Kontroversschriften II - Franz von Sales

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Kontroversschriften (II) des Hl. Franz von Sales, Ordensgründer, Mystiker und Kirchenlehrer; dem Patron der Schriftsteller, Journalisten und Gehörlosen. BAND 11/12

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FRANZ VFRANZ VFRANZ VFRANZ VFRANZ VON SON SON SON SON SALES – KALES – KALES – KALES – KALES – KONTROONTROONTROONTROONTROVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN II

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Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VON SON SON SON SON SALESALESALESALESALES

Band 11Band 11Band 11Band 11Band 11

Nach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALES

der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1932)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1932)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1932)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1932)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1932)

herausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Sales

unter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

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Franz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von Sales

KKKKKONTROONTROONTROONTROONTROVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN IIVERSSCHRIFTEN II

FFFFFranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-VVVVVerlag er lag er lag er lag er lag ..... Eichstätt Eichstätt Eichstätt Eichstätt Eichstätt

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Aus dem Französischen bzw. Lateinischen übertragen

von Anneliese Lubinsky und P. Anton Nobis OSFS.

ISBN 3-7721-0121-6Alle Rechte vorbehalten.

© Franz Sales Verlag, Eichstätt2. Auflage 2002

Herstellung Brönner und Daentler, Eichstätt

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InhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersicht

D. VERD. VERD. VERD. VERD. VERTEIDIGUNG DER KREUZESFTEIDIGUNG DER KREUZESFTEIDIGUNG DER KREUZESFTEIDIGUNG DER KREUZESFTEIDIGUNG DER KREUZESFAHNEAHNEAHNEAHNEAHNE

Einführung 13Widmung an Seine Hoheit 15Vorwort über die Ehre Gottes und seine Eifersucht, mit einigenBemerkungen zu dieser Verteidigung und zum gegnerischen Traktat 17

Erstes Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzes

1. Kapitel: Vom Namen und Ausdruck Kreuz 332. Kapitel: Daß das Kreuz große Kraft hat und verehrt werden muß.

Erster Beweis aus dem, wovon der Traktant zugibt, daß esgeschrieben steht 34

3. Kapitel: Daß man nicht unterlassen dürfe, das Kreuz und seineKraft zu ehren, selbst wenn in der Heiligen Schrift nichtsdavon geschrieben stünde: zweiter Beweis 36

4. Kapitel: Dritter Beweis für die Kraft und Ehre des Kreuzes durcheine Stelle der Heiligen Schrift außer jenen, die derTraktant angeführt hat 40

5. Kapitel: Vierter Beweis: durch weitere Stellen der Heiligen Schrift 446. Kapitel: Fünfter Beweis: Das vergrabene und erhalten gebliebene

Kreuz 497. Kapitel: Sechster Beweis: Die Auffindung des Kreuzes 558. Kapitel: Das Kreuz stellt die Passion Unseres Herrn dar: siebenter

Beweis 589. Kapitel: Die Väter des Altertums bezeugen die Kraft des Kreuzes:

achter Beweis 6110. Kapitel: Die Väter des Altertums bezeugen die Verehrung des

Kreuzes: neunter Beweis 64

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Zweites Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzes

1. Kapitel: Von der Art und Weise, das Kreuz abzubilden 692. Kapitel: Vom ehrwürdigen Alter der Abbildungen des Kreuzes 723. Kapitel: Vom ehrwürdigen Alter der Bilder des Kreuzes 784. Kapitel: Das Bild des Kreuzes erschien Konstantin dem Großen

und bei anderen Gelegenheiten 825. Kapitel: Wie verbreitet einst der Gebrauch des Kreuzes war und

wie es den Gekreuzigten und den Glauben an ihn darstellt 896. Kapitel: Das Kreuz kann und soll bei heiligen Dingen gebraucht

werden 937. Kapitel: Das Kreuz wurde verwendet bei Sakramenten und

Prozessionen 968. Kapitel: Das Kreuz wurde dem ganzen Altertum ehrwürdig 1029. Kapitel: Wie das Kreuz gegrüßt wird und ob es angerufen wird 10610. Kapitel: Titel und ehrende Ausdrücke, die die Kirche

für das Kreuz gebraucht 11011. Kapitel: Das Bild des Kreuzes hat große Kraft 11612. Kapitel: Das Kreuz war stets begehrt – Das Zeugnis des

Arnobius 12213. Kapitel: Wie sehr man das Kreuz schätzen muß im Vergleich

mit der ehernen Schlange 12714. Kapitel: Von der Bestrafung jener, die das Bild des Kreuzes

geschmäht haben, und wie sehr es von den FeindenJesu Christi gehaßt wird 132

Drittes Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichens

1. Kapitel: Definition des Kreuzzeichens 1362. Kapitel: Das Kreuzzeichen ist ein öffentliches Bekenntnis

des christlichen Glaubens 1403. Kapitel: Vom häufigen und vielfältigen Gebrauch des

Kreuzzeichens in der frühen Kirche 142

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4. Kapitel: Alle guten und rechtmäßigen Zeremonien können zurSegnung von Dingen angewendet werden 144

5. Kapitel: Nach dem Beispiel der Kirche des Altertums muß undkann das Kreuz zur Segnung von Dingen verwendetwerden 149

6. Kapitel: Das Kreuzzeichen wird bei sakramentalen Weihenund Segnungen angewendet 155

7. Kapitel: Warum man das Kreuzzeichen auf die Stirn der Täuflingeund bei anderen Gelegenheiten macht 157

8. Kapitel: Ein weiterer (neunter) Grund, warum man dasKreuzzeichen auf die Stirn macht, dem ProphetenEzechiel entnommen 162

9. Kapitel: Zehnter Grund, warum man das Kreuzzeichen auf derStirn macht: um den Antichristen zu verabscheuen 170

10. Kapitel: Die Macht des Kreuzzeichens gegen die Teufel und ihreAnstrengung 173

11. Kapitel: Die Macht des Kreuzzeichens bei anderen Gelegenheiten 181

Viertes Buch

WWWWWelche Velche Velche Velche Velche Verehrerehrerehrerehrerehrung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldet

1. Kapitel: Vorwurf des Traktanten gegen die Katholiken 1872. Kapitel: Was die Ehre ist, wem die Ehre zukommt, verehrt zu

werden, und warum 1883. Kapitel: Von der Anbetung: was sie ist 1904. Kapitel: Wer anbeten und wer angebetet werden kann 1955. Kapitel: Die Verehrung wird Gott und Geschöpfen erwiesen 1966. Kapitel: Der Unterschied zwischen Anbetung und Verehrung liegt

in der Tätigkeit des Willens 2007. Kapitel: Erste Einteilung der Verehrung: nach dem Unterschied

der Vortrefflichkeit 2028. Kapitel: Zweite Einteilung der Verehrung: nach der

unterschiedlichen Art des Teilhabens an den Vorzügen 2049. Kapitel: Woher der Größenunterschied bei der bedingten Ehre

kommt und wie man ihn nennt 205

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10. Kapitel: Notwendige Lösung einer Schwierigkeit 21011. Kapitel: Zwei Arten, das Kreuz zu verehren 21112. Kapitel: Zwei andere Arten, das Kreuz zu verehren 21513. Kapitel: Die Verehrung des Kreuzes verstößt nicht gegen das

erste Gebot des Dekalogs. Kurze Auslegung desselben 22014. Kapitel: Bekenntnis Calvins zum Gebrauch von Bildern 22715. Kapitel: Erwägung über den angeführten Text aus Josua

und Schluß dieses ganzen Werkes 229

Anhang

Das Kreuz wird auf fromme Weise verehrt 235

E. CODEX FE. CODEX FE. CODEX FE. CODEX FE. CODEX FABRIANUSABRIANUSABRIANUSABRIANUSABRIANUS

Einführung 237

Titel I

Von der heiligsten Dreifaltigkeitund vom katholischen Glauben

und daß niemand öffentlich darüber streiten darf 239

Erstes Kennzeichen der Häretiker unserer Zeit:I. Das Verneinen 241

Von der absoluten Macht Gottes (242) – Vom zulassenden WillenGottes (242) – Vom einfachen Vorherwissen Gottes (243) – VomWesen, das der Sohn vom Vater hat (243) – Vom Tod Christi (244) –Von Christus, dem Gesetzgeber (244) – Von Christus, dem Richter(244) – Von der ungeschriebenen Überlieferung (245) – Von denkanonischen Büchern (245) – Vom Brief des hl. Jakobus (246) – Vonder Schwierigkeit der Heiligen Schrift (246) – Von der sichtbarenKirche (247) – Vom unfehlbaren Urteil der Kirche (247) – Von derAutorität der allgemeinen Konzile (248) – Über die Willensfreiheit(249) – Von der Todsünde (249) – Von den fünf Sakramenten, diedie Neuerer leugnen (250) – Von der Wirksamkeit der Taufe (250) –Von den ungetauften Kindern der Gläubigen (250) – Vom Sakra-ment der Eucharistie (251) – Vom heiligen Meßopfer (254) – Von

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der Gewalt der Hirten (258) – Vom Hinabsteigen Christi in das Reichdes Todes (258) – Von der Anrufung der Heiligen (258) – Von derSorge der Heiligen für uns (259) – Von der Fürsorge für die Ver-storbenen (259)

II. Behauptungen der Neuerer 260Über Gott, der Böses tue und bewirke (260) – Über die Vergebungder Sünden (261) – Über die Rechtfertigung (262) – Über Glaubenund Liebe (262) – Über die guten Werke (263) – Über die Beobach-tung der Gebote Gottes (264) – Über den Unglauben, angeblich dieeinzige Sünde (265) – Über den Nachteil der guten Werke für dasHeil (265) – Daß man die Umstände der Sünden vernachlässigenmüsse und daß alle Sünden gleich seien (266) – Über die Notwenig-keit der copula carnalis (266) – Über die Gleichheit aller Hirten(268) – Über die Gewißheit der Gnade und der Sündenvergebung(268) – Über die Gerechtigkeit der Auserwählten (268) – Über dieGewißheit der göttlichen Auserwählung (269) – Über die Unwissen-heit Christi (271) – Über den aktuellen Glauben der ungetauftenKinder (272)

Zweites Kennzeichen der Häretiker:Das Fehlen der Berufung – § 1 272

§ 2. Von der rechtmäßigen Berufung unserer Bischöfe 274

Drittes Kennzeichen der Häretiker:Verachtung der Kirche 276

Viertes Kennzeichen der Häretiker:Mißachtung der Konzile 277

Fünftes Kennzeichen der Häretiker:Mißachtung des Apostolischen Stuhls 277

Sechstes Kennzeichen der Häretiker:Verachtung der Väter 281

III. Neuerungen unserer Häretiker 282

Siebentes Kennzeichen der Häretiker:Die Neuerungssucht – § 1 285

§ 2. Von der äußeren Gestalt der Kirche, die unsere Häretikerverändern 290

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Achtes Kennzeichen der Häretiker:Der Geist der Uneinigkeit – § 1 294

§ 2. Die Häretiker unserer Zeit sind vom Geist der Uneinigkeitbeherrscht 296

Neuntes Kennzeichen der Häretiker:Der Geist der Rechthaberei – § 1 299

§ 2. Von der Auslegung der Heiligen Schrift 302§ 3. Von der Anrufung der Heiligen nach dem hl. Augustinus 305§ 4. Von der Fürsprache der Heiligen 308

Zehntes KennzeichenVom Geist der Lästerung, der Frechheit, der Verhöhnung undVerleumdung 309

IV. Die Anfänge der Häresie unserer Zeit – § 1 311§ 2. Schauderhafter Beginn der Häresie Luthers 315

V. Einige politische Irrlehren der Neuerer 317

1. politische und häretische Behauptung:Von der besten Staatsführung 317

2. politische und häretische Behauptung:Von der Gleichheit aller Sünden 318

3. politische und häretische Behauptung:Daß man nicht gegen die Türken kämpfen dürfe 319

4. politische und häretische Behauptung:Daß die Gesetze der Fürsten die Untertanen nicht im Gewissen binden 320

5. politische und häretische Behauptung:Daß die Untertanen die Macht ihrer Fürsten nicht wünschen müssen 321

6. politische und häretische Behauptung:Daß kein Staat durch Gesetze glücklich regiert werde 322

7. politische und häretische Behauptung:Daß die irdische Gewißheit nichts mit dem Gewissen zu tun habe 322

Luthers lästerliche und unverschämte Lüge gegen alle christlichenFürsten 323

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FFFFF. KLEINE SCHRIFTEN. KLEINE SCHRIFTEN. KLEINE SCHRIFTEN. KLEINE SCHRIFTEN. KLEINE SCHRIFTEN

I. Texte über die Prädestination 327

1. Anrufungen und Gebete 3282. Akt heroischer Hingabe 3283. Erklärung vom 15. Dezember 1590 3294. Vorbehalt gegen einen Irrtum 3295. Fragment über die Prädestination (1591) 3316. Erklärung über die Verdammung der Sünder (1591) 3357. Fragment über die Prädestination 337

II. Notizen und Entwürfe 340

1. Theologische Notizen 3412. Über die Verehrung der Heiligen 3423. Über die heiligste Dreifaltigkeit 3434. Über die wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie 3435. Erklärung zum Gespräch mit M. Dumoulin 344

III. Fragment eines Katechismus-Dialogs 345

Anmerkungen 349Namen- und Sachregister 355

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D. VD. VD. VD. VD. Verererererteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahne

Den geschichtlichen Hintergrund dieses Werkes, den die Biographen des hl.Franz von Sales im Zusammenhang mit der Chablais-Mission ausführlich behan-deln, gibt er auch selbst im Vorwort an: die Errichtung eines großen Wegkreuzes ander Straße von Annemasse nach Genf an der Stelle eines ‚Kalvarienberges‘, den dieHugenotten zerstört hatten. Im Rahmen des Vierzigstündigen Gebetes zog am 7.September 1597 die Kreuzbruderschaft von Annecy, der sich viele Neubekehrte ausder ganzen Gegend anschlossen, in einer feierlichen Prozession von Annemasse anden Ort, wo das Kreuz errichtet wurde. Aus diesem Anlaß hatten die Missionareauch zwei Flugblätter über die Verehrung des Kreuzes verteilt und überall ange-schlagen; ein drittes (s. Anhang S. 235) verfaßte Franz von Sales an Ort und Stelleselbst und ließ es anschlagen.

Diese Glaubenskundgebung vor den Toren Genfs war bewußt auch eine Heraus-forderung der Reformierten von Genf, um sie zum Glaubensgespräch zu veranlas-sen. Sie beschlossen, auf die Flugblätter zu antworten, und beauftragten damitihren Theologie-Professor Antoine de la Faye. Unter Mithilfe von Beza und Perrotverfaßte dieser in aller Eile eine ‚Kurze Abhandlung über die Kraft des Kreuzes unddie Art, es zu verehren.‘ Sie erschien bereits im Oktober 1597 anonym mit einemUmfang von 62 Seiten.

Franz von Sales, der Gründer und Präfekt der Kreuzbruderschaft, nahm nachseiner eigenen Angabe gern den Auftrag an, eine Gegenschrift zu verfassen. Eineschwere Krankheit vom Oktober 1597 bis April 1598 hinderte ihn daran, mit dieserArbeit voranzukommen; die folgenden Monate mit den Vorbereitungen und derDurchführung des Vierzigstündigen Gebetes im Oktober 1598 in Thonon ließenihm ebenfalls keine Muße und die Romreise 1598/99 brachte eine neue Unterbre-chung; erst im August oder September 1599 konnte er das Manuskript, noch ein-mal überarbeitet, in Druck geben. So erschien die Arbeit im Frühjahr 1600 in Lyonmit dem Titel:

Defense de l’Estandart de la saincte Croix de nostre Sauveur Jesus-Christ.Divisee en quatre Livres. Par François de Sales, Prevost de L’Eglise Cathe-drale de saincte Pierre de Geneve. Contre un petit traicté, n’aguere sorti dela mesme ville de Geneve, faussement intitulé: De la vertu de la Croix et de

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la maniere de l’honnorer. A Lyon, par Jéan Pillehotte, à l’ensaigne du nomdes Jesus. 1600. Avec permission.Verteidigung der Fahne des heiligen Kreuzes unseres Erlösers Jesus Christus.Eingeteilt in 4 Bücher. Von Franz von Sales, Propst der Kathedrale St. Petervon Genf. Gegen einen kleinen Traktat, der kürzlich in dieser Stadt Genferschienen ist unter dem falschen Titel ‚‚Über die Kraft des Kreuzes und dieArt, es zu verehren‘. In Lyon durch Jéan Pillehotte, im Zeichen des NamensJesus. 1600. Mit Genehmigung.

Der Verfasser beschränkt sich nicht darauf, die Behauptungen La Fayes nachei-nander zu widerlegen; er folgt daher nicht dem Aufbau des Brief Traitté, sondernwill die katholische Lehre und Übung der Verehrung des Kreuzes systematischdarstellen. So behandelt er in vier Büchern die Kraft und Verehrung des echtenKreuzes Christi (1), der Abbildungen des Kreuzes (2), des Kreuzzeichens (3) unddie dem Kreuz gebührende Verehrung (4). Dabei werden die jeweils gegensätzlichenBehauptungen La Fayes wörtlich zitiert und widerlegt, vor allem durch die HeiligeSchrift und die Väter, besonders jener aus der Zeit vor Gregor dem Großen, dieauch von den Reformierten als noch rechtsgläubig anerkannt wurden. Der Abhand-lung vorausgestellt ist eine Widmung an den Herzog Karl-Emmanuel von Savoyenund ein Vorwort an die Kreuzbruderschaft.

Die ‚Kreuzesfahne‘ ist das erste größere Werk, das Franz von Sales selbst veröf-fentlicht hat. Sein Erfolg war gering. Durch das verspätete Erscheinen zweieinhalbJahre nach der Schrift La Fayes war es als Antwort nicht mehr aktuell; außerdemwar die große Zeit der Streitschriften damals wohl schon vorbei.

Der Verleger nützte die Ernennung des Verfassers zum Bischof (1602), um denRest der Auflage mit verändertem Titel als angeblich 2. Auflage (1603) abzusetzen.Das Werk erschien 1613 in Paris unter dem Titel Panthologie ou Thresor precieuxde la saincte Croix, gegen den sich Franz von Sales im Vorwort des Theotimus undin einem Brief an Antoine des Hayes (OEA XVI,9) verwahrte. Die ursprünglicheFassung erschien noch einmal in Rouen mit dem Titel L‘Estandart de la saincteCroix, von 1637 an nur noch in Gesamtausgaben.

La Faye bekam angeblich erst die Ausgabe von 1603 zu Gesicht und reagiertedarauf mit einer ‚Christlichen Erwiderung‘ von 240 Seiten, die 1604 erschien. Nachden Regeln der Kontroverse hätte Franz von Sales darauf wieder antworten müssen;er lehnte es aber ab, weil die ‚Replique‘ zum größten Teil die alten, durch die‚Kreuzesfahne‘ widerlegten Vorwürfe wiederholten (vgl. OEA XX,296; XIV,161).

Die Annecy-Ausgabe veröffentlichte das Werk als Band II nach der Ausgabe von1600, verglichen mit dem Manuskript, das sich im Archiv der Heimsuchung vonAnnecy befindet. Nach diesem hat sie die Orthographie des hl. Franz von Saleswiederhergestellt und in Anmerkungen verschiedene Varianten und Hinweise gege-ben. Dieser Ausgabe folgt die vorliegende Übersetzung mit dem aus dem vorherge-henden Band bekannten Verfahren der Schrift- und Väterzitate und der Beschrän-kung der Anmerkungen auf das Notwendigste.

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Widmung an seine HoheitWidmung an seine HoheitWidmung an seine HoheitWidmung an seine HoheitWidmung an seine Hoheit

Gnädiger Herr,

kaum hatte man den Namen des Priesters Aaron auf den altbekanntenStab geschrieben, der in der Bundeslade verwahrt wurde, da begann ersogleich zu grünen, war voller Blüten, Blätter und Früchte (Num 17, 8),obwohl er vorher ganz leblos und dürr war. So war auch das Kreuz ansich ganz mit Schmach bedeckt, ein unseliges Zeichen des Fluches. Nach-dem aber Pilatus, zweifellos auf Eingebung von oben, wie der hl. Am-brosius bemerkt, auf ihm die Inschrift angebracht hatte: Jesus von Na-zaret, König der Juden, wurde es ganz heilig und ehrwürdig durch diesenTitel, der von seinem Adel zeugt. Nun waren die dunklen Kennzeichenseiner Schmach völlig ausgelöscht durch das heilige Blut des Lammes;seit es von ihm durchtränkt wurde, ist es für immer hell und weiß, wiedie Kleider der Seligen nur durch den gleichen Purpur weiß wurden.

Die Hölle, die nicht genügend Ruß und Rauch besitzt, um es zu schwär-zen, veranlaßt dennoch manchmal irgendeinen ihrer Schmierfinke dazu.In den schönen Mantel der Heiligen Schrift gehüllt, verbreiten sie vorden Augen der einfachen Leute einen gewissen Nebel verschiedenerAbhandlungen, um ihnen dieses heilige Kreuz so schwarz und besudelterscheinen zu lassen, wie es je war. Einer von ihnen gedachte es in dieNacht immerwährender Verachtung zu versetzen und veröffentlichtekürzlich einen bestimmten Traktat, ohne jede Angabe des Verfassers,des Druckers und des Erscheinungsortes.

Unter mehreren Mitgliedern der Bruderschaft vom heiligen Kreuz inAnnecy, die auf diese Schrift antworten konnten und sich dazu ver-pflichtet fühlten, habe ich nun gern diese Aufgabe übernommen und(wie ich glaube) dafür die Billigung Gottes erhalten. Denn um michnicht als Unerfahrenen über sein heiliges Kreuz schreiben zu lassen,lud er das Kreuz einer schweren langwierigen Krankheit auf meine Schul-tern, als ich eben begonnen hatte, diese Erwiderung zu verfassen. Beider Genesung von ihr fand ich mich durch so viele Verpflichtungenabgehalten und das Drucken so unbequem, daß ich die Schrift bis zurStunde nicht herausgeben konnte, bis sie nun schließlich erscheint undnur erscheinen kann unter dem Schutz der Gunst Eurer Hoheit. Es istdas erste Werk, das ich veröffentliche; es gebührt dem Landesherrn. DieBruderschaften von Savoyen, für die ich es verfaßt habe, werden es be-

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reitwilliger aufnehmen, wenn sie auf seiner Titelseite den glorreichenNamen ihres Protektors sehen.

Sein Zweck ist, für die Ehre des weißen Kreuzes zu kämpfen; es ist dasFeldzeichen, das Gott seit langem dem erlauchten Haus von Savoyenanvertraut hat. Hätte nicht die christliche Tapferkeit der Vorfahren die-ses Glück erworben, so gebührte es ihm fortan mit größtem Recht we-gen des heiligen Eifers, den Eure Hoheit stets hatten für den heiligenGlauben und für den Ruhm des Kreuzes, besonders aber, als Sie solebhaft, wenn auch sehr mild, die Wiederherstellung der katholischenReligion in Ihren Balleien von Thonon und Ternier betrieben, wobeiSie großen Trost empfanden, dort überall die heiligen Fahnen des Heilswieder aufgerichtet zu sehen. Wenn das Andenken daran verloren ginge,würde die Nachwelt eines der reichsten Stücke der Taten unserer Zeitberaubt. Ich weiß wohl, Gnädiger Herr, wie viele Gründe ich hätte,nicht zu wagen, einem so großen Fürsten ein so kleines Werk wie diesesanzubieten; aber ich kenne auch das Privileg der Erstlingsgabe und ichverspreche mir, daß das wohlgefällige Auge, das Eure Hoheit auf man-che meiner übrigen Tätigkeiten geworfen hat, mir nicht weniger gewo-gen sein wird bei diesem Werk, zu dem mich kein anderer Wunschbewogen hat als der, für einen Mann gehalten zu werden, der verpflich-tet ist und stets sein will, Gnädiger Herr,

der sehr demütige und gehorsamsteDiener und Untergebene Eurer Hoheit,

Franz von Sales.

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VVVVVo ro ro ro ro rworworworworworttttt

über die Ehre Gottes und seine Eifersucht,über die Ehre Gottes und seine Eifersucht,über die Ehre Gottes und seine Eifersucht,über die Ehre Gottes und seine Eifersucht,über die Ehre Gottes und seine Eifersucht,mit einigen Bemerkungen zu dieser Vmit einigen Bemerkungen zu dieser Vmit einigen Bemerkungen zu dieser Vmit einigen Bemerkungen zu dieser Vmit einigen Bemerkungen zu dieser Ve re re re re rteidigungteidigungteidigungteidigungteidigung

und zum gegnerischen Tund zum gegnerischen Tund zum gegnerischen Tund zum gegnerischen Tund zum gegnerischen Traktatraktatraktatraktatraktat

An die Herren Mitbrüder der Bruderschaften der Büßer vom heiligen Kreuzin den Gebieten Savoyens diesseits der Alpen.

I.

Wie der allmächtige Gott die erste Ursache aller Vollkommenheitist, so will er auch, daß ihm dafür alle Ehre zukommt. Das ist der Tribut,den er für alle seine Wohltaten fordert. Die Wasser, die alle vom Meerausgehen, fließen und wallen unablässig, bis sie in ihrem ersten Ur-sprung versinken. Ehre und Ruhm wohnen nicht bei den Geschöpfen,um hier zu bleiben und zu leben, sondern nur vorübergehend. Ihr ei-gentlicher Wohnsitz ist die Gottheit, wie sie auch ihr Ausgangspunktist. Das Weltall und jeder seiner Teile, so klein er sein mag, hat dieallgemeine Aufgabe, seinen Schöpfer zu loben. Dazu fordern die Heili-gen auf und ermahnen sie durch so viele Ermutigungen und Gesänge,von denen ihre Bücher erfüllt sind. Diese Huldigung wird jedoch aufverschiedene Weise erwiesen. Die vernunftbegabten Geschöpfe erwei-sen sie in ihrer eigenen Person, alle übrigen durch Vermittlung der ver-nunftbegabten als ihrer Sachwalter. Da die vernunftbegabte Schöpfungdie übrige Welt in ihren Gebrauch nimmt, verlangt die Vernunft, daßsie diese von der Verpflichtung freistellt, die sie hat, die sie aber selbstnicht erfüllen kann. Andernfalls wird sich am Tag des Gerichtes allesgegen die Unsinnigen wenden (Weish 5,21). Daher ist nur die vernunft-begabte Schöpfung beauftragt, Gott die Ehre abzustatten und zu erwei-sen, die ihm die ganze Schöpfung schuldet. Das tun in Ewigkeit dieSeligen im Himmel, indem sie ihre Kronen dem zu Füßen legen, der aufdem Thron sitzt, und dabei bekennen: Würdig bist du, Herr, unser Gott,Ruhm, Macht und Ehre zu empfangen, denn du hast alles erschaffen unddurch deinen Willen wurde alles und ist entstanden (Offb 4,10f). Dassel-be tut die Kirche auf Erden durch den feierlichen Schluß aller ihrer

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Gebete: Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.Laßt uns den Herrn preisen, laßt uns Gott Dank sagen. Fast alle Tagewiederholt sie nach dem hl. Paulus (1 Tim 1,17): Dem König der Ewig-keit, dem Unsterblichen, Unsichtbaren, dem alleinigen Gott sei Ehre undRuhm.

Wahrhaftig, diese Wahrheiten sind so einleuchtend und gesichert, daßman sie nur recht verstehen muß. Muß man es denn ablehnen, den Vä-tern und Müttern, den Königen und Amtspersonen Ehre zu erweisen,um zu sagen, daß alle Herrlichkeit und Ehre dem einen Gott alleingebührt? Die Ehre Gottes sollte beeinträchtigt werden durch diese Eh-rung, und diese Hochachtung sollte seine Eifersucht herausfordern?Hier liegt unsere Streitfrage mit den Protestanten. Der Feind des Kreu-zes, mit dem ich mich auseinandersetzen will, sagt seine Auffassung zudiesem Punkt (und die anderen seiner Partei sagen nichts Besseres)folgendermaßen: „Wir glauben von Herzen und bekennen mit demMund, daß man Gott allein dienen und ehren muß.“1 Das erklärt er ananderer Stelle: „Wie wir einer den anderen bürgerlich ehren könnenentsprechend dem Gebot, daß die Untergebenen ihre Vorgesetzten eh-ren, so ist es in der Tat unvereinbar, wenn es sich um die religiöse Ehrenach dem Gewissen handelt, alle Ehre dem einen Gott und seinem Sohnzu erweisen, und davon einen Teil irgendeinem Menschen zuteilwerdenzu lassen oder dem stofflichen Kreuz oder einem Geschöpf, was es auchsei“ (B.T. 48). Er unterscheidet also eine bürgerliche Ehrung und einenach dem Gewissen und will, unter dieser soll man nur verstehen, daßGott allein Ehre und Verherrlichung sei.

Ich stelle aber im Gegenteil fest: es heißt die Gott gebührende Ehrezu sehr beschneiden, wenn man die bürgerliche und öffentliche von ihrtrennt. Wenn nämlich die von den Seligen angeführte Begründung stimmt,dann muß nicht nur alle religiöse Ehre Gott allein erwiesen werden,sondern auch alle öffentliche. Sie erweisen Gott alle Ehre, sagen sie,weil er alles erschaffen hat und alles durch seinen Willen Bestand hat.Nun bitte ich euch, ist Gott nicht der Urheber und Urgrund der öffent-lichen Ordnung? Die Könige herrschen durch ihn ..., und durch ihn regie-ren die Fürsten (Spr 8,15f). Es gibt keine Macht, außer von Gott; derFürst ist Gottes Diener (Röm 13,1.4); und aus diesem Grund werden(Ex 22,28; Ps 82,1) die Amtspersonen Götter genannt. Welche Ausnah-me kann daher die bürgerliche und öffentliche Ordnung bilden, nachder nicht alle ihre Ehre Gott erwiesen werden müßte, da sie in ihmihren Ursprung hat?

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Ich wundere mich über den Traktanten,2 der sich so sehr als Theologegibt und trotzdem die Ehre nach dem Gewissen von der öffentlichentrennt, als ob die öffentliche nicht verpflichtend wäre. Der hl. Paulus istindessen nicht dieser Meinung; er sagt (Röm 13,5): Ihr müßt euch un-terwerfen, nicht nur der Strafe, sondern auch des Gewissens wegen. Esentspricht also dem Gewissen, die Vorgesetzten zu ehren, und die ihnenerwiesene Ehre ist verpflichtend.

