HA Individualisierung in der Frühen Neuzeit am Beispiel von Hermann von Weinsberg

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1. Das Individuum als Erfindung der Renaissance? Individuum est ineffabile – Goethes Feststellung aus seinem Brief an Lavater vom 20. September 1780, zitiert nach scholastischer Tradition 1 , benennt mit lakonischer Schärfe das Problem, das wir haben, wenn wir von uns gegenwärtig und auch über historische Personen 2 als Individuen sprechen das Individuum ist „unausschöpfbar“, begrifflich nicht zu fassen. Die begriffliche Diskussion 3 bringt für das Individuum als viables historisches Konzept folgende Definition vor: Individualität, also das, wodurch sich ein Individuum auszeichnet, ist der Grad, in dem es sich von anderen seiner Art unterscheidet. Dass es sich dabei um Menschen, Personen handelt, fügt dieser Bedeutung weitere Dimensionen hinzu – ein individueller Mensch soll im folgenden so verstanden werden, als selbstständig denkendes und sich von anderen unterscheidendes Wesen. Dabei sind die Fragen, die sich daraus ergeben, auch richtungsweisend für die vorliegende Untersuchung: Wodurch versucht sich ein Individuum von anderen zu unterscheiden? Und strebt es dabei immer den Unterschied an? Oder anders gefragt: 1 Dabei ist besonders die Theorie des Individuums von Duns Scotus hervorzuheben, vgl. Aertsen, Jan A.: Einleitung: Die Entdeckung des Individuums, in: Aertsen, Jan A./Speer, Andreas: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin u.a. 1996, S. XII-XIII. 2 Darüber, dass auch der Begriff der Person wie überhaupt alle Begriffe, die den Menschen auf einen Punkt bringen wollen unscharf ist, bin ich mir bewusst. Ich meine an dieser Stelle unser Alltagsverständnis von „Person“. 3 Aertsen, Die Entdeckung des Individuums, S. XV-XVI. 3

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1. Das Individuum als Erfindung der Renaissance?

Individuum est ineffabile – Goethes Feststellung aus seinem Brief an Lavater vom

20. September 1780, zitiert nach scholastischer Tradition1, benennt mit

lakonischer Schärfe das Problem, das wir haben, wenn wir von uns gegenwärtig

und auch über historische Personen2 als Individuen sprechen – das Individuum ist

„unausschöpfbar“, begrifflich nicht zu fassen. Die begriffliche Diskussion3 bringt

für das Individuum als viables historisches Konzept folgende Definition vor:

Individualität, also das, wodurch sich ein Individuum auszeichnet, ist der Grad, in

dem es sich von anderen seiner Art unterscheidet. Dass es sich dabei um

Menschen, Personen handelt, fügt dieser Bedeutung weitere Dimensionen hinzu –

ein individueller Mensch soll im folgenden so verstanden werden, als

selbstständig denkendes und sich von anderen unterscheidendes Wesen. Dabei

sind die Fragen, die sich daraus ergeben, auch richtungsweisend für die

vorliegende Untersuchung: Wodurch versucht sich ein Individuum von anderen

zu unterscheiden? Und strebt es dabei immer den Unterschied an? Oder anders

gefragt: Wie lässt sich Individualität aus Kontexten heraus verstehen, in denen

Individuen sich nach den bestehenden „Regeln“ ihrer Zeit selbstständig zuordnen

und einordnen, um sich damit einen eigenen Ort zu schaffen. Aber handelt es sich

bei der „Individualisierung“ nicht viel mehr um eine Befreiung des Menschen von

den Strukturen? Ist sie nicht viel mehr Leistung der immer unabhängiger

denkenden Menschen am Ende des Mittelalters? Die Lehrmeinung des 19.

