Hamburger Abendblatt - Stadt, Land, Lust

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  VAN ES SA SE IF ERT DANNENBERG :: Die Nachbarin sei eine echte Ziege. Natürlich meckere in der Großstadt auch schon mal jemand über den Gartenzaun, aber nicht so tie- risch wie Roberta. Morgens, wenn Katia Schneider auf der Terrasse Yoga macht und mit den Augen das Weite sucht, kommt die vierbeinige Nachbarin ihr gern ganz nah. „Ich lebe hier meinen Bullerbü-Tr aum“, sagt Katia Schneider. Seit Januar ist die 33-jährige Ham- burgerin mit ihrem Freund Jörg Kröger in einem ausgebauten, ehemaligen Stall in Weitsche, einem 53-Seelen-Dörf- chen im Nirgendwo des Wendlands, zu- hause. Von freitags bis montags. Ein Leben als Landei in Teilzeit. Wie es Hunderte von Großstädtern führen, die es am Freitagabend von Hamburg aus ins Alte Land, an die Schlei oder eben ins Wendland zieht. Die Arbeitswoche verbringen Katia Schneider und ihr Freund in Hamburg, tagsüber im Büro, abends in einer klei- nen Wohnung am Hein-Köllisch-Platz, mitten auf St. Pauli. Am Wochenende wohnen sie auf dem Land. Mehr Gegen- satz geht nicht. Während der Woche die Hochfrequenz des urbanen Lebens, das Gewühl, der Stress, die Stadtwohnung ohne Balkon. Am Wochenende die Ent- schleunigung, die Gemächlichkeit, die Stille, eine große Wohnung mit Garten. „Es ist, als wenn du freitags bewusst auf die Bremse trittst und das Tempo ein bisschen rausnimmst“, sagt Jörg Krö- ger, während er in einem schaukeligen, alten Holzstuhl sitzt. Sonntags abends, wenn die Rück- fahrt in die Stadt näher rücke, werde er oft ganz melancholisch, sagt der 35-jäh- rige Software-Entwickler und rückt sei- nen Strohhut zurecht. „Ich denke mir dann jedes Mal, dass ich doch gern län- ger auf dem Land bleiben würde.“ Länger schon, für immer nicht. Die meisten Jobs gibt es in den Städten, für ein tägliches Pendeln sind beispielswei- se die zwei Stunden Fahrzeit zwischen Hamburg und Wendland den meisten zu viel. Soziologen beobachten schon seit Jahren eine „Landflucht“, eine zu- nehmende Urbanisierung. Von den knapp 82 Millionen Deutschen leben laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung derzeit 60 Prozent in großen und mittelgroßen Städten. Ein globaler Trend. Die Vereinte n Nationen schätzen in einem Bericht, dass 2050 schon 70 Prozent der Weltbevölkerung in Metropolen wohnen werden. Noch  vor 40 Jahren hatte jedes Stadtkind ei- ne Oma auf dem Land, heute machen Landwirte gerade mal zwei Prozent der deutschen Bevölkerung aus – so wenig wie nie zuvor. Die Stadt ruft, sie bietet alles – nur eben keine Ruhe. Das Landleben mit glücklichen Kühen, frei laufenden Hüh- nern und Betten im Kornfeld wird zur urbanen Projektion, zum Kopfkino vie- ler Großstädter. „Die Sehnsucht nach Natur bleibt. Es gibt den Wunsch, geer- det zu werden und womöglich auch mal in der Erde zu wühlen“, sagt Antje Schü- nemann vom Trendbüro Hamburg. „Ich hätte nie gedacht, wie medita- tiv Unkrautjäten sein kann“, sagt Katia Schneider, die sich gerade drei Monate unbezahlten Urlaub von ihrem Bürojob genommen hat, um den Sommer in der etwa 100 Quadratmeter großen, ange- mieteten Wohnung in dem Rundlings- dorf zu verbringen. Sie tuckert mit ih- rem alten VW Käfer, den sie sich eigens für ihre Landpartie bei Freunden gelie- hen hat, über die Dörfer des Wendlan ds, geht nachmittags reiten – und gärtnert. „Der Salat schmeckt viel besser, wenn man ihn höchstpersönlich gegen Nackt- schnecken verteidigt hat“, sagt Katia Schneider, die in Reinbek aufgewach- sen ist, sich früher im elterlichen Gar- ten aber nie besonders für Botanik inte- ressiert hat – ebenso wie viele junge Großstädter, die jenseits des Ficus ben-  jamini im Wohnzimmer