ist der letzte Romantiker SOPHIE CALLE: NACHHALTIGES …

1
MICHAEL RAKOWITZ 72 20 SOPHIE CALLE RAGNAR KJARTANSSON 46 FRANCINE HOUBEN 58 JAMES MARTIN 66 32 NACHHALTIGES DESIGN 4 SAISON JULI AUGUST SEPTEMBER OKTOBER 2019 Die wichtigsten Kunst-Termine SOPHIE CALLE: Das große Rätsel Leben NACHHALTIGES DESIGN: Die besten Ideen zur Rettung der Welt Sehnsucht! Der isländische Performer Ragnar Kjartanssonist der letzte Romantiker DAS KUNSTMAGAZIN // JULI 2019 TITEL RAGNAR KJARTANSSON Besuch am Ende der Welt, wo der isländische Künstler auf Vulkanen und märchenhaften Lavafeldern schräg-melancholische Langzeitperformances, aber auch Pleinair-Malstudien produziert 46 RADAR BILDER DES MONATS Banksy in Venedig, künstliche Nasen, aufblasbare Protestkunst. KUNST AUS DEM OFF Neuer indigener Architekturstil in Bolivien. KUNST FÜR EINE BESSERE WELT Bedingungsloses Grundein- kommen als Kunstprojekt. AKTUELL ÜBER- SCHÄTZT Thomas Heatherwicks »Vessel«- Bau in den New Yorker Hudson Yards 8—19 THEMEN SOPHIE CALLE Zu Gast bei der großen französischen Konzeptkünstlerin, die immer wieder Verluste thematisiert – auch den ihres eigenen Katers 20 NACHHALTIGES DESIGN 20 Gestaltungs- ideen, die aus dem geschundenen Planeten einen lebenswerteren Ort machen 32 FRANCINE HOUBEN Treffen mit der Kreativdirektorin des niederländischen Archi- tekturbüros Mecanoo, das sich mit einer humanen Architektur einen Namen machte 58 JAMES MARTIN Seinen Urteilen beugt sich der Kunstmarkt, wir haben dem Fälschungs- experten über die Schulter geschaut 66 MICHAEL RAKOWITZ Der US-amerikani- sche Künstler mit Wurzeln im Irak inter- essiert sich für kriegerische Feindbilder und stellt zerstörtes Kulturgut wieder her 72 BILDSEMINAR Wolfgang Ullrich über Bilder, die berühren und solche, die im Museum ertastet werden dürfen 82 MEILENSTEINE Fast 30 000 Aufnahmen, zu einem ikonischen Fotobuch kondensiert: Mit The Americans revolutionierte Robert Frank in den fünfziger Jahren die Fotografie 84 STARTER Diesmal Julia Weiser, Yongchul Kim und Caspar Sänger 90 AUSSTELLUNGEN LONDON Cindy Sherman 102 SALZBURG Sigalit Landau 104 AACHEN Lars Eidinger 105 BERLIN Summer of Love 106 BREGENZ Thomas Schütte 108 GOSLAR Nevin Aladağ 109 HAMBURG Here We Are Today 110 WIESBADEN Harald Sohlberg 111 HAMBURG Political Affairs 112 NEW YORK Whitney Biennale 113 KALENDER Die internationalen Kunsttermine im Überblick 114 JOURNAL INTERVIEW Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda erklärt, wie die Kunstwelt an der Elbe tickt 124 PROTESTE Schmutzige Sponsorengelder bringen Museen unter Druck 126 KUNSTRAUM Neues Sammlermuseum für Videokunst in Berlin 128 AUSSER HAUS Schlechte Entwürfe für die Umgestaltung von Notre-Dame 129 MUSEEN I Proteste gegen den aktuellen Kulturkonservatismus in Ost-Museen 130 MUSEEN II Radikal neue Ideen für das Los angeLes county MuseuM of art 131 IM FILM Horrorkomödie von Jim Jarmusch und ein Western von Jacques Audiard 132 VIEL HOLZ Die ehrliche Buchkolumne 134 KINDER ERKLÄREN KUNST Diesmal Madonna Alba von Raffael 138 RUBRIKEN Editorial 3 Betreff: art 6 Leserservice, Impressum, Fotovermerke 136 Im nächsten Heft 137 TITELBILD: Dauerkussperformance in edwardianischen Kleidern auf dem See des Barbican Centre in London RAGNAR KJARTANSSON: SECOND MOVEMENT, 2016 102 AUSSTELLUNGEN 124 JOURNAL 8 RADAR EXTRA-HEFT S taatsrat Carsten Brosda vertrat erst lange seine erkrankte Vorgängerin Barbara Kisseler, dann über- nahm er das Amt als Senator. Der SPD-Mann und gelernte Journalist will weg von der Leuchtturmpolitik und das alte Motto »Kultur für alle« für die auseinderdriſtende Gesell- schaſt neu beleben. ART: In den Neunzigern war Hamburg ein Kunstort mit internationaler Strahlkraſt: Die DeichToRhAllen wur- den eröffnet, die GAleRie DeR GeGenwART gebaut. Heute spielt Hamburg, was die bil- dende Kunst angeht, nur noch in der 2. Liga und rangiert hin- ter Frankfurt/M., Berlin, Mün- chen, Köln oder Düsseldorf. Wie konnte das passieren? Carsten