Jahrhunderts, im Besonderen vertreten durch Jakob Burckhardt4, sah die

Renaissance als Keimzelle der modernen Welt. Entsprechend der Deutung der

Renaissance – etwa durch Petrarca – galt das Mittelalter als Epoche der durch die

Religion und soziale Normen und Riten gefesselten Menschen, die sich erst durch

die Wiederentdeckung der antiken Denkweisen Schritt für Schritt von den von

ihnen geschaffenen Strukturen emanzipieren konnten. Das Individuum galt so als

1 Dabei ist besonders die Theorie des Individuums von Duns Scotus hervorzuheben, vgl. Aertsen, Jan A.: Einleitung: Die Entdeckung des Individuums, in: Aertsen, Jan A./Speer, Andreas: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin u.a. 1996, S. XII-XIII.2 Darüber, dass auch der Begriff der Person wie überhaupt alle Begriffe, die den Menschen auf einen Punkt bringen wollen unscharf ist, bin ich mir bewusst. Ich meine an dieser Stelle unser Alltagsverständnis von „Person“.3 Aertsen, Die Entdeckung des Individuums, S. XV-XVI.4 Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928, S.131; auch: Dilthey, Wilhelm:

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Erfindung der modernen Welt, für das im Mittelalter kein Platz, in dem das

Allgemeine vor dem Individuellen, das Ideale vor das Reale gesetzt war. Diese

Lehrmeinung wurde in den letzten Jahrzehnten immer mehr durch eine breit

einsetzende Mittelalterforschung relativiert und teilweise aufgelöst; durch neue

literaturwissenschaftliche Theorien, durch die Sozial- und Phänomengeschichte,

nicht zuletzt auch durch das aufgehende Bewusstsein von Geschichte als

Konstruktion wurde deutlich, dass die klaren Epochenschnitte nicht viel mehr als

Konvention bedeuteten und damit auch die Grundlegung der Individualisierung

im Mittelalter selbst zu suchen waren. Die Techniken der Selbstdarstellung, die

Ordnungssysteme der ursprünglich kirchlichen oder zumindest

professionalisierten Genealogen und der Drang nach Identität mit der Bedeutung

einer sozialen Gruppe sind Bestandteile, nach denen sich in spätmittelalterlichen

bis frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen5 das Individuum in die Geschichte

gewissermaßen einschrieb. Dabei wird deutlich, dass die Rückbindung an

symbolische Formen und ritualisierte Selbstbekundungen, wie

Turnierbeschreibungen und -darstellungen, Wappenbücher oder Besitzurkunden

nicht sukzessive verschwanden, sondern weitertradiert wurden, um ein

größtmögliches Maß an sozialer Legitimation zu erreichen. Gleichzeitig zeigt die

Entstehung etwa von Familienbüchern aus pragmatischen Texten, wie

Rechnungsbüchern oder Urkundensammlungen, dass die Selbstdarstellung

keineswegs in einer Art Keimentschluss6 oder einer plötzlich evidenten

Selbsterkenntnis7 zu sich kommt, sondern sich vielmehr von sach- und

zweckbezogenen zu persönlichen Äußerungen hin entwickelt. In welcher Weise

diese Ausdifferenzierung geschieht und welche Diskurse das Persönliche mit

sozialer Bedeutung belegen, das bleibt noch zu untersuchen. Jedoch lässt sich der

scheinbare Ablöseprozess des Individuums auch als Nebeneinander von

strukturellen, von der mittelalterlichen ordo und der (gegen)reformatorischen

pietas geprägten Diskursen, die Bescheidenheit und Unterordnung verlangen und

reflexiven Ebenen des eigenen Geschichtsbewusstseins verstehen, die, zunächst

als Gegenbewegung dazu verstanden, die Ordnungsformen mit neuer, eigener

Bedeutung füllen und sie damit für sich funktionalisieren. Die „alte Ordnung“

5 vgl. von Krusenstjern, Benigna: Was sind Selbstzeugnisse. Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.6 Frank, Manfred: Archäologie des Individuums, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, S. 259-261.7 Wie es im 16. Jahrhundert etwa Descartes mit seiner Formel „cogito, ergo sum“ beansprucht.

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wird damit nicht etwa überwunden, sondern sie wird Rechtfertigung und

Rückversicherung des Individuums, das durch sie zwar zunächst bestimmt ist, das

aber durch Alphabetisierung im Schreiben und Reflektieren über die Strukturen

gewissermaßen von alleine zu sich selbst kommt.