Ich sage außerdem: man kann bestimmten Geschöpfen eine andereals die bürgerliche Ehre erweisen. Da ist Josua (5,15), der den Engelvon Jericho und seine Begleiter verehrt; welche bürgerliche Verpflich-tung hatte er, das zu tun? Saul verehrt die Seele Samuels, die ihmerschien (1 Sam 28,14); was hatte das mit der Öffentlichkeit zu tun?Obadja verehrt den Propheten Elija (1 Kön 18,7); welche bürgerlicheVerpflichtung bewog ihn zu dieser Handlung, da Elija ein Privatmannwar, Obadja dagegen eine der bedeutendsten Amtspersonen des Ho-fes? Es gibt hundert ähnliche Beispiele in der Heiligen Schrift. Wirschulden Ehre und Hochachtung den kirchlichen Vorgesetzten, wersie auch seien; und welch andere Ehre könnte das sein als eine religiö-se nach dem Gewissen? Die Eigenschaft, deretwegen man sie ehrt, hatja keinen anderen Grund und Gegenstand als die Religion und dasGewissen. Die kirchlichen Ämter und Aufgaben sind ganz anders alsdie staatlichen; sie haben andere Ziele und Mittel. Amarja stehe denDingen vor, die sich auf Gott beziehen, sagte Joschafat (2 Chr 19,11).Sebadja, der Sohn Ismaels, der Fürst des Hauses Juda, stehe über denWerken, die zum Amt des Königs gehören. Das sind also zwei verschie-dene Dinge. Nach der staatlichen Ordnung schulden die Könige undHerrscher keinem irgendeine Ehre der Unterwerfung, und trotzdemmüssen sie die Hirten und Prälaten der Kirche ehren. Denn wie diestaatlichen Amtspersonen den bürgerlichen Angelegenheiten vorste-hen, so die Bischöfe den kirchlichen. Und das Wort Hirte fordert ebensoseinen Respekt wie das Wort König, obwohl es nicht von der staatli-chen Ordnung ist.

Sagen wir ein Wort von der Ehre, die den Heiligen gebührt: welcheVoraussetzung fehlt den Bewohnern des himmlischen Jerusalems, daßsie von uns Sterblichen nicht geehrt werden müßten? In Wahrheit stehtder Geringste von ihnen weit über dem Ersten von uns (wie Unser Herrbei Johannes 11,11 sagt); sie sind unsere Oberen, denn sie sind mitHerrlichkeit gekrönt, sie sind über alle Güter ihres Herrn gesetzt, siesind seine untrüglichen Freunde und nächsten Höflinge und müssen

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deshalb ebenso ehrenwert sein wie David (Ps 139,16). Sie sind unsereMitbürger und Volksgenossen, mit uns verbunden durch größere Liebe,als wir untereinander. Welchen Grund könnte es also geben, sie nicht zuehren? Gewiß, wenn wir keine andere Gemeinschaft mit ihnen hättenals nur die Liebe, da sie uns in so vielen Vollkommenheiten voraus sind,würde das genügen, um sie für uns ehrwürdig zu machen. Man kannnicht einen anrufen, mit dem man keinen Umgang und Verkehr hatoder der uns nicht versteht; man kann ihn aber wohl lieben und folglichehren, denn das eine gibt es nicht ohne das andere. Doch diese denSeligen gebührende Ehre kann nur nach dem Gewissen und religiössein; es ist also nicht wahr, daß man Geschöpfen keine andere Ehre alsdie bürgerliche erweisen kann.

Damit ist der Satz meines Gegners hinreichend widerlegt. Nun willich die Wahrheit der Reihe nach darlegen. Es gibt eine höchste und eineuntergeordnete Ehre: die eine und die andere muß Gott erwiesen wer-den, aber auf verschiedene Weise. Die eine muß ihm erwiesen, die ande-re auf ihn zurückgeführt werden.

1. Die höchste Huldigung oder Ehre, die unbedingte und erste, zieltunmittelbar auf Gott und muß ihm geradewegs erwiesen werden. Esgibt ja keinen anderen angemessenen Gegenstand als Gott, und Gottkann rein und einfach nicht Gegenstand einer anderen Ehre als diesersein, wegen der Entsprechung, die die Ehre und ihr Gegenstand mitei-nander haben müssen. Die höchste Ehre ist nur für die höchste Erha-benheit bestimmt; wer sie anderwärts erwiese, wäre töricht und ein Göt-zendiener.

2. Ebenso töricht wäre, wer Gott eine untergeordnete Ehre erweisenwollte, denn es gibt zwischen dieser Ehre und Gott ebensowenig eineEntsprechung wie zwischen dem Geschöpf und der höchsten Ehre. Undwie die höchste Ehre nur eine höchste Erhabenheit zum Gegenstandhaben kann, so die untergeordnete Ehre nur einen untergeordneten Vor-zug. Wollte man daher sagen, man müsse Gott mit einer anderen als derhöchsten Ehre ehren, so hieße das, die Erhabenheit Gottes sei nicht diehöchste, denn die Ehrung ist nichts anderes als die Anerkennung derErhabenheit dessen, den man ehrt, wie wir am Schluß dieser Verteidi-gung sagen werden. Ein Geschöpf mit einer höchsten Ehre bedenken,bedeutet daher behaupten, daß es eine höchste Erhabenheit besitze, waseine Torheit ist. Gott mit einer untergeordneten Ehre bedenken, heißtbehaupten, daß seine Erhabenheit untergeordnet sei, was eine weitereTorheit ist. So sehr es daher kein Götzendienst sein muß, den Geschöp-

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fen irgendeine religiöse Ehre zu erweisen, so gibt es im Gegenteil einereligiöse Ehre, die nur Geschöpfen erwiesen werden kann, und es wäreeine Gotteslästerung, sie Gott zu erweisen. Das ist die untergeordneteEhre, die man den Heiligen und kirchlichen Personen schuldet, vondenen ich vorhin gesprochen habe.

3. Trotzdem kann diese untergeordnete Ehre, die der höchsten Erha-benheit nicht erwiesen werden kann, doch stets auf sie zurückgeführtwerden als auf ihre Quelle und ihren Ursprung. Sie muß von ihr aner-kannt sein, ihr Leben, ihr Eigentum, von ihr abhängig. So heißt esnicht, daß die Seligen ihre Kronen dem, der auf dem Thron sitzt, aufsHaupt setzen, denn sie wären zu klein und von einem lächerlichenVerhältnis zu seiner erhabenen Majestät; sie legen ihm diese vielmehrzu Füßen als Anerkennung, daß sie diese von ihm und durch seinenWillen besitzen. Sie erweisen ihm nicht die Ehre, die sie von ihmhaben, sondern führen sie auf ihn zurück durch eine andere, unendlichgrößere, die sie ihm erweisen, indem sie ihn als ihre Ursache undihren Schöpfer anerkennen. Und wie man sieht, daß alle Ehre derniederen Amtspersonen sich bezieht und zurückgeführt wird auf dieAutorität des Königs, so bezieht sich alle Ehre der Menschen und derEngel und wird zurückgeführt auf die Herrlichkeit dieses höchstenUrsprungs, von dem alles abhängt. Auf diese Weise ist wahr, daß einzigGott, dem Unsterblichen, Unsichtbaren, alle Ehre und Verherrlichungzuteil wird. Ich übergehe schließlich, was man zu folgender Aussagedes Apostels sagen könnte: Gott allein sei Ehre und Verherrlichung,nämlich: ob der Apostel sagen will, ob Ehre und Verherrlichung au-ßer Gott allein nicht erwiesen werden darf, oder ob er vielleicht sagenwill, daß Ehre und Verherrlichung nicht irgendeinem Gott erlesenwerden darf, der andere Götter als Gefährten hat, sondern diesem un-sterblichen, unsichtbaren König, der allein Gott ist.

Aus dieser ganzen Überlegung ergibt sich, daß man wohl bestimmteGeschöpfe auf religiöse Weise ehren kann, und dennoch alle Ehre undVerherrlichung dem einzigen Gott erweisen. Das ist eine allgemeineGrundlage für meine ganze Darlegung.

II.

Nun sage ich weiter: Man kann nicht nur Gott allein Ehre und Ver-herrlichung erweisen und gleichzeitig irgendeinem Geschöpf, wie demKreuz, sondern um Gott die ihm gebührende Ehre zu erweisen, ist es

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erforderlich, bestimmte Geschöpfe auf religiöse Weise zu ehren, beson-ders das Kreuz. Das heißt: um Gott recht zu ehren, kann man nicht nurdas Kreuz ehren, sondern muß es. Das ist die zweite Grundlage meinerVerteidigung, die sich durch viele Beweise im einzelnen als wahr erwei-sen wird; doch hier ist ihre Quelle und ihr Ursprung.

Wenn man Gott irgendeine Ehre schuldet, dann ist das ohne Zweifeldie vorzüglichste. Die vorzüglichste Ehre ist aber jene, durch die manetwas so sehr ehrt, daß man aus Hochachtung auch alles ehrt, was zuihm gehört und von ihm abhängt, je nach dem Rang, den es darin ein-nimmt. Die Gott gebührende Ehre muß demnach so beschaffen sein,daß dabei nicht nur Er zuerst und vor allem geehrt wird, sondern folge-richtig auch alles, was ihm gehört. Nun weiß ich nicht, wer leugnenkönnte, daß die höchste Ehre jene ist, die sich auf alles erstreckt, was zueinem geehrten Gegenstand gehört, außer jener, die der natürlichenVernunft Feindschaft geschworen hat.

Die Ehre muß ihrem Gegenstand angemessen sein; das ist die Voll-kommenheit und Erhabenheit. Je vollkommener aber eine Erhaben-heit ist oder je erhabener eine Vollkommenheit, um so mehr teilt siesich allem mit, was zu ihr gehört oder von ihr abhängt. Je erhabenerdaher eine Ehre ist, um so mehr erstreckt sie sich auf alles, was zuihrem Gegenstand gehört, und teilt sich ihm mit. Wir erweisen denDingen, die den Fürsten und Königen gehören, Ehre bis zu den ein-fachsten, weil wir ihre Person sehr verehren. Wir wahren aber dieseHochachtung nicht gegen Personen, die wir weniger ehren. So nenntman die Ehrenwertesten erhaben, erlaucht und sehr erleuchtet. DerSchein, der Glanz und die Helligkeit breitet sich aus und teilt sichallem mit, was ihm nahe kommt, breitet sich um so mehr und um soweiter aus, je größer sie ist; ebenso macht die Ehre einer Sache um soehrenwerter, was zu ihr gehört, je größer sie ist, je nach der größerenoder geringeren Nähe zu ihr. So leitet David die der Bundeslade ge-bührende Ehre von der Heiligkeit Gottes ab, deren Fußschemel (Ps99,5) sie war, wie einige ausgeführt haben. Der hl. Johannes dagegenzeigte, wie sehr er die Person Unseres Herrn ehrte, durch die Beto-nung einer der geringsten Sachen, die ihm gehörte (Mt 3,11; Joh 1,27).Ich bin nicht würdig, sagte er, ihm die Schuhe zu tragen, oder derenRiemen zu lösen. Woher kann diese Ehre der Schuhe kommen, wennnicht vom Glanz der Person, der sie gehören? Die hält der hl. Johan-nes für ehrfurchtgebietend und ehrwürdig bis zu einer so geringenSache. So machte die ehrfürchtige Meinung, die die ersten Christen

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vom hl. Petrus und vom hl. Paulus hatten, diese ehrwürdig bis zu ih-rem Schatten und zu ihren Schweißtüchern (Apg 5,14f; 19,12), die sieals geeignete Mittel zu ihrer Heilung ansahen.

Bemerkenswert für unsere Absicht ist aber vor allem die Stelle derHeiligen Schrift (Apg 5,15), wo es heißt, daß die Zahl der Gläubigendermaßen zunahm, daß sie die Kranken auf Bahren auf die Plätze trugen,damit sie wenigstens der Schatten des hl. Petrus treffe. Seht ihr, wie dieZunahme des Glaubens und der Ehre Jesu Christi die Ehre und dasAnsehen der Heiligen zunehmen ließ und dessen, was mit ihnen zusam-menhängt? So wollte der hl. Gregor von Tours ein Wunder berichten,das ich später wiedergeben werde, und machte folgende Einleitung: „Indieser Zeit wird Jesus Christus durch einen ungeteilten Glauben mit sogroßer Liebe geliebt, daß die Gläubigen, die sein Gesetz auf den Tafelnihres Herzens bewahren, sein Bild auch in den Kirchen und Häusernaufhängen, gemalt auf sichtbare Tafeln, als eine Erinnerung an die Tu-gend.“

Das ist wohl eine andere Philosophie als die der Neuerer, die, umihrer Meinung nach Jesus Christus besser zu ehren, die Kreuze, Bilder,Reliquien und andere Dinge, die zu ihm gehören, ablehnen. Sie wollennicht, daß man ihnen irgendeine Ehre erweise, weil Gott eifersüchtigist, sagen sie. Armselige, vom Nordwind unterkühlte Theologen, diesich in Gott die alberne und jämmerliche Eifersucht vorstellen, die sievielleicht selbst gegen ihre Frauen hegen. Macht man sich nicht über dieEifersucht dessen lustig, der nicht möchte, daß seine Frau irgendeinenanderen außer ihm liebe und ehre, weder Eltern noch Freunde, nochjene, denen er selbst Ehre und Hochachtung erweist? Wäre das nichteine ungeordnete Eifersucht? Die Ehre und Liebe, die eine Frau ihremMann schuldet, verpflichtet sie doch, alle zu lieben und zu ehren, die zuihm gehören. Obwohl nun Gott höchst eifersüchtig ist, erlaubt er nichtnur, sondern gebietet, daß wir die Geschöpfe lieben, unter der einzigenBedingung, daß es aus Liebe zu ihm geschieht. Warum sollte er eifer-süchtig sein, wenn er uns die gleichen Geschöpfe unter der gleichenBedingung ehren sieht, da er nur eifersüchtig auf seine Ehre bedacht istals Abhängigkeit von seiner Liebe? Im Gegenteil: wie die EifersuchtGottes verlangt, wir sollen ihn so sehr und so vollkommen lieben, daßwir aus Liebe zu ihm auch die Geschöpfe lieben, ebenso will er, wirsollen ihn so sehr lieben, daß wir zu seiner Ehre auch die Geschöpfeehren. So bestrafte er Usa wegen der geringen Ehrfurcht, die er vor derBundeslade hatte (2 Sam 6,6f).

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Welche Eifersucht könnten denn die Sonne oder das Feuer haben,wenn sie sehen, daß man für heller und heißer hält, was ihnen näherkommt? Müßten sie sich nicht als viel mehr mißachtet betrachten, wennman das Gegenteil sagte und ihnen die Kraft abspräche, ihre schönenEigenschaften zu verbreiten und mitzuteilen? Ebensowenig kann Gotteifersüchtig sein, wenn man den Geschöpfen irgendeine Tugend oderHeiligkeit zuschreibt und folglich irgendeine Ehre. Er wäre vielmehreifersüchtig, wenn man ihnen das abspräche, weil man ihm eine derhauptsächlichsten Eigenheiten seiner Güte, die Mitteilung abspräche.Die vernünftige Eifersucht wünscht zwei Dinge, nämlich die gebühren-de Freundschaft und das Fehlen jedes Teilhabers an ihr. Nun hieße esGott die ihm gebührende Ehre und Liebe vorenthalten, wenn man ihnnicht so vollkommen liebte und ehrte, daß man dadurch nicht auch alleDinge liebte und ehrte, die ihm gehören, jedes nach seinem Rang. Daswürde einerseits seine Eifersucht kränken, wie es einen König kränkenhieße, wenn man unter dem Vorwand, ihn zu ehren, seine Krone, seinSzepter, seinen Hof nicht schätzte. Andererseits hieße es Gott und seineEifersucht kränken, wenn einer etwas anderes als seine göttliche Maje-stät liebte oder ehrte mit gleicher Ehre und ähnlich jener, die ihm ge-bührt. So würde der Untergebene und Vasall seinen Herrscher kränken,wenn er einem anderen Herrn oder Fürsten Treue und Huldigung ingleicher Weise und Form böte, die er ihm schuldet.

Die Schismatiker unserer Zeit kränken die Eifersucht Gottes auf dieerste Weise, indem sie ihm eine so sterile und dürftige Ehre erweisen,daß sie keine andere hervorbringt für die Dinge, die seiner göttlichenHoheit angehören. Die Heiden und Götzendiener kränken die Eifer-sucht Gottes auf die zweite Weise; sie erweisen ja Geschöpfen gleicheund ähnliche Ehre wie jene, die Gott allein gebührt. Weil sie die Gott-heiten vervielfältigen, vervielfachen sie auch die Herrlichkeit, die nichtmitteilbar ist. Die Kirche aber geht den geraden Mittelweg der Wahr-heit, ohne nach der einen noch nach der anderen Seite abzuweichen. Sieerweist Gott eine erhabene, höchste und einmalige Ehre, eine dennochergiebige und fruchtbare, die mehrere andere für heilige und geheiligteDinge hervorbringt, im Gegensatz zu den Schismatikern wie zu denHeiden und Götzendienern. All diese Ehrfurcht und Hochachtung, diesie Geschöpfen erweist, so vorzüglich sie sein mögen, ist nur unterge-ordnet, geringer, begrenzt und abhängig; sie beziehen sich auf die Herr-lichkeit Gottes allein als auf ihre Quelle und ihren Ursprung, der ihrhöchster Herr und Urgrund ist.

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Ich wollte bei meinen Ausführungen so weit ausholen, um den Standund die wahre Streitfrage darzulegen, die ich mit dem Verfasser desTraktätchens habe, gegen das ich diese Verteidigung schreibe. MeinerAuffassung nach besteht sie darin: Wenn es stimmt, daß das Kreuz geist-lich Jesus Christus angehört, muß man ihm eine bestimmte Ehre zu-schreiben oder eine abhängige und untergeordnete Kraft. Und durchdie allgemeinen Grundlagen, die ich geschaffen habe, ist die Wahrheitdes katholischen Glaubens über diesen Punkt offenkundig genug. Trotz-dem dient diese ganze Verteidigung zu nichts anderem, als diesen Glau-bensartikel zu bestätigen und im einzelnen Beweise dafür zu liefern:daß man dem Kreuz Ehre und Kraft zuschreiben muß.

III.

Das ist der ganze Zweck dieser vier Bücher. Da ich sie zu eurem Ge-brauch verfaßt habe, meine teuersten und sehr geehrten Brüder undHerren in Jesus Christus dem Gekreuzigten, habe ich euch noch be-stimmte Dinge zu sagen, bevor ihr sie zu lesen beginnt.

1. Mein Gegner hat in seinem Traktat einen Haufen von Ungereimt-heiten und Unwahrheiten gebracht, ohne jede Ordnung und Dispositi-on; daher schien mir, ich müßte alle diese Stücke eines nach dem ande-ren vornehmen und überlegen, worauf sie sich beziehen könnten, unddaraus gleichsam vier Haufen bilden: einen aus dem, was die Veruneh-rung des wirklichen Kreuzes betrifft, den anderen über die Abbildun-gen des wirklichen Kreuzes, den dritten aus dem, was das Kreuzzeichenangeht, und den vierten aus dem, was gegen das Kreuz allgemein gesagtwurde. Das habe ich gemacht und damit die bessere Ordnung gewahrt,als ich gekonnt hätte, wenn ich auf all das Stück für Stück geantwortethätte. Ich wollte, daß diese Verteidigung nicht nur eine Antwort aufdiesen Traktat werde, sondern auch eine gediegene Abhandlung überdie Ehre und Kraft des Kreuzes. Manchmal habe ich jedoch meinenWeg unterbrochen, um meinem Gegner überall nachzugehen, wo er derWahrheit ausgewichen ist. Es ist schwer, dem gegenüber Haltung zubewahren, der einzig aus Wut ficht, ohne Regel und Maß.

2. Ich erkläre euch: Hätte ich die einfachen Leute, die durch den Trak-tat meines Gegners und ähnliche verführt oder in ihrem Irrtum bestärktwurden, ebenso des Mitleids und der Hilfe für unwürdig gehalten wieden Traktat der Antwort, dann hätte ich diese Erwiderung nie geschrie-ben; denn der Traktat ist nichts von Bedeutung, er ist nicht einmal eine

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wohlgesetzte Lüge. Ich möchte aber meinen Teil beitragen und rechneauf die Billigung dieses Urteils, die ich von euch wünsche, ohne zuerwarten, daß ihr meine ganze Erwiderung gelesen habt (die vielleichtnicht die Gnade bei euch finden wird, daß ihr viel Zeit darauf verwen-det). Daher will ich euch einige Stücke dieses sauberen Traktats vorle-gen, damit ihr seht, was das Ganze wert sein kann.

Das Ganze hat nur 62 kleine Seiten: auf der ersten steht nur der Titel,der als guter Anfang ganz erlogen ist, denn er heißt: „Über die Kraft desKreuzes und die Art seiner Verehrung“; der Traktat aber dient nur dazu,(dem Leser) einzureden, das Kreuz sei unnütz und keiner Ehre wert.Das übrige bereichert er mit folgenden sauberen Behauptungen:

a) Man müsse „die Allmacht Gottes so verstehen, wie es uns vonseinem Willen offenbar ist, entsprechend dem Psalmwort: Gott hatalles gemacht, was er gewollt hat“ (B.T. 8). Bei Gott, welche Blasphe-mie, Gott vermöchte nur, wovon er erklärt hat, daß er es will. ImGegenteil, Gott hat nie erklärt, er wolle, daß ein Kamel durch einNadelöhr geht (Mt 19,24), oder daß Abraham aus Steinen Kinder er-weckt werden (Lk 3,8), und trotzdem kann er es bewirken, wie dieHeilige Schrift bestätigt. Es ist wahr, daß Gott alles geschaffen hat,was er wollte, und alles vermag, was er will; aber es ist eine Dummheitzu sagen, daß er alles wolle, was er vermag, oder daß er nur vermöge,wovon er erklärt hat, es zu wollen. Er kann wohl 100 000 MillionenWelten entstehen lassen, Ärgernisse und Blasphemien verhindern, undtrotzdem tut er es nicht. Und ohne erklärt zu haben, daß er es machenwill, hört er doch nicht auf, es machen zu können. Gewiß, Gott istallmächtig, aber er ist nicht alles-wollend. Lest den gelehrten Feuar-dent in seinen ‚Dialogen‘, wo er unter vielen anderen auf diese Blas-phemie der Neuerer hinweist.

b) Jesus Christus habe „den Kelch des Zornes Gottes getrunken“ und„seine Leiden seien grenzenlos“ (B.T. 12). Das ist die Blasphemie Cal-vins, der sagt, Jesus Christus habe um das Heil seiner eigenen SeeleAngst gehabt, den Fluch und Zorn Gottes gefürchtet. In Wahrheit kannkeine Strafe unbegrenzt sein und keiner kann den Kelch des ZornesGottes trinken, solange er seines Heiles und des Wohlwollens Gottessicher ist. Behaupten, Jesus Christus habe den Kelch des Zornes Gottesgetrunken und grenzenlos gelitten, heißt soviel wie behaupten, er hätteum das Heil seiner Seele gefürchtet: Die Angst setzt ja die Wahrschein-lichkeit des schlimmen Ereignisses voraus, das man befürchtet. Hättealso Unser Herr um sein Heil gebangt, dann hätte folglich die Wahr-

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scheinlichkeit seiner Verdammnis bestanden. Ebenso bedeutet, denKelch des göttlichen Zorns getrunken haben, nichts anderes als, Gegen-stand des Zornes Gottes gewesen sein. Wenn also Unser Herr den Kelchdes göttlichen Zorns getrunken hätte, wäre er Gegenstand des ZornsGottes gewesen. Item, grenzenlose Leiden erdulden setzt den Verlustder Gnade Gottes voraus, vor allem, wenn man von zeitlichen Leidenspricht, und man muß zugeben, daß die Leiden Jesu Christi solche wa-ren. Wenn also Jesus Christus grenzenlose, wenn auch zeitliche Leidenerduldet hätte, wäre er der Gnade Gottes beraubt gewesen. Das sindWorte, deren sich selbst die Gotteslästerung schämen würde, und trotz-dem ist das die Theologie des Traktanten. Es genügt, die Blasphemiesichtbar zu machen, um sie zurückzuweisen.

c) Und ist die folgende Behauptung keine Blasphemie? „Der NameGottes, der Trinität, der Engel, der Propheten, der Anfang des Johan-nesevangeliums ... und das Kreuzzeichen ... sind nicht einfach annehm-bar“ (B. T. 29). Was ist denn dann annehmbar?

d) Es ist dasselbe, wenn er es als ungebührlich erklärt, daß „Unsereliebe Frau Gefährtin der Leiden unseres Erlösers war“ (B.T. 47). Dennwahrhaftig, wenn sie nicht Gefährtin seiner Leiden war, wird sie auchseiner Tröstungen und seines Paradieses nicht teilhaftig sein.

Ich weiß, daß einer, der gut zu entschuldigen versteht, diese Behaup-tung in einem etwas weniger törichten Sinn auffassen könnte, als sie aufden ersten Blick enthalten; aber er täte dem Traktanten unrecht, der sieso versteht, wie er sagt. Es wäre auch nicht vernünftig, irgendeine Ent-schuldigung für denjenigen anzunehmen, der an jedem einzelnen Wortder kirchlichen Hymnen und Gebete herumdüftelt, um sie in einemschlechten Sinn zu verdrehen, gegen die offensichtliche Absicht derKirche. Das ist eine Probe seiner Blasphemien, und hier eine andereseiner Unwahrheiten:

a) Er sagt, die Alten hätten das Kreuz gemacht aus Furcht, entdeckt zuwerden; und unmittelbar darauf (B.T. 16) sagt er, sie „machten offen dasKreuzzeichen, um zu zeigen, daß sie sich seiner nicht schämten“. Ent-weder das eine oder das andere ist eine Unwahrheit.

b) Er sagt (B.T. 22), wo er vom Kennzeichen (Tau) spricht, das beiEzechiel (9,4.6) erwähnt ist: „Hieronymus verließ das Kennzeichen,dessen der Prophet sich bediente, und untersuchte das Kennzeichen derSamariter ...“ Das ist eine Lüge, denn der hl. Hieronymus erwähnt imGegenteil das Tau der Samariter nur, um jenes zu untersuchen, dessensich der Prophet und die Hebräer des Alten Bundes bedienten.

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c) Er behauptet (B.T. 26), im Flugblatt3 werde gesagt, der hl. Athana-sius habe geschrieben, „daß Gott durch Ezechiel das Zeichen des Kreu-zes vorhersagen ließ“. Das ist falsch.

d) Er läßt (B.T. 26) den hl. Athanasius sagen: „Nachdem das Kreuzgekommen war, wurde jede Verehrung der Bilder abgeschafft.“ Das isteine Fälschung, denn der hl. Athanasius spricht nicht von Bildern, son-dern von Götzenbildern.

e) Er sagt (B.T. 41): „Konstantin der Große war der erste, der Kreuzeaus einem Stoff machte.“ Aber Tertullian, Arnobius und Justin derMärtyrer sind unwiderlegbare Zeugen, daß das eine Fälschung ist. (Sehtdas 2. Kapitel unseres zweiten Buches.)

f) Er zitiert (B.T. 49) das „achte Buch von Arnobius“, der nur derensieben geschrieben hat.

g) Er sagt (B.T. 49), „die Folgerung des Flugblatts“ laute, daß „dasKreuz durch Anbetung verehrt werden muß“. Davon sagt das Flugblattkein Wort.

h) Er sagt (B.T. 50), der hl. „Athanasius bestätigt in den quaestionesan Antiochus, daß die Christen das Kreuz nicht verehrten“, während derKirchenlehrer genau das Gegenteil sagt.

i) Aber ist es nicht erheiternd, wenn er (B.T. 52) einen bestimmtenalten französischen Reim den Horen zuschreibt, die in Rom in Ge-brauch sind?

Wahrhaftig, eine so große Zahl offenkundiger Unverschämtheiten mithundert anderen (die ich nicht im einzelnen aufzählen wollte) in einemso kleinen Werk, wie es der Traktat ist, läßt mich annehmen, daß derVerfasser nur irgendein arroganter Pedant sein kann oder irgendeinatemloser und abgestandener Prädikant, oder wenn er ein Mann voneiniger Bildung ist, daß ihm Wut und Leidenschaft deren Gebrauchgeraubt haben. In der Tat hat er diese Arbeit sehr eilig gemacht und sichnach dem Erscheinen der Flugblätter kaum Zeit genommen.

3. Das Dritte, was ich euch sagen will, ist der Beweggrund, den ichhatte, die Antwort zu unternehmen; das ist der Anlaß, den mein Gegnergehabt zu haben vorgibt, seinen Traktat zu schreiben. Den stellt er nun(B.T. 5f) selbst folgendermaßen dar: „Uns wurde die Notwendigkeitauferlegt, vom unerträglichen Mißbrauch zu sprechen, der mit dem Kreuzgetrieben wird, damit alle lernen, wie man sich gegen das Gift des Göt-zendienstes schützen muß, das der Teufel in dieser Zeit und in unsererUmgebung von neuem auszusprühen beginnt. Er bedient sich dabei der

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Gaukeleien einiger seiner Werkzeuge, die seit einer Reihe von Jahrenin diesen Orten durch Wort und Schrift den Götzendienst wieder aufzu-richten versuchen, wie die Mauern von Jericho, die durch den Schallder Posaunen Gottes eingestürzt sind. Wir schätzen, daß jene, die zweiSchriften hierher brachten und als Flugblätter verbreiteten, viele guteChristen unter uns zum Weinen und Wehklagen bringen wollten.“

Er spricht vom Vierzigstündigen Gebet, das im Jahr 1597 im DorfAnnemasse gehalten wurde. Dorthin strömte eine unglaubliche Zahlvon Menschen, unter anderen die Bruderschaft der Büßer von Annecy,die älteste von allen in Savoyen. Man wußte, es galt ein großes Kreuz zuerrichten, auf der Höhe einer wichtigen Straße, die nach Genf führt, inder Nähe von Annemasse. Obwohl eine Tagesreise entfernt, fand sichdie Bruderschaft sehr früh in der Kirche ein, wo die Mitglieder aus derHand des hoch- und ehrwürdigsten Bischofs die Kommunion empfin-gen. Sie folgten ihm auch in der Prozession, um die erste Gebetsstundezu halten, zusammen mit der Prozession vom Chablais, in der sich schoneine große Zahl von Neubekehrten befand, gleichsam die Erstlinge dergroßen Ernte, die man aus diesem Gebiet und aus dem Gebiet von Ter-nier eingebracht hat. Nun, gegen Abend kamen die Mitglieder von An-necy fromm in die Kirche zurück, luden sich das Kreuz auf die Schul-tern, das am Morgen zurechtgemacht und gesegnet worden war, undzogen von dort ziemlich weit bis zu dem Ort, wo es aufgerichtet werdensollte. Unter der süßen Last sangen sie mit einer Stimme voll Frömmig-keit den Hymnus ‚Vexilla Regis prodeunt‘. Der hochwürdigste Herr warstets bei ihnen, gefolgt von einer sehr großen Volksmenge.