Brosda: Als ich 2017 ins Amt kam, habe ich mich we- niger mit der Rückschau befasst als mit der Frage: Wie ist die Lage, und was machen wir jetzt daraus? Kulturpolitisch mag der Fokus in der Vergangenheit tatsächlich weniger auf der bil- denden Kunst gelegen haben, obwohl wir eine hervorragende Kunsthochschule und großarti- ge Museen haben. Hamburg kann noch mehr dafür tun, dass man dies überregional wahr- nimmt. Das ist wichtig, denn wir leben in Zeiten, in denen wir künstlerische Impulse drin- gend brauchen. Ich glaube, dass für die bildende Kunst eine Chance darin bestehen kann, sich aktiv in aktuelle Diskurse hineinzubegeben und sicht- barer zu werden. Es ist eine Auf- gabe der Kulturpolitik, solche Impulse zu ermöglichen. Sie haben gerade die Leitung der hAmbuRGeR KunsT- hAlle neu besetzt. Die Wahl fiel auf Alexander Klar vom museum wiesbADen. Was hat für ihn gesprochen? In der Interimsphase habe ich alle Kuratoren eingeladen und gefragt, ob sie ein gemein- sames Narrativ zu ihrer Insti- tution haben. Die Antwort lau- tete: Jeder habe seine eigene Story, aber es gebe noch nicht ausreichend eine gemeinsa- me. Das hieß, wir mussten je- manden finden, der die inhalt- liche Kompetenz und die Kom- munikationsfähigkeit besitzt, um gemeinsam mit den Kolle- ginnen und Kollegen eine Idee und Programmatik zu entwi- ckeln, die nach außen sichtbar wird und die Positionierung der Kunsthalle präziser macht. Wir haben viele Menschen gezielt gefragt, wer ein guter Kandidat wäre. Da fiel erstaun- lich oſt der Name Alexander Klar. Natürlich gab es auch die, die sagten, ihr müsst jetzt den Superkurator holen, der quasi als Marke von außen das Haus prägt. Doch das wäre eine Stra- tegie gewesen, die der Kunst- wohlmeinenden Gründen zweckrationale politische Zu- sammenhänge zu erzeugen, nach dem Muster: Kunst kann doch so viel bewirken! Ja, das kann sie, aber nur, wenn wir es nicht von ihr erwarten, son- dern indem wir die Freiheit der Kunst ernst nehmen – gerade auch im Angesicht von Dis- kussionen über die Offenheit und Diversität unserer Gesell- schaſt. Mich besorgt es, wenn bei Empfängen in der Haupt- stadt darüber diskutiert wird, ob Kunstfreiheit eigentlich für alle gilt oder nur für die, die in die richtige Richtung denken. Es gibt einen verfassungsrechtli- chen Rahmen und innerhalb dessen ist alles frei, und nicht nur das, was mir persönlich ge- fällt. Diese positive Form von Liberalität, nicht den Neolibera- lismus, gilt es zu stärken. Wenn Sie im Kulturressort plötzlich 100 Millionen Euro extra zur Verfügung hätten, wie und wo würden Sie die investieren? (lacht) Da muss ich an Hel- mut Schmidt denken, der Leute mit Visionen bekanntlich zum Arzt schicken wollte. Ich wür- de aber wohl weniger ein neues Leuchtturmprojekt anstoßen, sondern in die Substanz hinein investieren. Der entscheidende Punkt ist, die Produktionsbe- dingungen für Künstlerinnen und Künstler zu verbessern. Das Zweite wäre, die Kulturinstitu- tionen soweit zu öffnen, dass INTERVIEW Ein Gespräch mit dem Hamburger Senator Carsten Brosda über Kulturpolitik für eine Gesellschaft im Wandel »Die positive Form von Liberalität, nicht den Neo- liberalismus, gilt es zu stärken« halle und ihrer enormen Substanz nicht gerecht gewor- den wäre. Ich bin sehr zuver- sichtlich, dass wir mit Alexan- der Klar genau die richtige Per- sönlichkeit gefunden haben. In den vergangenen 20 Jah- ren ist die Kulturpolitik dem neoliberalen Paradigma gefolgt – Stichwort Kultur als Standortfaktor und Motor für den Tourismus. Glauben Sie, dass jetzt vor dem Hin- tergrund einer auseinander- driſtenden Gesellschaſt diese marktorientierte Sicht an ihr Ende kommt? Eine solche zweckrationale Begründung für den Wunsch nach mehr Geld verführt schnell. Für viele Kulturdezer- nenten ist es einfacher, dem Kämmerer zu erklären, dass er was davon hat im »war of ta- lents«. Aber das ist ein zwei- schneidiges Schwert, denn im Umkehrschluss würde das ja heißen: Wenn es nicht