Hamburger Abendblatt - Stadt, Land, Lust
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5/11/2018 Hamburger Abendblatt - Stadt, Land, Lust - slidepdf.com
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V ANESSA SEIF ER T
D ANNENB ER G :: Die Nachbarin seieine echte Ziege. Natürlich meckere in
der Großstadt auch schon mal jemandüber den Gartenzaun, aber nicht so tie-risch wie Roberta. Morgens, wenn KatiaSchneider auf der Terrasse Yoga machtund mit den Augen das Weite sucht,kommt die vierbeinige Nachbarin ihrgern ganz nah. „Ich lebe hier meinenBullerbü-Traum“, sagt Katia Schneider.
Seit Januar ist die 33-jährige Ham-burgerin mit ihrem Freund Jörg Krögerin einem ausgebauten, ehemaligen Stallin Weitsche, einem 53-Seelen-Dörf-chen im Nirgendwo des Wendlands, zu-hause. Von freitags bis montags. EinLeben als Landei in Teilzeit. Wie esHunderte von Großstädtern führen, diees am Freitagabend von Hamburg ausins Alte Land, an die Schlei oder ebenins Wendland zieht.
Die Arbeitswoche verbringen KatiaSchneider und ihr Freund in Hamburg,tagsüber im Büro, abends in einer klei-nen Wohnung am Hein-Köllisch-Platz,mitten auf St. Pauli. Am Wochenendewohnen sie auf dem Land. Mehr Gegen-satz geht nicht. Während der Woche dieHochfrequenz des urbanen Lebens, das
Gewühl, der Stress, die Stadtwohnungohne Balkon. Am Wochenende die Ent-schleunigung, die Gemächlichkeit, dieStille, eine große Wohnung mit Garten.„Es ist, als wenn du freitags bewusst auf die Bremse trittst und das Tempo einbisschen rausnimmst“, sagt Jörg Krö-ger, während er in einem schaukeligen,alten Holzstuhl sitzt.
Sonntags abends, wenn die Rück-fahrt in die Stadt näher rücke, werde eroft ganz melancholisch, sagt der 35-jäh-rige Software-Entwickler und rückt sei-nen Strohhut zurecht. „Ich denke mirdann jedes Mal, dass ich doch gern län-ger auf dem Land bleiben würde.“
Länger schon, für immer nicht. Diemeisten Jobs gibt es in den Städten, fürein tägliches Pendeln sind beispielswei-se die zwei Stunden Fahrzeit zwischenHamburg und Wendland den meistenzu viel. Soziologen beobachten schonseit Jahren eine „Landflucht“, eine zu-
nehmende Urbanisierung. Von denknapp 82 Millionen Deutschen lebenlaut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- undRaumforschung derzeit 60 Prozent ingroßen und mittelgroßen Städten. Einglobaler Trend. Die Vereinten Nationenschätzen in einem Bericht, dass 2050schon 70 Prozent der Weltbevölkerungin Metropolen wohnen werden. Noch vor 40 Jahren hatte jedes Stadtkind ei-ne Oma auf dem Land, heute machenLandwirte gerade mal zwei Prozent derdeutschen Bevölkerung aus – so wenigwie nie zuvor.
Die Stadt ruft, sie bietet alles – nureben keine Ruhe. Das Landleben mitglücklichen Kühen, frei laufenden Hüh-nern und Betten im Kornfeld wird zur
urbanen Projektion, zum Kopfkino vie-ler Großstädter. „Die Sehnsucht nachNatur bleibt. Es gibt den Wunsch, geer-det zu werden und womöglich auch malin der Erde zu wühlen“, sagt Antje Schü-nemann vom Trendbüro Hamburg.
„Ich hätte nie gedacht, wie medita-tiv Unkrautjäten sein kann“, sagt KatiaSchneider, die sich gerade drei Monateunbezahlten Urlaub von ihrem Bürojobgenommen hat, um den Sommer in deretwa 100 Quadratmeter großen, ange-mieteten Wohnung in dem Rundlings-dorf zu verbringen. Sie tuckert mit ih-rem alten VW Käfer, den sie sich eigensfür ihre Landpartie bei Freunden gelie-
hen hat, über die Dörfer des Wendlands,geht nachmittags reiten – und gärtnert.„Der Salat schmeckt viel besser, wennman ihn höchstpersönlich gegen Nackt-schnecken verteidigt hat“, sagt KatiaSchneider, die in Reinbek aufgewach-sen ist, sich früher im elterlichen Gar-ten aber nie besonders für Botanik inte-ressiert hat – ebenso wie viele jungeGroßstädter, die jenseits des Ficus ben- jamini im Wohnzimmer kaum Grün se-hen. „Jetzt lerne ich jeden Tag neuePflanzen kennen – mit den entspre-chenden Namen“, sagt Katia Schneider.