Als man am Bestimmungsort angekommen war und die heilige Fahneaufgerichtet war, hielt der hochwürdigste Pater Esprit de Beaumes (dermit den Kapuzinern P. Chérubin de Maurienne und P. Antoine de Tour-non die Predigten des Vierzigstündigen Gebetes hielt), in der Nähe desKreuzes stehend, eine gute und kurze Ermahnung über die Ehre und dieErrichtung von Kreuzen. Hernach verteilte man einige gedruckte Blät-ter über den gleichen Gegenstand, die ein guter Ordensmann verfaßthatte. Dann traten die Mitglieder, nachdem sie den Segen des hochwür-digsten Bischofs empfangen und seinem Beispiel folgend das Kreuzfromm geküßt hatten, in guter Ordnung und schweigend den Rückwegnach Annemasse an. Ein heiliges und frommes Schauspiel, das den trok-kensten Augen jener, die es sahen, Tränen entlockte.

Der Verfasser des Traktats wußte, wie das alles vor sich ging, und hatteKenntnis von den Blättern, die man verteilt hat. Das war sehr leicht,

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denn das alles spielte sich vor den Toren der Stadt Genf ab, d. h. eineknappe Meile von ihr entfernt. Das heizte ihn an, diesen sauberen Trak-tat zu verfassen, weil er sah, daß nicht nur die Worte und Schriften,sondern auch diese großen Beispiele der Frömmigkeit die Nebelschlei-er vertrieben, die seine Parteigänger über den hellen Glanz des Kreuzesgebreitet hatten, um dessen klare Sicht zu verwehren. Er glaubte, mitseinem Traktat die Luft von neuem trüben und die Augen der einfachenLeute benebeln zu können. Da ich eines der ältesten Mitglieder derKreuzbruderschaft bin und allen Akten der Frömmigkeit beigewohnthabe, fühle ich mich verpflichtet, dem gegenüber Recht und Gerechtig-keit zu vertreten.

Es ist jedoch eine Lüge, was der Traktant behauptet, die Ehre undVerehrung des Kreuzes (die er fälschlich einen Götzendienst nennt) seian dem Ort zerstört gewesen, wo das Vierzigstündige Gebet gefeiertund die Flugblätter verteilt wurden. Die katholische Übung wurde javor der Nase der Häresie stets aufrechterhalten durch ein ebenso großesWunder wie jenes, durch das Gott das gewaltig flutende Element in denUfern in Grenzen hält, die er ihm gesetzt hat, die sie nicht überschreitenkönnen. Ebenso hat er ja die krebsartige Krankheit der Häresie aufeinen bestimmten Winkel dieser Diözese beschränkt, sodaß sie nichtauf einen anderen Teil dieses Körpers übergreifen kann. Dafür müssenwir alle, soweit wir dessen Glieder sind, der himmlischen Güte ewigDank sagen, denn wir können wohl sagen, ohne sie hätte uns diesesreißende Wasser überflutet.

4. Ich muß euch auch noch das Vierte sagen: daß ich nicht weiß, werder Verfasser des Traktats ist, auf den ich antworte und den ich oft zuzitieren gezwungen bin. Daher habe ich mir die Freiheit genommen,mich des Namens „Traktant“ zu bedienen, den ich mangels eines ande-ren verwende, der kürzer wäre. Dagegen wollte ich keinerlei Schimpf-worte und bissige Scheltworte gebrauchen, wie er es getan hat; meineNatur neigt nicht zu dieser Art. Ich wollte aber auch nicht Güte undBescheidenheit so weit treiben, daß ich der gebotenen Freiheit undUnbefangenheit der Sprache keinen Raum ließe. Hätte mein Gegnerseinen Namen genannt, wäre ich vielleicht zu etwas mehr Respekt ver-anlaßt gewesen; da ich aber nicht weiß und keine Gelegenheit habe zuerfahren, daß er etwas anderes als ein Unbekannter ist, fühle ich michnicht verpflichtet, ihn irgendwie in seiner Unverschämtheit zu bestär-ken. Ich dagegen nenne meinen Namen, nicht um ihn irgendwie zumRespekt zu verpflichten (denn vielleicht würde ihn der Rang, den ich in

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dieser Kathedrale einnehme, in die Stimmung versetzen, mich schlech-ter zu behandeln), sondern damit er weiß, falls er noch in Genf ist,woher sein Traktat kam, wo er seinen Korrespondenten finden kann,wenn er mit ihm etwas in dieser Streitfrage zu klären hat. Ich versichereihm, daß er mich stets sehr gern zu seinen Diensten finden wird in al-lem, wo er nicht feindselig gegen den Gekreuzigten und sein Kreuz seinwird.

Im übrigen richte ich mein Vorwort an euch, meine Herren Mitbrü-der, nicht weil ich nicht wünsche, daß es von vielen anderen gelesenwerde, sondern weil ihr euch durch eine besondere Andacht der Ver-ehrung des allerheiligsten Gekreuzigten und seines Kreuzes geweihthabt. Deshalb seid ihr auch verpflichtet, eingehender Rechenschaftund Begründung dieser Verehrung geben zu können. Ihr seid alle ineiner heiligen Gemeinschaft verbunden und die frommen Handlun-gen der Mitbrüder von Annecy waren zum Teil der Anlaß zu demScharmützel, das ich führe; daher verlangen die Gesetze unserer geist-lichen Vereinigung, daß jeder von euch auch zu meiner Unterstützungbeiträgt. Und damit die Waffen handlicher für euch seien, habe icheuch in diesen vier Büchern solche zurechtgemacht, soweit es mirmöglich war. Wenn sie nicht vergoldet und reich an irgendeiner schö-nen Gravierung sind, möchte ich euch bitten, das eher meiner Armutals der Knauserei zuzuschreiben. Trotzdem glaube ich getan zu haben,was ich zu tun hatte. Das war nichts anderes, als dem Traktanten zuantworten auf das, was das Kreuz betraf. Alles andere betrachte ich alsunzweckmäßig und mache nur das.

Ihr werdet hier jedoch auch einige schöne Stücke der Poesie und Über-setzungen von Versen der alten Väter finden, die ich zitiere. Sie stam-men von unserem Herrn Präsidenten des Genfischen Rates, AntoineFavre, einem der begabtesten und gebildetsten Männer, die unsere Zeithervorgebracht hat. Durch eine seltene Begabung versteht er es, die vor-zügliche Frömmigkeit, die ihn beseelt, mit seiner einmaligen Wach-samkeit für die öffentlichen Aufgaben zu verbinden. Da ich also diesealten Verse verwenden wollte und nicht wußte, wo ich einen geeignetenchristlichen Übersetzer finden könnte für so heilige und würdevolleAutoren, wie jene sind, die ich wiedergebe, habe ich ihn gebeten, sie insFranzösische zu übertragen. Das tat er gern, sowohl als Dienst, den erdem Kreuz erwies, als auch wegen der brüderlichen Freundschaft, diedie göttliche Güte als Herrin der Natur so lebhaft und vollkommenzwischen ihm und mir begründet hat, unbeschadet der Verschiedenheit

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unserer Geburt und Berufung und der Ungleichheit so vieler Gabenund Gnaden, die ich nur in ihm besitze.

Meine Herren, laßt uns alle miteinander kämpfen unter dem heiligenFeldzeichen des Kreuzes, indem wir nicht nur die Nichtigkeit der häre-tischen Begründungen kreuzigen durch die Gegenüberstellung der hei-ligen und gesunden Lehre. Laßt uns auch den alten Adam mit seinenBegierden in uns kreuzigen, damit wir dem Bild des Gottessohnes gleich-förmig werden: damit wir, wenn diese Fahne des Kreuzes auf den Mau-ern des himmlischen Jerusalems aufgepflanzt wird als Zeichen, daß alleseine Reichtümer und Herrlichkeiten denen als Beute gegeben werden,die gut gekämpft haben, teilhaben können an den erlesenen Reichtü-mern, die der Gekreuzigte seinen Soldaten als Lohn für die Anstren-gung verspricht, den Besitz der glückseligen Unsterblichkeit.

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Erstes BuchErstes BuchErstes BuchErstes BuchErstes Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzest des echten Kreuzes

1. Kapitel

Vom Namen und Ausdruck Kreuz.

Das Kreuz und sein Name waren schrecklich und unheilvoll, bis derSohn Gottes, der Leiden, Mühen und Kreuzigung ehrenvoll machenwollte, vor allem den Namen des Kreuzes heiligte, so daß er im Evange-lium fast durchwegs als eine ehrenvolle und fromme Bezeichnung steht:Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, sagte er (Mt 10,38; Lk 9,23), undmir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Daher bezeichnet nach dem Sprach-gebrauch der Christen das Kreuz manchmal die notwendigen Leidenund Anstrengungen, um das Heil zu erlangen, wie an der Stelle, die icheben zitiert habe; manchmal bezeichnet es auch eine bestimmte Art derHinrichtung, zu der man einst die schändlichsten Verbrecher verurteil-te; und andere Male das Gerät oder den Galgen, an dem oder durch denman diese Folter vollzog.

Hier spreche ich nun vom Kreuz in dieser letzten Bedeutung, nichtfür jede Art von Gerät zur Hinrichtung, sondern für dieses besondere,an dem Unser Herr gelitten hat. Wenn ich also vom Kreuz sprechenwerde, von seiner Kraft und seiner Ehre, dann versteht das immer so,daß es das Kreuz Jesu Christi ist, von dem ich spreche. Daher wundereich mich über den Traktanten, der voraussetzt, wir sähen das Kreuz JesuChristi getrennt von Jesus Christus selbst, ohne irgendeinen Zusam-menhang mit ihm. So will er zeigen, daß die Stellen der alten Väter, diein den Flugblättern zitiert werden, nicht richtig verstanden wurden, undsagt (B.T. 49) folgendes: „Einige Passagen der Alten werden hier ange-führt, aber außerhalb und weit entfernt vom Sinn des Verfassers. Dennwenn die Alten vom Kreuz sprachen, meinten sie damit nicht zwei Stü-cke Holz, die quer übereinander liegen, sondern das Geheimnis unsererErlösung, dessen wahrer Inbegriff und Erfüllung in diesem Kreuz lag,dem Leiden und Tod Jesu Christi. Und diese Zweideutigkeit oder dop-pelte Bezeichnung des Kreuzes, die von den Sophisten nicht erkanntwurde, bewirkt, daß sie irren und irreführen.“ Das ist ein sehr verwege-

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ner Richter über unsere Fähigkeit, der glaubt, eine so leichte und sohäufige Unterscheidung sei uns unbekannt. Ich übergehe, was die Ge-lehrten Bellarmin (De Imag. II, 24 ad 3) und Justus Lipsius (De CruceI) darüber gesagt haben, doch schon Calepin beweist das. Nun ist esgewiß, daß zwei Stücke aus Holz, Stein oder aus irgendeinem anderenMaterial, quer übereinandergelegt, ein Kreuz bilden, aber deswegen bil-den sie noch nicht das Kreuz Jesu Christi; allein auf dieses und auf keinanderes nehmen die Christen Bezug.

Die Väter sprechen also sehr oft von der Marter und von der Kreuzi-gung Unseres Herrn, sie sprechen aber auch sehr oft von der Kraft undvon der Ehre des Kreuzes, an dem diese Kreuzigung vollzogen wurde.Ich weiß nicht, ob der Traktant je im Neuen Testament finden wird, daßdas Wort vom Kreuz unmittelbar und hauptsächlich für die Hinrich-tung der Kreuzigung gebraucht wird, zum mindesten an den Stellen, dieer in dieser Absicht zitiert. Daß durch das Blut des Kreuzes Christi unserFriede gestiftet wurde (Kol 1,20), versteht sich viel eigentlicher vomBlut, das am Holz des Kreuzes vergossen wurde, als von allen LeidenUnseres Herrn, wie der Traktant (B.T. 7) sagt; diese hat er zum großenTeil in der Seele erduldet, man kann sie daher nicht Blut des Kreuzesnennen.

Das Kreuz Jesu Christi, von dem ich spreche, kann man daher aufdreifache Weise betrachten: entweder in sich selbst, das ist jenes, dasUnser Herr auf seinen Schultern trug und an das er geheftet wurde; oderals seine Abbildung und ständige Darstellung; oder als ein Zeichen undeine Zeremonie, mit einer einfachen Bewegung der Hand ausgeführt;und in jeder der drei Betrachtungsweisen steht das Kreuz in Beziehungzu Jesus Christus. Von ihm hat es viel große Kraft und Würde, wie wirspäter eingehend zeigen werden.

2. Kapitel

Daß das Kreuz große Kraft hat und verehrt werden muß.Erster Beweis aus dem, wovon der Traktant zugibt,

daß es geschrieben steht.

Der Traktant spricht vom Holz des echten Kreuzes und sagt (B.T. 9):„Über dieses Kreuz lesen wir, daß Jesus Christus und Simon es auf denKalvarienberg getragen haben, wo es aufgerichtet wurde; daß Jesus Chris-

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tus auf ihm angenagelt und die Inschrift I. N. R. I. angebracht wurde;daß auf ihm Jesus den Geist aufgab, seine Seite durchbohrt und seinLeib von ihm abgenommen wurde. Außer diesen Punkten lesen wirnichts ...“ (B.T. 8): „Wir sehen nichts von einem Zeugnis im geschriebe-nen Wort Gottes durch die Propheten und Apostel, noch in ihren Bei-spielen und Handlungen, was uns veranlassen könnte oder müßte, ei-nem solchen Holz irgendeine Kraft zuzuschreiben ... Nun wird bei denechten Christen, was nicht im Wort Gottes geschrieben steht, für nullund nichtig gehalten ... Wir folgern daher, daß Gott nicht gewollt hat,daß dem Holz des Kreuzes seines Sohnes eine solche Kraft anhafte ...“Hier ist das große oder vielmehr das einzige Argument dieses Traktan-ten gegen die katholische Lehre von der Kraft des Kreuzes und er hatfast nur ein gleiches gegen seine Ehre. Sehen wir also, was es wert ist.

Wer sieht vor allem nicht, wie wenig sinnvoll die Folgerung ist? Ichbitte euch, setzen wir voraus, was nicht geschrieben steht, werde fürnull und nichtig gehalten, und in der Heiligen Schrift stünde über dasechte Kreuz nichts, als was der Traktant davon berichtet: die Folge-rung wäre trotzdem armselig, zu behaupten, Gott habe nicht gewollt,daß das Holz des Kreuzes seines Sohnes irgendwelche Kraft besitze.Man müßte ganz im Gegenteil folgern: also hat Gott gewollt, daß die-ses heilige Holz irgendwie große Kraft besitzt. Die Theologie zerstörtden Gebrauch der Vernunft nicht; sie setzt sie voraus; sie zerstört sienicht, obwohl sie sie überragt. Die echte Vernunft macht folgende Über-legung: Wenn die Heilige Schrift bestätigt, daß die Berührung und derBesitz von Dienern den geringsten und niedrigsten Dingen Macht undKraft verliehen hat, bestätigt sie damit hinreichend, daß die Berüh-rung und der Besitz des Herrn den Dingen größere Macht und Kraftverliehen hat, wie gering sie aus sich selbst sein mögen. Gewiß, daseine hält sich am anderen, und unter der Kraft der geringeren Sachewird hinreichend die Kraft der größeren verstanden, wenigstens in derSchule der Verständigen.

Sagen wir also: Jesus Christus hat das Kreuz auf seinen Schulterngetragen, wurde auf ihm angenagelt, hat auf ihm den Geist aufgegebenund sein Blut vergossen; was müssen wir daher annehmen, welche Kraftes besitzt, da es Elischa (2 Kön 4,29) sehr wohl für möglich hielt, durchdie Berührung mit seinem Stab einen Toten zu erwecken; da er mit demMantel seines Meisters Elija die wunderbare Teilung des Wassers be-wirkte (2,14)? Mose hat mit seinem Stab so viele Wunder gewirkt (Ex4,3 f); die mit dem Namen Aarons gezeichnete Rute blühte sogleich,

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ganz gegen die Gesetze der Jahreszeit (Num 17,16ff); die Schweißtü-cher des hl. Paulus, ja selbst der Schatten des hl. Petrus bewirkten soviele Wunder (Apg 19,12; 5,15): Wenn Gott zur Ehre seines Sohnesdem Stab, der Rute, dem Mantel, dem Schatten seiner Diener sovielKraft verliehen hat, welche Kraft sollte er dann dem Stab seines Sohnes,seinem Thron, seiner Kanzel, seinem Altar nicht verliehen haben?

So antwortet man auf die Frage, die der Traktant (B.T. 12) stellt:„Wenn der Geist Gottes erwähnt, was in Berührung mit seinen Die-nern kam, warum hat er dann nicht davon gesprochen, was den Herrnberührte?“ Denn abgesehen davon, daß er darüber durch die Überlie-ferung genügend gesprochen hat, sage ich, vom einen sprechen heißtgenug vom anderen sagen, entsprechend einer so leichten Folgerung,daß es nicht notwendig war, sie auszusprechen. Die Kraft, die im Bachist, um aus einer solchen Quelle hervorgegangen zu sein, liegt vielmehr und mit besserem Grund in der Quelle selbst. Etwas anderesbehaupten heißt die Vernunft zerstören. Der Diener ist nicht mehr alsder Herr und der Jünger nicht mehr als der Meister (Mt 10,24). Was derTraktant zugibt und wovon er anerkennt, daß es geschrieben steht, dasmüßte also genügen, wenn wir nichts anderes hätten, um uns glaubenzu machen, daß das Kreuz viel Kraft hat und daß man ihm große Ehreschuldet.

3. Kapitel

Daß man nicht unterlassen dürfte, das Kreuz und seine Kraft zuehren, selbst wenn in der Heiligen Schrift nichts davon

geschrieben stünde: zweiter Beweis.

Damit ist also die große Folgerung des Traktanten hinfällig; und ichsage zweitens, die zweite Behauptung, die er aufstellt, „daß bei gutenChristen für null und nichtig gehalten wird, was nicht im Wort Gottesgeschrieben steht“, muß für null und nichtig gehalten werden, da sieselbst nicht geschrieben steht und auch ganz falsch ist. Sagen Sie mirdoch, Traktant, tauft ihr nicht Knaben und Mädchen? Und haltet ihrnicht dafür, daß die von gottlosen und götzendienerischen Irrlehrern,wie ihr uns nennt, Getauften nicht wiedergetauft werden müssen? Cal-vin, Beza, Viret wurden nie von einer anderen Hand als der von Pries-tern getauft. Und Ihrer Sprache nach scheinen Sie mir nicht nur aus

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ihnen hervorgegangen, sondern auch Priester oder Mönch gewesen zusein, so sehr betonen Sie in Ihrem Traktat, daß Sie das Brevier kennen.Wenn Sie das sind, wurden Sie also von jenen getauft, die Sie Götzen-diener nennen; wie können Sie sich daher für richtig getauft halten?Die Heilige Schrift sagt ja darüber nichts ausdrücklich, weder vomEmpfang der Taufe durch die kleinen Kinder im allgemeinen und vielweniger der Mädchen, noch von der Spendung der Taufe durch dieHäretiker.

Die Beobachtung des Sonntags anstelle des Sabbats, der Brauch derPaten bei der Taufe, die Namensgebung, dieses Sakrament und das derEhe feierlich in der Kirche zu spenden: wo finden Sie, daß das geschrie-ben steht? Und eure Art, das Abendmahl nur zu bestimmten Zeiten desJahres und am Morgen zu feiern, es eher den Frauen als den kleinenKindern zu reichen, das sind Vorgangsweisen, die in der Heiligen Schriftüberhaupt nicht angeordnet sind. Im Gegenteil, bei den Jüngern begingman jeden Tag das Abendmahl (Apg 2,42.46); es wurde am Abend ein-gesetzt und nur unter Männern. Sie schreiben also zu Unrecht, daß ihralle Zeremonien ablehnt, die über das Wort Gottes hinaus und ohnedieses eingeführt wurden, wenn Sie nicht zugeben, daß es ein Wort Got-tes außerhalb der Heiligen Schrift gibt.

Item, ihr eßt erstickte Tiere und Blut; in welcher Heiligen Schriftfinden Sie, daß das erlaubt ist? Der Heilige Geist und die Apostel habenes ausdrücklich untersagt (Apg 15,28f), und Sie finden nicht, daß diesesVerbot in der Heiligen Schrift widerrufen worden wäre. Die allgemeineErlaubtheit von Speisen erstreckt sich ja nicht auf dieses besondere Ver-bot, um Blut und Ersticktes zuzulassen, so wenig wie menschlichesFleisch und vieles andere. Ferner findet sich in keinem Teil der Heili-gen Schrift der Kanon der heiligen Bücher, wie ihn die Lutheraner auf-stellen oder ihr (darin sind sich nämlich der heilige Geist der Luthera-ner und der eure nicht einig). Und das alles halten Sie für null undnichtig? Wahrhaftig, Ihre feine Behauptung macht Sie zu einem fal-schen Christen, denn bei den echten Christen wird für nichtig gehalten,was nicht geschrieben steht, und Sie beobachten so viele Dinge, dienicht geschrieben stehen. Oder sie macht Sie zum Lügner, da sie ganzfalsch ist, wie Sie zugeben müssen.

Bei Gott, überlegen Sie doch ein wenig folgendes: Die Heilige Schriftdes Alten Bundes bezeugt in keiner Weise die Kraft des Wassers imTeich (Betesda), und so sehr man jene, die zu ihm Zuflucht nahmen,hätte tadeln und als abergläubisch verurteilen können, weil sie diesem

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Wasser eine Kraft zuschrieben, ohne irgendein Zeugnis der HeiligenSchrift, hat im Gegenteil Unser Herr ihren Glauben durch ein großarti-ges Wunder geehrt und der hl. Johannes (5,2f) durch ein ganz sicheresZeugnis. Item, die ihre Kranken in den Schatten des hl. Petrus legten unddie Schweißtücher des hl. Paulus auf ihre Kranken (Apg 5,15; 19, 12), umirgendeine wunderbare Heilung zu erlangen; und die Frau, die in dergleichen Absicht den Saum des Gewandes Unseres Herrn berührte (Mt19,20-22; Lk 8,34ff): wo in der Heiligen Schrift hatten sie dieses Rezeptgefunden? Und trotzdem wurde ihr Glaube gelobt und ihr Wunsch er-füllt. Wenn aber diese Gläubigen ohne irgendwelche Autorität der Heili-gen Schrift zu Recht die Kraft des Teiches, des Schattens, der Schweißtü-cher und des heiligen Gewandes hochschätzten, warum sollten oder müß-ten die Christen nicht viel mehr von der Kraft des Kreuzes erhoffen, auchwenn sie die Heilige Schrift in keiner Weise erwähnt?

Ich finde Ihre Behauptung äußerst kühn und zu allgemein. Sie sagen:„Was nicht geschrieben steht, wird für nichtig gehalten.“ Die vor Ihnengegen die heiligen Überlieferungen disputiert haben, gingen nicht soscharf ins Zeug. Chandieu, einer der gerissensten Schriftsteller für eureNeuerung, gibt zu, daß die nicht zum Heil notwendigen Dinge ohneHeilige Schrift gut und annehmbar sein können, nicht aber die zumHeil notwendigen. Das ist seine ständige Unterscheidung in seinem Trak-tat „Gegen die menschlichen Überlieferungen“; Sie aber sprechen ab-solut, ohne Maß und Ziel.

Ich weiß, was Sie auf das Beispiel der Schweißtücher des hl. Pauluserwidern: „Gott wollte durch solche Wunder das Apostelamt des hl.Paulus ehren ...“ (B.T. 11). Ich bitte Sie, warum sollte er nicht auchdurch ähnliche Wunder die Hoheit des Meisters des hl. Paulus ehrenwollen, damit jene, die ihn nicht von Angesicht gesehen haben, über-zeugt werden, daß der, den Gott durch solche Wunder beglaubigt hat,der wahre Messias ist? Sie wenden (B.T. 11f) ein: „Man muß aber dem,was wir gesagt haben, hinzufügen, daß solche Wunder“ der Schweißtü-cher des hl. Paulus „durch das Wort Gottes bezeugt werden, was manvom Holz des Kreuzes nicht sagen kann.“ Dazu sage ich, daß die Kraftder anderen Reliquien hinreichend für diese zeugt und daß viele Dingein der Heiligen Schrift nicht bezeugt sind, die trotzdem sehr sicher sind.Das habe ich bisher bewiesen.

Sehen wir nun, welchen Anstrich der Rechtschaffenheit Sie diesenTorheiten geben. Sie zitieren (B.T. 8) „den Brief an die Hebräer (7,3),wo es heißt, daß Melchisedek ohne Vater und Mutter war, aus dem ein-

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zigen Grund“, behaupten Sie, „weil die Heilige Schrift in keiner Weisevon seinem Vater und von seiner Mutter spricht, obwohl es ganz sicherist, daß er Vater und Mutter hatte wie alle anderen Menschen.“ Das sindIhre eigenen Worte, auf die ich viel zu erwidern hätte. 1. Ich staune überdie Verwegenheit, die die Kraft des heiligen Kreuzes in Zweifel ziehenwill, weil die Heilige Schrift kein Wort davon sagt, und trotzdem be-hauptet, daß Melchisedek Vater und Mutter hatte, obwohl die HeiligeSchrift nicht nur nichts von ihnen sagt, sondern im Gegenteil sagt, daßer weder Vater noch Mutter hatte. 2. Ich behaupte, der hl. Paulus sagtnicht, daß Melchisedek nie Vater und Mutter hatte, sondern nur, daß erohne Vater und Mutter war. Das kann man von der Zeit verstehen, als erdie Dinge tat, die im Hebräerbrief erwähnt sind, durch die er UnserenHerrn versinnbildete. 3. Der Apostel stellt ihn dar, wie ihn die Genesis(14,18ff) beschrieben hat, denn auf diese Weise stellte er Unseren Herrndar. Die Genesis beschreibt seine Abstammung nicht, um ihn destobesser Unserem Herrn gleichzustellen. Der Apostel will zeigen, daß dasAlte Testament die Abstammung Melchisedeks nicht ohne Geheimnisausgelassen hat, und sagt, daß er ohne Vater und Mutter war. Er wendetalso das Geheimnis der Auslassung der Abstammung Melchisedeks an,ohne jedoch Vater und Mutter Melchisedeks für nichts zu halten, son-dern nur, daß sie in der Heiligen Schrift nicht genannt und geheimnis-voll verschwiegen wurden. In der Tat erklärt er, was damit gesagt wer-den will, wenn es heißt, daß er ohne Vater und Mutter war, wenn erhinzufügt: ohne Stammbaum, als wollte er sagen: Wenn ich gesagt habe,daß er ohne Vater und Mutter war, dann in dem Sinn, daß man in ihmkeinen Stammbaum aufgestellt hat, wie der hl. Athanasius sehr treffendzu dieser Stelle bemerkt.

4. Ich habe Mitleid mit Ihrer Blindheit. Sie wollen, daß der hl. Paulusfür nichtig halte, was über Melchisedek nicht geschrieben steht, undsehen nicht, daß der hl. Paulus im gleichen Brief (Hebr 5,11) eine Lehrefür sehr wichtig hält, die er über das Priestertum nach der OrdnungMelchisedeks zu verkünden hatte. Sie werden aber nicht zeigen können,daß diese irgendwo geschrieben steht, außer im Herzen der Kirche.Gewiß, wie der hl. Paulus (Hebr 9,4) wissen konnte, daß sich in derBundeslade das Manna und der Stab Aarons befanden, da es im 1. Buchder Könige (8,9) und im 2. Buch der Chronik (5,10) heißt, daß in derBundeslade nichts anderes war als die Gesetzestafeln, das kann der hl.Athanasius nur erklären, indem er sagt, daß er es durch Gamaliel unddie Überlieferung erfahren hat. Wenn Sie darüber etwas anderes wissen,

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dann bringen Sie es vor; wenn nicht, dann geben Sie zu, daß der hl.Paulus nicht für nichtig hält, was nicht geschrieben steht.

Dasselbe werde ich von dem behaupten, was der hl. Paulus (Hebr 9,19.21) sagt: daß Mose das Blut der Rinder und Böcke samt Wasser, roterWolle und Ysop nahm, damit das Buch und das gesamte Volk besprengte.... das Zelt und alle gottesdienstlichen Geräte; denn der Großteil dieserEinzelheiten steht nicht geschrieben, so wenig wie Vater und MutterMelchisedeks. Selbst wenn der hl. Paulus absolut gesagt hätte, Melchi-sedek habe nie Vater und Mutter gehabt, dann wäre der Grund dafürnicht gewesen, weil die Heilige Schrift davon kein Wort sagt, denn daskonnte andere Gründe haben. Einer wäre, daß sein Vater und seineMutter unbekannt waren, „weil seine Abstammung im Dunkel lag“, sagtder hl. Athanasius (so sagen wir von Findelkindern); oder sie warenHeiden und gehörten zu jenen, deren Andenken wie der Schall vergeht(Ps 9,7), und wurden für nichts gehalten, nicht, weil sie nicht in dieHeilige Schrift aufgenommen wurden, sondern weil sie nicht im Buchdes Lebens standen. So glauben der hl. Irenäus, Hippolyt und mehrereandere, die der hl. Hieronymus im Brief an Evagrius zitiert, daß er zumVolk der Kanaaniter gehörte, folglich Heide war, wenn auch heilig undgläubig, ebensogut wie der Patriarch Ijob.

4. Kapitel

Dritter Beweis für die Kraft und Ehre des Kreuzesdurch eine Stelle der Heiligen Schrift außer jenen,

die der Traktant anführt.

Nun bleibt als Drittes zu prüfen, ob der Traktant getreu alles wiederge-geben hat, was die Heilige Schrift vom Kreuz erwähnt, um so entschiedenzu behaupten, wie er es in seiner ersten Behauptung tut, daß wir in ihrdarüber hinaus nichts lesen. Er ist wahrhaftig sehr unwissend oder einunverschämter Lügner; denn außer einer Unzahl von Stellen, die über dieHeilige Schrift verstreut das heilige Kreuz Unseres Herrn betreffen, diezum Teil später angeführt werden, je nachdem wir über unserem Gegen-stand auf sie stoßen, gibt es eine so bedeutende, daß sie sogar allein genü-gen könnte, um den katholischen Glauben zu begründen: daß das heiligeKreuz das Kreuz Jesu genannt wird (Mt 27,32; Mk 15,21; Joh 19, 17.25).Was könnte man denn Ehrenvolleres von diesem Kreuz sagen?