funk- tioniert, dann lassen wir das Kulturinvestment wieder sein. Deshalb darf man sich darauf gar nicht erst einlassen. Wir müssen Kunst um ihrer selbst willen fördern. Es besteht an- gesichts der gesellschaſtlichen Lage sogar die Neigung, aus »Das Museum von seinem Sockel holen« JOURNAL NACHRICHTEN UND DEBATTEN JOURNAL NACHRICHTEN UND DEBATTEN Venedig in Öl Stellen Sie sich vor, Sie spazierten über den Markusplatz – vorbei an all den Ständen mit Taschen, Brillen, Andenkenkitsch. Um sie herum Stimmen, Menschen, Tauben und märchenhafte Architektur. Würde Ihnen dieser Stand auffallen? Würden Sie anhalten vor dem Riesendampfer, der sich so breit- macht, dass er kaum auf neun Bilder passt? Oder würden Sie vorbeigehen an Banksys neuestem Coup?! Das britische Street-Art- Phantom hat die Eröffnung der biennalegenutzt, um die umwelt- verschmutzende Kreuzfahrtindus- trie anzuprangern, die auch eine Gefahr für die Lagunenstadt ist. Zeitgleich tauchte auf einer Haus- wand das Schablonenbild eines Flüchtlingskindes auf. Nachdem Banksy es autorisiert hatte, ver- vielfachte sich der Preis des leer stehenden Gemäuers – zur Freude von Makler und Eigentümer. RADAR BILDER+THEMEN DES MONATS RADAR BILDER+THEMEN DES MONATS C indy Shermans Fotos ver- schleiern und maskieren, an- statt offenzulegen und zu erhellen«, sagt Nicholas Cul- linan, Direktor der national portrait galleryin London. Und so mag es vielleicht überraschen, dass die erste Retrospektive der US-amerikanischen Künstlerin in Großbritannien ausge- rechnet in einem Haus stattfindet, das sich dem Porträt verschrieben hat, einer Bildgattung also, bei der es nicht nur um die bloße Wiedergabe geht, sondern auch darum, das Wesen der Abgebildeten zu erfassen. Shermans Arbeiten tun genau das nicht. »Man glaubt immer, dass meine Fotos Selbst- porträts sind«, sagte sie einmal, »aber das wollen sie nicht sein. Ich benutze mich lediglich als Modell.« Die 1954 in New Jersey geborene Künstlerin liebte es schon als Mäd- chen, sich zu verkleiden. Als Kunst- studentin am buffalo state college entdeckte sie dann die Fotografie für sich und begann, sich selbst in ihren Verkleidungen zu fotografieren. Wie eine erstklassige Schauspielerin versteht sie es, in ihrer Mimik ver- schiedenste Gemütszustände auszu- drücken. Ihre oft grotesken, aber auch humorvollen Fotos umkreisen Themen wie Identität, Sexualität und Weiblichkeit. Die Werkschau in London mit etwa 150 Arbeiten zeigt die ganze Spannweite ihrer Arbeit: von der frühen Serie Bus Riders (1976), in der sie verschiedene Fahrgäste verschiede- ner Hautfarbe spielt, über diedigital hergestellten Society Portraits(2008), in denen sie als alternde Damen der High Society auftritt, hin zu neuen, erstmals gezeigten Arbeiten. Zu den Höhepunkten der Schau zählt die Frau mit vielen Gesichtern Seit über 40 Jahren steht die Fotografin hinter und auch vor der Kamera Cindy Sherman, London, National Portrait Gallery, 27.06.2019–15.09.2019 Serie Untitled Film Stills(1977/80), mit der die 23-jährige Sherman inter- national bekannt wurde. Kurz nach- dem sie aus der Provinz nach New York gezogen war, begann sie mit der Arbeit an den 70 Schwarzweißfotos, auf denen sie weibliche Stereotypen aus Hollywoodfilmen der fünfziger und sechziger Jahre nachstellte: die gelangweilte Hausfrau, das Starlet, das naive Mädchen. »Das Foto muss mit dem Versprechen einer Geschich- te locken, auf deren Erzählung der Betrachter gespannt wie ein Flitzbo- gen ist«, erklärt die Künstlerin. Das gilt auch für die History Por- traits(1988/90), mit denen Sherman sich hintergründig an berühmte Altmeisterbildnisse anlehnt. Die Lon- doner Schau bietet hier eine verlo- ckende Gegenüberstellung: Jean- Auguste-Dominique Ingres’ Porträt der Madame Moitessier(1856) aus der benachbarten national gallery kann für die Dauer der Ausstellung direkt neben Shermans Fotoversion dieses Werks betrachtet werden. // AUSSTELLUNGEN DIE HÖHEPUNKTE IM JULI 5 INHALT // JULI 2019