Das können landverliebte Groß-städter natürlich auch per Lektüre. DerMünsteraner Landwirtschaftsverlag verkauft von jeder neuen Ausgabe sei-nes Magazins „Landlust“ mehr als800 000 Exemplare – es ist der größteZeitschriftenerfolg der jüngeren Medi-engeschichte. In den Artikeln geht esauch mal nur um Schnittlauch oder umTomatensamen. Auch Titel wie „Hörzu
Heimat“ oder „Landhaus Living“ bedie-nen erfolgreich den Traum vom Lebenin Laura-Ashley-Blümchensesseln. Wenn auf RTL ein Bauer die Frau sucht,
schalten Millionen ein, um abzuschal-ten. Bei Online-Spielen wie „Farmville“oder Agrar-Simulator machen mittler-weile schon mehr als 80 MillionenMöchtegern-Landwirte virtuell denHof.
„Es gibt eben verschiedene Mög-lichkeiten, die Sehnsucht nach Natur zustillen“, sagt Trendforscherin AntjeSchünemann. Manche Hamburgerpachteten sich in den Vier- undMarschlanden ein Beet an, weil es sichauch nicht jeder leisten könne, ein Wo-chenenddomizil auf dem Land zu mie-ten oder gar zu kaufen. „Dafür gibt esmittlerweile Landhotels, die damit wer-ben, dass sie in einem Funkloch liegen“,sagt Schünemann und spricht von „ar-chaischen Rückzugsräumen“, in denenman endlich Ruhe habe vor Technik.
Auch Software-Entwickler JörgKröger und seine Freundin Katia schau-en sonnabends zur besten Sendezeit lie-ber Fledermäuse als Fernsehen. DerLaptop mit der digitalen Verbindungzur Welt steht zwar auf dem Garten-tisch, „aber eigentlich wollen wir hier
das einfache Leben leben“.
Es klingt nach einer neoromanti-schen Bewegung, die etwa alle zehnJahre eine neue Hochzeit hat. InDeutschland ist es die zweite Welle,denn schon Ende der 80er-Jahre wurdedie „neue Lust auf Land“ herbeige-schrieben. Dabei ist die Weltliteratur von jeher voll davon. Schon der ameri-kanische Philosoph Henry David Tho-reau zog Mitte des 19. Jahrhunderts ineine selbst gebaute Blockhütte am Wal-den Pond in den Wäldern Massachu-setts und schrieb seine Erfahrungenauf.
In dieser Tradition sind gewisser-maßen auch die zahlreichen Selbster-fahrungsbücher zu sehen, die in diesemSommer den Buchmarkt bereichern.Eines der erfolgreichsten ist der s elbst-ironische Bericht „Schöner Mist“ (Ull-
stein, 8,95 Euro) der „Stern“-AutorinIrmgard Hochreither. Seit sechs Jahrenzieht es die 56-Jährige, die während der Woche mit ihrem Lebenspartner in Ho-heluft wohnt, wochenends ins Wend-land. Über diesen Landstrich mit seinen50 000 Einwohnern, verteilt über 400Dörfer, der vor dem Mauerfall am Endeder bundesrepublikanischen Welt lag,habe sie nur gewusst, dass der Castor daregelmäßig durchrolle – aber dort Zeitzu verbringen? Unvorstellbar. „Was sollich denn bitte in der Prärie?“, hatte dieRedakteurin empört gefragt, als ihr Le-benspartner ihr 2004 vorgeschlagenhatte, die Wochenenden künftig in derProvinz zu verbringen. Die Antwort,dass sie vielleicht ein Hochbeet anlegenkönnte, überzeugte sie nicht ganz.
Jetzt plant die einst so überzeugte
Großstädterin ein Hochbeet – im Gar-ten des Fachwerk-Bauernhauses ausdem Jahr 1883, das sie mit ihrem Le-bensgefährten in der 200-Einwohner-Ortschaft Simander gekauft hat. Sei siefrüher ein „Wischmopp auf zwei Bei-nen, die Sagrotanflasche immer griffbe-reit“ gewesen, entsorge sie jetzt auchmal mit bloßen Händen eine tote Maus.Die Hamburgerin, die gern nach Parisund New York reiste, sei das lebendeBeispiel dafür, dass man für das Land-leben kein „Natur-Talent“ sein müsse.„Also, einen grünen Daumen hatte ich
überhaupt nicht. Heute liebe ich es, Ge-müse anzubauen und meine Kräuternicht mehr im Bio-Supermarkt zu kau-fen “, sagt Irmgard Hochreither, wäh-
rend sie auf das 8000 Quadratmetergroße Getreidefeld blickt, das sich anihr 3600 Quadratmeter großes Grund-stück anschließt und zum Besitz gehört.