Im Folgenden will ich am Beispiel des Buches Weinsberg von Hermann von

Weinsberg gewissermaßen die bis ins Scheitern perfektionierte Selbstdarstellung8

durch die Kombination von Innenwahrnehmung und äußerlich-institutioneller

Rückbindung anhand ausgewählter Textbeispiele darstellen. Dabei soll gezeigt

werden, dass Individualisierungsprozesse nicht allein in mystischer Innenschau

oder müßigem philosophischen Räsonnieren abgebildet werden können, sondern

vielmehr auch aus dem Zusammenspiel von reflektierter Struktur und strukturiert

verstandenem Selbstbild heraus entwickelt verstanden werden kann. Dabei soll,

im Rückgang auf den Aufsatz von Gregor Rohmann, deutlich werden, mit

welchem hohen Bewusstheitsgrad Hermann von Weinsberg seine Schriften

geradezu herstellt und rechtfertigt. Zum Schluss soll dann deutlich werden, dass

sich das Individuum an der (freilich konstruierten Epochen-) Grenze von spätem

Mittelalter und früher Neuzeit nicht als solches im modernen, rechtsstaatlichen

Verständnis begreift, sondern gewissermaßen durch die es scheinbar

bestimmenden Strukturen erst hervorgebracht wird.

2. Hermann von Weinsberg, er selbst und der Grund des Schreibens

Das Unternehmen, dem Hermann von Weinsberg sich im Sinne des Wortes

verschrieben hatte, war die Sichtung, Kompilation, Kommentierung und

Narration aller die Familie betreffenden sprachlichen und bildlichen Quellen. Hier

versammelte er bewusst alles, was er zu seiner Familie in Verbindung bringen

konnte und verband es mit eigenen Erinnerungen:

„[…] darin zu schreiben allerlei geschichten, handlungen, obligationes und contracten,

mich und die mine samt dem haus Weinsberch betreffende, wie ich dann allerlei vur

gedechtenis geschriben hab“9.

8 Vgl. Rohmann, Gregor: Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 43-76, hier: S. 76.9 Hermann von Weinsberg: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Bd. 1, (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 16), Bonn 1886-1926 (Nachdruck Düsseldorf 2000), S. 4.

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Im Gegensatz zu einer Familienchronik oder einer reinen Familiengeschichte

war das narrative Element, in dem diese Erinnerungen ihre Platz fanden, die

Erzählung seines eigenen Lebens: „[…] das sulchs sinen anfank mit dem anfank

mines leben haben mogt“10. Damit schrieb Hermann nicht einfach die Geschichte

seiner Familie, er verknüpfte sie untrennbar mit der eigenen Perspektive und dem

eigenen Leben und gab ihr so einen konkreten historischen Ort. Ihm war es

wichtig, dass es sich eben nicht um eine klassische Familiengeschichte handelt;

das wird deutlich, wenn man liest, wie er erklärt, warum er seine Geschichten

nicht in dritter Person, wie es ihm wohl von bereits bestehenden Familienbüchern

bekannt war, geschrieben hat, sondern die erste Person verwendet, die ihn als den

persönlichen Schreiber kennzeichnet:

„Dan ich hab allezeit im sinne gehatt diss boich uch zuzuschrieben und zu vertrauwen,

dergestalt, glich als redte ich von mir und den meinen zu uch allein als zu meinem

groisten ungezweifelten frunde, darvor man sich nichtz dan alles goden zu versehen hat,

darvur man sich nit finssen ader einicher kunst der umbwege gebrauchen durft, dan ein

frunt sol pillich zu dem anderen offenherzich sin und im sin anligen eroffnenm der es

auch pillich halbar halten und bei im und anderen vertrauweten frunden, die es mit

angehet, bleiben sol lassen und nit gar ins gemein laissen komen, dan da es die noittorft

erfordert“.11

Es ist also genau diese Vertraulichkeit, die ihn mit dem Leser verbindet: Nicht

nur, dass es sich hier um einen fiktiven Leser handelt, den Hermann als

zukünftigen Hausvater und damit Erben seines ganzen Wissens charakterisiert,

vielmehr stellt er sich einen idealen Leser vor, der sowohl die Beweggründe als

auch jegliche Entscheidung des Autors nachvollziehen soll, um die

Bedeutungsfülle von Hermanns Arbeit verstehen zu können. Er gibt dem Leser

damit nicht nur eine Geschichte plus angehängtes Quellenmaterial an die Hand,

sondern er gibt auch klare Anweisungen, wie das Buch zu lesen sei:

„[…] als ir nuhe den anfank, inhalt und meinung diss mines gedenkboichs gnogsam

ingenomen und verstanden hatt, wils ich dan uch als dem hausfatter zugeschriben und

10 Ebd.11 Das Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 9.

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befollen hab, durch dissen minen schriftlichen sentbreif, dan ein epistel ader sentbreif ist

ein rede und sprach des abwesenden gegen den abwesenden.“12

Hier könnte man die Angst um das mögliche Missverständnis vermuten (die, wie

sich zeigte, auch nicht ganz unberechtigt war); näher liegt aber, dass sich

Hermann als Individuum, als das er sich augenscheinlich wahrnahm, im Text

selber zu jeder Zeit erkennbar sein sollte. Dieses Konzept spiegelt bereits die

Zweigleisigkeit des Unternehmens wider: Einerseits ging es, wie Hermann

bekannt gewesen sein dürfte, um das Familienbuch als Bedeutungslegitimation

innerhalb der Gesellschaft, weniger als öffentliches Bekenntnis, sondern mehr als

Gesamtdeutung zum Selbstverständnis der Nachkommen. Er stiftete nicht nur die

memoria an seine Familie, nicht nur „[…] die Verwandtschaftsgruppe als Medium

ihrer selbst in ihrem institutionellen Rahmen, der überzeitlichen Ordnung des

‚Hauses Weinsberg’ unter der patriarchalischen Gewalt des Hausvaters“, sondern

er erschuf auch ein Universum von sich und seiner ihm eigenen Welt, die sich

auch und besonders in seinen vielen Rückgriffen auf Lektüren13, insbesondere bei

Erasmus von Rotterdam, in der intellektuellen, religiösen und historiographischen

Dimension seiner Zeit wiederfand. Überhaupt spielt die Geschichtsschreibung ein

großes Thema in Hermanns Reflexionen, besonders im Bezug auf die Bewahrung

von Wissen und Bedeutung im Hinblick auf die Ewigkeit:

„Dan was hilf uch alles ur gut und was ir hie uff erden angetriben hatt, wan dasselb mit

uch under die erde begraben sult werden und ure gedächtnis under urem geblode vergain

sulte?“14

5. Geschichtsschreibung als Rückversicherung

Trotz des deutlichen Bezugs auf die Familie vergisst Hermann nicht, sich immer

wieder an das Weltgeschehen rückzubinden. Auch die Verbindung von

alltäglicher Erzählung und geschichtlichen Ereignissen, die darüber hinausgehen,

12 Das Buch Weinsberg, Bd.1, S. 15.13 Vgl. Stein, Joseph: Über die Auswahlpublikation, Fußnoten 17-62 (!), Internetquelle: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Projekt/Weinsberg/Weinsberg.htm, gel. am 04.07.07, 23:56. Auch erschienen als Einleitung zu: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Fünfter Band: Kulturhistorische Ergänzungen (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde XVI), bearb. von J. Stein, Bonn 1926 (Nachdruck der Ausgabe: Düsseldorf 2000).14 Das Buch Weinsberg, Bd.1, S. 16.

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wird von Hermann als Konzept reflektiert. So erfüllen etwa „groisse kreichs- und

religionssachen“15 zwei Funktionen: Erstens soll die Wichtigkeit der alltäglichen

Erzählungen dadurch relativiert werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie

würden mehr Bedeutung als die kollektiven Ereignisse beanspruchen. Dieser

Diskurs lässt sich als die von der Struktur her kommende verstehen: Hier schreibt

Hermann von Weinsberg als frommer Christ, der möglichen Missverständnissen

des (idealen) Lesers durch Bescheidenheitsbekundungen vorbeugen will.