Transcript of ist der letzte Romantiker SOPHIE CALLE: NACHHALTIGES …

MIC H AEL R AKOWI TZ

72 20

S OP HIE C AL L E

R AG NAR K JARTAN S S ON

46

FR ANC INE HOU BEN

58

JAME S M ARTIN

66

32NAC HH ALTIG E S DE SIG N

4

S A I S O N

JULI AUGUSTSEPTEMBEROKTOBER2019

Die wichtigsten Kunst-Termine

S O P H I E C A L L E : Das große Rätsel Leben

N A C H H A LT I G E S D E S I G N : Die besten Ideen zur Rettung der Welt

Sehnsucht!Der isländische Performer Ragnar Kjartansson ist der letzte Romantiker

DA S K U N S T M AG A Z I N // J U L I 2 0 1 9

TITEL

RAGNAR KJARTANSSON Besuch am Ende der Welt, wo der isländische Künstler auf Vulkanen und märchenhaften Lavafeldern schräg-melancholische Langzeitperformances, aber auch Pleinair-Malstudien produziert 46

RADAR

BILDER DES MONATS Banksy in Venedig, künstliche Nasen, aufblasbare Protestkunst. KUNST AUS DEM OFF Neuer indigener Architekturstil in Bolivien. KUNST FÜR EINE BESSERE WELT Bedingungsloses Grundein-kommen als Kunstprojekt. AKTUELL ÜBER-SCHÄTZT Thomas Heatherwicks »Vessel«- Bau in den New Yorker Hudson Yards 8—19

THEMEN

SOPHIE CALLE Zu Gast bei der großen französischen Konzeptkünstlerin, die immer wieder Verluste thematisiert – auch den ihres eigenen Katers 20

NACHHALTIGES DESIGN 20 Gestaltungs-ideen, die aus dem geschundenen Planeten einen lebenswerteren Ort machen 32

FRANCINE HOUBEN Treffen mit der Kreativdirektorin des niederländischen Archi- tekturbüros Mecanoo, das sich mit einer humanen Architektur einen Namen machte 58

JAMES MARTIN Seinen Urteilen beugt sich der Kunstmarkt, wir haben dem Fälschungs- experten über die Schulter geschaut 66

MICHAEL RAKOWITZ Der US-amerikani-sche Künstler mit Wurzeln im Irak inter- essiert sich für kriegerische Feindbilder und stellt zerstörtes Kulturgut wieder her 72

BILDSEMINAR Wolfgang Ullrich über Bilder, die berühren und solche, die im Museum ertastet werden dürfen 82

MEILENSTEINE Fast 30 000 Aufnahmen, zu einem ikonischen Fotobuch kondensiert: Mit The Americans revolutionierte Robert Frank in den fünfziger Jahren die Fotografie 84