„Früher war es für mich unvorstell-bar, meine Wochenenden nicht in derCity zu verbringen“, sagt die Autorin.Mittlerweile liebe sie das „Gummistie-fel-Gefühl“. Vor der zweistündigenFahrt ins Wendland sei sie fast jedesMal „so aufgeregt wie vor einem Date“.Schon nach den ersten Kilometern auf der Autobahn fange die Erholung an.
Aus Hamburg und auch aus Berlinzieht es viele Kreative in das ländlicheDreieck zwischen diesen beiden Städ-ten und Hannover, es hat sich längst ei-ne Künstler-Enklave in diesem Land-strich gebildet. Der Schauspieler Heik-ko Deutschmann hat ein Domizil im Wendland, Adelsexperte Rolf Seel-mann-Eggebert lebt dort, und auchHamburgs Ex-Schulsenatorin ChristaGoetsch verbringt dort gern die Wo-
chenenden. Der Vater der HamburgerSchauspielerin Pheline Roggan („SoulKitchen“) lebt dauerhaft im Wendland.Seine berühmte Tochter ist auf dem ak-tuellen Titel des Wendland-Magazins„Landluft“ zu sehen, für das auch Irm-gard Hochreither schreibt. „Diese Zeit-schrift wurde ins Leben gerufen, um diehier in der Gegend vorhandene kreativeKraft zu Papier zu bringen und zu bün-deln.“ Die Auflage liegt bei 40000, undeine der großen Geschichten erschienunter der Überschrift „Bauernhäuserunter 80000 Euro“.
Tatsächlich gebe es im Wendlandwahre „Perlen“, sagt Immobilienexper-te Harry Mellies aus Lüchow. „Sehr be-gehrt sind Resthöfe, also ehemaligeBauernhöfe ohne Ländereien.“ Zwi-schen 50000 und 1,2 Millionen Eurokoste ein solches Bauernhaus – „je nachZustand“. Die Nachfrage sei groß, vorallem unter Städtern. „Viele möchtenganz hierherziehen und suchen einenRuhesitz“, so Mellies, selbst aus Ham-burg. Im Wendland, wo dort aufgewach-
sene junge Leute wegziehen, gebe es viel Leerstand. „Insofern steigen dieHäuser wohl langfristig nicht im Wert.“
Dafür steige der Wert des Lebensauf dem Land, sagt Irmgard Hochrei-ther, während sie die Blumenkübel auf ihrer Terrasse bepflanzt und HündinLuna ihr nicht von der Seite weicht:„Das Wendland und ich – das war Liebeauf den ersten Blick.“ Das trifft auch auf Katia Schneider zu, die sagt: „Ich kannmir nicht vorstellen, dass es hier jeman-dem nicht gefällt.“
Nur Roberta von nebenan meckert.
Stadt, Land, LustImmer mehr Großstädter werden zu Teilzeit-Provinzlern. Am Wochenende zieht es sie aufs Dorf. Das Abendblatt hat Hamburger im Wendland aufgespürt
Mittlerweile ein „Natur-Talent“: Irmgard Hochreither, hier in ihrem Garten in Simander, hat ein Buch über ihr Teilzeit-Leben im Wendland geschrieben. Während der Woche lebt sie in Hoheluft Fotos: Ingo Röhrbein, dpa
Entspanntes Landleben: KatiaSchneider und ihr Freund Jörg Kröger
Auch ARD-Adelsexperte Rolf Seel-mann-Eggebert lebt im Wendland
Der Salat schmeckt doch viel
besser, wenn man ihnselbst gegen Nacktschnecken
verteidigt hat.
Katia Schneider
Von den 82 Millionen Deutschenleben schon 60 Prozent in Städten
Schon Henry David Thoreau zoges in eine selbst gebaute Blockhütte
Ein altes Bauernhaus kostet zwischen50 000 und 1,2 Millionen Euro
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Sonnabend/Sonntag, 16./17. Juli 201114 Hamburger Abendblatt *
D E R N O R D E N. . . N I E D E R S A C H S E N . S C H L E S W I G - H O L S T E I N . B R E M E N . K Ü S T E . . .
... ist ein Landstrich inNiedersachsen. SeinKern, das „Hannover-sche Wendland“, liegtim Landkreis Lüchow-Dannenberg – dem mit50 000 Einwohnern amdünnsten besiedeltenLandkreis der altenBundesländer.