Zweitens sollen aber die „geringere[n] Sachen“ durch eben diese Einflechtungen

größerer Zusammenhänge lesbarer werden; letztere sollen es dem Leser

ermöglichen, sich auf einer Art „Zeitstrahl“ zu verorten, um gewissermaßen in

einer synchronischen Lesart sich der historischen Zusammenhänge zu versichern:

„Das ich aber die heroica und namhaftige groisse kreichs- und religionssachen, auch von

groissen herren, stetten, landen und leuden herzu gesatzt hab, ist uis zweierlei ursachen

gescheit. Zum ersten, das min und miner frunde sachen, die dan gar geringe sint, durch

disse groisse sachen, die darunden verspreidt sint, damit etwas verzeret worden. Zum

andern, ob man der geringer sachen mode worde zu lesen, das man dan durch die andern,

die dan wirdich sint zu lesen, etwas ergetzet worde, und mogen sunst hie auch groisse

und klein sachen wol bei einanderen geduldet werden; dan ich verzelle, was sich in

minem leben und zeiten zugetragen hat, das hat ehe hie wol stat, das ich es nach ordnung

nach einander und under einander schreib, wie es ergangen und gescheit ist, und ist

darumb auch wol lustich, uff das man bei zeiten eins edern gebort, bestatnis ader

absterben auch etwas mirkligs finde, was umb die zit gescheit ist, zu starkunk der

gedechtnis.“16

Der zweite, dem ersten gegenläufige, Diskurs nimmt dialektisch die erste

Funktion, die Relativierung der alltäglichen Erzählung, auf und wandelt sie in

eine Funktion um, mittels derer genau diese Erzählung Bedeutung erlangt. Sie ist

nun nicht mehr nur an abstrakte Jahreszahlen geknüpft, sondern an überregionale

Ereignisse, deren Bedeutsamkeit – weil im kollektiven Gedächtnis, etwa durch

Geschichtsschreibung, stetig reproduziert – gewissermaßen auf die individuelle,

„geringere“ Erzählung abfärbt. Diese bewusste Kompilation und die deutliche

Reflexion darüber stellt ein weiteres Mal heraus, wie präsent Hermann von

15 Das Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 9.16 Ebd.

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Weinsberg der Zusammenhang von historischer Tradition, sozialem Status und

Bedeutsamkeit der eigenen Erfahrung im gesamtgeschichtlichem Kontext ist17.

4. Die Verschränkung von Selbst und Struktur

Die Funktionalisierung von Diskursen, und sei sie auch nur mit den einfachen, für

seine Zeit allerdings herausragend erscheinenden Mitteln reflektiert, ist ein

Beispiel für die eingangs erwähnte bewusste und willentliche Kombination von

Innenwahrnehmung und äußerlich-institutioneller Rückbindung: Nicht allein die

Bedeutung der eingefügten Rechts- und Prestigequellen enthält die Legitimation

der Familie im Familienbuch, auch der Autor wird als solcher legitimiert, indem

er darüber schreibt, wie er schreibt und warum. Das Schreiben des

Familienbuches wird Bestandteil seiner Lebensgeschichte. Dabei wird auch

deutlich, warum etwa Stephan Pastenaci 18die Aufzeichnungen Hermanns als

Autobiographie anachronistisch missdeutet: In der Verschränkung von

Handlungsintention – das Schreiben des Familienbuches als Konstitution – und

Selbstdarstellung ist die Perspektive vom Leser abhängig. Es handelt sich weder

um eine reflexive Autobiographie noch um ein bloß äußerliches Konstrukt

entsprechend einer patrizischen Modeerscheinung. Liest man die Aufzeichnungen

– mit dem Autor! – gegen den Strich, so erscheint die Individualität Hermann von

Weinsbergs untrennbar eingeschrieben in sein Familienbuch. Damit konstituiert

nicht nur in der historischen Reflexion, sondern möglicherweise bereits beim

Verfassen das Buch auch wiederum die Person und fasst sie entsprechend der

Intention Hermanns in denkbar ganzheitlicher Weise zusammen. Hier wird

deutlich, dass sich das Individuum nicht als reines Signifikat von durch

Selbstbeobachtung generierten Wissens zeigt, sondern vielmehr auf mehreren

ineinander geschachtelten reflexiven Ebenen, die von Hermann ausdrücklich

platziert werden. Somit wird Hermann zum Schöpfer seiner eigenen Konstitution;