STARTER Diesmal Julia Weiser, Yongchul Kim und Caspar Sänger 90

AUSSTELLUNGEN

LONDON Cindy Sherman 102

SALZBURG Sigalit Landau 104

AACHEN Lars Eidinger 105

BERLIN Summer of Love 106

BREGENZ Thomas Schütte 108

GOSLAR Nevin Aladağ 109

HAMBURG Here We Are Today 110

WIESBADEN Harald Sohlberg 111

HAMBURG Political Affairs 112

NEW YORK Whitney Biennale 113

KALENDER

Die internationalen Kunsttermine im Überblick 114

JOURNAL

INTERVIEW Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda erklärt, wie die Kunstwelt an der Elbe tickt 124

PROTESTE Schmutzige Sponsorengelder bringen Museen unter Druck 126

KUNSTRAUM Neues Sammlermuseum für Videokunst in Berlin 128

AUSSER HAUS Schlechte Entwürfe für die Umgestaltung von Notre-Dame 129

MUSEEN I Proteste gegen den aktuellen Kulturkonservatismus in Ost-Museen 130

MUSEEN II Radikal neue Ideen für das Los angeLes county MuseuM of art 131

IM FILM Horrorkomödie von Jim Jarmusch und ein Western von Jacques Audiard 132

VIEL HOLZ Die ehrliche Buchkolumne 134

KINDER ERKLÄREN KUNST Diesmal Madonna Alba von Raffael 138

RUBRIKEN

Editorial 3

Betreff: art 6

Leserservice, Impressum, Fotovermerke 136

Im nächsten Heft 137

TITELBILD: Dauerkussperformance in edwardianischen Kleidern auf dem See des Barbican Centre in London

RAGNAR KJARTANSSON: SECOND MOVEMENT, 2016

102 AUSSTELLUNGEN

124 JOURNAL

8 RADAR

EXTRA-HEFT

Staatsrat Carsten Brosda vertrat erst lange seine erkrankte Vorgängerin

Barbara Kisseler, dann über-nahm er das Amt als Senator. Der SPD-Mann und gelernte Journalist will weg von der Leuchtturmpolitik und das alte Motto »Kultur für alle« für die auseinderdriftende Gesell-schaft neu beleben.

ART: In den Neunzigern war Hamburg ein Kunstort mit internationaler Strahlkraft: Die DeichToRhAllen wur-den eröffnet, die GAleRie DeR GeGenwART gebaut. Heute spielt Hamburg, was die bil-dende Kunst angeht, nur noch in der 2. Liga und rangiert hin-ter Frankfurt/M., Berlin, Mün-chen, Köln oder Düsseldorf. Wie konnte das passieren?

Carsten Brosda: Als ich 2017 ins Amt kam, habe ich mich we-niger mit der Rückschau befasst als mit der Frage: Wie ist die Lage, und was machen wir jetzt daraus? Kulturpolitisch mag der Fokus in der Vergangenheit tatsächlich weniger auf der bil-denden Kunst gelegen haben, obwohl wir eine hervorragende Kunsthochschule und großarti-ge Museen haben. Hamburg kann noch mehr dafür tun, dass man dies überregional wahr-nimmt. Das ist wichtig, denn wir leben in Zeiten, in denen wir künstlerische Impulse drin-gend brauchen. Ich glaube, dass für die bildende Kunst eine

Chance darin bestehen kann, sich aktiv in aktuelle Diskurse hineinzubegeben und sicht-barer zu werden. Es ist eine Auf- gabe der Kulturpolitik, solche Impulse zu ermöglichen.Sie haben gerade die Leitung der hAmbuRGeR KunsT- hAlle neu besetzt. Die Wahl fiel auf Alexander Klar vom museum wiesbADen. Was hat für ihn gesprochen?