Hier nenne ich den Traktanten, damit er sich beschämt sieht, wenn er

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nicht unverfroren ist, daß er so würdelos von diesem heiligen Kreuzgesprochen hat, da er es an Heiligkeit den grausamen Händen der Hen-ker gleichstellen will, die Unseren Herrn gegeißelt und gekreuzigt ha-ben, und dem verruchten, treulosen Mund des Judas, der ihn küßte.Seine Begründung (B.T. 13): Wenn das Kreuz irgendeine Kraft hat, danndeswegen, weil es den Leib Unseres Herrn berührt hat. Nun berührtenihn auch ihre Hände und Lippen ebenso wie das Kreuz; sie hätten alsoeine gleiche Kraft von ihm empfangen. „Da das absurd ist, muß man dasnoch mehr vom leblosen Holz sagen, daß es durch bloße Berührungempfänglich für die Heiligkeit geworden sei; denn wenn diese Kraftdem Holz verliehen wurde, weil Christus an ihm gelitten hat, muß diegleiche Kraft in denen gewesen sein, durch die er gelitten hat“ (B.T. 13f). Das sind seine Worte. Ich halte ihm aber entgegen, daß das Kreuz dasKreuz Jesu ist, daß aber die Hände und Lippen der Feinde nicht dieHände und Lippen Jesu, sondern des Malchus, des Judas und ähnlicherBösewichte sind. Ruchlos und böse, wie sie waren, teilten sie die Schlech-tigkeit allen Gliedern mit; daher leistete ihre böse Seele der kostbarenBerührung Unseres Herrn Widerstand, von der sie sonst hätten gehei-ligt werden können, während es im Kreuz kein Hindernis für die Heili-gung gab. Unser Traktant ist zu bemitleiden, wenn er sich darauf beruft,daß das Kreuz leblos ist, die Kreuziger lebendig, um zu beweisen, dasKreuz sei für die Heiligung weniger empfänglich als die Kreuziger. Daes sich hier um eine übernatürliche und gnadenhafte Kraft handelt, trägtdas Lebendigsein nichts dazu bei, sondern schadet sehr oft durch denWiderstand, den die Seele der Gnade leistet. So wurde der Teufel nichtgeheiligt, obwohl er Unseren Herrn auf die Zinne des Tempels trug (Mt4,5) und ihn gewissermaßen bei der Ausführung seines Tuns berührte.

Nun gebührt gewiß allem, was Gott oder seinem Sohn Jesus Christusin besonderer Weise angehört, eine besondere Heiligung und Kraft. AlleGefäße, alle Gebäude, alle Menschen gehören Gott als dem höchstenHerrn. Trotzdem sind jene, die ihm in besonderer Weise geweiht sind,Gefäße Gottes, Häuser Gottes, Männer Gottes, Tage Gottes, und sinddurch besondere Vorzüge geheiligt. Nicht daß sie Gott zu seinem Ge-brauch dienten, denn das alles nützt ihm nichts, sondern vielmehr uns,um ihn mehr zu ehren. Doch die Dinge, die der Sohn Gottes zum Dienstseiner Menschheit und zum Werk unserer Erlösung gebrauchte, habenden Vorzug, daß sie ihm geweiht waren, nicht nur zu seiner Ehre, son-dern auch zu seinem Gebrauch, entsprechend der Gebrechlichkeit, indie er sich begeben hat, um uns aus der unseren zu befreien: und diese

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besaßen außer der Heiligkeit große Kraft und Würde. Das Beispiel desheiligen Gewandes Unseres Herrn paßt in jeder Hinsicht zu unseremGegenstand. Besaß es nicht eine große Kraft, da durch die Berührungseines Saumes jene schwere und so unheilbare Krankheit des Blutflus-ses geheilt wurde (Lk 8,43 f)? Es hatte auch die Eigenschaften, die ichgenannt habe: es hat Unseren Herrn berührt ohne irgendeinen Wider-stand gegen seine Gnade; und es hat ihn nicht nur berührt, sondern wardas seine, zu seinem Dienst bestimmt. Wenn ich den Saum seines Ge-wandes berühre, werde ich geheilt sein (Mt 9,21), sagte die arme Frau.Sie sagte nicht, den Saum des Gewandes, den ich berühre, sondern denSaum seines Gewandes. So sage ich, daß das Kreuz geheiligt ist, nichtnur durch die Berührung Unseres Herrn, der wie ein kostbarer Balsamalles durchtränkte, was er berührte, wenn es in dem Gegenstand keinenWiderstand gab; es wurde aber noch viel mehr geheiligt, weil es Unse-rem Herrn gehörte als Werkzeug für unsere Erlösung, zu seinem Ge-brauch bestimmt, weshalb es Kreuz Jesu genannt wird.

Der Traktant, der lachen will, macht sich gewiß lächerlich, wenn erdas Windlicht dem Kreuz vergleichbar machen will. Wenn er nicht ganzvon Sinnen ist, muß er doch überlegt haben, daß das Windlicht nichtUnserem Herrn gehörte noch ihn berührt hat. Man hat es auch nicht alsReliquie betrachtet, sondern nur als ein altertümliches Erinnerungs-stück. Was den Strick betrifft, den Schwamm, die Geißel und die Lanze,nennen unsere Väter, so der hl. Athanasius, sie heilig und geheiligt. Wirverehren sie als Reliquien und kostbare Werkzeuge unseres Heiles, abernicht in gleichem Grad wie das Kreuz, denn diese Dinge gehörten nichtUnserem Herrn und hatten nur eine einfache Berührung mit ihm; dahernennt sie die Heilige Schrift nicht Geißel und Schwamm Unseres Herrn,wie sie es beim Kreuz tut.

Es ist jedoch ein Schelmenstück, die Geißel, die Leiter, den Strick,den Schwamm und das Windlicht ‚heilige‘ ohne Artikel zu nennen. „Hei-liger Strick“, sagt der Traktant (B.T. 53), „heiliger Schwamm, heiligeGeißel, heiliges Windlicht.“ Unsere Sprache erlaubt das nicht, außerbei persönlichen und Eigennamen wie Petrus, Paulus, Johannes; beiallgemeinen und Sammelnamen wie Lanze, Geißel, Schwamm gebrauchtman aber ‚heilig‘ nur mit dem Artikel, um sie genau zu bezeichnen: dieheilige Geißel, der heilige Strick, die heilige Lanze. Der Traktant machtnun diesen Streich, um, ohne es zu sagen, seinen einfachen Leser, derschon durch Schliche eingenommen ist, glauben zu machen, wir hieltendas Windlicht und die Geißel der Passion für heilige Personen, denn

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das ist das gewohnte Gespött der Reformer, und will auf diese Weise dieVorstellung des armen Volkes überlisten. Oder vielleicht wollte er (wenner zufällig nicht Prädikant wäre) die Laterne, die Geißel, die Leiter, dasWindlicht und „jene, durch die Unser Herr gelitten hat“, wie er (B.T.14) sagt, heiligsprechen, um auch den (reformierten) Religionsdienerheilig und kanonisiert zu machen. Unter den von den Evangelisten ge-nannten Personen, die Unseren Herrn folterten, waren ja viele Diener,4

d. h. Schergen, Büttel, Folterer und Henker. Wenn er also die Heiligkeitder Geißel von der Heiligkeit des Kreuzes herleitet, möchte er gleich-zeitig in die Liste seiner Heiligen auch den heiligen Religionsdieneraufnehmen; das wäre ein ganz neuer und unbekannter Heiliger.

Doch kommen wir noch mit einem Wort darauf zurück, was wir ange-führt haben, um das Kreuz dem Gewand Unseres Herrn gleichzustel-len. Traktant, Sie haben gesagt, was nicht geschrieben steht, ist bei denechten Christen null und nichtig. Die fromme Kranke (Lk 8,43 f) hattenicht gelesen, daß sie bei der Berührung des Gewandes Unseres Herrngeheilt werde; trotzdem glaubte sie daran, und ihr Glaube wurde gutge-heißen. Sie glaubte an etwas, was nicht geschrieben steht, und hielt esnicht für nichtig: warum verurteilen Sie in mir einen gleichen Glaubenan eine gleiche Sache? Was sagen Sie nun? Sie lesen über das Kreuz nur,daß Unser Herr es getragen und an ihm den Geist aufgegeben hat? Hatdie arme Kranke in dem Gewand nichts gesehen, als daß Unser Herr estrug? Sie sah auf ihm nicht das Blut des Erlösers vergossen, wie man esam Kreuz gesehen hat, und die Folgerung, die sie daraus zog, daß siedadurch geheilt werden konnte, war so gut, daß sie ihr die Gesundheitbrachte. Warum hindern Sie mich daran, dasselbe vom heiligen Kreuzzu sagen und die gleiche Folgerung zu ziehen?

Der Traktant glaubt uns an dieser Überlieferung zu hindern, wenn ersagt, es sei „ein sehr verhängnisvoller Irrtum, dem Holz des Kreuzeszuzuschreiben, was dem Gekreuzigten allein eigen ist ...“ (B.T. 18), und„in übernatürlichen Dingen wirkt Gott durch Wunderkraft, die nicht anZeichen und Sinnbild gebunden ist“ (B.T. 15). Und weitere ähnlicheWorte sind in seinem ganzen Traktat verstreut, durch die er uns fälsch-licherweise einreden will, wir schrieben dem Kreuz in sich selbst eineunabhängige Kraft zu. Das sagt aber ein Katholik nie. Wir sagen nur,daß das Kreuz wie viele andere Dinge eine dienende Kraft hat, die nichtsanderes ist als Gott selbst, der durch das Kreuz Wunder wirkt, wenn esihm gutdünkt, wann und wo, wie er selbst von seinem Gewand erklärthat, als er die arme Frau heilte. Er sagte nämlich nicht: Ich spürte eine

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Kraft von meinem Gewand ausgehen, sondern: Ich fühlte eine Kraft vonmir ausgehen. Ebenso hat er nicht gesagt: Wer hat mein Gewand be-rührt? Er sagte vielmehr: Wer hat mich berührt? (Lk 8,45f). Er bestätigtalso: sein Gewand frommen Sinnes berühren heißt ihn selbst berühren;ebenso läßt er von sich die erforderliche Kraft ausgehen auf jene, diesein Gewand berühren. Warum sollte ich nicht ebenso sagen, daß UnserHerr die Kraft ist, die nicht dem Kreuz anhaftet, wohl aber sich seinerbedient? Sie ist größer oder geringer, nicht in sich selbst, denn da sieKraft Gottes und Gott selbst ist, ist sie unveränderlich, stets ein- unddieselbe; sie ist aber nicht immer gleich im Wirken und in den Wirkun-gen. An manchen Orten und zu bestimmten Zeiten wirkt sie ja größereund häufigere Wunder als an anderen. Der Traktant soll also aufhörenzu sagen, wir schrieben dem Kreuz die Kraft zu, die Gott zu eigen ist.Die Gott eigene Kraft ist ja wesentlich, die Kraft des Kreuzes ist ihmverliehen. Gott wirkt in seiner eigenen Kraft, das Kreuz wirkt nur in derKraft Gottes. Gott ist der erste Urheber und Beweger, das Kreuz ist nursein Werkzeug und Gerät. Und alles, was vom Gewand Unseres Herrngesagt ist, gilt von seinem Kreuz mit gleicher Gewißheit, denn die glei-che Kraft, die uns lehrt, was man von seinem Gewand liest, predigt uns,was vom Kreuz gesagt ist.

5. Kapitel

Vierter Beweis: durch weitere Stellen der Heiligen Schrift.

Was ich bisher ausgeführt habe, zeigt hinreichend, wie ehrenvoll dasHolz ist, das Unser Herr wie ein zweiter Isaak auf den festgesetztenBerg getragen hat, um auf ihm als göttliches Lamm geopfert zu werden,das die Sünden der Welt abwäscht. Doch hier sind sichere Beweise imeinzelnen.

Das Grab des Erlösers besaß nicht mehr als das Kreuz; es nahm dentoten Leib auf, den das Kreuz lebend und sterbend trug, aber es warnicht die Erhöhung Unseres Herrn, noch das Werkzeug unserer Erlö-sung, und doch erklärt der Prophet Jesaja (11,10), daß dieses Grab glor-reich sein wird: Et erit sepulchrum ejus gloriosum. Das ist ein sehr aus-drücklicher Text, und der hl. Hieronymus bezieht im Brief an Marcellusdieses Wort des Jesaja auf die Ehre, die die Christen diesem Grab erwei-sen, indem sie von allen Seiten zu ihm pilgern.

Außerdem: Gott ist allgegenwärtig, wo er aber mit einer besonderen

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Wirksamkeit erscheint, hinterläßt er stets eine gewisse Heiligkeit, Ver-ehrung und Würde. Seht ihr nicht, wie ehrwürdig er den Berg machte,auf dem er Mose in einem brennenden Dornbusch erschien? Zieh deineSchuhe aus, sagte er, der Boden, auf dem du stehst, ist heilig (Ex 3,5).Wie hielt Jakob den Ort für ehrwürdig, als er Gott und die Engel in Bet-El gesehen hatte (Gen 28,16). Der Engel, der Josua auf den Feldern vonJericho erschien (Jos 5,16), befahl ihm, den Ort als heilig zu betrachtenund ihn aus Ehrfurcht mit bloßen Füßen zu betreten. Der Berg Sinai (Ex19,20ff), der Tempel Salomos (1 Kön 8), die Bundeslade und hundertandere Orte, wo die Majestät Gottes sich zeigte, waren im Alten Bundstets ehrwürdig: Was müssen wir daher vom heiligen Holz denken, aufdem Gott erschienen ist, ganz entflammt von Liebe, als Brandopfer fürunsere menschliche Natur? Die Gegenwart eines Engels heiligt ein Feld,warum sollte die Gegenwart Jesu Christi, des einzigen Engels des gro-ßen Ratschlusses, das heilige Holz des Kreuzes nicht geheiligt haben?

Doch die Bundeslade gibt ein überaus vortreffliches Zeugnis für dasKreuz. Denn wenn das eine Holz verehrungswürdig ist, weil es der Sche-mel oder Fußtritt Gottes ist, wie muß es erst jenes sein, das das Bett, derSitz und der Thron des gleichen Gottes ist? Daß die Bundeslade vereh-rungswürdig war, das zeigt die Heilige Schrift: Den Schemel seiner Füßebetet an, denn er ist heilig (Ps 99,5; 132,7). Diesem Schlag kann mannicht ausweichen, denn er trifft den Traktanten geradewegs ins Auge,um es ihm auszuschlagen, wenn er nicht sieht, daß das kostbare Holzdes Kreuzes, gefärbt vom Blut Gottes, sein Thron, einige Zeit durchNägel mit ihm verbunden, viel verehrungswürdiger ist als das frühereHolz, das verehrungswürdig war, obwohl nur mit Gold überzogen, nurFußschemel, nur in Gegenwart Gottes. Daß der Fußschemel Gottesnichts anderes ist als die Bundeslade, das bestätigt die Heilige Schrift (1Chr 28,2) offenkundig; und daß man sie anbeten, d. h. verehren muß,ergibt sich aus dem Wort Davids, wo das Wort ‚Anbetung‘ im engerenSinn ausdrücklich auf den Fußschemel Gottes angewendet wird, wiealle wissen, die die hebräische Sprache kennen. In der Tat hatte Gottdiese Bundeslade so ehrwürdig gemacht, daß man ihr nur von weitemnahekommen durfte (Jos 3,4; 1 Sam 6,19) und Usa, der sie unwürdigberührte, sogleich mit dem Tod bestraft wurde (2 Sam 6,6f). Kurz, nurden Priestern und Leviten war es erlaubt, dieses Holz zu berühren unddamit umzugehen (Num 3,31; 4,19), so hoch hielt man es in Ehren.

Elischa verwahrte den Mantel des Elija sorgsam und betrachtete ihnals ehrwürdiges Werkzeug des Wunders (2 Kön 2,13f); warum sollten

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wir das Holz nicht verehren, an dem Unser Herr am Tag seiner undunserer Erlösung erblaßte? Was werdet ihr von Jakob sagen, der dieSpitze des Stabes Josefs verehrte (Hebr 11,21)? Hätte er nicht den Stabund das Szepter des wahren Jesus verehrt? Ester (5,2) küßte die Spitzedes goldenen Stabes ihres Gemahls; wer will die fromme Seele daranhindern, aus Ehrfurcht den Stab ihres Bräutigams zu küssen? Ich kennedie verschiedenen Lesarten der Passage des hl. Paulus, ich weiß aberauch, daß die der Vulgata die sicherste und natürlichste ist, selbst wennman sie mit dem vergleicht und dem gegenüberstellt, was von Estergesagt wird; ihr folgt auch der hl. Hieronymus.

Wer weiß nicht, daß das Kreuz das Szepter Jesu Christi ist? Von ihmheißt es bei Jesaja (9,6): Die Herrschaft ruht auf seinen Schultern. Wieder Schlüssel Davids Eljakim, dem Sohn Hilkijas, auf die Schulter ge-legt wurde (Jes 22,22), um ihn in seine Herrschaft einzusetzen, ebensonahm Unser Herr sein Kreuz auf seine Schultern, als er den Fürsten derWelt hinausstieß, Besitz von seiner Herrschaft und seiner Königswürdenahm und alles an sich zog (Joh 12,32). So legt es der hl. Cyprian im 2.Buch gegen die Juden aus, ebenso der hl. Hieronymus in seinem Kom-mentar und Julius Firmicius Maternus, der um die Zeit Konstantin desGroßen lebte, im Buch ‚Über den Irrtum der weltlichen Religionen‘(Kap. 22), und mehrere andere Väter. Calvin dagegen spottet, ohne Be-leg und Begründung, über diese Auslegung der Stelle und nennt sie leicht-fertig. Und das ist eine Stelle der Heiligen Schrift das Kreuz betreffend,außer denen, die der Traktant anführt, wenn er kühn zu behaupten wagt,daß man darüber hinaus nichts davon lese.

Das Holz des Kreuzes hat Eigenschaften, die es sehr ehrwürdig ma-chen. Es ist der Sitz des Königtums Unseres Herrn, wie der Psalmist (Ps96, 10) sagt: Sagt den Völkern, daß der Herr regiert vom Holz her, wie dieSiebzig lesen, der hl. Augustinus, der hl. Justin der Märtyrer und der hl.Cyprian. Er weist darauf hin, daß die hebräisch, griechisch und latei-nisch über dem Kreuz angebrachte Inschrift erkläre, daß sich nun dasvon David vorhergesagte Geheimnis erfüllte. Daher haben die Judenaus Haß gegen die Christen das Wort vom Holz her gestrichen, wie Ju-stin sagt. Das Kreuz war der Opferaltar unseres Erlösers, wie es der hl.Paulus im Brief an die Hebräer (9,11ff) beschreibt. Darüber heißt es imKolosserbrief (1,20): Unser Herr hat alles befriedet durch das Blut sei-nes Kreuzes. Es ist seine Erhöhung (Phil 2,8f); es ist seine Schatzkam-mer, in der er als reiche Beute den gegen uns lautenden Schuldscheinangeheftet hat (Kol 2,14f).

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Doch wenn es keine andere Stelle gäbe als die, daß das Kreuz das echteKennzeichen, die wahre Auszeichnung und das echte Wappen unseresKönigs ist, wäre das nicht genug, um es ehrwürdig zu machen? Muscheln,Vließ und Hosenband sind angesehen, wenn es den Fürsten gefällt, sie alsEhrenzeichen und Auszeichnung zu wählen. Wieviel ehrwürdiger mußdas Kreuz des Königs der Könige sein, das er als sein Ehrenzeichen ge-wählt hat? Der Beweis dafür ist der Heiligen Schrift entnommen; derTraktant ließ ihn aus Unkenntnis aus. Ist es nicht sehr bemerkenswert,daß Unser Herr einen seiner Namen vom Kreuz annehmen wollte? Erwollte, daß er ihm immerwährend bleibt, selbst nach seiner Auferste-hung. Wie das Kreuz das Kreuz Jesu genannt wird, so wird auch JesusJesus der Gekreuzigte genannt. Sucht ihr Jesus von Nazaret den Gekreuzig-ten? (Mt 16,6). Wir verkünden Jesus den Gekreuzigten (1 Kor 1,23). Ichhielt es für gut, nichts zu kennen als Jesus, und zwar als den Gekreuzigten (1Kor 2,2). Der hl. Cyrillus von Jerusalem hat auf diesen Ausspruch aus-drücklich hingewiesen in seiner Katechese XIII.

Davon haben Sie überhaupt kein Wort gesagt, Sie kleiner Traktant. SindSie blind oder tun Sie das bewußt? Es ist ein großer Unterschied, ob manbezeugt, daß Jesus Christus gekreuzigt wurde, oder sagt, daß er der Ge-kreuzigte heißt. Oder finden Sie, daß ein anderer als der Herr diesenNamen angenommen hat? Wie er Galiläer heißt nach seiner Heimat,Nazarener nach seiner Vaterstadt, so heißt er der Gekreuzigte nach sei-nem Kreuz. Welche Torheit, dieses Werkzeug seiner Passion den anderengleichzusetzen; denn wo fände man, daß der Erlöser der Gegeißelte, derGebundene und Gefesselte genannt wird? Und Sie sehen, daß er der Ge-kreuzigte oder Cruzifixus als Namen annahm. Da kann Sie auch die vonIhnen schlecht angewandte Unterscheidung des Kreuzestodes und desKreuzes als Werkzeug der Marter nicht retten; die Kreuzigung geschiehtja nicht durch das Anheften an die Folter, sondern an das Kreuz oder denGalgen. Wenn daher Unser Herr das Kreuz so geehrt hat, daß er einenBeinamen von ihm annehmen wollte, wer wird es dann verachten?

Der Traktant wäre wahrhaftig in hoffnungsloser Lage, wenn er weiter-hin das Argument gebrauchen wollte, das bei den Reformatoren so lautverkündet ist, man müsse das Kreuz ablehnen als den Galgen unseresguten Vaters und der Sohn müsse vor ihm Abscheu haben als vor demTodeswerkzeug seines Vaters. Falls er je diese Dummheit (B.T. 7) an-führte, würde man ihn 1. mit seinem eigenen Ausspruch widerlegen, daer den Tod, die Leiden und Schmerzen Unseres Herrn unendlich lobt,und das mit Recht. Wenn aber die Leiden und Schmerzen selbst liebens-

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wert und zu preisen sind, warum sollte man dann deren Werkzeugezurückweisen, wenn es in ihnen kein anderes Übel gibt, als daß sie de-ren Werkzeuge waren? Der Sohn kann nicht Abscheu haben vor demGalgen seines Vaters, wenn er dessen Tod und Leiden in Ehren hält;warum sollte er die Werkzeuge dessen zurückweisen, was er ehrt? – 2.Man würde ihm sagen, daß das Kreuz nicht nur das Werkzeug der Hen-ker war, um Unseren Herrn zu kreuzigen, sondern auch das UnseresHerrn, um sein großes Opfer zu vollziehen: es war sein Szepter, seinThron, sein Schwert. – 3. Man würde ihm entgegnen, daß man das Kreuzbetrachten kann entweder als Mittel für das Tun der Kreuziger oder alsMittel des Leidens des Gekreuzigten: Als Werkzeug ihres Tuns ist eskeineswegs ehrwürdig, denn dieses Tun war eine große Sünde; als Werk-zeug des Leidens ist es äußerst ehrwürdig, denn dieses Leiden war einesehr bewundernswerte und vollkommene Tugend. Da nun Unser Herrdieses Werkzeug an sich nahm und dessen letzter Besitzer war, wurdealle Schmach von ihm genommen; er wusch es in seinem eigenen Blut,daher nannte er es sein Kreuz und sich selbst den Gekreuzigten. So wardas Schwert Goliats für die Israeliten schrecklich, solange es an derSeite dieses Hünen hing, nachher wurde es liebens- und lobwürdig inden Händen des Königs David (1 Sam 17,24.51; 21,9). So blühte derStab Aarons nicht, ehe er für den Stamm Levi bestimmt und ihm derpriesterliche Name Aarons eingeschrieben wurde (Num 17,8). Und dasKreuz, das vorher ein dürrer, unfruchtbarer Stamm war, blühte, sobaldes für den Sohn Gottes bestimmt und sein Name mit ihm verknüpftwurde, und es wird immer blühen vor den Augen aller Aufrührer. Die-ser Palast ist ehrwürdig, weil der König in ihm gewohnt hat und ihn sichvorbehalten hat durch die Inschrift mit seinem heiligen und verehrungs-würdigen Namen.

Ich bitte Sie schließlich, sich der Ehre zu erinnern, die der hl. Johan-nes selbst den Schuhen Unseres Herrn erwies; er schätzte sie so sehr,daß er sich für unwürdig hielt, sie zu berühren (Lk 3,16; Joh 1,27); washätte er wohl getan, wenn er dem Kreuz begegnet wäre? Die vollkom-mene Ehrung erstreckt sich bis auf die geringsten Dinge, die dem gehö-ren, den man liebt.

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6. Kapitel

Fünfter Beweis: das vergrabene und erhalten gebliebene Kreuz.

Im Vorausgehenden habe ich gezeigt, wieviel Kraft das Kreuz hat undwie sehr wir verpflichtet sind, es zu ehren, durch Folgerungen, die ichunmittelbar aus der Heiligen Schrift abgeleitet habe. Wie ihr gesehenhabt, hatte ich dabei keine große Mühe, auf alle Argumente meinesGegners zu antworten. Nachdem er alle seine verneinenden Behauptun-gen gemacht und erklärt hat, er wolle nichts glauben, was nicht geschrie-ben steht, führt er doch nur eine Stelle der Heiligen Schrift an, die insehr ungebührlicher Weise verwendet wird. Nun treten wir in eine zwei-te Art ein, die Kraft und die Ehre des Kreuzes zu beweisen, nämlichdurch das Zeugnis derjenigen, durch deren Vermittlung die HeiligeSchrift und das ganze Christentum bis auf uns gekommen ist, d. h. diealten Väter und die ersten Christen. Mit ihnen scheint der Traktant sehrvertraut zu sein, so viel schwätzt er nach Belieben über das, was siegesagt haben.

Hier ist nun ein Beweis, der in der Tat von unseren Vorfahren abgelei-tet ist. Er setzt voraus, daß ihnen das echte Kreuz Unseres Herrn (vonihm sprechen wir ja) bekannt war. Auch das sucht der Traktant so fest zuleugnen, wie es ihm möglich ist; er sagt (B.T. 9): „Es scheint, daß Gottdem Götzendienst vorbeugen wollte, den Satan trotzdem in die Weltgebracht hat. Denn wie er nicht gewollt hat, daß das Grab des Mosebekannt sei, so gibt es auch keinen Beweis dafür, daß Gott gewollt hätte,daß das Kreuz seines Sohnes bei den Menschen bekannt wird.“ Das sindseine eigenen Worte. Wenn ein Lügner nicht ein ganzer Narr sein will,muß er ein gutes Gedächtnis haben. Der Traktant vergißt, was er hierbehauptet hat, und sagt an anderer Stelle (B.T. 26) folgendes: „Wir leug-nen nicht, daß Gott im Namen Jesu Christi des Gekreuzigten Wunderwirkte, um die Predigt des Evangeliums zu bekräftigen, die damals fastin der ganzen Welt in Schwung war und von den Heiden abgelehnt wur-de. Das erklärt Athanasius am Anfang seines Buches gegen die Götzen-bilder, daß, nachdem das Kreuz gekommen war, jede Verehrung vonBildern verhindert und durch dieses Zeichen aller Trug des Teufels zer-schlagen wurde.“ Ich bitte euch, bringt diesen Mann in Einklang mitsich selbst. Er sagt, um dem Götzendienst vorzubeugen, wollte Gott,daß das Kreuz seines Sohnes unbekannt sei; durch das Zeichen des Kreu-zes ist aller Trug des Teufels zerschlagen: das Kreuz verhindert den

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Götzendienst; das Kreuz ist Ursache des Götzendienstes. Wer sieht nichtden Widerspruch in diesen Worten? Das eine kann nur wahr sein, wenndas andere falsch ist. Doch welches kann wahr sein als jenes, das nichtnur der hl. Athanasius ausgesprochen hat, sondern Jesus Christus undseine Propheten und das das ganze Altertum glaubte?

In Wahrheit haben alle Propheten vorhergesagt, daß bei der AnkunftUnseres Herrn durch sein Kreuz und seine Passion alle Götzenbilderabgeschafft werden: Et non memorabuntur ultra; man wird ihrer nichtmehr gedenken, sagt Sacharja (13,2). Und Sie, Traktant, wollen dage-gen, das Kreuz sei ein Götzenbild, der Götzendienst sei katholisch ge-wesen, d. h. allgemein in der Kirche Jesu Christi tausend Jahre lang, unddie wahre Religion sei in einem kleinen Bündel unsichtbarer und unbe-kannter Menschen verborgen gewesen. Jesus Christus erklärt (Joh12,31f), am Tag, da er erhöht ist, wird er alles an sich ziehen und der Fürstder Welt wird hinausgestoßen; und Sie wollen, daß die Leiter seiner Er-höhung erniedrigt, ihre Ehre und ihr Dienst abgeschafft werde. Das gan-ze Altertum hat das Kreuz gegen den Teufel gebraucht, und Sie sagen,dieses Kreuz sei der Thron seines Götzendienstes.

Was das Beispiel vom Grab des Mose betrifft, das Sie anführen, weißich nicht, wieso es Ihnen nicht die Augen geöffnet hat. Denn abgesehenvon dem unschicklichen Vergleich, den Sie zwischen den Juden undden Christen machen, was die Gefahr betrifft, in Götzendienst zu ver-fallen, hätten Sie nicht in dieser Weise argumentieren dürfen: Gott, dernicht wollte, daß das Grab des Mose bekannt sei, um dem Götzendienstvorzubeugen, wollte dennoch, daß das Grab Unseres Herrn bekanntund in der christlichen Kirche anerkannt ist, wie alle Welt weiß undniemand leugnet. Das ist also ein Zeichen, daß die Gefahr des Götzen-dienstes bei dem einen Grab nicht die gleiche ist wie beim anderen.Und wenn nicht so viel Gefahr des Götzendienstes bestand im Bekannt-werden des Grabes Unseres Herrn, das unbekannt bleiben müßte, umihn zu vermeiden, warum sollte das nicht mehr noch gelten für das Kreuz?

„Aber es gibt kein Zeugnis dafür“, behauptet der Traktant, „daß Gottgewollt habe, daß das Kreuz seines Sohnes bekannt wird.“ Das ist gewißeine zu große Leugnung. Die Heiligen Ambrosius, Chrysostomus, Cy-rillus, Hieronymus, Paulinus, Sulpicius sowie Eusebius, Theodoret, So-zomenes, Socrates, Nicephorus, Rufinus, Justian und viele andere sehralte Autoren sind einwandfreie Zeugen, daß Gott wollte, daß das Kreuzseines Sohnes bekannt und gefunden werde. Sehen wir nun, wie unserTraktant die Gründe einfädelt, die er für seine Leugnung hat.