Ein Pfarrer aus Wustrowsoll um 1700 herum, dieBewohner der Gegendals „Wenden“ bezeich-net haben, woraus derName Wendland ent-stand. In 100 Dörfern istdie ursprüngliche Sied-lungsform des Rund-lings noch erkennbar.
Durch die Proteste gegendas Atommüll-LagerGorleben ist das Wend-land seit Ende der 70er-Jahre auch überregionalbekannt geworden. Biszur Wiedervereinigung1989/1990 galt das Wendland als Zonen-randgebiet. (vas)
Das Wendland
Zitiert „Lasst von allem, was nicht euch gehört. Das Loslassen führt euch auf den Weg zu Wohlbefinden und Glück.“ Siddharta Gautama (ca. 536–480 v. Chr.), indischer Philosoph
Online Weitere Bilder und Berichte aus Norddeutschland Abendblatt.de/nord
BOMBENDROHUNG
Kaufhaus in FlensburgerInnenstadt wurde evakuiert
F L ENSB U R G :: In einem Kaufhausin der Flensburger Innenstadt hat es amFreitagnachmittag eine Bombendro-hung gegeben. Das Gebäude war evaku-iert worden, mehr als 100 Menschenbrachten sich in Sicherheit. Lösegeld-forderungen oder Hinweise auf die Tä-ter hatte die Polizei bislang noch nicht. Am Abend war noch mit sieben Such-hunden nach dem Sprengstoff gefahn-det worden. (dpa)
ENTSCHEIDUNG
„Gorch Fock“ bleibtSchulschiff der Bundeswehr
K IEL /B ER L IN :: Die „Gorch Fock“wird weiterhin als Schulschiff der Bun-deswehr segeln. Was sich bereits ab-zeichnete, hat VerteidigungsministerThomas de Maizière, CDU, jetzt offiziellentschieden. Wann sie wieder in Seestechen und welche Veränderungen es
nach dem Unfalltod einer Kadettin anBord geben wird, ist noch offen. De Mai-zière will erst die Auswertung eines Be-richts abwarten, den eine Kommissionam Freitag vorlegte. (dpa)
LAND WILL DURCHGREIFEN
Verhärtete Frontenim Schulbus-Kostenstreit
B AD OL D ESL OE :: Im Streit um dieElternbeteiligung an den Schulbuskos-ten in Schleswig-Holstein sind dieFronten zwischen dem Land und demKreis Stormarn verhärtet. Innenminis-ter Klaus Schlie (CDU) kündigte an, dieElternbeteiligung per Anordnungdurchzusetzen, falls der Kreistag nichtdoch noch eine eigene Satzung be-schließt. Auch der Dithmarscher Kreis-tag hält die Elternbeteiligung für unge-recht und will klagen. (dpa)
VERBRAUCHERSCHUTZ
Mehr Verstößegegen Lebensmittelrecht
H ANNOV ER :: Keime, Pflanzen-schutzmittel, Metallsplitter: 2010 ha-ben sich die Rechtsverstöße bei Lebens-mitteln im Vergleich zu 2009 mehr als verdoppelt. „Dies ist aber kein Indiz,dass die Situation dramatisch schlech-ter geworden ist“, sagte Niedersachsens Agrarminister Gert Lindemann (CDU)bei der Vorstellung des Verbraucher-schutzberichtes. Vielmehr seien dieKontrollen stärker auf riskante Betrie-be und Lebensmittel fokussiert worden.Die Verbraucher könnten sich darauf verlassen, dass die Lebensmittel den ge-setzlichen Ansprüchen genügen. Bei71 000 Kontrollen seien nur 45 gesund-heitsschädliche Waren aus dem Ver-kehr gezogen worden. (dpa)
FLUGHAFEN
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LÜBECK :: Die FluggesellschaftRyanair wird im Winter nicht mehr vonLübeck-Blankensee aus London-Standsted ansteuern. Die Strecke werde von November bis März nicht mehr an-geflogen, sagte eine Sprecherin desFlughafens. Ein Aus des Flughafens be-deute dies aber nicht. Die Geschäftsfüh-rung des Flughafens wolle nun ein Zu-kunftskonzept erarbeiten, um nichtlänger von einem großen Kunden ab-hängig zu sein. (dpa)
LANDESGARTENSCHAU
Wetter verhindertbessere Besucherzahlen
NOR D ER STED T :: 290 000 Men-schen haben die Landesgartenschau inNorderstedt bisher besucht. „Das sindrund 10 000 weniger, als wir angepeilthatten“, sagte Gartenschau-Geschäfts-führer Kai Jörg Evers, als er am Freitagnach 86 Tagen Halbzeit-Bilanz zog.Nach dem Traumstart zu Ostern habedas zuletzt schlechte Wetter ein besse-res Ergebnis verhindert. (ms)