kaum Grün se- hen. „Jetzt lerne ich jeden Tag neue Pflanzen kennen – mit den entspre- chenden Namen“, sagt Katia Schneider. Das können landverliebte Groß- städter natürlich auch per Lektüre. Der Münsteraner Landwirtschaftsverlag  verkauft von jeder neuen Ausgabe sei- nes Magazins „Landlust“ mehr als 800 000 Exemplare – es ist de r größte Zeitschriftenerfolg der jüngeren Medi- engeschichte. In den Artikeln geht es auch mal nur um Schnittlauch oder um Tomatensamen. Auch Titel wie „Hörzu Heimat“ oder „Landhaus Living“ bedie- nen erfolgreich den Traum vom Leben in Laura-Ashley-Blümchensesseln.  Wenn au f RTL ein Bau er die Frau su cht, schalten Millionen ein, um abzuschal- ten. Bei Online-Spielen wie „Farmv ille“ oder Agrar-Simulator machen mittler- weile schon mehr als 80 Millionen Möchtegern-Landwirte virtuell den Hof. „Es gibt eben verschiedene Mög- lichkeiten, die Sehnsucht nach Natur zu stillen“, sagt Trendforscherin Antje Schünemann. Manche Hamburger pachteten sich in den Vier- und Marschlanden ein Beet an, weil es sich auch nicht jeder leisten könne, ein Wo- chenenddomizil auf dem Land zu mie- ten oder gar zu kaufen. „Dafür gibt es mittlerweile Landhotels, die damit wer- ben, dass sie in einem Funkloch liegen“, sagt Schünemann und spricht von „ar- chaischen Rückzugsräumen“, in denen man endlich Ruhe habe vor Technik.  Auch Software-Entwickler Jörg Kröger und seine Freundin Katia schau- en sonnabends zur besten Sendezeit lie- ber Fledermäuse als Fernsehen. Der Laptop mit der digitalen Verbindung zur Welt steht zwar auf dem Garten- tisch, „aber eigentlich wollen wir hier das einfache Leben leben“. Es klingt nach einer neoromanti- schen Bewegung, die etwa alle zehn Jahre eine neue Hochzeit hat. In Deutschland ist es die zweite Welle, denn schon Ende der 80er-Jahr e wurde die „neue Lust auf Land“ herbeige- schrieben. Dabei ist die Weltliteratur  von jeher voll davon. Schon der ameri- kanische Philosoph Henry David Tho- reau zog Mitte des 19. Jahrhunderts in eine selbst gebaute Blockhütte am Wal- den Pond in den Wäldern Massachu- setts und schrieb seine Erfahrungen auf. In dieser Tradition sind gewisser- maßen auch die zahlreichen Selbster- fahrungsbücher zu sehen, die in diesem Sommer den Buchmarkt bereichern. Eines der erfolgreichsten ist der selbst- ironische Bericht „Schöner Mist“ (Ull- stein, 8,95 Euro) der „Stern“-Autorin Irmgard Hochreither. Seit sechs Jahren zieht es die 56-Jährige, die während der  Woche mit ihrem Le benspartner in Ho- heluft wohnt, wochenends ins Wend- land. Über diesen Landstrich mit seinen 50 000 Einwohnern, verte ilt über 400 Dörfer, der vor dem Mauerfall am Ende der bundesrepublikanischen Welt lag, habe sie nur gewusst, dass der Castor da regelmäßig durchrolle – aber dort Zeit zu verbringen? Unvorstellbar. „Was soll ich denn bitte in der Prärie?“, hatte die Redakteurin empört gefragt, als ihr Le- benspartner ihr 2004 vorgeschlagen hatte, die Wochenenden künftig in der Provinz zu verbringen. Die Antwort, dass sie vielleicht ein Hochbeet anlegen könnte, überzeugte sie nicht ganz. Jetzt plant die einst so überzeugte Großstädterin ein Hochbeet – im Gar- ten des Fachwerk-Bauernhauses aus dem Jahr 1883, das sie mit ihrem Le- bensgefährten in der 200-Einwohner- Ortschaft Simander gekauft hat. Sei sie früher ein „Wischmopp auf zwei Bei- nen, die Sagrotanflasche immer griffbe- reit“ gewesen, entsorge sie jetzt auch mal mit bloßen Händen eine tote Maus. Die Hamburgerin, die gern nach Paris und New York reiste, sei das lebende Beispiel dafür, dass man für das Land- leben kein „Natur-Talent“ sein müsse. „Also, einen grünen Daumen hatte ich überhaupt nicht. Heute liebe ich es, Ge- müse anzubauen und meine Kräuter