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„Es hat keinerlei Wahrscheinlichkeit für sich“, das sind seine Worte(B.T. 9), „wenn man sagt, das Kreuz sei verwahrt und vergraben wordenan dem Ort, wo es errichtet worden war; und das sei, wie man herausbe-kommen habe, der Ort, wo Adam begraben wurde. Denn wenn man denAlten glaubt, wurde Adam in Hebron begraben, nicht nahe bei Jerusa-lem.“ Seht ihr, wie er abschweift? Seine Absicht war, zu beweisen, daß dasKreuz nicht gefunden wurde; er beweist es, weil es nicht wahrscheinlichist, daß es vergraben wurde, wo es errichtet wurde. Was er hinzufügt überden Ort, wo Adam begraben wurde, ist nur eine Nebenfrage, und siehe da,er stürzt sich darauf, sie zu widerlegen, als wäre das seine Hauptfrage. Sospringt er von Gegenstand zu Gegenstand wie eine wahre Heuschreckeder großen Drangsal der Geheimen Offenbarung (Kap. 9). Ist das nichteine schöne Folgerung? Das Kreuz wurde nicht vergraben, wo es aufge-richtet worden war, also wurde es nicht aufgefunden; als ob es nicht hättegefunden werden können, ohne an dem Ort vergraben worden zu sein, woes aufgerichtet worden war. Was er aber über das Begräbnis Adams hin-zufügt, zeigt, wie wenig Kenntnis der alten Väter er besitzt; denn dieMehrzahl von ihnen hat behauptet, daß das Kreuz über dem Grab Adamserrichtet wurde. Seht, wie der hl. Augustinus darüber spricht: „Der Pres-byter Hieronymus hat geschrieben, er habe von den Vätern und den älte-sten Juden sicher erfahren, daß Isaak geopfert werden sollte, wo dannJesus Christus gekreuzigt wurde ... Und nach dem Bericht der Alten sagtman sogar, daß Adam, der erste Mensch, einst an dem Ort begraben wur-de, wo das Kreuz eingerammt wurde, und daß man ihn deswegen OrtKalvaria (oder Schädelstätte) nennt, weil an diesem Ort das Haupt desganzen Menschengeschlechtes begraben wurde. In der Tat, meine Brüder,glaubte man nicht ohne Grund, daß der Arzt da erstand, wo der Krankelag, und es war sehr angebracht, daß sich das göttliche Erbarmen auchdahin neigte, wo der menschliche Hochmut begraben war. So glaubt man,daß das kostbare Blut, das herabtropfte, die Asche des alten Sünders gnä-dig berührte und ihn auch erlöst hat.“ Wenn man also den Alten glaubt,wurde Adam auf dem Kalvarienberg begraben. Aber das hat kaum mitunserer Frage zu tun und ist nicht sehr wichtig.

Nun kommt der Traktant zu seinem zweiten Beweis und belastet unsnach seiner Meinung schwer. „Item“, sagt er (B.T. 9f), „da die Jünger undApostel Jesu Christi bei seinem Tod zerstreut waren und nach seinerHimmelfahrt daran gehindert wurden, im Namen Jesu Christi zu spre-chen, da Jerusalem bald darauf vollständig zerstört wurde, welche Wahr-scheinlichkeit besteht da, daß es damals verwahrt und verehrt wurde von

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denen, die Jesus Christus anhingen?“ Ein Kind kann diese Ungereimtheiterkennen: Die Kirche war verfolgt, folglich hat sie das Kreuz nicht ver-wahrt. Im Gegenteil, die Verfolgung veranlaßte sie, es zu verbergen, undals die Verfolgung aufhörte, hat man es alsbald wiedergefunden. Item:Die Kirche war verfolgt, folglich verehrte sie das Kreuz nicht. Im Gegen-teil, die Verfolgung entflammte sie noch mehr zu seiner Hochschätzung,aber im Geheimen, aus Furcht, dieses Denkmal der Verfolgung UnseresHerrn der Schmähung durch die Feinde des Kreuzes auszusetzen.

Aber der Traktant sagt das nur, um uns zu verwirren, denn wir sagennicht, daß die Freunde des Kreuzes es auf diese Weise vergraben haben,sondern vielmehr haben dessen Feinde es auf diese Weise versteckt, umsein Andenken zu unterdrücken. Wir sagen auch nicht, die gleichen Fein-de hätten es nicht ins Meer werfen können. Wir sagen im Gegenteil, siehätten es ins Meer versenken können trotz der Entfernung zwischen demHafen Jaffa und der Stadt Jerusalem, ob mit oder ohne Mühe, mit Hilfeder Flüsse, die es ins Meer geschwemmt hätten. Und wir sagen noch, siehätten es verbrennen können; aber wir bewundern um so mehr die göttli-che Vorsehung, die den Verlust ihrer Fahne nicht zugelassen hat.

Vor allem täuscht sich der Traktant darin, daß man sagt, auf dem Bergdes Kreuzes habe man die Götzenbilder der Venus und des Adoniserrichtet. „Wer wird diese Fabel nicht zurückweisen“, sagt er (B.T. 10f),„wenn er bedenkt, welchen Haß die Juden gegen jede Art von Bildernhatten?“ Ich will aber sagen: Wer wird nicht die Albernheit dieses klei-nen Traktanten zurückweisen, wenn er bedenkt, daß man nicht sagt, dieJuden hätten das getan, sondern die Heiden? Und es ist nicht Äsop, derdiese Tatsache berichtet, sondern eine Vielzahl sehr gewichtiger undalter Autoren wie Eusebius, Ruffinus, Paulinus, Sulpicius, Theodoret,Sozomenes, Socrates. Schon Hieronymus allein müßte genügen, um die-sen Traktanten besser zu unterrichten; es sind seine Worte im Brief anPaulinus: „Von der Zeit Hadrians bis zur Herrschaft Konstantins wur-de das Götzenbild Jupiters fast 180 Jahre lang von den Heiden verehrtam Ort der Auferstehung Unseres Herrn; ebenso machten sie es mitdem der Venus, das in Marmor auf dem Berg des Kreuzes errichtetwurde. Die Urheber der Verfolgung bildeten sich ein, sie würden aufdiese Weise den Glauben an die Auferstehung und an das Kreuz ausunserer Brust reißen, wenn sie die heiligen Orte durch ihre Götzenbil-der besudelten. Unser Betlehem (ein kleiner Winkel der Welt, von demder Psalmist singt: Die Wahrheit ist von der Erde geboren) liegt jetzt imSchatten der Lusthaine des Adonis, und in der Grotte, in der einst der

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kleine Jesus Christus seine kindlichen Schreie ausstieß, klagte und wein-te der Liebhaber der Venus.“ Seht ihr, wozu dieser Traktant die Miß-gunst der Juden erweckt, da man nicht behauptet, die Juden hätten esgetan, sondern die Heiden; und wozu er die Zeit der Stadt Jerusalemanführt, obwohl das nach ihrer Zerstörung geschah?

Wer wird also so hoffnungslos (verirrt) sein, diese Geschichte zu be-zweifeln, die von so vielen und so gewichtigen Autoren und von allenZeitgenossen bezeugt ist, von denen sie sprechen, um diesem Geist desWiderspruchs Glauben zu schenken, der sie ohne Beweis nach 1200 Jah-ren schamlos leugnet? Aber, so sagt der Traktant (B.T. 11), „solche Fa-beln dienen nur dazu, das Kreuz Christi zunichte zu machen.“ Doch wel-che Unverschämtheit ist das, so viele heilige Väter zu schmähen, derenZuverlässigkeit im Vergleich mit diesem Neuerer unvergleichlich ist.

„Die heilige Geschichte“, erwidert der Traktant (B.T. 11), „lehrt unswohl eine andere Art, an die sich die Feinde des Kreuzes hielten, wennsie die Predigt des Evangeliums zurückwiesen ...“ Ist das nicht ein schö-ner Beweis? Ich gebe zu, daß das eine andere Art ist, an die sich dieFeinde des Kreuzes hielten, aber daraus folgt nicht, daß sie sich nichtauch an die hielten, die von den alten Vätern berichtet wird, denn daseine widerspricht dem anderen nicht, sondern hängt damit zusammen.

Bevor ich diesen Gegenstand abschließe, will ich noch einen Zug desTraktanten enthüllen, der zeigt, wie voreingenommen und schlechtenGlaubens er ist. Er läßt (B.T. 26) den hl. Athanasius am Anfang desBuches ‚Gegen die Götzenbilder‘ sagen: „Nachdem das Kreuz gekom-men war, wurde jede Verehrung der Bilder abgeschafft ...“ Das ist eineganz ausdrückliche Fälschung, denn der hl. Athanasius spricht nichtvon Bildern, sondern von Götzenbildern. In der Tat, wie sollte er gesagthaben, daß durch das Kreuz die Verehrung der Bilder abgeschafft wur-de, er, der in den ‚Quaestiones‘, die er für Antiochus geschrieben hat,ausdrücklich mit folgenden Worten sagt: „Gewiß, wir verehren die Dar-stellung des Kreuzes, die aus zwei Hölzern zusammengesetzt ist“?

Ich weiß wohl, daß sich der Traktant hinter der allgemeinen Hartnäk-kigkeit decken wollte, mit der die Reformatoren behaupten wollen, Göt-zenbild und Bild sei ein und dasselbe. Das ist aber eine zu große Albern-heit, denn danach könnte man behaupten, Jesus Christus sei ein Götzen-bild, da er in der Heiligen Schrift (2 Kor 4,4) ausdrücklich Bild Gottesgenannt wird. Wenn also Bild und Götzenbild dasselbe ist, müßte JesusChristus, der das Bild Gottes ist, das Götzenbild Gottes sein, und die ihnanbeten, wären Götzendiener. Das alles ist nichts als eine Blasphemie.

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Ganz ähnlich ist die Absurdität, wenn er (B.T. 28) sagt, „die Namenvon Götzenbildern wurden geändert, aber die Dinge sind im Christen-tum geblieben.“ So betrachtet wäre das, was wir Jesus Christus nennen,nichts anderes als der Jupiter der Heiden; und die Taufe Calvins, Bezasund anderer, die bei den Katholiken getauft wurden auf den Namen derheiligen Dreifaltigkeit, wäre in Wirklichkeit nur geschehen im Namenund in der Kraft irgendwelcher Götzenbilder. Es steht ihm wohl auchgut an, wenn er (B.T. 27f) einen Unterschied macht zwischen dem heid-nischen und dem christlichen Götzendienst (denn seine Worte schei-nen darauf hinauszukommen). Das ist so, als wollte er sprechen voneiner kalten Hitze oder einem finsteren Licht. Aber all das läuft daraufhinaus, die Christen zu Götzendienern des Götzenbildes Jesus Christuszu machen. Die Heftigkeit des Grolls, den diese Reformatoren gegendie katholische Kirche haben, vernebelt sie derart, daß sie, um über unsherzufallen, in ihrem Abgrund zugrundegehen. Doch das sei nur neben-bei gesagt, um den Glauben, den uns das Altertum vom Vergraben undvon der Erhaltung des Kreuzesholzes gegeben hat, zu entlasten von denVerleumdungen und Vorwürfen, die dieser Traktant erhebt.

Es ist indessen kein geringer Beweis für die Kraft und Ehre des Kreu-zes, daß Gott es annähernd 330 Jahre unter der Erde erhalten hat, ohnedaß es vermodert wäre. Die Feinde des Christentums hatten ihr Mög-lichstes getan, um sein Andenken zu zerstören. Es blieb ihnen verbor-gen, um ans Licht gebracht zu werden zu einer Zeit, in der es auf heiligeWeise verehrt wurde. Und um das Wunder der Auffindung und Erhal-tung dieses heiligen Kreuzes noch großartiger zu machen, hat er zweiandere Kreuze bewahrt, die eine Möglichkeit boten für den wunderba-ren Beweis, den man für die Kraft des dritten hatte. Das sind daher dieWorte des hl. Paulinus: „Das Kreuz Unseres Herrn, den Juden zur Zeitder Passion verhüllt, wurde den Heiden nicht enthüllt, die für den Baudes Tempels, den sie auf dem Kalvarienberg errichteten, viel Erde aus-hoben und entnahmen. Ist es nicht durch die Hand Gottes so lange Zeitverborgen worden, damit es jetzt gefunden wurde, als es frommen Sin-nes gesucht wurde?“

Konstantin der Große anerkannte in dieser Tatsache die wunderbareVorsehung Gottes, in dem Brief, den er an Makarius schrieb. Nach demBericht des Eusebius und des Theodoret spricht er darin von der Erhal-tung des Grabes und anderer heiliger Plätze des Kalvarienberges undsagt: „Das Andenken an die hochheilige Passion war ja so lange von derErde verschüttet und auf diese Weise so viele Jahre unbekannt, bis der

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gemeinsame Feind vernichtet war und es seinen Dienern erschien. Dasübersteigt fürwahr jede Bewunderung.“ Und weiter unten: „Der Glaubean dieses Wunder geht über alles der menschlichen Natur Mögliche.“

Wem aber gebührt die Ehre für die so wunderbare Erhaltung des Kreu-zes, wenn nicht Jesus Christus dem Gekreuzigten? „Es hat die unver-gängliche Kraft des Blutes jenes Leibes aufgenommen und getrunken,der nicht der Verderbnis verfallen konnte, nachdem er den Tod erlittenhatte.“ Das sind Worte des hl. Paulinus an Severus.

7. Kapitel

Sechster Beweis: die Auffindung des Kreuzes.

Nachdem der Traktant sich nach Belieben über das vergrabene Kreuzund den Ort ausgelassen hat, will er an einer anderen Stelle dessen Auf-findung bestreiten und will überzeugen, daß diese Auffindung erfundensei. „Es ist nicht notwendig“, schreibt er (B.T. 43), „in die Untersu-chung einzutreten, ob das eine erdichtete oder echte Auffindung war,zumal Volateranus und Frater Onuphrius Panvinius aus dem Augusti-nerorden in ihren Anmerkungen zu Platinus im Leben des Papstes Eu-sebius (S. 32) hinreichend zu verstehen geben, daß das eine unsichereSache sei angesichts der verschiedenen Zeitangaben für diese Auffin-dung, die sich bei den Autoren finden. Wenn man einigen Autoren glaubt,war Helena damals noch Heidin und Konstantin war kein entschiede-ner Christ und besaß damals noch nichts in Syrien. Manche sagen auch,daß es nicht zur Zeit Konstantins des Großen aufgefunden wurde, son-dern unter seinem Sohn Konstans. Dazu kommt, daß Eusebius, der dasLeben Konstantins beschrieben hat und davon spricht, was Helena inJerusalem getan hat, kein einziges Wort von dieser Auffindung des Kreu-zes sagt. Außerdem stimmt der hl. Ambrosius nicht mit den übrigenHistorikern überein, denn er sagt, dieses Kreuz wurde erkannt an seinerInschrift, und andere sagen, das geschah durch die wunderbare Heilungeiner Frau.“ Das sagt der Traktant zu diesem Punkt.

Nun, wer hat je eine so unvernünftige Begründung gesehen, daß manaus der Ungewißheit des Zeitpunktes die Ungewißheit der Sache selbstfolgert? Wieviel Zeit brauchte es, daß die Welt erschaffen wurde? Esgibt keinen Chronisten, der darüber nicht seine eigene Meinung hätte;muß man deswegen sagen, die Welt sei nicht erschaffen worden? In

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welchem Alter starb Unser Herr? Einer sagt, mit 31 Jahren, einer sagt,mit 32, einer, mit 34 Jahren, und der große Irenäus geht bis 50 Jahre;müßte man also wegen der Verschiedenheit der Meinungen über dasAlter, in dem Unser Herr gelitten hat, sagen, sein Tod sei ungewiß?Dasselbe könnte ich sagen von seiner Taufe und von hundert anderenDingen, die in der Heiligen Schrift bezeugt sind, die sehr sicher, aber imUmstand der Zeit sehr ungewiß sind. Jeder weiß, daß der hl. ClemensPapst war, aber man weiß nicht, ob er es vor oder nach Linus und Cletuswar. Wie viele Menschen gibt es auf der Welt, die weder den Tag nochdas Jahr ihrer Geburt wissen? Volateranus und der gelehrte Onuphriusbeweisen nicht, daß die Tatsache der Auffindung des Kreuzes ungewißsei, obwohl sie die Ungewißheit des Zeitpunktes anführen, zu dem siegeschah. Es ist nicht wichtig, den Tag, das Jahr, die Stunde zu kennen, esgenügt, daß es sich ereignet hat. Und was Panvinius betrifft, der Platinusbehaupten hörte, diese Auffindung habe sich unter Eusebius zugetragen,so entscheidet er sich, und mit Recht, für die gegenteilige Meinung undläßt die Frage nicht unentschieden, wie der Traktant voraussetzt, der sichselbst festfährt, indem er die Autoren in der Frage der Auffindung desKreuzes übereinstimmen läßt und nur anführt, daß sie in deren Alter undZeit-Punkt nicht übereinstimmen. Das heißt ja geradewegs zugeben, waser zuerst geleugnet hat, daß nämlich gut bezeugt ist, daß Gott das Kreuzseines Sohnes bekannt werden lassen wollte. Nichts Gutes, nichts Heili-ges geschieht, ohne daß Gott dessen Urheber ist. Nun wurde die Auffin-dung des Kreuzes von so vielen bedeutenden und heiligen Vätern als einfrommes und heiliges Werk gefeiert: wieso sollte es kein Zeugnis geben,daß Gott sie gewollt hat? Es gibt aber mehr, denn die bedeutendstenAutoren, die über die Auffindung des heiligen Kreuzes geschrieben ha-ben, wie der hl. Ambrosius, der hl. Paulinus, Eusebius, Ruffinus, Sozo-menes, Socrates, versichern alle, daß Helena die Eingebung erhielt, die-ses heilige Holz suchen zu gehen. Eusebius sagt: „Belehrt durch göttlicheVisionen.“ Und „Divino inspirata consilio; angeregt durch göttlichen Rat“,sagt Paulinus. „Infuso Sancto Spiritu“, sagt der hl. Ambrosius: „nachdemihr der Heilige Geist eingeflößt war.“ Und Socrates: „auf göttliche Weiseim Schlaf gemahnt.“ Das sind also mehrere Zeugnisse, daß Gott wollte,sein Kreuz sollte aufgefunden werden.

Der Traktant wendet aber ein, daß Eusebius in der Lebensbeschrei-bung Konstantins, wo er davon spricht, was Helena in Jerusalem tat, dieAuffindung des Kreuzes überhaupt nicht erwähnt. Ich sage, er unterließes, davon in der Lebensbeschreibung Konstantins ganz ausdrücklich zu

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sprechen, da sie damals eine ganz bekannte Sache war. Trotzdem be-rührt er diese Geschichte nebenbei in den Briefen Konstantins an Ma-karius, den Bischof von Jerusalem, die er zitiert. Aber in seiner ‚Chro-nik‘, übersetzt vom hl. Hieronymus, bezeugt er diese Auffindung sooffen wie sonst nichts; er sagt: „Helena, die Mutter Konstantins, belehrtdurch göttliche Visionen, fand nahe bei Jerusalem das hochheilige Holzdes Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen ist.“

Und der hl. Ambrosius befand sich in dieser Hinsicht nicht im Ge-gensatz zu den anderen; denn was er sagt, das sagen auch die anderen,obwohl er nicht alles sagt, was die anderen sagen. Es ist wahr, wie der hl.Ambrosius sagt, daß das Kreuz Unseres Herrn erkannt wurde durch dieInschrift; aber daß die Inschrift vom Kreuz getrennt war, wie Sozome-nes sagt‚ das war noch nicht ganz offenkundig bekannt, sagt Ruffinus.Man begann es also zu erkennen durch die Stelle, wo die Inschrift ange-bracht war; das berichtet der hl. Ambrosius: Dann erkannte man esnoch besser und vollkommener durch die Wunder, die Gott durch dieBerührung dieses heiligen Holzes wirkte. Helena fand ja drei Kreuzebeim Grab. Da sie nicht ganz sicher erkennen konnte, welches das hei-lige und geheiligte war, richtete Makarius, der Bischof von Jerusalem,ein sehr schönes Gebet an Gott, das Ruffinus wiedergibt, um ein Zei-chen zu erwirken, durch das man das Kreuz Jesu Christi unterscheidenkonnte. Nun war in der Nähe eine Frau, durch eine lange, unheilbareKrankheit dem Tod nahe; ihr legte man die zwei Kreuze der Schächerauf, doch vergeblich, denn der Tod fürchtete sie nicht. Dann berührteman sie mit dem Holz des heiligen Kreuzes, und sogleich zog sich derTod sehr weit zurück, da er die Macht des Kreuzes nicht ertragen konn-te, an dem er einst überwunden wurde und starb, als er zu unternehmenwagte, daran das Leben sterben zu lassen. So erhob sich diese Frau, aufder Stelle ganz geheilt, ging umher und lobte den Gekreuzigten. Der hl.Paulinus, Sulpicius und Sozomenes berichten, daß damals selbst eintoter Mann durch die Berührung des heiligen Holzes auferstand.

Schließlich sagt der Traktant in diesem Zusammenhang einige Dinge,ohne andere Autoren zu nennen als irgendeinen oder irgendwelche. Dar-auf bin ich nicht zu antworten verpflichtet, bis er sie mir nennt. Außer-dem ist das, was er davon ableiten will, kaum zutreffend, so wenig wiedie ungebührliche Geschichte, die er den Predigten des Discipulus ent-nommen hat. Sie bedeutet nichts gegen uns, weil die Katholiken diesen‚Schüler‘ nicht als Lehrer ihres Glaubens betrachten. Und wir behaup-ten nicht, daß ein einzelner Katholik nicht eine unsichere Sache fördern

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könnte, aber das tut dem allgemeinen Glauben der Kirche keinen Ab-bruch. Außerdem bringt Discipulus diese Geschichte nicht als etwasSicheres, sondern gib zu, daß er sie dem apokryphen Buch des Nikode-mus entnommen hat, was der Traktant verschweigt.

8. Kapitel

Das Kreuz stellt die Passion Unseres Herrn dar:Siebenter Beweis.

Man findet, daß das heilige Holz des Kreuzes seit seiner Auffindungbei den Christen auf vielfache Weise gebraucht wurde, aber allgemeingesprochen kann man sie auf drei zurückführen. Die Alten bedientensich nämlich seiner 1. als einer teuren Erinnerung und eines frommenAndenkens an die Passion; 2. als eines Schutzes und Heilmittels gegenalle Übel; 3. als eines heiligen und geeigneten Mittels, Jesus Christusden Gekreuzigten zu ehren. Das alles scheint nun der Traktant nicht zuwissen.

Zur ersten Form des Gebrauchs, d. h. die Passion vorzustellen, sagt er(B.T. 12f) folgendes: „Wenn wir unter dem Wort Kreuz die Leiden verste-hen, die der Sohn Gottes an Leib und Seele ertragen hat, die von Schmer-zen erfüllt war, wie Jesaja (53) sagt, da seine Seele bis zum Tod betrübtwar und er sogar den Kelch des Zornes Gottes getrunken hat, weshalb erausrief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, dann ist essicher, daß diese Leiden nicht vorstellbar sind, denn unsere Sinne könn-ten sie nicht fassen. Aber durch den Glauben hören wir, daß sie grenzen-los und unsagbar sind; daher sagen wir in unserem Glaubensbekenntnis,wir glauben, daß Jesus Christus gelitten hat, daß er gekreuzigt wurde,gestorben ist, begraben wurde und in das Reich des Todes hinabstieg.Wenn das unaussprechlich ist, dann ist es auch unvorstellbar.“ Das istseine Philosophie; doch sehen wir ein wenig, was sie taugt.

Wenn er unter den Leiden Unseres Herrn deren Wert und Verdienstversteht, dann sagt er mit Recht, daß sie unendlich sind. Aber er drücktsich schlecht aus, wenn er sie als Leiden, Schmerzen, Traurigkeit, Kelchdes Zornes Gottes und Gottverlassenheit bezeichnet. Man müßte sieeher Tröstung und süßes, heilsames Wasser nennen; wer davon getrun-ken hat, den wird nie mehr dürsten. Dann drückt er sich noch schlechtaus, denn obwohl dieser Wert und dieses Verdienst unendlich sind undvon unseren Sinnen nicht begriffen werden können, sind sie dennoch

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vorstellbar, andernfalls könnten sie nicht geglaubt werden. Nichts wirdgeglaubt, was nicht zuerst unserem Ohr vorgestellt wurde (vgl. Röm10,17), das einer unserer Sinne ist. Daniel stellt Gott dar; der Menschist geschaffen nach dem Bild und Gleichnis Gottes (Gen 1,27); daskann er nicht, ohne ihn darzustellen. Das Unsichtbare Gottes wird seitder Erschaffung der Welt in den geschaffenen Dingen sichtbar (Röm1,20). So stellen uns die Himmel die Herrlichkeit Gottes dar und kündensie uns (Ps 19,1). So wurden die Kerubim, obwohl sie unsichtbar sindund die Fassungskraft unserer Sinne bei weitem überragen, dennoch imAlten Bund dargestellt (Ex 25,18).

Wenn er die Qualen, Schmerzen und Leiden Unseres Herrn selbstmeint, ist es unsinnig zu behaupten, sie seien unvorstellbar. Was stelltendenn die blutigen Opfer des Alten Bundes so deutlich dar (1 Kor 10,11;Hebr 9,11f), was stellt denn jetzt die Eucharistie dar, wenn nicht Leidenund Tod des Erlösers (1 Kor 11,26)? Jakob hatte kaum das blutige Ge-wand seines Sohnes Josef gesehen, da stellte er sich sogleich dessenangeblichen Tod so lebhaft vor, daß er untröstlich war (Gen 37,33f).Wer stellt sich nicht Leiden und Tod Unseres Herrn vor, wenn er seinKreuz sieht? „Ich habe sehr oft das Bild der Passion gesehen“, sagt derhl. Gregor von Nyssa, „und konnte die Augen nicht ohne Tränen aufdieses Bild richten, wenn ich das Kunstwerk in der dargestellten Personsah.“ Als er das Bild Abrahams sah, der seinen Sohn opferte, stellte esihm so schmerzlich die Pein dieser zwei Personen dar und die PassionUnseres Herrn, deren Sinnbild sie war.

Der Traktant ist auch albern, wenn er sagen will, daß die Schmerzenselbst unendlich seien, da den Zorn Gottes trinken und von ihm verlas-sen werden ein grenzenloses Übel sei. Es scheint jedoch, daß dies seineAbsicht ist, wenn er sagt, daß der Erlöser den Becher des Zornes Gottesgetrunken hat, und zwischen die Artikel der Passion das Hinabsteigenin die Unterwelt einfügt. Das führt er ohne Zweifel auf die Furcht zu-rück, die Calvin Jesus Christus zuschreibt, wenn er sagt, „er hatte Furchtund Angst um das Heil seiner eigenen Seele, da er den Fluch und ZornGottes fürchtete.“ Das ist aber eine unerträgliche Blasphemie, wie ichfrüher gezeigt habe, weil die Furcht die Wahrscheinlichkeit voraussetzt,daß das Übel eintritt, das man befürchtet, und folglich für UnserenHerrn die Wahrscheinlichkeit seiner Verdammnis bestanden hätte, umdas schreckliche Wort auszusprechen. Der Traktant kann daher nichtsagen, die Leiden Unseres Herrn seien unvorstellbar, weil sie grenzen-los waren, und noch weniger, weil sie unaussprechlich waren. Gott, der

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unendlich ist, hört nicht auf, uns auf verschiedene Weise dargestellt zusein, und selbst seine Herrlichkeit, obwohl sie unaussprechlich ist, wasdie Herrlichkeit seiner Vollkommenheit betrifft. Andererseits ist wederGott noch seine Herrlichkeit ganz und gar unaussprechlich, denn dannkönnten wir nicht daran glauben, da wir nur nach dem Gehörten glauben.

Diese Ungereimtheiten werden vom Traktanten vorgebracht, weil ermeint, um eine Sache darzustellen, müßte ihr die Darstellung in allenEinzelheiten gleichen. Das ist töricht und unwissend, denn die voll-kommensten Bilder stellen nur die äußeren Linien und Farben dar, undtrotzdem sagt man, und es ist wahr, sie stellen es lebhaft dar. Die Dingewerden dargestellt durch ihre Wirkungen, durch ihre Ebenbilder, durchihre Ursachen und schließlich durch alles, was in uns die Erinnerungweckt; denn das alles macht abwesende Dinge wie gegenwärtig.

Der Traktant sagt auch, das ist ein Glaubensartikel und doch unbe-greiflich für unsere Sinne. Das gebe ich alles zu, aber ich behaupte auch,daß dieser Artikel vorstellbar ist, gewiß nicht vollkommen (denn waskönnte je den Wert und den Preis des göttlichen Blutes und die Größeder inneren Peinen des Erlösers darstellen?), aber es ist darstellbar wiedie Menschen und die Häuser, von denen man nur die Gesichter und dieäußeren Fassaden darstellt. Daß das Holz des Kreuzes die Passion Un-seres Herrn darstellt, ist von selbst allzu klar: die unfehlbare Beziehungdes Kreuzes zum Gekreuzigten kann nichts weniger bewirken als dieVorstellung. Dazu sagt Ruffinus, wo er von dem Kreuzpartikel spricht,den Helena in Jerusalem ließ, „daß er noch zu seiner Zeit eifrig verehrtwurde als Andenken und Erinnerungszeichen; etiam nunc ad memori-am sollicita veneratione servatur.“ Soviel sagt darüber Socrates. Theo-doret sagt, „daß man es dem Bischof in Verwahrung gab, damit es derNachwelt als Erinnerungszeichen des Heiles diene“. So nennt Konstan-tin der Große im Brief an Makarius die Orte des Grabes und des Kreu-zes Unseres Herrn „significationem Passionis sanctissimae: Zeichender hochheiligen Passion“. Und der hl. Paulinus schreibt im Brief anSeverus, dem er ein kleines Stück eines Kreuzpartikels sandte: „Mögedein Glaube nicht beschränkt sein, wenn deine leiblichen Augen wenigsehen; möge er vielmehr durch das innere Auge in diesem Wenigen dieganze Kraft des Kreuzes sehen, während du dieses Holz zu sehen meinst,an dem unser Heil, an dem der Herr der Majestät angenagelt hing, wäh-rend die ganze Welt zittert, und du wirst mit Furcht froh sein.“ Weiterunten, wo er von der Auffindung des Kreuzes spricht, sagt er: „Die Ju-den hätten es zerstört, wenn sie es gefunden hätten, und sie hätten es

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nicht ertragen können“, das sind seine Worte, „daß bei der Erhaltungdes Kreuzes die Passion dessen verehrt wird, von dem sie nicht ertragenkönnen, daß seine Auferstehung verehrt wird, die durch das leere Grabund die von ihm entfernten Siegel erwiesen ist.“

Doch wenn es mir erlaubt ist, aus Erfahrung zu sprechen, welche Fröm-migkeit sah man doch aufleuchten bei den beiden Bruderschaften vonAnnecy und Chambéry, als sie in Prozession nach Aix pilgerten und dasGlück hatten, das heilige Stückchen Holz des Kreuzes zu sehen, dasdort verehrt wird. Niemand kann sich der Tränen und Seufzer zum Him-mel erwehren beim Anblick dieses kostbaren Unterpfands. Wievielheilige Entschlüsse, in Zukunft besser zu leben, heiliges Mißfallen undSchmerz über das vergangene Leben faßt man doch bei dieser Gelegen-heit! Gewiß, der bloße Anblick des Holzes hätte nicht diese Wirkung,wenn nicht dadurch die allmächtige Passion des Erlösers lebhaft darge-stellt würde. Heilige und wunderbare Kraft des Kreuzes, deretwegen esum so mehr geehrt zu werden verdient.

9. Kapitel

Die Väter des Altertums bezeugen die Kraft des Kreuzes:Achter Beweis.

