erzählung, auf und wandelt sie in
eine Funktion um, mittels derer genau diese Erzählung Bedeutung erlangt. Sie ist
nun nicht mehr nur an abstrakte Jahreszahlen geknüpft, sondern an überregionale
Ereignisse, deren Bedeutsamkeit – weil im kollektiven Gedächtnis, etwa durch
Geschichtsschreibung, stetig reproduziert – gewissermaßen auf die individuelle,
„geringere“ Erzählung abfärbt. Diese bewusste Kompilation und die deutliche
Reflexion darüber stellt ein weiteres Mal heraus, wie präsent Hermann von
15 Das Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 9.16 Ebd.
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Weinsberg der Zusammenhang von historischer Tradition, sozialem Status und
Bedeutsamkeit der eigenen Erfahrung im gesamtgeschichtlichem Kontext ist17.
4. Die Verschränkung von Selbst und Struktur
Die Funktionalisierung von Diskursen, und sei sie auch nur mit den einfachen, für
seine Zeit allerdings herausragend erscheinenden Mitteln reflektiert, ist ein
Beispiel für die eingangs erwähnte bewusste und willentliche Kombination von
Innenwahrnehmung und äußerlich-institutioneller Rückbindung: Nicht allein die
Bedeutung der eingefügten Rechts- und Prestigequellen enthält die Legitimation
der Familie im Familienbuch, auch der Autor wird als solcher legitimiert, indem
er darüber schreibt, wie er schreibt und warum. Das Schreiben des
Familienbuches wird Bestandteil seiner Lebensgeschichte. Dabei wird auch
deutlich, warum etwa Stephan Pastenaci 18die Aufzeichnungen Hermanns als
Autobiographie anachronistisch missdeutet: In der Verschränkung von
Handlungsintention – das Schreiben des Familienbuches als Konstitution – und
Selbstdarstellung ist die Perspektive vom Leser abhängig. Es handelt sich weder
um eine reflexive Autobiographie noch um ein bloß äußerliches Konstrukt
entsprechend einer patrizischen Modeerscheinung. Liest man die Aufzeichnungen
– mit dem Autor! – gegen den Strich, so erscheint die Individualität Hermann von
Weinsbergs untrennbar eingeschrieben in sein Familienbuch. Damit konstituiert
nicht nur in der historischen Reflexion, sondern möglicherweise bereits beim
Verfassen das Buch auch wiederum die Person und fasst sie entsprechend der
Intention Hermanns in denkbar ganzheitlicher Weise zusammen. Hier wird
deutlich, dass sich das Individuum nicht als reines Signifikat von durch
Selbstbeobachtung generierten Wissens zeigt, sondern vielmehr auf mehreren
ineinander geschachtelten reflexiven Ebenen, die von Hermann ausdrücklich
platziert werden. Somit wird Hermann zum Schöpfer seiner eigenen Konstitution;
er erschafft jenseits von nur den sakralen zugeordneten memoriae das „Haus“ und
die Familie als gewissermaßen allmächtiger Autor und ist sich seiner Schöpfung,
ihrer Bedeutung und dem Zusammenhang von Wahrheit und Wirklichkeit und
damit Wirklichkeit und wirksamer Heiligkeit bewusst. Er schreibt sich so
17 Die Reflexion von historischen, sozialen und individuellen Zusammenhängen zeigt Rohmann am Beispiel der Ursprungserzählungen auf: vgl. Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 67-68. 18 Vgl. Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, Fußnoten 11, 45; S. 44, 52.
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gewissermaßen in seiner Individualität, die sich zuvorderst durch sein hohes
Reflexionsniveau gerade beim Fingieren von Herkunftserzählungen auszeichnet,
in den Zweck seines Schreibens ein. Gleichzeitig bemerkt er, wie seine
Konstruktionen beginnen, durch die schiere Anzahl an Geschichten, Legenden,
Beurkundungen und Aufzählungen, ihn als endlichen Menschen, der die Ewigkeit
sucht zu übersteigen:
„Zum andern als ich es durch hin besichtiget, da alle narren nit gnog im selben boich
spezificeirt sin, besonder ich, dan ich understain mins fatters haus Weinsberch
dermaissen durch min testament zu fundern und zu bestiften, das es ewich duren, so ich
doch weiss, das nichtz uff erden bestendigh ist, und keiner vor mir sulch haus in Coln
fundert hat, das weltlich ist“.19
Damit ist sein Scheitern angezeigt: Nur er alleine kann die Bedeutungsfülle seiner
eigenen Welt fassen, die Schreibabsicht verliert an Wert, sobald sich der Autor im
Rausch der Verewigung im Schriftlichen verliert. Erstaunlicherweise ist auch das
Hermann bewusst, wenn er sich selbst als Narren charakterisiert und doch
weiterschreibt, sein ganzes Leben lang, im mehrfachen Sinn der Lebensaufgabe:
Nicht nur, dass er es als seine Aufgabe im Sinne von Pflicht betrachtet, seine Sicht
niederzuschreiben, auch das Leben gibt ihm dies buchstäblich auf und will, einmal
in der narrativen Form gefestigt, auch bis zum bitteren Ende und mit allen
Konsequenzen zu Ende erzählt werden.