nicht mehr im Bio-Supermarkt zu kau- fen “, sagt Irmgard Hochreither, wäh- rend sie auf das 8000 Quadratmeter große Getreidefeld blickt, das sich an ihr 3600 Quadratmeter großes Grund- stück anschließt und zum Besitz gehört. „Früher war es für mich unvorstell- bar, meine Wochenenden nicht in der City zu verbringen“, sagt die Autorin. Mittlerweile liebe sie das „Gummistie- fel-Gefühl“. Vor der zweistündigen Fahrt ins Wendland sei sie fast jedes Mal „so aufgeregt wie vor einem Date“. Schon nach den ersten Kilometern auf der Autobahn fange die Erholung an.  Aus Hamburg und auch aus Berlin zieht es viele Kreative in das ländliche Dreieck zwischen diesen beiden Städ- ten und Hannover, es hat sich längst ei- ne Künstler-Enklave in diesem Land- strich gebildet. Der Schauspieler Heik- ko Deutschmann hat ein Domizil im  Wendlan d, Adelsexperte Rolf Seel- mann-Eggebert lebt dort, und auch Hamburgs Ex-Schulsenatorin Christa Goetsch verbringt dort gern die Wo- chenenden. Der Vater der Hamburger Schauspielerin Pheline Roggan („Soul Kitchen“) lebt dauerhaft im Wendlan d. Seine berühmte Tochter ist auf dem ak- tuellen Titel des Wendland-Magazins „Landluft“ zu sehen, für das auch Irm- gard Hochreither schreibt. „Diese Zeit- schrift wurde ins Leben gerufen, um die hier in der Gegend vorhandene kreative Kraft zu Papier zu bringen und zu bün- deln.“ Die Auflage liegt bei 40000, und eine der großen Geschichten erschien unter der Überschrift „Bauernhäuser unter 80 000 Euro“. Tatsächlich gebe es im Wendland wahre „Perlen“, sagt Immobilienexper- te Harry Mellies aus Lüchow. „Sehr be- gehrt sind Resthöfe, also ehemalige Bauernhöfe ohne Ländereien.“ Zwi- schen 50000 und 1,2 Millionen Euro koste ein solches Bauernhaus – „je nach Zustand“. Die Nachfrage sei groß, vor allem unter Städtern. „Viele möchten ganz hierherziehen und suchen einen Ruhesitz“, so Mellies, selbst aus Ham- burg. Im Wendland, wo dort aufgewach- sene junge Leute wegziehen, gebe es  viel Leerstand. „Insofern steigen die Häuser wohl langfristig nicht im Wert.“ Dafür steige der Wert des Lebens auf dem Land, sagt Irmgard Hochrei- ther, während sie die Blumenkübel auf ihrer Terrasse bepflanzt und Hündin Luna ihr nicht von der Seite weicht: „Das Wendland und ich – das war Liebe auf den ersten Blick.“ Das trifft auch auf Katia Schneider zu, die sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier jeman- dem nicht gefällt.“ Nur Roberta von nebenan meckert. Stadt, Land, Lust Immer mehr Großstädter werden zu Teilzeit-Provinzlern. Am Wochenende zieht es sie aufs Dorf. Das Abendblatt hat Hamburger im Wendland aufgespürt Mittlerweile ein „Natur-T alent“: Irmgard Hochreither, hier in ihrem Garten in Simander, hat ein Buch über ihr Teilzeit -Leben im Wendland geschrieben. Während der Woche lebt sie in Hoheluft Fotos: Ingo Röhrbein, dpa Entspanntes Landleben: Katia Schneider und ihr Freund Jörg Kröger Auch ARD-Adelsexperte Rolf Seel- mann-Eggebert lebt im Wendlan d  Der Salat schmeckt doch viel besser, wenn man ihn selbst gegen Nacktschnecken verteidigt hat. Katia Schneider Von den 82 Millionen Deutschen leben schon 60 Prozent in Städten Schon Henry David Thoreau zog es in eine selbst gebaute Blockhütte Ein altes Bauernhaus kostet zwischen 50 000 und 1 ,2 Millionen Euro + Sonnabend/ Sonntag, 16./17 . Juli 2011 14 Hamburger Abendblatt  * DER NORDEN ...NIEDERSACHSEN . SCHLESWIG-HOLSTEIN . BREMEN . KÜSTE... ... ist ein Landstrich in Niedersachsen. Sein Kern, das „Hannover- sche Wendland“, liegt im Landkreis Lüchow- Dannenberg – dem mit 50 000 Einwohnern am dünnsten besiedelten Landkreis der alten Bundesländer. Ein Pfarrer aus Wustrow soll um 1700 herum, die Bewohner der Gegend als „Wenden“ bezeich- net haben, woraus der Name Wendland ent- stand. In 100 Dörfern ist die ursprüngliche Sied- lungsform des Rund- lings noch erkennbar . Durch die Proteste gegen das Atommüll-Lager Gorleben ist das Wend- land seit Ende der 70er- Jahre auch überregional bekannt geworden. Bis zur Wiedervereinigung 1989/1990 galt das  Wendlan d als Zonen- randgebiet. (vas) Das Wendland Zitiert „Lasst von allem, was nicht euch gehört. Das Loslassen führt euch auf den Weg zu Wohlbefinden und Glück.