er erschafft jenseits von nur den sakralen zugeordneten memoriae das „Haus“ und

die Familie als gewissermaßen allmächtiger Autor und ist sich seiner Schöpfung,

ihrer Bedeutung und dem Zusammenhang von Wahrheit und Wirklichkeit und

damit Wirklichkeit und wirksamer Heiligkeit bewusst. Er schreibt sich so

17 Die Reflexion von historischen, sozialen und individuellen Zusammenhängen zeigt Rohmann am Beispiel der Ursprungserzählungen auf: vgl. Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 67-68. 18 Vgl. Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, Fußnoten 11, 45; S. 44, 52.

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gewissermaßen in seiner Individualität, die sich zuvorderst durch sein hohes

Reflexionsniveau gerade beim Fingieren von Herkunftserzählungen auszeichnet,

in den Zweck seines Schreibens ein. Gleichzeitig bemerkt er, wie seine

Konstruktionen beginnen, durch die schiere Anzahl an Geschichten, Legenden,

Beurkundungen und Aufzählungen, ihn als endlichen Menschen, der die Ewigkeit

sucht zu übersteigen:

„Zum andern als ich es durch hin besichtiget, da alle narren nit gnog im selben boich

spezificeirt sin, besonder ich, dan ich understain mins fatters haus Weinsberch

dermaissen durch min testament zu fundern und zu bestiften, das es ewich duren, so ich

doch weiss, das nichtz uff erden bestendigh ist, und keiner vor mir sulch haus in Coln

fundert hat, das weltlich ist“.19

Damit ist sein Scheitern angezeigt: Nur er alleine kann die Bedeutungsfülle seiner

eigenen Welt fassen, die Schreibabsicht verliert an Wert, sobald sich der Autor im

Rausch der Verewigung im Schriftlichen verliert. Erstaunlicherweise ist auch das

Hermann bewusst, wenn er sich selbst als Narren charakterisiert und doch

weiterschreibt, sein ganzes Leben lang, im mehrfachen Sinn der Lebensaufgabe:

Nicht nur, dass er es als seine Aufgabe im Sinne von Pflicht betrachtet, seine Sicht

niederzuschreiben, auch das Leben gibt ihm dies buchstäblich auf und will, einmal

in der narrativen Form gefestigt, auch bis zum bitteren Ende und mit allen

Konsequenzen zu Ende erzählt werden.

5. Fazit: Das Individuum als Erzählbewegung

Anhand der vorangegangenen Darstellung ließe sich folgendes in Kürze

resümieren: Das frühneuzeitliche Individuum konstituiert sich in seiner Erzählung

von sich selbst, die noch nicht getrennt reflexiv-psychologisierend ist, sondern

sich durch die Funktion eines ausgeübten Amtes und durch die Intention der

Identitätsstiftung im Familienzusammenhang legitimiert. Obwohl die

Rückbindung beständig durch über- oder außerindividuelle Gründe geschieht,

erschafft es sich durch die Eigenverortung – als Hausvater, Ratsherr, etc. – selbst,

indem die eigene Funktion über die strukturell zugeordnete hinaus gedacht wird.