5. Fazit: Das Individuum als Erzählbewegung
Anhand der vorangegangenen Darstellung ließe sich folgendes in Kürze
resümieren: Das frühneuzeitliche Individuum konstituiert sich in seiner Erzählung
von sich selbst, die noch nicht getrennt reflexiv-psychologisierend ist, sondern
sich durch die Funktion eines ausgeübten Amtes und durch die Intention der
Identitätsstiftung im Familienzusammenhang legitimiert. Obwohl die
Rückbindung beständig durch über- oder außerindividuelle Gründe geschieht,
erschafft es sich durch die Eigenverortung – als Hausvater, Ratsherr, etc. – selbst,
indem die eigene Funktion über die strukturell zugeordnete hinaus gedacht wird.
Hermann wob sich eine einzigartige Verbindung zu seiner Vergangenheit und
19 Vgl. Fußnote 128 bei Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 72.
10
seiner Zukunft über den eigenen Tod hinaus: „Die reflexive Selbstthematisierung
des Hausvaters geht auf in dem überpersonalen Wissen der Familie“20. Die
Möglichkeiten dazu bietet aber nicht etwa die Loslösung von der Religion oder
die wirtschaftliche Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Strukturen selbst,
indem sie mehr Bedeutung beinhalten, als von der sie verwendenden Gruppe
benötigt wird. Die diskursive Bestimmung der verschiedenen sozialen Rollen und
Funktionen erlaubt eine individuelle Auslegung durch den jeweiligen Träger: „So
bleibt die zeitliche Person aufgehoben in der Zeitlosigkeit des Amtes, erlangt der
Hausvater eine Gegenwart über den Tod hinaus in der Fixierung seines Wissens,
seines Denkens, seines Fühlens, seines Körpers für die Nachfolger. Die
Hausvaterschaft ist so konkretes Medium der Memoria, der personalen
Vergegenwärtigung des Toten durch die möglichst umfassende Verschriftlichung
seiner Erinnerung“21. Doch auch nicht allein in diesem „Amt“ ist Hermann
greifbar; er findet sich nicht allein in einer substantivierten Form wieder, sondern
vielmehr in der Bewegung der Erzählung selbst. Auf das Individuum im
Allgemeinen angewendet, könnte man Hermann von Weinsbergs Bemühungen als
vollwertigen Selbstauslegungsprozess eines Individuums verstehen22: In der
narrativen Sprachform generiert sich dann das Individuum als ein sich selbst
erinnerndes. Dieses ständige Auslegen kann als Hermeneutik verstanden werden,
die es an sich selbst vollzieht und die es gleichzeitig konstituiert. Nicht die
äußeren Fakten bestimmen das Ich-Erzählen und Ich-Beschreiben als Handelnde
Instanz Individuum, sondern die erinnerte Geschichte, die in diesem
Zusammenhang nur immer genau in ein einziges Individuum, hier Hermann von
Weinsberg, eingeschrieben ist. Es erscheint so als Prozess des Bewusstseins, das
in Ermangelung eines festen Haltes, wie sie durch scheinbar übermächtige
Strukturen gegeben wären, in der Welt stetig auf sich zurückfällt und sich
ununterbrochen auslegt. Wäre diese Innerlichkeit die einzige Form seiner
Erzählung, so geriete das Individuum in einen absoluten Solipsismus: Ohne
Rückbindung an feste Grundhalte, wie sie mit Familie, Verwandtschaft, Stadt,
Herkunft, Besitz und im Besonderen Geschichte gegeben sind, wäre keine
Erzählung möglich. Das Individuum ist aber notwendig mit der Welt verbunden;
was das Subjekt als seine Geschichte erinnert, ist immer schon es in der Welt.
20 Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 59.21 Ders., S. 58.22 Vgl. dazu: Zorn, Daniel-Pascal: Subjekt im Koma. Eine Spurensuche, in: Sokrates 1 (2007), S. 39.
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Dass sich Hermann von Weinsberg nicht etwa in philosophischen Introspektionen
ergeht, sondern lediglich, wenn auch in einem ungewöhnlichen Umfang, sein
Leben erzählt und damit einen bestimmten außer ihm liegenden Zweck verbindet,
ist damit gleichzeitig der Vollzug der Selbstdarstellung im vollen Bewusstsein des
Handelns, des Zwecks und des Handelnden als dem Individuum selbst.
Literaturverzeichnis
Aertsen, Jan A./Speer, Andreas: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin u.a. 1996.
Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928.
Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare, Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie , Suhrkamp, Frankfurt a.M.1990.
Hermann von Weinsberg: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Bd. 1, (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 16), Bonn 1886-1926 (Nachdruck Düsseldorf 2000).
Rohmann, Gregor: Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 43-76.
Stein, Joseph: Über die Auswahlpublikation, Fußnoten 17-62 (!), Internetquelle: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Projekt/Weinsberg/Weinsberg.htm, gel. am 04.07.07, 23:56.
von Krusenstjern, Benigna: Was sind Selbstzeugnisse. Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.
Zorn, Daniel-Pascal: Das Subjekt im Koma, in: Sokrates 1 (2007), S. 34-40.
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