Die Väter des Altertums hatten die Gründe für die Ehre und die Kraftdes heiligen Kreuzesholzes erwogen, die wir vorhin aus der HeiligenSchrift abgeleitet haben; sie waren der großen Zahl von Wundern gewiß,die Gott an ihm und durch es gewirkt hat, und gebrauchten es als Vertei-digung und Schutz gegen jede Art von Widerwärtigkeiten.

1. Sie wußten, daß die Erhaltung dieses heiligen Kreuzesholzes ganzwunderbar war, 1) weil es denen verborgen blieb, die es vernichtet hät-ten, wenn sie es gefunden hätten, und ebenso den Heiden, die die Erdeumgruben, wo es war, um den Tempel der Venus zu bauen; 2) weil esungefähr 330 Jahre in der Erde lag, ohne zu vermodern.

2. Sie hatten die Wunder seiner Auffindung gesehen: 1) daß es Helenadurch göttliche Offenbarungen angezeigt wurde; 2) daß durch die Be-rührung mit ihm die unheilbare Krankheit dieser Frau geheilt und eintoter Mann wiedererweckt wurde.

Das bewirkte, daß sie es gebrauchten als großes Heilmittel und Schutz.Daher schickte Helena einen der Nägel des Kreuzes, um ihn der Krone

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ihres Sohnes Konstantin einzufügen, „damit er Schutz und Hilfe für dasHaupt ihres Sohnes sei und die Pfeile der Feinde abwehre“, sagt Theo-doret. Sie sandte dem Kaiser auch ein Stück des Kreuzes. „Im Glauben,daß die Stadt, in der es aufbewahrt wird, gesund und heil erhalten werde,fügte er es sogleich nach dessen Empfang in sein eigenes Standbild ein,das in Konstantinopel auf dem Platz, der nach Konstantin benannt ist,auf einer großen Säule aus Porphyrstein aufgestellt wurde.“ So berichtetSocrates.

Daher kam es, „daß alle Welt sich bemühte, etwas von diesem Holz zubekommen. Die ein Stückchen davon haben, fassen es in Gold und tra-gen es am Hals. Dennoch sind sie sehr geehrt und geachtet, geschütztund behütet, obwohl es das Holz der Verurteilung war.“ So sagt der hl.Chrysostomus, und der hl. Cyrill von Jerusalem sagt, wo er von denZeugnissen für Jesus Christus spricht: „Das Holz des Kreuzes gibt Zeug-nis von ihm, das bis in unsere Tage unter uns sichtbar ist und unterdenen, die nach dem Glauben von ihm genommen und von diesem Ortaus fast die ganze Welt erfüllt haben.“ An anderer Stelle, wo er von derPassion spricht, sagt er: „Wollte ich sie leugnen, so überführte mich dasHolz des Kreuzes, das von hier aus in kleinen Stücken in die ganze Weltverbreitet wurde.“ Und der hl. Gregor von Nyssa berichtet, daß die hl.Makrina ein Stück des echten Kreuzes zu tragen pflegte, das in ein klei-nes Silberkreuz gefaßt war.

Das alles stimmt überein mit dem, was der hl. Paulinus ausführlicherim Brief an Severus sagt. Nachdem er gesagt hat, daß man das Stück desechten Kreuzes, das sich in Jerusalem befindet, nur mit Erlaubnis desBischofs sehen könne, fährt er folgendermaßen fort: „Nur durch seineGunst hat man das Glück, kleine Stückchen und Partikel dieses gehei-ligten Holzes zu besitzen als eine große Gnade des Glaubens und desSegens. Das Kreuz selbst, das lebendige Kraft in leblosem Stoff besitzt,gewährt seit jener Zeit und gibt fast täglich ungezählten Menschen aufderen Verlangen von seinem Holz. Trotzdem vermindert es sich nicht,erfährt keinen Verlust und bleibt, als hätte man es nicht angerührt. DieMenschen nehmen jeden Tag Stücke und Teile von ihm, verehren es aberdennoch als Ganzes. Aber diese unzerstörbare und unverlierbare Kraftoder unvergängliche Stärke hat es getrunken und gezogen aus dem Blutdes Leibes, der den Tod erlitten, aber den Verfall nicht erfahren hat.“Der lateinische Text ist noch schöner.5 Sind das nicht großartige Zeug-nisse für die Kraft des Kreuzes? Die ganze Christenheit wollte zu derZeit davon haben, und Gott zeigte sich dieser Verehrung gnädig und

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vermehrte das Holz des Kreuzes in dem Maße, als man Stücke von ihmentfernte; ein offenkundiges Zeichen, daß die Kirche zu der Zeit eineandere Form hatte als die Reformation der Neuerer.

Der gleiche hl. Paulinus sandte dem hl. Sulpicius eine Kreuzparti-kel und schrieb: „Empfange ein großes Geschenk in einem kleinenDing, in einem fast unteilbaren Splitter eines kleinen Spans. Empfan-ge einen Schutz für das gegenwärtige Leben und ein Unterpfand desewigen.“ So berichtet er selbst, daß er in Nola ein Haus gegenüber derKirche des hl. Felix in fast unglaublichen Flammen sah, sich gegen dasFeuer wandte und es kraft eines Kreuzpartikels löschte, den er in derHand hatte.

„Ich nehme von diesem heiligen Holz des Kreuzes und werfeein einzelnes Stücklein davon mitten in dieses Feuer;man erkennt sogleich, was es vermocht hat:Die Flamme, unser Heil achtend, steht still.Nicht meine Stimme, noch meine stärkere Hand,sondern die Kraft des Kreuzes flößte ihm Furcht einund zwang es, sein Wüten aufzugeben,selbst wo es am heftigsten war.Und als wäre es eine Kleinigkeit, ihre Wut zu bannen,sah man sie von der Asche zur Asche zurückkehren.Was ist also die Kraft dieses Kreuzes, ihr Christen,da sich die Natur vergeblich dagegen stemmt,sich selbst aufgibt und ihr ihre Rechte überläßt?Da das Feuer, das Holz aller Art verbrennt,durch das Holz des Kreuzes selbst verbrennt?So wird bezeugt, daß das Feuer, vom Wasser besiegtüberwunden werden kann (welch neues Hilfsmittel)durch bloßes Holz, weil es vom Kreuz stammt.“6

Evagrius berichtet, daß die Stadt Apamea durch die Belagerung Kos-roes in äußerster Bedrängnis war. Da baten die Bewohner ihren Bischofnamens Thomas, ihnen einen Kreuzpartikel zu zeigen, der sich dortbefand. Das tat er, indem er ihn um das Heiligtum trug. Da folgte Tho-mas eine Flamme strahlenden aber nicht brennenden Feuers, als er vonOrt zu Ort ging, so daß jeder Platz, wo er stehen blieb und dem Volk dasehrwürdige Kreuz zeigte, zu brennen schien. Das geschah nicht nur ein-oder zweimal, sondern öfter. Das kündigte die Rettung von Apamea an,die dann folgte. Das sind annähernd die Worte des Evagrius, der alsAugenzeuge berichtet.

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Es ist daher nicht verwunderlich, daß der hl. Ambrosius vom Nageldes Kreuzes sagt, er „ist ein Heilmittel zur Rettung und verjagt die Teu-fel durch eine unsichtbare Macht“. Der hl. Cyrill sagt, daß bis zu seinerZeit das Kreuzesholz in Jerusalem war; es heilte Krankheiten, vertriebdie Teufel und die Verzauberung. Und der hl. Gregor der Große sprichtim 3. Buch seiner Briefe, im 35. Brief, vom Öl des heiligen Kreuzes,dessen Berührung heilte; und Beda berichtet, daß es ein Öl gab, das vonselbst aus dem Holz des Kreuzes hervorging. Vergleiche den großenKardinal Baronius unter dem Jahr 598.

Was wird der Traktant auf all das erwidern? Wird er sagen, daß dieZeugen, die ich anführe, abzulehnen sind? Aber das sind gewiß lautergewichtige Autoren. Vielleicht wird er antworten, daß sie doch nichtsdem Kreuz zuschreiben, sondern nur seinem Zeichen. Aber wir habenschon erklärt, daß das Kreuz nur das Werkzeug Gottes bei wunderbarenWerken ist, so daß es von sich aus in keinem Verhältnis zu solchenWirkungen steht. Der Fall liegt ganz gleich beim Gewand Unseres Herrnund bei den Gebeinen des Elischa (2 Kön 13,21). Ich will aber schlie-ßen mit Kaiser Justinian, daß das Kreuz unsertwegen aufgefunden wur-de; er sagt: „Helena, die Mutter Konstantins des Großen, hat für uns dasheilige Zeichen der Christen gefunden.“

10. Kapitel

Die Väter des Altertums bezeugen die Verehrung des Kreuzes:Neunter Beweis.

Weiter oben habe ich gesagt, daß die Alten das Holz des heiligenKreuzes gebrauchten, um in ihm Jesus Christus den Gekreuzigten zuverehren, insofern sich die Verehrung des Kreuzes ganz auf den Ge-kreuzigten bezieht. Das wurde nun im Altertum auf verschiedene Weisebezeugt:

1. Durch die ehrenvollen Orte, an denen sie die Kreuzpartikel verwahr-ten. Wir haben gesehen, daß Konstantin eine in sein eigenes Standbild aneinem sehr ehrenvollen Platz von Konstantinopel aufnahm, als heiligenSchutz für die ganze Stadt. Der hl. Chrysostomus hat uns bezeugt, daßman die anderen in Gold faßte und als Schmuck am Hals trug. Der hl.Gregor von Nyssa sagt uns, daß die hl. Makrina eine in einem silbernenKreuz trug. Theodoret, Ruffinus, der hl. Paulinus und die übrigen berich-ten, daß Helena auf dem Berg des Kreuzes eine großartige Kirche errich-

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ten ließ, ganz mit Gold verkleidet, in deren Sakristei eine Kreuzpartikelkostbar verwahrt wurde. Der hl. Paulinus sandte eine kleine Partikel da-von an den hl. Sulpicius für die Weihe einer Kirche: „Wir haben etwasgefunden“, schreibt er, „wovon wir etwas schicken zur Heiligung der Kir-che, und um den Segen der heiligen Reliquien zu vervollständigen, näm-lich einen Teil eines kleinen Stückes vom Holz des göttlichen Kreuzes“.Und der gleiche Paulinus legte in einer schönen Kirche von Nola ausEhrfurcht zusammen mit den Reliquien der Heiligen eine Kreuzpartikelin den Hochaltar mit folgenden Versen.7

„Die Frömmigkeit, der Glaube hier und auch der Ruhmunseres Erlösers finden sich vereint.Das heilige Kreuz hält hier an sich gebundendie Herzen heiliger Märtyrer, die es als die Seinen ehrt;denn so wenig von dem wunderbaren Holz hier ist,sein Wert ist sehr groß, und der geringste Spanvom ganz großen Kreuz enthält die ganze Kraftund ist uns allen nicht weniger ehrwürdig als das Ganze.Von Jerusalem hat ein so großes, seltenes Gutuns einst erreicht, durch die fromme GuttatMelanies, die heilig war dem Namen und der Tat nach,die durch so reiche Gabe zu uns nicht geizig war.Diese großen, heiligen Altäre, obwohl verdeckt,bieten dem großen Gott doppelte Ehre doppelt,denn sie enthalten mit dem Kreuz die glorreiche Aschevon Aposteln, auch kostbare Reliquien,die mit gutem Recht am gleichen Platz vereint sind:Hier das Kreuz, da die Gebeine der Diener Gottes,die einst starben für das Kreuz in dieser Welt,nun in demselben Kreuz ihren tiefen Frieden finden.“

Und der hl. Ambrosius sagt, daß Helena weise handelte, die das Kreuzüber das Haupt der Könige erhob, damit das Kreuz bei den Königenverehrt werde.

2. Durch die Pilgerfahrten, die man nach Jerusalem machte, um dasheilige Kreuz aufzusuchen. „Helena hinterließ einen Teil des Kreuzesin einem silbernen Schrein als Erinnerung und Denkmal für jene, dievom Verlangen geleitet werden, es zu sehen.“ Das sind die Worte desSocrates. Und der hl. Paulinus sagt, daß diese Partikel nur am Osterfestgezeigt wurden, „außerdem auf Ansuchen mancher frommen Leute, dienur als Pilger nach Jerusalem kamen, um diese heilige Reliquie zu se-

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hen, als Belohnung für ihre weite Reise“. Es ist auch bezeugt, daß die hl.Melanie zu diesem Zweck in Jerusalem war und von dort eine kleinePartikel des heiligen Holzes mitbrachte. Ebenso berichtet JohannesMoscus Eviratus oder Sophronius, daß der Abt Gregor gemeinsam mitTallelaeus diese Pilgerfahrt machte und daß der Anachoret Johannes siesehr oft zu machen pflegte.

3. Durch die feierliche Verehrung desselben Kreuzes, das sich in Jeru-salem befand, das nach den Worten des hl. Paulinus „der Bischof dieserStadt jedes Jahr an Ostern zeigte, damit es vom Volk verehrt werde,wobei er der erste war, es zu verehren: Episcopus urbis quotannis, cumPascha Domini agitur, adorandum populo princeps ipse venerantiumpromit.“ Und von denen Eviratus berichtet, daß sie dorthin pilgerten,die kamen, um das heilige Kreuz und die ehrwürdigen Stätten zu vereh-ren, wie die Geschichte ausdrücklich sagt.

4. Aber es gibt noch viel mehr. Denn selbst ehe Helena das Kreuzfand, zeigten die Christen, in welcher Ehre sie das Kreuz hielten, indemsie selbst den Ort verehrten, wo es aufgerichtet war. Das wird von allenSchriftstellern erwähnt, viel ausdrücklicher aber von Sozomenes, dersagt, „daß die Feinde des Kreuzes einen Tempel der Venus errichteten,in den sie ein Götzenbild von ihr stellten in der Absicht, daß jene, die andiesem Ort Jesus Christus anbeteten, die Venus anzubeten schienen,und daß im Lauf der Zeit der wahre Grund, weshalb die Leute diesenOrt verehrten, in Vergessenheit geriet“. Die Heiden sahen also, daß dieChristen den heiligen Ort verehrten, an dem Unser Herr gekreuzigtwurde; wieviel mehr hätten sie das heilige Kreuz verehrt?

5. Demgemäß hat Lactantius Firmianus, noch ehe das Kreuz aufgefun-den wurde, schon geschrieben: „Flecte genu, lignumque Crucis venerabi-le adora; beuge das Knie und verehre das ehrwürdige Holz des Kreuzes.“Und nachdem Sozomenes von der Auffindung des Kreuzes berichtet hatund von den Wundern, die dabei geschahen, sagt er: „Nicht das ist soverwunderlich, besonders nachdem die Heiden selbst bekennen, daß einVers der Sibylle lautet: O lignum felix in quo Deus ipse pependit: Glück-liches Holz, das du Gott selbst an dir hangend hältst.“ Das konnte näm-lich niemand leugnen (obwohl man mit allen Mitteln dagegen kämpfenwollte): Auf diese Weise ist durch die Sibylle das Holz des Kreuzes undseine Verehrung im voraus angezeigt.“ Das sind seine Worte.

6. Weil die Alten glaubten, sich gegenseitig sehr zu ehren, wenn sieeinander Partikel des Kreuzes zum Geschenk gaben, wie wir gesehenhaben von Helena und Konstantin, von der hl. Melanie, von Paulinus

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und Sulpicius. So sandte der hl. Gregor der Große an Rekaret, denKönig der Westgoten, als großes Geschenk eine Partikel des Kreuzes.Ebenso sandte nach der Erinnerung unserer Vorfahren der König derAbessinier als Ehrung dem König Emmanuel von Portugal ein gleichesGeschenk durch seinen Gesandten, den Armenier Matthias, als Unter-pfand seiner Bündnistreue.

7. Die Alten haben das Kreuz geehrt, indem sie ihm mehrere ehren-volle Namen beilegten. So haben Helena und der hl. Ambrosius es „Stan-darte des Heils“ genannt, „Triumph Jesu Christi, Palme des ewigen Le-bens, Erlösung der Welt, Schwert, mit dem der Teufel getötet wurde,Heilmittel der Unsterblichkeit, Sakrament des Heils, Holz der Wahr-heit“. Der hl. Paulinus nennt es „Schutz des gegenwärtigen Lebens,Unterpfand des ewigen, Gegenstand größten Segens“. Makarius, derBischof von Jerusalem, nennt es „Hochseliges Holz, Kreuz, das demHerrn zur Ehre gereichte“; Kaiser Justinian „sacrum Christianorumsignum, heiliges Zeichen der Christen“; und der große hl. Cyrill, nachdem Zitat des Traktanten selbst, nennt es „heilsames Holz“ und an an-derer Stelle „Siegeszeichen des Königs Jesus“; Eusebius „hochseligesHolz“; Lactantius „ehrwürdiges Holz“. So hat das Altertum es mit hun-dert sehr ehrwürdigen Namen bedacht.

8. Einige der alten Väter glaubten, das gleiche Holz des echten Kreu-zes werde wiederhergestellt und am Tag des Gerichtes am Himmel er-scheinen, entsprechend dem Wort Unseres Herrn (Mt 24,30): „Dannwird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen. Das ist(scheint mir) die Ansicht des hl. Chrysostomus, in der Predigt vomKreuz und vom Schächer, und des hl. Cyrill in seinen Katechesen, sowiedes hl. Ephräm im Buch von der wahren Buße, Kapitel 3, 4; und eswurde vorhergesagt im Buch von der Sibylle mit den Worten:

„O glückliches Holz, das du Gott selbst an dir hangend hältst, welche Ehre könnte mir auf Erden erwiesen werden?Im Himmel, o Kreuz, wirst du einst triumphieren,wenn sich das Angesicht Gottes dort flammend zeigt.“8

Der Grund dafür ist offenkundig, denn unter allen Kreuzen ist dasechte Kreuz das ureigene Zeichen und die Standarte Jesu Christi.

9. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der hl. Makarius und Hele-na bei der Auffindung des Kreuzes gleicherweise fürchteten, „entwederden Galgen eines Schächers für das Kreuz des Herrn zu halten oderdieses zu entheiligen, indem sie es anstelle des Balkens eines Schächerswegwarfen“, wie der hl. Paulinus sagt; ebenso nicht, daß der hl. Hiero-

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nymus den Tag nicht erwarten konnte, an dem er mit der hl. Marcella„in die Grabeshöhle des Erlösers eintreten und das heilige Kreuzesholzimmer wieder küssen könnte“. In der Tat, „wenn den Kindern das Ge-wand oder der Ring des Vaters um so teurer ist“, wie der hl. Augustinussagt, „je größer die Liebe und die Verehrung der Kinder für ihren Vaterist“, um so mehr wird ein Christ das Kreuz Jesu Christi verehren, jemehr er für seine Ehre entflammt ist. Der hl. Chrysostomus bekennt,„wenn ihm jemand die Sandalen und das Gewand des hl. Petrus schenk-te, würde er sie mit offenen Armen umfangen und sie wie ein himmli-sches Geschenk in der innersten Kammer des Herzens bergen“. Wie-viel mehr hätte er das Kreuz seines Erlösers verehrt? Der hl. Augustinusberichtet, daß mehrere Wunder geschahen mit ein wenig Erde vomKalvarienberg, das Hesperius, einer seiner Vertrauten, mitgebracht hat-te; daß unter anderen ein Gelähmter plötzlich geheilt wurde, den mandorthin gebracht hatte, und daß er diese Erde ehrenvoll in der Kircheverwahrte. Welche Verehrung hätte er erst dem Kreuz Unseres Herrngezollt? Er hätte gewiß nicht so viele Ablenkungsmanöver gemacht, wiees der Traktant in seiner ganzen Schrift tut, um das Andenken an dieWunder auszulöschen, die Gott an ihm gewirkt hat, und ihm eine recht-mäßige Ehrung zu verweigern.

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Zweites BuchZweites BuchZweites BuchZweites BuchZweites Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzest der Abbildung des Kreuzes

1. Kapitel

Von der Art und Weise, das Kreuz abzubilden.

Darin liegt ein starker Beweis für die Ehre und Kraft des echten Kreu-zes. Der Traktant sagt ja (B.T. 14): „Wenn das Holz des Kreuzes wederKraft noch Heiligkeit besaß, dann ist leicht einzusehen, daß sie ebenso-wenig dem innewohnt, was nur dessen Zeichen oder Bild ist.“ Umge-kehrt heißt das also: wenn das Zeichen und die Abbildung des Kreuzesgroße Heiligkeit und Kraft besitzt, dann hat das Kreuz selbst dessennoch mehr. Wenn ich daher, wie ich im folgenden tun will, die Heilig-keit der Abbildung des Kreuzes beweise, werde ich das noch viel mehrund mit um so stärkerer Beweiskraft vom Kreuz selbst beweisen.

Nun hat man das Kreuz auf verschiedene Weise dargestellt, je nachden verschiedenen Meinungen, die über die Form und Gestalt des ech-ten Kreuzes bestanden: Die einen haben es wie ein großes lateinischesoder griechisches T dargestellt, wie auch das alte Tau der Hebräer ge-macht war. Sie glaubten, daß das echte Kreuz Unseres Herrn aus zweiHölzern zusammengesetzt war, von denen das eine sich am Ende desanderen befand. Wie man an manchen Darstellungen sieht, brachten sietrotzdem noch einen kleinen Stab über dem Kreuz an, um daran dieInschrift mit dem Schuldspruch zu befestigen, die Pilatus anbringenließ. Das ist die Meinung Bedas.

Die anderen waren der Meinung, daß sich die zwei Hölzer des echtenKreuzes in der Weise kreuzten, daß das eine über das andere hinausragt,und haben das Kreuz in der Weise dargestellt, daß sie die Inschrift amoberen Teil anbrachten. Das hat gewiß auch die größere Wahrschein-lichkeit für sich, und wenn es nur wegen der gewöhnlichen Auffassungder Christen wäre, und weil Justin der Märtyrer in seinem Dialog mitTryphon das Kreuz in dieser Weise zu beschreiben scheint, wenn er esmit dem Horn eines Einhorns vergleicht. Und der hl. Irenäus sagt: „Dieübliche Form des Kreuzes hat fünf Enden oder Spitzen, zwei in derLänge, zwei in der Breite, eines in der Mitte, auf das sich der Gekreuzig-

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te stützte.“ Bei all dem wird das Kreuz immer dem lateinischen, grie-chischen und hebräischen T ähnlich sein, weil darin nur ein geringerUnterschied liegt.

Außerdem haben die Alten am Kreuz manchmal andere Gegenständeabgebildet und dargestellt, um auf bestimmte Geheimnisse und Lehrenhinzuweisen: denn die einen bogen das obere Ende des Kreuzes in Formeines Krummstabes, um den griechischen Buchstaben P zu bilden, et-was tiefer brachten sie zwei Stücke in Form des Buchstabens X an; dassind die ersten zwei Buchstaben des Namens Christus.9 Etwas tiefer warder Querbalken des Kreuzes, an dem ein Flor hing, wie man es jetzt beiunseren Kirchenfahnen macht, um zu zeigen, daß es das Banner Christiist. So beschreibt es Pierius und nach ihm der gelehrte Bellarmin undmehrere andere von den Unseren, womit der Traktant (B.T. 41) über-einstimmt. Die anderen brachten am Kreuz eine strahlende Krone an,die einen aus kostbaren Steinen, wie es Konstantin auf seinem Labarum(Reichsfahne) tat, andere aus Blumen, wie es der hl. Paulinus in einerschönen Kirche von Nola machte. Über ihrem Eingang ließ er ein sol-ches Kreuz malen und dazu die Verse schreiben:10

„Sieh überm heiligen Portal dieser schmucken Kirchedas Kreuz deines Erlösers zu oberst gekrönt,der, getreu, für die Leiden und Mühen seiner wahren Höflingetausendfach höchsten Lohn verspricht.Nimm daher mit seinem Kreuz alle Leiden an, die er schickt,wenn du mit ihm eines Tages seine Krone gewinnen willst.“

Über drei anderen Portalen der gleichen Kirche waren zu beiden Seitenzwei Kreuze gemalt, über denen sich außer den Blumenkronen auf Zwei-gen sitzende Tauben mit folgenden Versen befanden:11

„Eine mächtige Krone aus tausend schönen Blumenumgibt das Kreuz meines Erlösers ganz und gar;das Kreuz, das seine Farbe empfängt vom roten, reinen Blut, dasentspringt aus den Füßen und Händen, vom Haupt und der Seite.Zwei Tauben darüber zeigen, wir müssen glauben,daß Gott, nur Einfältige seiner Glorie teilhaft macht.“

Und zum gleichen Gegenstand:12

„O Gott, laß durch dein Kreuz uns alle der Welt sterben,mach, daß auch die Welt ganz für uns sterbe;so wird es zum Heil für alle geschehen,daß die Sünde stirbt und das Heil in der Seele überreich ist.

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Da unsere Frevel uns hassenswert machen,reinige die stinkenden Kerker unserer Herzen:dann werden wir wie Tauben sein, o Gott,einfältig und vielgeliebt, sobald wir liebenswürdig geworden.“

Desgleichen ließ der hl. Paulinus das Kreuz über dem Altar malen miteinem Schwarm von Tauben über ihm, ebenso ein Lamm unter demKreuz, blutig gefärbt. Das gleiche wollte er machen in einer Basilika,die er in Fondi bauen ließ. Das alles zeigt, wie sehr man das Kreuz inEhren hielt.

Konstantin setzte das Kreuz auf seine Reichsfahne und glaubte, daß esihm ein heilsames Banner sei, wie Eusebius sagt. Daß er darauf denabgekürzten Namen Christi setzte, zeigt, daß das Kreuz das echte Zei-chen Jesu Christi ist, nicht der Sitz des Götzendienstes, wie es derTraktant beschrieben hat. Indem er darüber eine Krone reich an kostba-ren Steinen setzte, bekundete er, daß dem Gekreuzigten alle Ehre undVerherrlichung gebührt und daß sich die Kaiserkrone auf das Kreuzstützen muß. Der hl. Paulinus wollte mit den Blumen, die er über demKreuz anbrachte, sagen, daß wir durch das Kreuz die Krone der Glorieerlangen, wie er durch seine Verse bestätigt; und durch die Tauben gibter zu verstehen, daß der Weg zum Himmel, der durch das Kreuz eröff-net wurde, nur für Einfältige und Sanftmütige bestimmt ist. Ein ander-mal verstand er den Schwarm der Tauben als Sinnbild der Schar derApostel, die in ihrer Einfalt überall das Wort vom Kreuz verkündeten.Durch die Palmen und das Blut versinnbildete er das Königtum Unse-res Herrn; durch das Lamm, das er unter das Kreuz setzte, versinnbilde-te er Unseren Herrn, der am Kreuz geopfert die Sünden der Welt hin-wegnahm. Es war eine sehr ehrenvolle Auffassung, die die Alten vomKreuz hatten, die sie so heilig von ihm denken ließ. Daraus kann manersehen, daß es nur Mangel an mehr Wissen ist, wenn der Traktant (B.T.47) behauptet, die Alten hätten dem Kreuz keine andere Ehrung erwie-sen, als es einfach mit Blumen zu bekränzen. Es ist aber eine grenzenlo-se Vermessenheit, daß er die Dinge nach seinem Wissen mißt.

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2. Kapitel

Vom ehrwürdigen Alter der Abbildungen des Kreuzes.

Ich hätte ein schönes Feld, um das ehrwürdige Alter der Darstellungdes Kreuzes zu zeigen, wollte ich mich über eine Fülle von Bildern desAlten Testaments verbreiten, die nichts anderes sind als Vorbilder desKreuzes, und ich müßte nicht glauben, das sei ein schwacher Beweis.Wenn dieses Volk des Alten Bundes außer dem Wort Gottes auch meh-rere Sinnbilder hatte, um sich an der Vorahnung des künftigen Kreuzeszu laben, welchen Grund könnte es geben, daß es nicht erlaubt wäre,solche auch in unserer Kirche zu haben, um sich an der Erinnerung andie Kreuzigung in der Vergangenheit zu erquicken? Es gäbe gewiß kei-nen noch so guten Traktanten, der nicht geblendet würde, wenn ich ihmalle heiligen Erwägungen vorhielte, die darüber das ganze Altertumangestellt hat. Der hl. Justin der Märtyrer in der Auseinandersetzungmit Tryphon, Tertullian mit Marcion, der hl. Cyprian mit allen Judenglaubten ein gutes und festes Argument für die Ehre und Hochschät-zung des Kreuzes zu liefern, wenn sie die Vorbilder des Alten Testa-ments anführten: warum soll ich nicht über denselben Gegenstand mitgleichen Beweisen argumentieren können mit einem Traktanten, dersich als Christ bezeichnet?

Doch die Kürze, zu der ich mich verpflichtet habe, erlaubt mir nicht,mir die erforderliche Muße zu nehmen, um eine solche Häufung vorzu-nehmen. Man wird außerdem mit größerem Nutzen, als was ich darübersagen könnte, bei den Autoren lesen, die ich bereits genannt habe, sowiebei Jonas von Orléans, beim hl. Gaudentius über Exodus und in der‚Theogonie‘ des Cosmas von Jerusalem. Ich will mich darauf beschrän-ken, nur dasjenige anzuführen, das alle Alten übereinstimmend auf dasKreuz beziehen, das ist die eherne Schlange, die aufgerichtet wurde. Woder Traktant (B.T. 56) von ihr spricht, macht er die Bemerkung, sie seinicht angebracht oder „errichtet worden auf einem Querholz, wie manes allgemein darstellt, sondern sie sei aufgerichtet worden“, sagt er, „aufeiner Fahnenstange oder einer Stange, wie der Text sagt.“ Darauf will icherwidern.

1. Die Eigenart der Ausdrücke des Textes ist keineswegs zwingend,daß die Schlange auf einer Stange aufgerichtet wurde; so hat SanctesPagninus den Ausdruck ‚Standarte‘ beibehalten, der zweifellos der pas-sendste ist und sich besser auf das bezieht, was versinnbildet wurde.

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2. Ich weise darauf hin, daß die Standarten und Feldzeichen einst inder Form von Kreuzen gemacht waren, in der Weise, daß das Holz, andem das Fahnentuch hing, quer zum anderen stand, wie man gegenwär-tig an unseren Kirchenfahnen sieht. Beweis dafür ist das Labarum derRömer und Tertullian in seiner Apologie. Wenn also die Schlange aufeiner Standarte angebracht wurde, war es folglich an einem Querholz.

3. Ich weise darauf hin, daß der Traktant unrecht hat, darin der allge-meinen Auffassung zu widersprechen, die daran festhält, daß die Schlangean einem Querholz aufgerichtet war, ohne Gründe und Gewährsmän-ner für sich zu haben. Es ist dagegen vernünftig, in dieser Frage Justinden Märtyrer vorzuziehen; in der Apologie für die Christen führt erdiese Geschichte an und bestätigt, daß Mose die Schlange erhöhte undsie in der Form des Kreuzes errichtete.