Hermann wob sich eine einzigartige Verbindung zu seiner Vergangenheit und

19 Vgl. Fußnote 128 bei Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 72.

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seiner Zukunft über den eigenen Tod hinaus: „Die reflexive Selbstthematisierung

des Hausvaters geht auf in dem überpersonalen Wissen der Familie“20. Die

Möglichkeiten dazu bietet aber nicht etwa die Loslösung von der Religion oder

die wirtschaftliche Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Strukturen selbst,

indem sie mehr Bedeutung beinhalten, als von der sie verwendenden Gruppe

benötigt wird. Die diskursive Bestimmung der verschiedenen sozialen Rollen und

Funktionen erlaubt eine individuelle Auslegung durch den jeweiligen Träger: „So

bleibt die zeitliche Person aufgehoben in der Zeitlosigkeit des Amtes, erlangt der

Hausvater eine Gegenwart über den Tod hinaus in der Fixierung seines Wissens,

seines Denkens, seines Fühlens, seines Körpers für die Nachfolger. Die

Hausvaterschaft ist so konkretes Medium der Memoria, der personalen

Vergegenwärtigung des Toten durch die möglichst umfassende Verschriftlichung

seiner Erinnerung“21. Doch auch nicht allein in diesem „Amt“ ist Hermann

greifbar; er findet sich nicht allein in einer substantivierten Form wieder, sondern

vielmehr in der Bewegung der Erzählung selbst. Auf das Individuum im

Allgemeinen angewendet, könnte man Hermann von Weinsbergs Bemühungen als

vollwertigen Selbstauslegungsprozess eines Individuums verstehen22: In der

narrativen Sprachform generiert sich dann das Individuum als ein sich selbst

erinnerndes. Dieses ständige Auslegen kann als Hermeneutik verstanden werden,

die es an sich selbst vollzieht und die es gleichzeitig konstituiert. Nicht die

äußeren Fakten bestimmen das Ich-Erzählen und Ich-Beschreiben als Handelnde

Instanz Individuum, sondern die erinnerte Geschichte, die in diesem

Zusammenhang nur immer genau in ein einziges Individuum, hier Hermann von

Weinsberg, eingeschrieben ist. Es erscheint so als Prozess des Bewusstseins, das

in Ermangelung eines festen Haltes, wie sie durch scheinbar übermächtige

Strukturen gegeben wären, in der Welt stetig auf sich zurückfällt und sich

ununterbrochen auslegt. Wäre diese Innerlichkeit die einzige Form seiner

Erzählung, so geriete das Individuum in einen absoluten Solipsismus: Ohne

Rückbindung an feste Grundhalte, wie sie mit Familie, Verwandtschaft, Stadt,

Herkunft, Besitz und im Besonderen Geschichte gegeben sind, wäre keine

Erzählung möglich. Das Individuum ist aber notwendig mit der Welt verbunden;

was das Subjekt als seine Geschichte erinnert, ist immer schon es in der Welt.

20 Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit, S. 59.21 Ders., S. 58.22 Vgl. dazu: Zorn, Daniel-Pascal: Subjekt im Koma. Eine Spurensuche, in: Sokrates 1 (2007), S. 39.

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Dass sich Hermann von Weinsberg nicht etwa in philosophischen Introspektionen

ergeht, sondern lediglich, wenn auch in einem ungewöhnlichen Umfang, sein

Leben erzählt und damit einen bestimmten außer ihm liegenden Zweck verbindet,

ist damit gleichzeitig der Vollzug der Selbstdarstellung im vollen Bewusstsein des

Handelns, des Zwecks und des Handelnden als dem Individuum selbst.

Literaturverzeichnis

Aertsen, Jan A./Speer, Andreas: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin u.a. 1996.

Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928.

Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare, Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie , Suhrkamp, Frankfurt a.M.1990.

Hermann von Weinsberg: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Bd. 1, (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 16), Bonn 1886-1926 (Nachdruck Düsseldorf 2000).

Rohmann, Gregor: Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 43-76.

Stein, Joseph: Über die Auswahlpublikation, Fußnoten 17-62 (!), Internetquelle: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Projekt/Weinsberg/Weinsberg.htm, gel. am 04.07.07, 23:56.

von Krusenstjern, Benigna: Was sind Selbstzeugnisse. Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471.

Zorn, Daniel-Pascal: Das Subjekt im Koma, in: Sokrates 1 (2007), S. 34-40.

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