“ Siddharta Gautama (ca. 536–480 v. Chr.), indischer Philosoph Online Weitere Bilder und Berichte aus Norddeutschland  Abendblatt.de/nord BOMBENDROHUNG Kaufhaus in Flensburger Innenstadt wurde evakuiert FLENSBURG :: In einem Kaufhaus in der Flensburger Innenstadt hat es am Freitagnachmittag eine Bombendro- hung gegeben. Das Gebäude war evaku- iert worden, mehr als 100 Menschen brachten sich in Sicherheit. Lösegeld- forderungen oder Hinweise auf die Tä- ter hatte die Polizei bislang noch nicht.  Am Abend war noch mit sieben Such- hunden nach dem Sprengstoff gefahn- det worden. (dpa) ENTSCHEIDUNG „Gorch Fock“ bleibt Schulschiff der Bundeswehr KIEL/BERLIN :: Die „Gorch Fock“ wird weiterhin als Schulschiff der Bun- deswehr segeln. Was sich bereits ab- zeichnete, hat Verteidigungsminister Thomas de Maizière, CDU, jetzt offiziell entschieden. Wann sie wieder in See stechen und welche Veränderungen es nach dem Unfalltod einer Kadettin an Bord geben wird, ist noch offen. De Mai- zière will erst die Auswertung eines Be- richts abwarten, den eine Kommission am Freitag vorlegte. (dpa) LAND WILL DURCHGREIFEN Verhärtete Fronten im Schulbus-Kostenstreit BAD OLDESLOE :: Im Streit um die Elternbeteiligung an den Schulbuskos- ten in Schleswig-Holstein sind die Fronten zwischen dem Land und dem Kreis Stormarn verhärtet. Innenminis- ter Klaus Schlie (CDU) kündigte an, die Elternbeteiligung per Anordnung durchzusetzen, falls der Kreistag nicht doch noch eine eigene Satzung be- schließt. Auch der Dithmarscher Kreis- tag hält die Elternbeteiligung für unge- recht und will klagen. (dpa) VERBRAUCHERSCHUTZ Mehr Verstöße gegen Lebensmittelrecht HANNOVER  :: Keime, Pflanzen- schutzmittel, Metallsplitter: 2010 ha- ben sich die Rechtsverstöße bei Lebens- mitteln im Vergleich zu 2009 mehr als  verdoppelt. „Dies ist aber kein Indiz, dass die Situation dramatisch schlech- ter geworden ist“, sagte Niedersachsens  Agrarminister Gert Lindemann (CDU) bei der Vorstellung des Verbraucher- schutzberichtes. Vielmehr seien die Kontrollen stärker auf riskante Betrie- be und Lebensmittel fokussiert worden. Die Verbraucher könnten sich darauf  verlassen, da ss die Lebensmitte l den ge- setzlichen Ansprüchen genügen. Bei 71 000 Kontrollen seien nur 45 gesund- heitsschädliche Waren aus dem Ver- kehr gezogen worden. (dpa) FLUGHAFEN Lübeck verliert London-Verbindung im Winter LÜBECK :: Die Fluggesellschaft Ryanair wird im Winter nicht mehr von Lübeck-Blankensee aus London- Standsted ansteuern. Die Strecke werde  von November bis März nicht mehr an- geflogen, sagte eine Sprecherin des Flughafens. Ein Aus des Flughafens be- deute dies aber nicht. Die Geschäftsfüh- rung des Flughafens wolle nun ein Zu- kunftskonzept erarbeiten, um nicht länger von einem großen Kunden ab- hängig zu sein. (dpa) LANDESGARTENSCHAU Wetter verhindert bessere Besucherzahlen NORDERSTEDT :: 290 000 Men - schen haben die Landesgartenschau in Norderstedt bisher besucht. „Das sind rund 10 000 weniger, als wir angepeilt hatten“, sagte Gartenschau-Geschäfts- führer Kai Jörg Evers, als er am Freitag nach 86 Tagen Halbzeit-Bilanz zog. Nach dem Traumstart zu Ostern habe das zuletzt schlechte Wetter ein besse- res Ergebnis verhindert. (ms)