In der Interimsphase habe ich alle Kuratoren eingeladen und gefragt, ob sie ein gemein-sames Narrativ zu ihrer Insti-tution haben. Die Antwort lau-tete: Jeder habe seine eigene Story, aber es gebe noch nicht ausreichend eine gemeinsa-me. Das hieß, wir mussten je-manden finden, der die inhalt-liche Kompetenz und die Kom-munikationsfähigkeit besitzt, um gemeinsam mit den Kolle-ginnen und Kollegen eine Idee und Programmatik zu entwi-ckeln, die nach außen sichtbar wird und die Positionierung der Kunsthalle präziser macht. Wir haben viele Menschen gezielt gefragt, wer ein guter Kandidat wäre. Da fiel erstaun-lich oft der Name Alexander Klar. Natürlich gab es auch die, die sagten, ihr müsst jetzt den Superkurator holen, der quasi als Marke von außen das Haus prägt. Doch das wäre eine Stra-tegie gewesen, die der Kunst-

wohlmeinenden Gründen zweckrationale politische Zu-sammenhänge zu erzeugen, nach dem Muster: Kunst kann doch so viel bewirken! Ja, das kann sie, aber nur, wenn wir es nicht von ihr erwarten, son- dern indem wir die Freiheit der Kunst ernst nehmen – gerade auch im Angesicht von Dis-kussionen über die Offenheit und Diversität unserer Gesell-schaft. Mich besorgt es, wenn bei Empfängen in der Haupt-stadt darüber diskutiert wird, ob Kunstfreiheit eigentlich für alle gilt oder nur für die, die in die richtige Richtung denken. Es gibt einen verfassungsrechtli-chen Rahmen und innerhalb dessen ist alles frei, und nicht nur das, was mir persönlich ge-fällt. Diese positive Form von Liberalität, nicht den Neolibera-lismus, gilt es zu stärken.Wenn Sie im Kulturressort plötzlich 100 Millionen Euro extra zur Verfügung hätten, wie und wo würden Sie die investieren?

(lacht) Da muss ich an Hel-mut Schmidt denken, der Leute mit Visionen bekanntlich zum Arzt schicken wollte. Ich wür- de aber wohl weniger ein neues Leuchtturmprojekt anstoßen, sondern in die Substanz hinein investieren. Der entscheidende Punkt ist, die Produktionsbe-dingungen für Künstlerinnen und Künstler zu verbessern. Das Zweite wäre, die Kulturinstitu-tionen soweit zu öffnen, dass

INTERVIEW Ein Gespräch mit dem Hamburger Senator Carsten Brosda über Kulturpolitik für eine Gesellschaft im Wandel

»Die positive Form von Liberalität, nicht den Neo- liberalismus, gilt es zu stärken«

Carsten Brosda, 44, ist seit Anfang 2017 Hamburger Senator für Kultur und Medien. Seit Januar 2019 auch Vorsitzender der neu gegründeten Kultusministerkonfe-renz der Länder

Nach seinem Geschmack: Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe liefen gleichzeitig eine publikumsträchtige Otto-Waalkes-Schau - und eine kluge Ausstel-lung über das Jahr 1968

halle und ihrer enormen Substanz nicht gerecht gewor-den wäre. Ich bin sehr zuver-sichtlich, dass wir mit Alexan-der Klar genau die richtige Per-sönlichkeit gefunden haben. In den vergangenen 20 Jah-ren ist die Kulturpolitik dem neoliberalen Paradigma gefolgt – Stichwort Kultur als Standortfaktor und Motor für den Tourismus. Glauben Sie, dass jetzt vor dem Hin-tergrund einer auseinander-driftenden Gesellschaft diese marktorientierte Sicht an ihr Ende kommt?

Eine solche zweckrationale Begründung für den Wunsch nach mehr Geld verführt schnell. Für viele Kulturdezer-nenten ist es einfacher, dem Kämmerer zu erklären, dass er was davon hat im »war of ta-lents«. Aber das ist ein zwei-schneidiges Schwert, denn im Umkehrschluss würde das ja heißen: Wenn es nicht funk-tioniert, dann lassen wir das Kulturinvestment wieder sein. Deshalb darf man sich darauf gar nicht erst einlassen. Wir müssen Kunst um ihrer selbst willen fördern. Es besteht an-gesichts der gesellschaftlichen Lage sogar die Neigung, aus

»Das Museum von seinem Sockel holen«

124 125

J O U R NA LNAC HRIC HTEN

UND DEBATTEN

124 125

J O U R NA LNAC HRIC HTEN

UND DEBATTEN

Venedig in ÖlStellen Sie sich vor, Sie spazierten über den Markusplatz – vorbei an all den Ständen mit Taschen, Brillen, Andenkenkitsch. Um sie herum Stimmen, Menschen, Tauben und märchenhafte Architektur. Würde Ihnen dieser Stand auffallen? Würden Sie anhalten vor dem Riesendampfer, der sich so breit- macht, dass er kaum auf neun Bilder passt? Oder würden Sie vorbeigehen an Banksys neuestem Coup?! Das britische Street-Art-Phantom hat die Eröffnung der biennale genutzt, um die umwelt-verschmutzende Kreuzfahrtindus-trie anzuprangern, die auch eine Gefahr für die Lagunenstadt ist. Zeitgleich tauchte auf einer Haus-wand das Schablonenbild eines Flüchtlingskindes auf. Nachdem Banksy es autorisiert hatte, ver-vielfachte sich der Preis des leer stehenden Gemäuers – zur Freude von Makler und Eigentümer.