Seht also, wo ich das erste Bild des Kreuzes anführen könnte. Es ist jaso, daß eine Sache, um das Sinnbild einer anderen zu sein, zwei Bedin-gungen erfüllen muß: die eine, daß sie der Sache ähnlich sei, derenSinnbild sie ist, die andere, daß sie von ihr gedeckt wird und ihr entnom-men ist. Da die eherne Schlange in ähnlicher Form wie das Kreuz aufge-richtet wurde und durch die Vorsehung Gottes nach ihm gebildet war,kann sie nur ein wahres Vorbild des Kreuzes sein.

Doch um mich dem Traktanten anzupassen, soll es mir genügen, vonden Kreuzen zu sprechen, die in der Kirche des Altertums angefertigtwurden; von ihnen sagt er (B.T. 41) folgendes: „Die Zeichen, die mananfangs machte, waren nichts als die Bewegung der Hand, zur Stirngeführt oder in der Luft. Sie bestanden nicht aus einem materiellenStoff, aus Holz, Stein, Silber, Gold oder etwas ähnlichem. Der erste, dersolche aus Stoff machte, war Konstantin. Nachdem er einen bedeuten-den Sieg über Maxentius errungen hatte, machte er seine Reichsfahne inForm eines Kreuzes, reich mit Gold und Edelsteinen verziert.“ Ich be-wundere diese so dreiste Ignoranz. Wo ist einer, so wenig er im Alter-tum bewandert ist, der nicht wüßte, daß in den allerersten Anfängen derKirche die Heiden den Christen von allen Seiten den Gebrauch und dieVerehrung des Kreuzes vorhielten? Das hätten sie nie getan, hätten sienicht gesehen, daß die Christen Kreuze hatten.

In der Tat sagt Tertullian in seiner Apologie, daß man den Christenseiner Zeit vorwarf, daß sie das Kreuz schätzten und verehrten. Daraufantwortet er nur: „Qui Crucis nos religiosos putat, consectaneus nostererit cum lignum aliquod propitiatur: Wer uns für Verehrer des Kreuzes

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hält, wird unser Anhänger sein, wenn er irgendein Holz verehrt oderliebkost.“ Dann zeigt er, daß man in der Religion der Römer Holzstük-ke verehrte und hochschätzte, die sich nur wenig vom Kreuz unterschie-den; daß sich die Hersteller von Götzenbildern kreuzförmiger Werk-zeuge bedienten, um diese Götzenbilder zu machen; ebenso daß sie dieSiege feierten und das Innere der Trophäen (d. h. die Geräte, auf denenman die Trophäen trug) die Form des Kreuzes hatte; ebenso daß dieReligion der Römer, die ganz kriegerisch war, die Feldzeichen und Stan-darten verehrte, bei ihnen schwor und sie höher schätzte als alle Götter;daß die Tücher und Stoffe der Standarten gewissermaßen nur Mäntelund Kleider der Kreuze waren; und er schließt mit den Worten: „Ichlobe diesen Eifer; ihr wolltet nicht nackte und unverhüllte oder schmuck-lose Kreuze weihen.“ Dieser scharfsinnige Schriftsteller leugnet hiernicht, sondern gibt vielmehr zu, daß die Christen das Kreuz verehrten.Er macht zwischen den Kreuzen der Heiden und den unseren keinenanderen Unterschied als den, daß die unseren nackt und ohne Verzie-rung sind, die ihren mit verschiedenem Zierat verkleidet.

Ebenso und noch viel klarer spricht darüber Justin der Märtyrer inseiner zweiten Apologie. Er zeigt, daß man ohne das Zeichen des Kreu-zes nichts machen kann, und weiter, daß die Trophäen und Stäbe, dieman vor der Obrigkeit einhertrug, eine gewisse Ähnlichkeit mit demKreuz hatten; ferner, daß die Heiden die Bilder ihrer verstorbenen Kai-ser durch das Zeichen des Kreuzes weihten; und er schließt dann mitden Worten: „Da wir also aus gutem Grund, der selbst dem Zeichenentnommen ist, soviel wir können, diese Dinge mit euch tun, werden wirkünftig ohne Schuld sein.“ Justin bestätigt also, daß wir in der Frage,Kreuze zu machen, nichts weniger taten als die Heiden, obwohl das inverschiedener Absicht geschah; das führt er dann sehr gelehrt und aus-führlich aus. Dasselbe tut Minutius Felix.

Der hl. Athanasius, der zur Zeit Konstantin des Großen lebte, stelltim Buch der ‚Fragen an Antiochus‘ die Frage: „Warum machen dieGläubigen alle Kreuze, ähnlich dem Kreuz Christi, und machen keineNachbildungen der heiligen Lanze, des Rohres oder des Schwammes?Diese Dinge sind ja heilig wie das Kreuz selbst.“ Darauf antwortet er:„In der Tat verehren wir das Abbild des Kreuzes, das wir aus zwei Höl-zern zusammensetzen. Wenn einer der Ungläubigen uns vorwirft, wirbeteten das Holz an, können wir leicht die zwei Stücke Holz trennen,die Gestalt des Kreuzes auflösen, die zwei auf diese Weise getrenntenHölzer für nichts halten und diese Ungläubigen überzeugen, daß wir

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nicht das Holz verehren, sondern die Nachbildung des Kreuzes. Daskönnen wir nicht tun bei der Lanze, dem Rohr und dem Schwamm.“

Was spricht also dafür, daß Konstantin der erste gewesen sei, der dasKreuz aus dauerhaftem Stoff gemacht hat? Der hl. Athanasius bestätigtdoch, daß alle Gläubigen jener Zeit Kreuze aus Holz machten und sieverehrten, und er spricht davon wie von einer ganz allgemeinen undüblichen Sache. – Ich kann mich hier nicht des Hinweises auf den Be-trug des Traktanten enthalten. Er zitiert (B.T. 50) die Passage des hl.Athanasius und läßt ihn folgendes sagen: „Die Christen zeigten, daß sienicht das Kreuz verehrten, wenn sie gewöhnlich dessen zwei Hauptbe-standteile trennten und anerkannten, daß sie nur Holz waren.“ Der hl.Athanasius sagt doch im Gegenteil ausdrücklich, daß alle Gläubigendas Kreuz verehrten, nicht aber das Holz. Gewiß, die Reformatorenmachen uns da etwas Schönes weis.

In Wahrheit hätte der Traktant wenigstens bedenken müssen: wennKonstantin seine Reichsfahne in Form des Kreuzes machte, infolge derVision eines Kreuzes in der Gestalt, nach der er die anderen machenließ (wovon der Traktant selbst zugibt, daß es geschehen sein kann),dann war nicht Konstantin der erste, der das Kreuz in dauerhaftem Stoffanfertigte, sondern vielmehr Gott, der ihm das erste Muster davon gab,nach dem die anderen angefertigt wurden. Wenn dagegen Konstantinnicht auf die Offenbarung Gottes noch auf irgendeine Vision hin seinReichsbanner und viele andere Kreuze machen ließ, sondern vielmehraus Staatsräson, eine Auffassung, die dem Traktanten besser gefällt, dannnehme ich ihn beim Wort. Er sagt (B.T. 42): „Da er soeben zur Kaiser-würde erhoben worden war durch den Willen der Krieger, die ihn denAbkömmlingen Diokletians vorzogen, dachte er, das Mittel, sich in die-ser Würde gegen seine Rivalen und Gegner zu behaupten, sei, sich zumFreund der Christen zu machen, die Diokletian aufs äußerste verfolgthatte, und ließ aus diesem Grund Kreuze errichten, noch ehe er selbstChrist wurde.“

Ich nehme den Traktanten folgendermaßen beim Wort: Um sich zumFreund der Christen zu machen, ließ Konstantin mehrere Kreuze er-richten; folglich sahen es die Christen jener Zeit gern, daß man Kreuzeerrichtete. Und wer hatte sie bis dahin gehindert, solche wenigstens inihren Häusern und Oratorien aufzustellen? Und wie konnte Konstantinwissen, daß das Mittel, den Christen gefällig zu sein, in der Errichtungvon Kreuzen bestand, wenn nicht bekannt war, daß sie früher solcheerrichtet und verehrt hatten? In der Tat wären die Reformatoren nicht

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Freunde dieser frühen Christen gewesen, noch wäre ihre Lehre für christ-lich gehalten worden, da sie ihre Kreuze zerstören und ihnen einzure-den versuchen, es sei ein „Verfall“, daß ihr Gebrauch eingeführt wurde,und es „sei noch schlimmer, ihn beizubehalten“. Das sind die eigenenWorte des Traktanten (B.T. 58). Es ist zweifellos wahr, was er an andererStelle (B.T. 20f) sagt, was vom hl. Gregor von Nazianz überliefert ist,daß „die Wahrheit nicht Wahrheit ist, wenn sie es nicht ganz ist, und daßein kostbarer Stein seinen Wert verliert infolge eines einzigen Fehlersoder eines einzigen Fleckens“. Wenn das stimmt, dann wäre die christ-liche Lehre nach der Meinung dieses Mannes zur Zeit Konstantins nichtmehr rein gewesen, weil die Christen wünschten und gern sahen, daßman Kreuze errichtete, was nach seinen Worten ein Verfall, „eine krank-hafte und irrige Lehre“ ist.

Meiner Meinung nach ist es nicht wenig, dieses Geständnis der Fein-de des Kreuzes gewonnen zu haben, daß die Christen vor 1300 Jahren esliebten und wünschten, daß man Kreuze errichtete. Ich weiß aber nicht,wie man diesen Traktanten mit Calvin und den anderen Neuerern inEinklang bringen kann. Er sagt ja einerseits, zur Zeit Konstantins habees einen Verfall in der Kirche gegeben, und Calvin mit den anderenNeuerern ist der Auffassung, daß die Kirche bis zur Zeit Gregor desGroßen rein war. Denn Calvin sagt, wenn er vom hl. Irenäus, Tertullian,Origenes und vom hl. Augustinus spricht, „es sei eine bekannte undunbezweifelte Sache, daß von der Ära der Apostel bis zu ihrer Zeitkeine Änderung in der Lehre eintrat, weder in Rom noch in anderenStädten.“ Und der Traktant sagt selbst (ohne zu wissen, was er tat), wo ervon der Zeit des hl. Gregor spricht und die Einfalt der damaligen Chris-ten rügt (B.T. 27), daß „ihre Augen sich stark zu trüben und kaum nochim Dienst Gottes klar zu sehen begannen“. Seht ihr, wie er den Beginndes angeblichen Verfalls der christlichen Lehre zur Zeit des hl. Gregoransetzt? Doch was das Kreuz betrifft, hat er ihn den Christen zuge-schrieben, die zur Zeit Konstantin des Großen lebten. Sie macht er(und das ist die Wahrheit) zu großen Freunden der Errichtung von Kreu-zen, die er dann einen Verfall nennt. Soweit ich sehe, werden sie schließ-lich zugeben, daß unsere Kirche zur Zeit der Apostel ihren Anfang nahm.

Ich habe also nicht nur bewiesen, daß der Traktant ein Ignorant ist,weil er gesagt hat, Konstantin sei der erste gewesen, der Kreuze ausdauerhaftem Stoff machte, sondern auch, daß die Anfertigung von Kreu-zen bei den frühesten Christen geübt wurde, denn wir haben kaum ältereAutoren als Justin und Tertullian. Ich will noch sagen, daß man nach

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der Erinnerung unserer Vorfahren um das Jahr 1546 in der Nähe vonMeliapur auf einem kleinen Hügel, auf dem die Barbaren den heiligenApostel Thomas getötet haben sollen, ein sehr altes Kreuz fand, in ei-nen Steinquader eingelassen und von Blutstropfen benetzt, auf dessenHöhe sich eine Taube befand. Sie war in einen Steinsarg eingeschlossen,auf dem eine bestimmte alte Inschrift eingraviert war, die nach demBericht der erfahrensten Brahmanen den Bericht über das Martyriumdes heiligen Apostels enthält, und unter anderem, daß er sterbend die-ses Kreuz geküßt habe, was selbst die Blutstropfen bestätigen. DiesesKreuz wurde in eine Kapelle gebracht, die die Portugiesen an dieserStelle erbauten. Jedes Jahr um das Fest des hl. Thomas, sobald man dasEvangelium der heiligen Messe zu lesen anfängt, beginnt es Blut in gro-ßen Tropfen zu schwitzen und ändert die Farbe; es wird fahl, dannschwarz, darauf zeigt es sich himmelblau, sehr angenehm anzuschauen,schließlich kehrt es zu seiner natürlichen Farbe zurück, sobald man denGottesdienst beendet hat. Wenn es in manchen Jahren vorkam, daß die-ses Wunder nicht geschah, fühlten sich die Bewohner jener Gegend,belehrt durch die Erfahrung, von irgendeinem großen Unglück bedroht.Das ist eine ganz bekannte Sache, die sich vor den Augen des ganzenVolkes abspielt. Der Bischof von Kotschin hat eine ausführliche undauthentische Bestätigung mit einer Abbildung dieses Kreuzes am Be-ginn des heiligen Konzils von Trient geschickt.

Das ist ein ganz ausdrücklicher Hinweis, daß die Apostel selbst dasheilige Kreuz in Ehre hielten. Und wie der Apostel, der den Glaubenbei diesen Völkern einpflanzte, gleichzeitig den Gebrauch des Kreuzesdorthin brachte, so wollte Gott, um in dieser jüngsten Zeit hier dengleichen Glauben wieder zu begründen, ihr die Verehrung des Kreuzesempfehlen durch ein auffallendes Wunder von der Art, wie wir berichtethaben. So haben die Bewohner von Socotora, einer Insel im Roten Meer,die Christen waren und sind seit der Zeit, als der hl. Thomas dort pre-digte, außer anderen katholischen Zeremonien die Gewohnheit, einKreuz am Hals zu tragen und es sehr in Ehren zu halten. Nun, was ichweiter sagen will, wird noch lebhafter bestätigen, was ich vorher gesagthabe.

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3. Kapitel

Vom ehrwürdigen Alter der Bilder des Kreuzes.

Der Traktant, der so wenig wie möglich zugibt, was die kirchlicheÜbung bildet, hat geleugnet, daß es vor der Zeit Konstantins bei denChristen Kreuze gegeben hat; an anderer Stelle (B.T. 47) behauptet er,daß am Anfang und sogar zur Zeit des Theodosius „das Kreuz nichtswar als zwei gekreuzte Hölzer, daß es an ihm keinen Gekreuzigten gabund noch weniger die Jungfrau Maria, wie sich seither an manchen Kreu-zen auf der einen Seite das Bild des Gekreuzigten befindet und auf deranderen das seiner Mutter.“

Ich weiß nicht, was diesen Mann zu dieser Bemerkung veranlassenkann, denn was kann es ausmachen, daß man eher einfache Kreuze ge-macht hat als Bilder des Gekreuzigten? Es ist doch auch ganz sicher,daß man Kreuze nur gemacht hat, um den Gekreuzigten darzustellen.Dabei ist aber diese Bemerkung ganz falsch und würdig eines Mannes,der das Altertum verachtet. Der hl. Athanasius, der zur Zeit Konstan-tins lebte, schreibt eine Geschichte von der leidenschaftlichen Bosheiteiniger Juden in Beirut, die ein sehr altes Bild Jesu Christi kreuzigten,das sie bei ihnen gefunden hatten, in der Weise: Ein Christ hatte ineinem Mietshaus nahe der Synagoge der Juden gewohnt und hatte an derWand seinem Bett gegenüber ein Bild Unseres Herrn angebracht, dasseine Gestalt in Proportion darstellte. Nach einiger Zeit zog er von dortaus und ließ sich anderswo nieder. Als er seine Einrichtung dorthinbrachte, vergaß er das Bild mitzunehmen, nicht ohne geheime Fügungder göttlichen Vorsehung. Inzwischen zog hier ein Jude ein, ohne aufdieses Bild zu achten. Als er einen anderen Juden zum Essen einlud,wurde er deswegen sehr gescholten, und obwohl er sich entschuldigte,es nicht gesehen zu haben, wurde er beschuldigt und angeklagt alsschlechter Jude, da er ein Bild des Jesus von Nazaret besaß. Daraufkamen die Vorsteher der Juden in das Haus, in dem sich das Bild be-fand, rissen es herab und warfen es zu Boden, dann führten sie an ihmganz das gleiche aus, was mit Jesus geschehen war, als man ihn kreuzig-te, ja man ging so weit, ihm einen Lanzenstich in die Seite zu versetzen.O Wunder, augenblicklich beginnen Blut und Wasser hervorzukom-men und in großer Fülle zu fließen, so daß die Juden davon einen Krugvoll in ihre Synagoge bringen, und alle Kranken, die damit besprengtoder benetzt wurden, sind sogleich geheilt.

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Das ist der Bericht, den der hl. Athanasius davon gibt. Aus ihm kannman erkennen, daß dieses Bild das Bild des Gekreuzigten war; dies so-wohl deswegen, weil es für den Juden, der jenen verklagte, der es in sei-nem Haus hatte, schwer gewesen wäre, es sogleich als das Bild Jesu Chri-sti zu erkennen, wäre er nicht als der Gekreuzigte dargestellt gewesen;außerdem deswegen, weil sich die Juden die Kreuzigung Unseres Herrnnicht im einzelnen hätten vorstellen können, außer nach dem Bild einesGekreuzigten. Wie aus dem Bericht, den der Christ, dem das Bild gehör-te, in Gegenwart des Ortsbischofs gab, hervorgeht, war dieses Bild vonNikodemus eigenhändig angefertigt, der es Gamaliel überließ; Gamalielschenkte es dem hl. Jakobus, der hl. Jakobus dem hl. Simeon, Simeondem Zachäus. So ging es von Hand zu Hand und blieb in Jerusalem biszur Zeit der Zerstörung dieser Stadt, dann wurde es in das Reich Agrip-pas gebracht, in das sich die Christen Jerusalems zurückzogen, weil Agrip-pa unter dem Schutz der Römer stand. Es ist also nicht so, wie der Traktantsagt, daß die Bilder des Kreuzes erst zur Zeit Konstantins gemacht wur-den und daß damals und lange Zeit danach nicht der Gekreuzigte mitdargestellt wurde, denn ich sehe nicht, was er dieser Autorität entgegen-setzen könnte, um die falsche Leugnung und Vermessenheit zu erhärten.

In der Liturgie des hl. Chrysostomus ist nach der Übersetzung desErasmus der Priester angewiesen, eine Verneigung zu machen, wenn ersich dem Bild Jesu Christi zuwendet. Das beziehen die besten Kennermit gutem Grund auf das Bild des Gekreuzigten; denn welche Darstel-lung Jesu Christi kann man passender in der Kirche und selbst auf demAltar aufstellen als die des Gekreuzigten? Wer aufmerksam das Ge-dicht liest, das Lactanz über die Passion Unseres Herrn verfaßt hat,wird erkennen, daß er es bezieht auf den Augenblick der Darstellungdes Gekreuzigten, die sich gewöhnlich in der Mitte der Kirche befindet.Er läßt in poetischer Sprache Unseren Herrn zu denen sprechen, die dieKirche betreten. Der hl. Johannes von Damaskus, der vor 800 Jahrenlebte, spricht vom Bild des Gekreuzigten als von einer alten und recht-mäßigen Tradition. „Da nicht jeder schriftkundig ist und sich mit demLesen befaßt“, sagt er, „waren unsere Väter gemeinsam der Auffassung,diese Dinge, d. h. die Geheimnisse unseres Glaubens, sollten uns gleich-sam als Trophäen in Bildern dargestellt werden, um das Gedächtnis zuerleichtern und zu fördern. Denn sehr oft denken wir aus Nachlässigkeitnicht an die Passion Unseres Herrn; wenn wir aber die Darstellung derKreuzigung Unseres Herrn sehen, erinnern wir uns wieder der Passiondes Erlösers, knien nieder und beten nicht das Bild an, sondern jenen,

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den es darstellt.“ Das sind die Worte dieses großen Mannes, der etwasspäter fortfährt: „Das ist also eine nicht geschriebene Überlieferung,nicht mehr und nicht weniger als die Anbetung gegen Osten, die Vereh-rung des Kreuzes und viele andere Dinge, ähnlich denen, von denengesprochen wurde.“ Die Darstellung des Gekreuzigten war also schonzu jener Zeit angenommen als autorisiert durch eine sehr alte Gewohn-heit. Woher kommt also die Meinung des Traktanten und die Behaup-tung, daß man in alter Zeit den Gekreuzigten nicht mit dem Kreuzverband? Und welches Interesse kann er daran haben außer dem Ver-langen, der katholischen Kirche zu widersprechen? Die Darstellung desGekreuzigten ist ebenso zulässig wie die des Kreuzes.

Als der große Albuquerque Goa, die Hauptstadt Ostindiens, befesti-gen ließ und man einige Häuser abbrach, fand man an einer Mauer eineDarstellung des Gekreuzigten in Bronze. Dadurch gewann man mit ei-nem Schlag Kenntnis davon, daß die christliche Religion früher an die-sem Ort war, obwohl es keine Erinnerung daran gab, und daß bei denfrühen Christen die Darstellung des Gekreuzigten üblich war. Das warkein geringer Trost für diesen großen Feldherrn und seine Leute, diesesKennzeichen des Christentums an einem Ort zu sehen, der seit unvor-denklichen Zeiten des Evangeliums beraubt war.

Was die Beanstandung betrifft, daß man an manchen Kreuzen auf dereinen Seite das Bild des Gekreuzigten, auf der anderen das seiner Mutteranbringe, fällt es mir schwer zu verstehen, was er damit sagen wollte.Schließlich kann es sich nur um eines von zwei Dingen handeln: entwe-der beanstandet er die Kreuze, bei denen wir zu beiden Seiten des Ge-kreuzigten die Darstellung Unserer lieben Frau und des hl. Johannes desEvangelisten anbringen. Aber da wäre eine Beanstandung sehr ungerecht;denn wie es zulässig und angemessen ist, daß wir das Bild des Gekreuzig-ten haben, entsprechend der Übung selbst bei den frühesten Christen, soist es auch zulässig, Bilder Unserer lieben Frau und der Apostel zu haben.Dafür ist der hl. Lukas unser Gewährsmann, der nach dem Bericht desNicephorus Calixtus als erster das Bild des Erlösers, seiner Mutter, deshl. Petrus und des hl. Paulus malte. Wenn dem so ist, wo könnte man dieBilder Unserer lieben Frau und des hl. Johannes besser anbringen alsneben dem Erinnerungszeichen des Gekreuzigten? Das geschieht ja nur,um die Geschichte der Passion besser darzustellen; man weiß ja, daßdabei Unser Herr diese zwei erhabenen Personen nahe bei seinem Kreuzgesehen und sie einander anempfohlen hat (Joh 19,26f). Oder er sprichtvon manchen Kreuzen, wo er vielleicht auf der Rückseite des Kruzifixes

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irgendein Bild Unserer lieben Frau gesehen hat. Dann hat er sehr un-recht, wenn er aus den abweichenden Absichten der Graveure und Maleroder jener, die die Kreuze machen lassen, eine Folgerung gegen uns ablei-ten will. Denn tatsächlich ist diese Art von Kreuzen in der Kirche kaumgebräuchlich; ich will aber trotzdem nicht sagen, daß daran etwas Schlech-tes sei. In alter Zeit brachte man auf dem Kreuz und darum herum Tau-ben an; warum sollte man nicht gut ein Bild der seligsten Jungfrau oderirgendeines Heiligen anbringen? Ich habe welche gesehen, wo man aufder Rückseite des Kreuzes Lämmer hingesetzt hat, um Unseren Herrn zuversinnbilden, der als unschuldiges Lämmlein gekreuzigt wurde, wie esbei Jesaja (53,7) heißt; andere enthielten andere Bilder, nicht nur derseligsten Jungfrau, sondern auch des hl. Johannes, des hl. Petrus und an-derer. In diesem Fall dient das Kreuz auf dieser Seite nicht als Kreuz (alssolches dient es auf der Seite mit dem Gekreuzigten), es dient als Bild.Außerdem bildet man Unsere liebe Frau nicht am Kreuz mit UnseremHerrn ab, noch einen anderen Heiligen.

Übrigens fügt der Traktant (B.T.47) hinzu, man bringe das Bild Unsererlieben Frau hier an, „als wäre sie die Gefährtin der Leiden des Erlösersgewesen und hätte an der Erlösung des Menschengeschlechtes Anteil ge-habt.“ Das entspringt seiner Laune, sage ich, die verdorben ist durch denAusfluß einer bitteren, mürrischen Gemütsart, in der die Reformatorendie Handlungen der Katholiken zu beurteilen gewohnt sind. Denn wo wäreje der Katholik, der nicht wüßte, daß wir keinen anderen Erlöser haben alseinzig Jesus Christus? Wir stellen sehr oft Magdalena dar, die das Kreuzumfängt; wieso hat er davon nicht gesagt, wir glaubten, sie sei unsere Erlö-serin? Magen und Gehirn dieser Leute sind verdorben, sie verwandeln allesin Gift. Unsere liebe Frau wurde nicht gekreuzigt, aber sie war wohl beimKreuz, als ihr Sohn daran hing, denn wo der Schatz eines Menschen ist, daist sein Herz, und die Seele ist mehr da, wo sie liebt, als wo sie lebt. Gewiß,fast überall, wo im Evangelium von Unserer lieben Frau die Rede ist, findetman, daß sie mit ihrem Sohn und um ihn ist, vor allem in seiner Passion(Joh 19,25); daher wäre es nicht unbegründet, sie neben ihm am Kreuzdarzustellen, zwar nicht, als wäre sie für uns gekreuzigt, aber als diejenige,von der man mit viel größerem Recht als von jedem anderen sagen kann:Christo confixa est Cruci (vgl. Gal 2,19): sie ist an Jesus Christus am Kreuzangenagelt. Es war also die Wut, die der Traktant auf die Katholiken hat, dieihn daran hinderte, auf so viele gute und fromme Gründe zu achten, die indieser Tatsache liegen können, um eine so böswillige Vermutung gegenunsere Absichten auszusprechen.

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4. Kapitel

Das Bild des Kreuzes erschien Konstantin dem Großenund bei anderen Gelegenheiten.

Es ist ein vorzüglicher Beweis für die Ehre und Kraft der Abbildungdes Kreuzes, daß Gott der Allmächtige es wunderbarer Weise bei vielengroßen und hervorragenden Gelegenheiten erscheinen ließ und sich sei-ner bediente als Standarte, bald um die Gläubigen zu bestärken, baldum die Ungläubigen in Schrecken zu versetzen. Doch die Erscheinung,die Konstantin dem Großen zuteil wurde, war nicht ohne Grund diebekannteste und berühmteste bei den Christen, da Gott durch sie dasHerz dieses großen Kaisers rührte, um ihn das Christentum wählen zulassen. Sie war wie ein heiliges Signal für das Aufhören der Flut desBlutes der Märtyrer, von dem bis zu jener Stunde die ganze Erde über-flutet war. Außerdem wurde dieses Kreuz, das Konstantin gezeigt wur-de, das Modell einer Fülle von Kreuzen, die seitdem von den christli-chen Kaisern und Fürsten errichtet wurden.

Der Traktant hat das wahrgenommen, und um die Geschichte diesergroßen Erscheinung zweifelhaft zu machen, schwätzt er (B.T. 42): „Ob-wohl die christlichen Geschichtsschreiber von einer Erscheinung desKreuzes in der Luft mit den Worten: ‚Darin wirst du siegen‘ sprechen, istes so, daß der heidnische Geschichtsschreiber Zosimus davon nichts er-wähnt. Er lebte zu jener Zeit und erforschte die Taten Konstantins sehrgenau. Es ist auch offenkundig, daß die Kirchengeschichten davon unter-schiedlich berichten; denn Eusebius sagt, daß die Erscheinung am hellenMittag geschah, Sozomenes schreibt, daß das Kreuz Konstantin nachts imSchlaf erschien. Gott konnte dennoch dieses Wunder wirken, um die Be-kehrung dieses damals noch heidnischen Fürsten zu erleichtern; er hatdann auch viel zur Förderung der Glorie Christi beigetragen, durch wel-che Neigung er dazu auch bewogen wurde, denn einige Autoren bezichti-gen ihn großer Fehler.“ Das ist sein Geschwätz, durch das er die Erschei-nung des heiligen Kreuzes, die Konstantin zuteil wurde, zu verwischenglaubt, und das durch zwei Mittel: indem er einerseits den christlichenGeschichtsschreibern die Autorität des Heiden Zosimus entgegensetztund andererseits zeigt, daß zwischen christlichen Autoren ein Wider-spruch bezüglich dieser Tatsache bestehe. Pyrrho verstand im Vergleichmit diesem Traktanten nichts. Seine ganze Lehre besteht darin, alles inZweifel zu ziehen und zu erschüttern. Er bemüht sich um nichts anderes,

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als Unsicherheit hervorzurufen. Gewiß, er leugnet nicht, daß diese Er-scheinung wahrscheinlich ist, aber er will auch, daß sie wahrscheinlichfalsch sei.

Was nun Zosimus betrifft, weiß ich nicht, wieso er es wagt, ihn indieser Frage gegen die christlichen Autoren zu stellen; denn erstenssteht Zosimus ganz allein und kann keinen vollen Beweis liefern; zwei-tens leugnet er diese Erscheinung nicht, sondern schweigt nur darüber;drittens ist er suspekt, denn er war ein Feind des Kreuzes; viertens,obwohl er ein genauer Erforscher der Taten Konstantins war, war er eskeineswegs für die Wunder Gottes. Die Erscheinung des Kreuzes waraber ein Werk Gottes, nicht Konstantins. Ich bewundere die Tollheitdieses Starrsinns, der dem Schweigen oder Vergessen eines einzigenheidnischen Geschichtsschreibers die gleiche Autorität zuerkennt wieder Versicherung und dem ausdrücklichen Zeugnis so vieler bedeuten-der und gläubiger Zeugen. Wer kennt nicht die Albernheiten, die nachTacitus und anderen die heidnischen Geschichtsschreiber mit ihremEselskopf den Christen zugeschrieben haben? Ich überlasse es euch zudenken, ob sie sich ersparten, zu unserem Vorteil und Nutzen zu schwei-gen, da sie sich nicht ersparten, Fabeln zu erzählen und Geschichten zuerfinden, um das Christentum zu verhöhnen und zu beschimpfen. Wa-rum sollte Zosimus besser sein als die anderen?