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 V ANESSA SEIF ER T

D ANNENB ER G :: Die Nachbarin seieine echte Ziege. Natürlich meckere in

der Großstadt auch schon mal jemandüber den Gartenzaun, aber nicht so tie-risch wie Roberta. Morgens, wenn KatiaSchneider auf der Terrasse Yoga machtund mit den Augen das Weite sucht,kommt die vierbeinige Nachbarin ihrgern ganz nah. „Ich lebe hier meinenBullerbü-Traum“, sagt Katia Schneider.

Seit Januar ist die 33-jährige Ham-burgerin mit ihrem Freund Jörg Krögerin einem ausgebauten, ehemaligen Stallin Weitsche, einem 53-Seelen-Dörf-chen im Nirgendwo des Wendlands, zu-hause. Von freitags bis montags. EinLeben als Landei in Teilzeit. Wie esHunderte von Großstädtern führen, diees am Freitagabend von Hamburg ausins Alte Land, an die Schlei oder ebenins Wendland zieht.

Die Arbeitswoche verbringen KatiaSchneider und ihr Freund in Hamburg,tagsüber im Büro, abends in einer klei-nen Wohnung am Hein-Köllisch-Platz,mitten auf St. Pauli. Am Wochenendewohnen sie auf dem Land. Mehr Gegen-satz geht nicht. Während der Woche dieHochfrequenz des urbanen Lebens, das

Gewühl, der Stress, die Stadtwohnungohne Balkon. Am Wochenende die Ent-schleunigung, die Gemächlichkeit, dieStille, eine große Wohnung mit Garten.„Es ist, als wenn du freitags bewusst auf die Bremse trittst und das Tempo einbisschen rausnimmst“, sagt Jörg Krö-ger, während er in einem schaukeligen,alten Holzstuhl sitzt.

Sonntags abends, wenn die Rück-fahrt in die Stadt näher rücke, werde eroft ganz melancholisch, sagt der 35-jäh-rige Software-Entwickler und rückt sei-nen Strohhut zurecht. „Ich denke mirdann jedes Mal, dass ich doch gern län-ger auf dem Land bleiben würde.“

Länger schon, für immer nicht. Diemeisten Jobs gibt es in den Städten, fürein tägliches Pendeln sind beispielswei-se die zwei Stunden Fahrzeit zwischenHamburg und Wendland den meistenzu viel. Soziologen beobachten schonseit Jahren eine „Landflucht“, eine zu-

nehmende Urbanisierung. Von denknapp 82 Millionen Deutschen lebenlaut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- undRaumforschung derzeit 60 Prozent ingroßen und mittelgroßen Städten. Einglobaler Trend. Die Vereinten Nationenschätzen in einem Bericht, dass 2050schon 70 Prozent der Weltbevölkerungin Metropolen wohnen werden. Noch vor 40 Jahren hatte jedes Stadtkind ei-ne Oma auf dem Land, heute machenLandwirte gerade mal zwei Prozent derdeutschen Bevölkerung aus – so wenigwie nie zuvor.

Die Stadt ruft, sie bietet alles – nureben keine Ruhe. Das Landleben mitglücklichen Kühen, frei laufenden Hüh-nern und Betten im Kornfeld wird zur

urbanen Projektion, zum Kopfkino vie-ler Großstädter. „Die Sehnsucht nachNatur bleibt. Es gibt den Wunsch, geer-det zu werden und womöglich auch malin der Erde zu wühlen“, sagt Antje Schü-nemann vom Trendbüro Hamburg.

„Ich hätte nie gedacht, wie medita-tiv Unkrautjäten sein kann“, sagt KatiaSchneider, die sich gerade drei Monateunbezahlten Urlaub von ihrem Bürojobgenommen hat, um den Sommer in deretwa 100 Quadratmeter großen, ange-mieteten Wohnung in dem Rundlings-dorf zu verbringen. Sie tuckert mit ih-rem alten VW Käfer, den sie sich eigensfür ihre Landpartie bei Freunden gelie-

hen hat, über die Dörfer des Wendlands,geht nachmittags reiten – und gärtnert.„Der Salat schmeckt viel besser, wennman ihn höchstpersönlich gegen Nackt-schnecken verteidigt hat“, sagt KatiaSchneider, die in Reinbek aufgewach-sen ist, sich früher im elterlichen Gar-ten aber nie besonders für Botanik inte-ressiert hat – ebenso wie viele jungeGroßstädter, die jenseits des Ficus ben- jamini im Wohnzimmer kaum Grün se-hen. „Jetzt lerne ich jeden Tag neuePflanzen kennen – mit den entspre-chenden Namen“, sagt Katia Schneider.