8 9

R ADARBILDER+THEMENDES MONATS

R ADARBILDER+THEMENDES MONATS

Cindy Shermans Fotos ver-schleiern und maskieren, an-statt offenzulegen und zu erhellen«, sagt Nicholas Cul-

linan, Direktor der national portrait gallery in London. Und so mag es vielleicht überraschen, dass die erste Retrospektive der US-amerikanischen Künstlerin in Großbritannien ausge-rechnet in einem Haus stattfindet, das sich dem Porträt verschrieben hat, einer Bildgattung also, bei der es nicht nur um die bloße Wiedergabe geht, sondern auch darum, das Wesen der Abgebildeten zu erfassen. Shermans Arbeiten tun genau das nicht. »Man glaubt immer, dass meine Fotos Selbst-porträts sind«, sagte sie einmal, »aber das wollen sie nicht sein. Ich benutze mich lediglich als Modell.«

Die 1954 in New Jersey geborene Künstlerin liebte es schon als Mäd-chen, sich zu verkleiden. Als Kunst-studentin am buffalo state college entdeckte sie dann die Fotografie für sich und begann, sich selbst in ihren Verkleidungen zu fotografieren. Wie eine erstklassige Schauspielerin versteht sie es, in ihrer Mimik ver-schiedenste Gemütszustände auszu-drücken. Ihre oft grotesken, aber auch humorvollen Fotos umkreisen Themen wie Identität, Sexualität und Weiblichkeit.

Die Werkschau in London mit etwa 150 Arbeiten zeigt die ganze Spannweite ihrer Arbeit: von der frühen Serie Bus Riders (1976), in der sie verschiedene Fahrgäste verschiede-ner Hautfarbe spielt, über die digital hergestellten Society Portraits (2008), in denen sie als alternde Damen der High Society auftritt, hin zu neuen, erstmals gezeigten Arbeiten. Zu den Höhepunkten der Schau zählt die

Frau mit vielen GesichternSeit über 40 Jahren steht die Fotografin hinter und auch vor der Kamera Cindy Sherman, London, National Portrait Gallery, 27.06.2019–15.09.2019

V O R B E R I C H T

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog zum Preis von 35 Pfund.

Cindy Sherman als Madame Moitessier des 20. Jahrhunderts

UNTITLED #204, 1988/90, AUS DER SERIE DER »HISTORY PORTRAITS« (DETAIL)

In London direkt nebenan: die Dame, wie Jean-Auguste- Dominique Ingres sie im 19. Jahrhundert malte

MADAME MOITESSIER, 1856, 120 X 92 CM

Serie Untitled Film Stills (1977/80), mit der die 23-jährige Sherman inter-national bekannt wurde. Kurz nach-dem sie aus der Provinz nach New York gezogen war, begann sie mit der Arbeit an den 70 Schwarzweißfotos, auf denen sie weibliche Stereotypen aus Hollywoodfilmen der fünfziger und sechziger Jahre nachstellte: die gelangweilte Hausfrau, das Starlet, das naive Mädchen. »Das Foto muss mit dem Versprechen einer Geschich-te locken, auf deren Erzählung der Betrachter gespannt wie ein Flitzbo-gen ist«, erklärt die Künstlerin.

Das gilt auch für die History Por-traits (1988/90), mit denen Sherman sich hintergründig an berühmte Altmeisterbildnisse anlehnt. Die Lon-doner Schau bietet hier eine verlo-ckende Gegenüberstellung: Jean- Auguste-Dominique Ingres’ Porträt der Madame Moitessier (1856) aus der benachbarten national gallery kann für die Dauer der Ausstellung direkt neben Shermans Fotoversion dieses Werks betrachtet werden. // HANS PIETSC H

102 103

AUSSTELLUNGEND I E H Ö H E P U N K T E

I M J U L I

5

I N H A LT // J U L I 2 0 1 9