Das können landverliebte Groß-städter natürlich auch per Lektüre. DerMünsteraner Landwirtschaftsverlag verkauft von jeder neuen Ausgabe sei-nes Magazins „Landlust“ mehr als800 000 Exemplare – es ist der größteZeitschriftenerfolg der jüngeren Medi-engeschichte. In den Artikeln geht esauch mal nur um Schnittlauch oder umTomatensamen. Auch Titel wie „Hörzu

Heimat“ oder „Landhaus Living“ bedie-nen erfolgreich den Traum vom Lebenin Laura-Ashley-Blümchensesseln. Wenn auf RTL ein Bauer die Frau sucht,

schalten Millionen ein, um abzuschal-ten. Bei Online-Spielen wie „Farmville“oder Agrar-Simulator machen mittler-weile schon mehr als 80 MillionenMöchtegern-Landwirte virtuell denHof.

„Es gibt eben verschiedene Mög-lichkeiten, die Sehnsucht nach Natur zustillen“, sagt Trendforscherin AntjeSchünemann. Manche Hamburgerpachteten sich in den Vier- undMarschlanden ein Beet an, weil es sichauch nicht jeder leisten könne, ein Wo-chenenddomizil auf dem Land zu mie-ten oder gar zu kaufen. „Dafür gibt esmittlerweile Landhotels, die damit wer-ben, dass sie in einem Funkloch liegen“,sagt Schünemann und spricht von „ar-chaischen Rückzugsräumen“, in denenman endlich Ruhe habe vor Technik.

  Auch Software-Entwickler JörgKröger und seine Freundin Katia schau-en sonnabends zur besten Sendezeit lie-ber Fledermäuse als Fernsehen. DerLaptop mit der digitalen Verbindungzur Welt steht zwar auf dem Garten-tisch, „aber eigentlich wollen wir hier

das einfache Leben leben“.

Es klingt nach einer neoromanti-schen Bewegung, die etwa alle zehnJahre eine neue Hochzeit hat. InDeutschland ist es die zweite Welle,denn schon Ende der 80er-Jahre wurdedie „neue Lust auf Land“ herbeige-schrieben. Dabei ist die Weltliteratur von jeher voll davon. Schon der ameri-kanische Philosoph Henry David Tho-reau zog Mitte des 19. Jahrhunderts ineine selbst gebaute Blockhütte am Wal-den Pond in den Wäldern Massachu-setts und schrieb seine Erfahrungenauf.

In dieser Tradition sind gewisser-maßen auch die zahlreichen Selbster-fahrungsbücher zu sehen, die in diesemSommer den Buchmarkt bereichern.Eines der erfolgreichsten ist der s elbst-ironische Bericht „Schöner Mist“ (Ull-

stein, 8,95 Euro) der „Stern“-AutorinIrmgard Hochreither. Seit sechs Jahrenzieht es die 56-Jährige, die während der Woche mit ihrem Lebenspartner in Ho-heluft wohnt, wochenends ins Wend-land. Über diesen Landstrich mit seinen50 000 Einwohnern, verteilt über 400Dörfer, der vor dem Mauerfall am Endeder bundesrepublikanischen Welt lag,habe sie nur gewusst, dass der Castor daregelmäßig durchrolle – aber dort Zeitzu verbringen? Unvorstellbar. „Was sollich denn bitte in der Prärie?“, hatte dieRedakteurin empört gefragt, als ihr Le-benspartner ihr 2004 vorgeschlagenhatte, die Wochenenden künftig in derProvinz zu verbringen. Die Antwort,dass sie vielleicht ein Hochbeet anlegenkönnte, überzeugte sie nicht ganz.

Jetzt plant die einst so überzeugte

Großstädterin ein Hochbeet – im Gar-ten des Fachwerk-Bauernhauses ausdem Jahr 1883, das sie mit ihrem Le-bensgefährten in der 200-Einwohner-Ortschaft Simander gekauft hat. Sei siefrüher ein „Wischmopp auf zwei Bei-nen, die Sagrotanflasche immer griffbe-reit“ gewesen, entsorge sie jetzt auchmal mit bloßen Händen eine tote Maus.Die Hamburgerin, die gern nach Parisund New York reiste, sei das lebendeBeispiel dafür, dass man für das Land-leben kein „Natur-Talent“ sein müsse.„Also, einen grünen Daumen hatte ich

überhaupt nicht. Heute liebe ich es, Ge-müse anzubauen und meine Kräuternicht mehr im Bio-Supermarkt zu kau-fen “, sagt Irmgard Hochreither, wäh-

rend sie auf das 8000 Quadratmetergroße Getreidefeld blickt, das sich anihr 3600 Quadratmeter großes Grund-stück anschließt und zum Besitz gehört.

„Früher war es für mich unvorstell-bar, meine Wochenenden nicht in derCity zu verbringen“, sagt die Autorin.Mittlerweile liebe sie das „Gummistie-fel-Gefühl“. Vor der zweistündigenFahrt ins Wendland sei sie fast jedesMal „so aufgeregt wie vor einem Date“.Schon nach den ersten Kilometern auf der Autobahn fange die Erholung an.

 Aus Hamburg und auch aus Berlinzieht es viele Kreative in das ländlicheDreieck zwischen diesen beiden Städ-ten und Hannover, es hat sich längst ei-ne Künstler-Enklave in diesem Land-strich gebildet. Der Schauspieler Heik-ko Deutschmann hat ein Domizil im  Wendland, Adelsexperte Rolf Seel-mann-Eggebert lebt dort, und auchHamburgs Ex-Schulsenatorin ChristaGoetsch verbringt dort gern die Wo-

chenenden. Der Vater der HamburgerSchauspielerin Pheline Roggan („SoulKitchen“) lebt dauerhaft im Wendland.Seine berühmte Tochter ist auf dem ak-tuellen Titel des Wendland-Magazins„Landluft“ zu sehen, für das auch Irm-gard Hochreither schreibt. „Diese Zeit-schrift wurde ins Leben gerufen, um diehier in der Gegend vorhandene kreativeKraft zu Papier zu bringen und zu bün-deln.“ Die Auflage liegt bei 40000, undeine der großen Geschichten erschienunter der Überschrift „Bauernhäuserunter 80000 Euro“.

Tatsächlich gebe es im Wendlandwahre „Perlen“, sagt Immobilienexper-te Harry Mellies aus Lüchow. „Sehr be-gehrt sind Resthöfe, also ehemaligeBauernhöfe ohne Ländereien.“ Zwi-schen 50000 und 1,2 Millionen Eurokoste ein solches Bauernhaus – „je nachZustand“. Die Nachfrage sei groß, vorallem unter Städtern. „Viele möchtenganz hierherziehen und suchen einenRuhesitz“, so Mellies, selbst aus Ham-burg. Im Wendland, wo dort aufgewach-

sene junge Leute wegziehen, gebe es  viel Leerstand. „Insofern steigen dieHäuser wohl langfristig nicht im Wert.“

Dafür steige der Wert des Lebensauf dem Land, sagt Irmgard Hochrei-ther, während sie die Blumenkübel auf ihrer Terrasse bepflanzt und HündinLuna ihr nicht von der Seite weicht:„Das Wendland und ich – das war Liebeauf den ersten Blick.“ Das trifft auch auf Katia Schneider zu, die sagt: „Ich kannmir nicht vorstellen, dass es hier jeman-dem nicht gefällt.“

Nur Roberta von nebenan meckert.

Stadt, Land, LustImmer mehr Großstädter werden zu Teilzeit-Provinzlern. Am Wochenende zieht es sie aufs Dorf. Das Abendblatt hat Hamburger im Wendland aufgespürt

Mittlerweile ein „Natur-Talent“: Irmgard Hochreither, hier in ihrem Garten in Simander, hat ein Buch über ihr Teilzeit-Leben im Wendland geschrieben. Während der Woche lebt sie in Hoheluft Fotos: Ingo Röhrbein, dpa

Entspanntes Landleben: KatiaSchneider und ihr Freund Jörg Kröger

Auch ARD-Adelsexperte Rolf Seel-mann-Eggebert lebt im Wendland

  Der Salat schmeckt doch viel 

besser, wenn man ihnselbst gegen Nacktschnecken

verteidigt hat.

Katia Schneider

Von den 82 Millionen Deutschenleben schon 60 Prozent in Städten

Schon Henry David Thoreau zoges in eine selbst gebaute Blockhütte

Ein altes Bauernhaus kostet zwischen50 000 und 1,2 Millionen Euro

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Sonnabend/Sonntag, 16./17. Juli 201114 Hamburger Abendblatt *

D E R N O R D E N. . . N I E D E R S A C H S E N . S C H L E S W I G - H O L S T E I N . B R E M E N . K Ü S T E . . .

... ist ein Landstrich inNiedersachsen. SeinKern, das „Hannover-sche Wendland“, liegtim Landkreis Lüchow-Dannenberg – dem mit50 000 Einwohnern amdünnsten besiedeltenLandkreis der altenBundesländer.

Ein Pfarrer aus Wustrowsoll um 1700 herum, dieBewohner der Gegendals „Wenden“ bezeich-net haben, woraus derName Wendland ent-stand. In 100 Dörfern istdie ursprüngliche Sied-lungsform des Rund-lings noch erkennbar.

Durch die Proteste gegendas Atommüll-LagerGorleben ist das Wend-land seit Ende der 70er-Jahre auch überregionalbekannt geworden. Biszur Wiedervereinigung1989/1990 galt das  Wendland als Zonen-randgebiet. (vas)

Das Wendland

Zitiert „Lasst von allem, was nicht euch gehört. Das Loslassen führt euch auf den Weg zu Wohlbefinden und Glück.“ Siddharta Gautama (ca. 536–480 v. Chr.), indischer Philosoph

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BOMBENDROHUNG

Kaufhaus in FlensburgerInnenstadt wurde evakuiert

F L ENSB U R G :: In einem Kaufhausin der Flensburger Innenstadt hat es amFreitagnachmittag eine Bombendro-hung gegeben. Das Gebäude war evaku-iert worden, mehr als 100 Menschenbrachten sich in Sicherheit. Lösegeld-forderungen oder Hinweise auf die Tä-ter hatte die Polizei bislang noch nicht.  Am Abend war noch mit sieben Such-hunden nach dem Sprengstoff gefahn-det worden. (dpa)

ENTSCHEIDUNG

„Gorch Fock“ bleibtSchulschiff der Bundeswehr

K IEL /B ER L IN :: Die „Gorch Fock“wird weiterhin als Schulschiff der Bun-deswehr segeln. Was sich bereits ab-zeichnete, hat VerteidigungsministerThomas de Maizière, CDU, jetzt offiziellentschieden. Wann sie wieder in Seestechen und welche Veränderungen es

nach dem Unfalltod einer Kadettin anBord geben wird, ist noch offen. De Mai-zière will erst die Auswertung eines Be-richts abwarten, den eine Kommissionam Freitag vorlegte. (dpa)

LAND WILL DURCHGREIFEN

Verhärtete Frontenim Schulbus-Kostenstreit

B AD OL D ESL OE :: Im Streit um dieElternbeteiligung an den Schulbuskos-ten in Schleswig-Holstein sind dieFronten zwischen dem Land und demKreis Stormarn verhärtet. Innenminis-ter Klaus Schlie (CDU) kündigte an, dieElternbeteiligung per Anordnungdurchzusetzen, falls der Kreistag nichtdoch noch eine eigene Satzung be-schließt. Auch der Dithmarscher Kreis-tag hält die Elternbeteiligung für unge-recht und will klagen. (dpa)

VERBRAUCHERSCHUTZ

Mehr Verstößegegen Lebensmittelrecht

H ANNOV ER :: Keime, Pflanzen-schutzmittel, Metallsplitter: 2010 ha-ben sich die Rechtsverstöße bei Lebens-mitteln im Vergleich zu 2009 mehr als  verdoppelt. „Dies ist aber kein Indiz,dass die Situation dramatisch schlech-ter geworden ist“, sagte Niedersachsens Agrarminister Gert Lindemann (CDU)bei der Vorstellung des Verbraucher-schutzberichtes. Vielmehr seien dieKontrollen stärker auf riskante Betrie-be und Lebensmittel fokussiert worden.Die Verbraucher könnten sich darauf  verlassen, dass die Lebensmittel den ge-setzlichen Ansprüchen genügen. Bei71 000 Kontrollen seien nur 45 gesund-heitsschädliche Waren aus dem Ver-kehr gezogen worden. (dpa)

FLUGHAFEN

Lübeck verliertLondon-Verbindung im Winter

LÜBECK :: Die FluggesellschaftRyanair wird im Winter nicht mehr vonLübeck-Blankensee aus London-Standsted ansteuern. Die Strecke werde von November bis März nicht mehr an-geflogen, sagte eine Sprecherin desFlughafens. Ein Aus des Flughafens be-deute dies aber nicht. Die Geschäftsfüh-rung des Flughafens wolle nun ein Zu-kunftskonzept erarbeiten, um nichtlänger von einem großen Kunden ab-hängig zu sein. (dpa)

LANDESGARTENSCHAU

Wetter verhindertbessere Besucherzahlen

NOR D ER STED T :: 290 000 Men-schen haben die Landesgartenschau inNorderstedt bisher besucht. „Das sindrund 10 000 weniger, als wir angepeilthatten“, sagte Gartenschau-Geschäfts-führer Kai Jörg Evers, als er am Freitagnach 86 Tagen Halbzeit-Bilanz zog.Nach dem Traumstart zu Ostern habedas zuletzt schlechte Wetter ein besse-res Ergebnis verhindert. (ms)

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