Der Traktant will aber in dieser Geschichte der Erscheinung Eusebi-us in Gegensatz zu Sozomenes bringen, indem der eine sagt, sie habesich am hellen Mittag ereignet, der andere, nachts, als Konstantin schlief.Ich glaube, das ist ein Gegensatz, den er im Traum gesehen hat. Tatsäch-lich versichert Sozomenes an dieser Stelle ausdrücklich, daß er Eusebi-us folgt. Lassen wir ihn doch selbst sprechen: „Obwohl dem KaiserKonstantin mehrere andere Dinge widerfuhren, die ihn dazu führten,die christliche Religion annehmen zu wollen, haben wir dennoch erfah-ren, daß ihn vor allem eine Vision, die ihm von Gott zuteil wurde, dazubewog, es zu tun. Denn als er gegen Maxentius Krieg führte, begann er(was wahrscheinlich ist) bei sich zu zweifeln, welchen Ausgang dieserKrieg haben werde und wen er um Hilfe anrufen könnte. Als er sichdarüber Sorgen machte, sah er in einer Vision am Himmel das strahlen-de Zeichen des Kreuzes. Engel umgaben es und sagten ihm, der von derErscheinung ganz geblendet war: In diesem wirst du siegen, Konstantin.Man sagt auch, Jesus Christus selbst sei ihm erschienen, habe ihm dasAbbild des Kreuzes gezeigt und selbst befohlen, ein ähnliches machenzu lassen; er solle es als Hilfe in der Kriegsführung und als ein geeigne-

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tes Werkzeug, den Sieg zu erringen, gebrauchen. Eusebius mit dem Bei-namen Pamphilius versichert, daß er das aus dem Mund des Kaisersselbst gehört hat, und bestätigt es durch einen Eid, nämlich daß zurMittagszeit, als die Sonne sich zu neigen begann, sowohl der Kaiserselbst als auch das Kriegsvolk das Zeichen des Kreuzes am Himmelleuchten sahen, vom Glanz eines Lichtes gebildet, in dem die Inschriftstand: In diesem siege. Er hatte diese wunderbare Erscheinung, als ermit seinem Heer irgendwo auf dem Marsch war; und während er beisich überlegte, was das bedeute, wurde es Nacht. Da erschien ihm JesusChristus im Schlaf, mit dem gleichen Zeichen, das ihm am Himmelerschienen war, und gebot ihm, eine andere Standarte nach dem Musterdieses Zeichens zu machen; sie sollte ihm dienen als Schutz in denKämpfen, die er gegen seine Feinde zu führen hatte.“

Das sind sicher fast genau die eigenen Worte nicht nur des Sozome-nes, sondern auch seines Gewährsmannes Eusebius, so sehr stimmensie in diesem Punkt überein. Ich weiß, daß sich in dieser Frage eingroßer Gelehrter unserer Zeit geirrt hat,13 aber er verdient Nachsicht,denn das geschah mitten in einer mühsamen Aufgabe, und da ist esentschuldbar, wenn man manchmal schläfrig wird. Aber in dem so klei-nen Werk, in dem der Traktant seine Erwiderung formuliert und unsangreift, kann er diesen so offenkundigen Fehler nicht machen, ohnedaß er verdient, für einen Betrüger oder Ignoranten gehalten zu werden,obwohl er sich als Fachmann ausgibt.

Indessen zeigt er den Haß, den er gegen das heilige Kreuz hegt. Umseiner Ehre zu widersprechen, forscht er so neugierig, was Konstantinder Große für ein Mann war, und weckt Zweifel am Eifer, mit dem erder Ehre Gottes gedient hat. Konstantin wird von unseren Vorfahrenüberaus gelobt als Urheber der Ruhe für die Kirche, als „Fürst derchristlichen Fürsten“, wie ihn der hl. Paulinus nennt, als „ganz großesLicht aller Kaiser, die es je gab, und sehr erhabener Prediger der wahrenFrömmigkeit“, wie ihn Eusebius nennt. Nun soll er am Ende (wennGott es zuläßt) den Tadel und die Vorwürfe dieser reformierten Chris-ten über sich ergehen lassen, die schlimmer als Hunde das reinste undlauterste Leben der Väter der Christenheit zu besudeln trachten. „Eini-ge Autoren bezichtigten ihn großer Fehler“, sagt der Traktant. Hätte erdie Autoren und die Väter genannt, würde ich mich bemühen, den gro-ßen Kaiser von diesen ungerechten Beschuldigungen zu entlasten, ob-wohl das vom Weg meines Vorhabens abweichen hieße. Gewiß, ich weißwohl zum Teil, was man anführen könnte, um Konstantin einige Un-

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vollkommenheiten zur Last zu legen, ich will aber den Traktanten nichtim Glauben lassen, daß er mehr wisse, als ich sehe, und nicht vorausset-zen, daß er darüber mehr wisse, als er sagt, denn ich sehe ihn hier soleidenschaftlich bemüht, daß er es gewiß laut verkündet hätte, wenn erirgendeine Einzelheit wüßte.

Wohlan, da die Erscheinung gut bezeugt ist, die Konstantin zuteilwurde, ist daran alles bemerkenswert. 1. daß durch sie der Kaiser veran-laßt wurde, lebhaft die katholische Sache zu ergreifen, da Gott durchein zuverlässiges Zeichen das Kreuz bestätigte und im Kreuz das ganzeChristentum; die Anerkennung des Kreuzes und des Christentums ist jaein und dasselbe. 2. Obwohl Gott wollte, daß Konstantin seine Siegeseiner Freigebigkeit verdankte, wollte er doch, er sollte wissen, daß esdurch die Vermittlung des Zeichens des Kreuzes geschah. 3. Gott wollteKonstantin das Kreuz am Himmel erscheinen lassen nicht nur als Be-weis seiner Hilfe und Gunst, sondern auch als Muster und Modell, umauf Erden viele materielle Kreuze machen zu lassen. 4. Das Kreuz er-schien Konstantin nicht nur einmal, sondern zweimal, nämlich am Tagam hellen Mittag und noch einmal in der Nacht. Wenn das nicht bedeu-tet, den Gebrauch des Kreuzes zu billigen, dann gibt es nichts Aner-kanntes mehr. Aber über diese zwei Erscheinungen hinaus, die vonEusebius berichtet werden, bezeugt Nicephorus, daß dasselbe KreuzKonstantin außerdem zweimal erschien: einmal während des Kriegesgegen die Byzantiner mit der Inschrift: In diesem gleichen Zeichen wirstdu alle deine Feinde besiegen; das zweite Mal im Krieg gegen die Sky-ten. Soviel, was Konstantin betrifft.

Der hl. Cyrill von Jerusalem schrieb einen ausführlichen Brief anKaiser Konstans, den Sohn Konstantins, um ihm von einer berühmtenErscheinung des Kreuzes zu berichten, die am Himmel über dem Kalva-rienberg geschah. „An den Feiertagen dieses heiligen Pfingstfestes“, sagter, „ungefähr zur Zeit der Terz, erschien ein sehr großes Kreuz aus Lichtgebildet am Himmel über dem hochheiligen Berg von Golgota, das sichbis zum heiligen Ölberg erstreckte. Es wurde nicht nur von einer oderzwei Personen gesehen, sondern sehr deutlich dem ganzen Volk derStadt gezeigt; und nicht, wie vielleicht jemand meinen könnte, schnellvorübergehend wie in der Phantasie, sondern ganz offenkundig mehrereStunden über der Erde zu sehen, in leuchtendem Glanz, der die Strah-len der Sonne übertraf; denn wäre er von ihnen übertroffen worden,hätten sie die Erscheinung verdunkelt und verdeckt.“ Dann fährt er fortund sagt, „daß bei diesem Anblick sowohl die Christen als auch die

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Heiden Jesus Christus zu preisen begannen und anzuerkennen, daß dieüberaus gottesfürchtige Lehre der Christen vom Himmel göttlich bezeugtwurde durch dieses himmlische Zeichen, dessen sich der Himmel, als esden Menschen gezeigt wurde, überaus erfreute und rühmte.“ Sozomenesberichtet darüber ebenso und bestätigt, daß die Nachricht sogleich über-all verbreitet wurde durch den Bericht der Pilger, die von allen Enden derErde nach Jerusalem kamen, um dort ihre Andacht zu verrichten.

Als Julian Apostata eines Tages die Eingeweide eines Tieres beschau-te, um aus ihnen irgendeine Weissagung zu machen, erschien ihm einKreuz, das von einem Kranz umgeben war. Dazu sagte ein Teil der ganzerschrockenen Wahrsager, daran müsse man das Wachsen der Religionder Christen und ihre ewige Dauer erkennen, weil das Kreuz das Kenn-zeichen des Christentums sei und der Kranz das Sinnbild des Sieges undder Ewigkeit, zumal die runde Gestalt weder Anfang noch Ende habe,sondern ganz in sich geschlossen ist. Der Oberwahrsager dagegen weis-sagte, die christliche Religion sei gleichsam erstickt, sie könne nichtweiter wachsen, weil das Zeichen des Kreuzes wie eingeschlossen vomKreis des Kranzes begrenzt und eingeengt sei. So sehr versteht es derTeufel, bei jeder Gelegenheit auf seine Rechnung zu kommen. Nun, derAusgang zeigte, daß der Spruch der ersten richtig war.

Ein andermal wollte der gleiche Julian, die Juden sollten opfern. Daswollten sie nicht tun, außer am Ort des alten Tempels von Jerusalem.Da entschloß er sich, ihnen diesen bauen zu lassen, und steuerte großeBeträge aus dem kaiserlichen Schatz bei. Schon war das Material fürden Wiederaufbau bereitgestellt, da weissagte der hl. Cyrill, Bischofvon Jerusalem, nun sei die Stunde gekommen, in der die ProphezeiungDaniels (9,26f) sich erfüllen werde, die Unser Herr im Evangelium (Lk21,6) wiederholte, daß nämlich am Tempel von Jerusalem kein Steinauf dem anderen bleiben werde. In der folgenden Nacht bebte die Erdean diesem Ort so stark, daß alle Steine des alten Tempelfundamentsringsum zerstreut wurden und das vorbereitete Material mit den nächst-liegenden Gebäuden vollständig zerstört. Die Schreckenskunde von ei-nem so großen Unglück verbreitete sich in der ganzen Stadt, so daß vonallen Seiten viele an den Ort kamen, um zu sehen, was geschehen war.Und siehe, um das Wunder zu verdoppeln, ging von der Erde ein großesFeuer aus, ergriff, was für den Tempel vorbereitet war, und die Werk-zeuge der Arbeiter, und erlosch erst, als es sie vor den Augen des ganzenVolkes verschlungen hatte. Viele der bestürzten Juden bekannten, daßJesus Christus der wahre Gott ist, waren aber so in den alten Anschau-

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ungen ihrer Religion befangen, daß sie diese nicht aufgaben. Da ereig-nete sich ein drittes Wunder, denn in der folgenden Nacht erschienenKreuze aus leuchtenden Strahlen auf den Kleidern aller Juden. So hart-näckig sie am Morgen diese heiligen Zeichen von ihren Kleidern entfer-nen wollten durch Wasser und andere Mittel, es war ihnen nie möglichund viele wurden daraufhin Christen. Über all das hinaus erschien eingroßer Kreis am Himmel, in dem sich ein hell strahlendes Kreuz be-fand. Meine Gewährsmänner dafür sind Gregor von Nazianz, AmianMarcellinus, Ruffinus, Socrates, Sozomenes.

Ich könnte die übrigen Erscheinungen anführen, die der gelehrte Bel-larmin berichtet, so jene, die sich in der Luft zeigte, als der Kaiser Arka-dius gegen die Perser für den katholischen Glauben kämpfte, durch dieer göttliche Hilfe erfuhr; so auch jene der Kreuze, die zur Zeit des LeoIconomachus auf den Kleidern erschienen, als die Häretiker ihre Wutgegen die Bilder ausließen, und manche ähnliche, die die Schriftstellererwähnen. Aber was ich bisher gesagt habe, genügt, soweit es das Alter-tum betrifft. Wer mehr davon wissen möchte, lese das Büchlein vonAlfons Ciaconius ‚Über die Zeichen des heiligen Kreuzes‘.

In unserer Zeit, als sich der große Feldherr Albuquerque auf der InselCamarane befand, erschien ein großes, purpurrotes, hell strahlendes Kreuzauf der Seite des Königreichs Abessinien. Das ganze Heer der Portugie-sen, das sich in jenem Gebiet befand, sah es mit unglaublichem Trost. DieErscheinung dauerte einige Zeit, bis eine weiße Wolke sie den Blickenjener entzog, die sich vor Freude weinend nicht sattsehen konnten andiesem heiligen Zeichen der Erlösung. Darüber sandte Albuquerque balddarauf eine genaue schriftliche Bestätigung an seinen Herrn, den KönigEmmanuel von Portugal. Ebenso erschien dem Bericht von Gaspard Vilelazufolge, den er in einem Brief an seine Kameraden in Goa sandte, um dasJahr 1558 ein Kreuz in der Luft gegen Japan.

Beim Aufstand, den Pansus Aquitanus anzettelte gegen seinen älterenBruder Alfons, den König von Kongo, bald nachdem von den Portugie-sen der katholische Glaube in diesem Land begründet worden war, sahman eine große Menge aufständischer Soldaten fliehen vor einer klei-nen Handvoll Männer, die den König begleiteten. Als der General desPansus, der gefangengenommen wurde, darüber Rechenschaft gab, ver-sicherte er, daß am Beginn des Scharmützels in der Umgebung des Kö-nigs Männer erschienen, von ungewöhnlich erhabener Gestalt, verse-hen mit dem Zeichen des Kreuzes und umgeben von einem sehr hellenSchein, die sehr hart kämpften. Die Soldaten des Pansus waren darüber

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entsetzt und ergriffen sogleich die Flucht. Dadurch erkannte er, daß eskeinen anderen Gott gibt als den der Christen, und bat, daß man ihntaufe, ehe man ihn töte (denn er dachte, das werde man tun). Alfonsgewährte ihm die Taufe und schenkte ihm das Leben unter der Bedin-gung, daß er es dem Dienst im Heiligtum des heiligen Kreuzes weihe,das kurz zuvor in der Stadt Ambassa erbaut worden war.

Als Albuquerque die Stadt Goa zurückeroberte, fragten die Ungläu-bigen die Portugiesen sehr neugierig, wer der tapfere Feldherr sein moch-te, der ein schönes vergoldetes Kreuz und glänzende Waffen trug, derein solches Gemetzel anrichtete, daß die großen Scharen der Moham-medaner gezwungen waren, der kleinen Zahl der Christen zu weichen.Nun hatten die Portugiesen gewiß keinen Feldherrn, der so ausgerüstetwar. Das ließ sie erkennen, daß es eine himmlische Erscheinung war,durch die ihnen Gott beistehen und gleichzeitig ihre Feinde erschre-cken und aufreiben wollte.

Nach so vielen Erscheinungen des Bildes und der Darstellung desKreuzes, die Gott gewirkt hat und bis zur Vollendung der Welt bewir-ken wird, um die Freunde des Kreuzes zu trösten und dessen Feinde zuschrecken, am Tag des Jüngsten Gerichtes, wenn der Gekreuzigte aufdem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, umgeben von allen Heili-gen, wird er diese große Standarte von neuem erscheinen lassen, dasZeichen des Kreuzes, das dann erscheinen wird, wenn sich Sonne undMond in sehr großer Finsternis verstecken werden. Das sagt Unser Herrbei Matthäus (24,29f) mit so ausdrücklichen Worten, daß es unmöglichist, an dieser Wahrheit zu zweifeln, außer für jene, die sich dem Starr-sinn verschrieben haben. Alle alten Väter haben sie in allgemeiner Über-einstimmung fast genau so verstanden. Zu gepreßt und an den Haarenherbeigezogen ist die Auslegung, die man anwenden will, zu sagen, daßdann das Zeichen des Menschensohnes erscheinen wird, d. h. der Men-schensohn selbst, der von allen Seiten in seiner Majestät sichtbar seinwird als ein Zeichen. Man sieht auf den ersten Blick, daß sie nicht vonden Worten und Ausdrücken der Heiligen Schrift ausgeht und aus ihnenfließt, sondern von einem Vorurteil, dem man die heiligen Worte anpas-sen will. Das ist eine Auffassung, die nicht der Heiligen Schrift folgt,sondern sie für sich heranziehen will. Ganz klar und offenkundig sprichtder Erlöser vom Erscheinen seines Zeichens einerseits und von seinerAnkunft andererseits; er sagt: Dann wird das Zeichen des Menschensoh-nes am Himmel erscheinen; da werden alle Völker der Erde wehklagen;dann werden sie den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kom-

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men sehen mit großer Macht und Herrlichkeit (Mt 24,29f). Niemandkann bezweifeln, wie groß die Ehre ist, die dabei dem Kreuz zukommt,sowohl deswegen, weil es Zeichen des Menschensohnes genannt wird,und weil die Insignien, Wappen, Zeichen und Standarten der Fürstenund Könige hohe Ehre und Achtung verdienen, wie Sozomenes bezeugtund vor ihm Tertullian, und wie uns die Erfahrung selbst zeigt. Außer-dem weisen die Gelehrten des Altertums darauf hin, daß es die Gutentrösten wird, da es das Zeichen ihres Heils ist, und daß es die Bösenerschrecken wird, wie die Standarte eines siegreichen Königs, wenn sieauf der Mauer einer aufständischen Stadt aufgepflanzt wird; und um somehr noch, weil es die Trophäe des himmlischen Königs sein wird, auf-gerichtet auf dem höchsten Punkt des Tempels des Universums, hellund leuchtend, während das Licht selbst in seiner eigenen Quelle ver-dunkelt wird. Das bezeugen der hl. Cyrill, Hippolyt der Märtyrer undder hl. Ephräm; er sagt, es wird erscheinen und vor den König gebrachtals das Szepter und der Stab seiner Majestät.

Welcher Vorteil ist es doch für die Ehre und Kraft der Abbildung desKreuzes, daß Gott sich so oft ihrer bedient hat und bedienen wird, um dieSeinen zu trösten, seine Feinde zu schrecken, den Kaisern den Sieg zuverleihen, seinen eigenen Endsieg zu bezeugen, wenn er auf dem Thronseiner Majestät sitzen und alle seine Feinde mit Füßen treten wird.

5. Kapitel

Wie verbreitet einst der Gebrauch des Kreuzes war und wie es denGekreuzigten und den Glauben an ihn darstellt.

Der Traktant wagt nicht zu leugnen, daß die Darstellung des Kreuzesbei den Christen des Altertums allgemein gebräuchlich war; er sagt(B.T. 45f): „Man muß sich erinnern, wenn die Christen der Frühzeit dasKreuz gebrauchten in dem, womit sie umgingen, so geschah es, um vorallem zu verwirklichen, was der hl. Paulus sagte: Ich schäme mich desEvangeliums Christi nicht, denn je mehr sowohl alle Juden als auchHeiden über Christus spotteten, das Kreuz den einen ein Ärgernis undden anderen eine Torheit war, je mehr sie sich bemühten, es zu schmä-hen, um so mehr waren die Christen bestrebt, es auszuzeichnen. Des-halb setzten sie das Kreuz auf alle Gegenstände und an alle Orte alsEhrenzeichen. Dadurch zeigten sie in der Tat, daß sie teilhaben wolltenan der Schmach Christi, deren sie sich rühmten. Deshalb sagt der hl.

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Chrysostomus, daß ein solches Abzeichen mehr ehrte als alle Kronen undDiademe. Tatsächlich haben es die Kaiser und Könige an ihren Kronenund Szeptern angebracht, um dadurch um so mehr die Juden und dieHeiden zu beschämen und bloßzustellen ... Damit haben sie zugleichausgedrückt, daß das Kreuz der schöne und strahlende Baum ist, ge-schmückt mit dem Purpur des Königs und leuchtender als die Sterne.Theodoret schreibt im 27. Kapitel des dritten Buches seiner Geschichte,man habe überallhin das Kreuz gebracht, um den Triumph Christi zubezeugen. Indessen haben sie aber nichts dem Kreuz allein zugeschrie-ben oder seinem Zeichen, denn Konstantin erwies seinen Dank für denSieg, der ihm zuteil wurde, nicht dem Kreuz, sondern Christus. Er ließauch auf die Kreuze, die er errichtete, die drei Worte schreiben: JesusChristus siegt; so weit war er entfernt davon, daß er zum Kreuz gebetethätte. Und Helena betet den König an, nicht das Holz; denn das wäre einheidnischer Irrtum gewesen und eine arge Einbildung, sagt der hl. Am-brosius. In dieser Weise können die Christen das Kreuz verehren.“

Was könnte man dem Katholiken besseres sagen? Und was sagen wiranderes, als daß man das Kreuz verehren muß als Bekenntnis unseresGlaubens? Daß man es um so mehr auszeichnen muß, je mehr es seineFeinde verachten; daß man es an allen Gegenständen und an allen Or-ten anbringen muß als ein ehrenvolles Zeichen; daß es mehr ehrt undfolglich mehr Ehre verdient als die Diademe und Kronen; daß man esauf die Kronen und Szepter setzen muß; daß es ein schöner und strah-lender Baum ist, geschmückt mit dem Purpur des Königs und leuchten-der als die Sterne. Und was habe ich vorher anderes beteuert, als daßman nichts dem Kreuz allein zuschreiben darf und seinem Zeichen al-lein? Daß es nichts vermag außer als geheiligtes Werkzeug und heiligesInstrument der Wundermacht Gottes; daß das Kreuz nichts ist, wenn esnicht das Kreuz Jesu Christi ist; daß seine Kraft ihm nicht innewohnt,sondern es begleitet, d. h. Gott selbst. Wenn Konstantin im Kreuz ge-siegt hat, entsprechend der göttlichen Inschrift: In hoc signo vinces,dann geschah es durch Jesus Christus als den hauptsächlichen und ers-ten Wirkenden. Wenn er durch das Kreuz siegte, dann geschah es inJesus Christus als in der das Kreuz begleitenden Kraft. Und das Holzanzubeten ist eine ausgefallene Torheit:

Es ist nicht der Stein oder das Holz,was der Katholik anbetet,sondern der König, gestorben am Kreuz,der mit seinem Blut das Kreuz ehrt.14

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Wenn also der Traktant Wort hielte und fest beim Bekenntnis bliebe,daß die Christen das Kreuz in dieser Weise verehren können, vor allem,daß man das Kreuz überall trage, um den Triumph Christi zu bezeugen,wie er zugibt, daß man es dem Bericht Theodorets zufolge in der Früh-zeit gemacht hat, und daß man es an allen Gegenständen und Ortenanbringe als Ehrenzeichen, dann würde ich meinerseits mit allen Ka-tholiken bekennen, daß er die Kraft des Kreuzes und die Art seinerVerehrung recht verstanden und, wie er sich rühmt, Jesus Christus denGekreuzigten gepredigt hat. Aber der arme Mann bleibt kaum auf die-sem Pfad. Er hat das gesagt, um seinen Leser hinzuhalten, und wenn erzur Ausführung kommt, dreht er Stück für Stück alles um, was er be-hauptet hat, und widerspricht urteilslos allem, was er gesagt hat, mitmiserablen Ausnahmen und Einschränkungen.

Er hat gesagt, man könne das Kreuz an allen Orten und Gegenständenals ein ehrenvolles Zeichen anbringen. Um sein Wort in Ehren zurückzu-nehmen, teilt er jetzt alle Dinge in zwei Gruppen ein, in staatliche undnicht-staatliche, und dann schränkt er den allgemeinen Satz dahin ein,daß das Kreuz nur auf öffentlichen Dingen angebracht werden dürfe:„Wenn es sich darum handelt“, sagt er (B.T. 46f), „daß wir mit Juden oderMohammedanern verkehren, können wir unsere Abzeichen und mit demKreuz versehenen Waffen tragen, um den Ungläubigen offen zu zeigen,daß wir Christen sind und daß unsere Gegner Ungläubige und Irrgläubigesind. So kann man das Kreuz auch auf eine Münze gravieren, um zu zei-gen, daß sie im Land eines christlichen Fürsten geprägt ist. So kann dasKreuz an den Toren von Städten, Schlössern und Häusern angebrachtwerden, um klar und deutlich zu zeigen, daß sich die Bewohner dieserOrte zum Christentum bekennen. Ebenso war früher vorgeschrieben, daßdie Urkunden von Verträgen, die vor öffentlichen Notaren geschlossenwurden, das Zeichen des Kreuzes trugen, wie es im Buch des Codex heißt.Bei solchen öffentlichen Dingen lehnen wir den Gebrauch des materiel-len Kreuzes nicht ab.“ Das ist seine erste Einschränkung.

Die zweite ist, daß es nicht in den Kirchen angebracht werde: „Undschließlich ist es so weit gekommen“, sagt er (B.T. 48), „daß das Kreuzin Kirchen angebracht werde.“

Er hat gesagt, daß das Kreuz ein ehrenvolles Zeichen ist; doch um seinWort zurückzunehmen, sagt er dann (B.T. 48), man dürfe ihm keinerleireligiöse oder geistliche Ehre erweisen.

Er hat gesagt, daß die Alten das Kreuz an allen Gegenständen und anallen Orten anbrachten als ein ehrenvolles Zeichen und daß man es

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überallhin brachte, um den Triumph Christi zu bezeugen; und bald dar-auf läßt er dieselben Alten durch den Mund des Arnobius (B.T. 49)sagen: „Wir verehren keine Kreuze und wollen keine haben.“ Dieserkleine Traktant ist ein unbeständiger, wankelmütiger Mensch.

Indes veranlaßt er mich, der Reihe nach zu beweisen, daß das Kreuzan heiligen Gegenständen und namentlich an der Kirche angebrachtwerden kann und muß, daß es mit religiöser Verehrung zu verehren ist,daß die Alten es gewünscht und verehrt haben und daß es ein heilsamesMittel für die Menschen ist, was er (B.T. 53) ebenfalls schlecht findet.Vor allen Dingen werde ich aber kurz zeigen müssen, daß das KreuzJesus Christus den Gekreuzigten und seine Passion darstellt, damit ihnnicht die Laune überkommt, das Bild des Kreuzes in dieser Bedeutungzurückzuweisen, wie er es zuvor (B.T. 12) beim echten Kreuz getan hat.

Um damit zu beginnen: „Sehr oft“, sagt Johannes von Damaskus, „den-ken wir nicht an die Passion Jesu Christi (uzw. aus Nachlässigkeit);wenn wir aber die Darstellung seiner Kreuzigung sehen, erinnern wiruns wieder seiner Passion.“ Deshalb haben es alle Alten, nach JesusChristus selbst, das Zeichen des Gottessohnes genannt. Wie der hl. Hie-ronymus sagt, „besuchte Paula alle heiligen Stätten mit solcher Inbrunst,daß sie sich von den ersten nicht losreißen hätte können, hätte sie nichtdas Verlangen gehabt, die übrigen zu sehen. Sie kniete also vor demKreuz nieder und verehrte es, als hätte sie daran den Herrn angeheftethangen gesehen. Sie betrat das Grab und küßte den Stein der Auferste-hung, den der Engel weggewälzt hatte; sie berührte mit gläubigem Mundwie unendlich ersehntes Wasser die Stelle, wo der Leib des Herrn gele-gen hatte.“ Das ist ein sicheres Zeugnis, daß ihr das Kreuz den Gekreu-zigten darstellte.

Nicht jeder kann die heiligen Bücher lesen noch stets den Predigerhören; was aber die Heilige Schrift und der Prediger zeitweise und anbestimmtem Ort tun, tut das Kreuz bei jeder Gelegenheit, im Haus, aufdem Weg, in der Kirche, auf der Brücke, auf dem Berg. Das ist uns einevertraute und ständige Erinnerung an die Passion des Erlösers. JulianApostata warf den Christen vor, daß sie die Waffen Jupiters, sein Pferdund seine Schilde zurückwiesen, aber das Holz des Kreuzes anbetetenund das Kreuz auf ihre Stirn und ihre Häuser zeichneten. Um ihm zuantworten, macht ihm der hl. Cyrill eine schöne Aufzählung der haupt-sächlichen Artikel unseres Glaubens, dann fügt er hinzu: „Das heilsameHolz erinnert uns an alles und rät uns zu denken, daß nach den Wortendes hl. Paulus (2 Kor 5,14f) so wie einer für uns gestorben ist, ebenso die

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Lebenden nicht mehr für sich, sondern für den leben müssen, der gestor-ben und auferstanden ist.“ Der Traktant führt diese Stelle des hl. Cyrill(B.T. 37f) in dieser Weise an und gibt zu, daß das Kreuz, das die Chris-ten an ihren Häusern anbrachten, das Kennzeichen und öffentliche Zei-chen Jesu Christi war. Dieses Bekenntnis steht sehr im Widerspruch zudem, was er gesagt hat, daß die Passion Unseres Herrn nicht darstellbarsei.

So haben unsere Christen, wenn sie ein neues Land bei den Indernentdeckten, dort die Standarte Jesu Christi aufgerichtet, um es JesusChristus zu weihen. Als Pierre Alvarez Capral in Brasilien Fuß gefaßthatte, errichtete er ein sehr hohes Kreuz, nach dem das Land viele Jahredie Region des heiligen Kreuzes genannt wurde, bis das Volk den heili-gen Namen aufgab und es Brasilien nannte nach dem Brasilholz, dasman dort für die Malerei gewinnt. Und in alter Zeit, als man in Alexan-drien die Götzenbilder des Serapis zerstörte, die überall an Türen, Fen-stern, Pfosten und Mauern angebracht waren, setzte man nach dem Be-richt des Ruffinus an ihre Stelle das Zeichen des Kreuzes. Damals be-wahrheitete sich, was Jesaja (19,19f) vorhergesagt hat: An jenem Tagwird der Altar des Herrn mitten im Land Ägypten stehen und das Denk-mal des Herrn nahe seiner Grenze; es wird ein Zeichen und Zeugnis fürden Herrn und Gott der Heere im Land Ägypten sein.

6. Kapitel

Das Kreuz kann und soll bei heiligen Dingen gebraucht werden.

Es ist eine sonderbare Phantasie des Traktanten, wenn er es für gutfindet, daß man das Kreuz verwende bei staatlichen Dingen, nicht aberbei heiligen. „Man kann“, sagt er, „das Kreuz in die Münze gravieren, esvor den Städten, Schlössern, und Häusern aufrichten.“ Und wozu dasalles, ich bitte euch? „Um klar und deutlich zu zeigen“, antwortet er,„daß man Christ ist.“ Aber ist das keine religiöse Verwendung? Ist dasBekenntnis und die Beteuerung des Glaubens nicht ein rein christlicherAkt? In der Tat, wer das Kreuz weltlich auffaßte, dem stellte es nurUnglück und Fluch dar. Wenn daher der Gebrauch des Kreuzes nurreligiös sein kann, um gut zu sein, wo könnte es dann besser gebrauchtwerden als bei heiligen Dingen? Wenn das Kreuz gut angebracht ist vorden Städten und Häusern, um zu zeigen, daß die Bewohner dieser Orte

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sich zum Christentum bekennen, wird es dann nicht besser angebrachtsein in Kirchen und Heiligtümern, um zu zeigen, daß jene, die sich dortversammeln, sich zum Christentum bekennen, daß das christliche Stät-ten sind, nicht türkische Moscheen?

Übrigens brachten die Alten das Kreuz in Kirchen an, nach dem Zeug-nis des hl. Paulinus, das ich oben (1. Kap.) angeführt habe, der das offenbezeugt, und des Lactanz Firminian, an dessen Absicht man nicht zwei-feln kann, wenn man bedenkt, was er sagte.15 Das kann man meinerMeinung nach folgendermaßen (ins Französische) übertragen:

„Der du über die Schwelle in die Mitte dieses Tempels kommst,laß deine Augen ein wenig auf mir ruhen, betrachte mich;halte mich vor allem fest in deinem beflissenen Herzen,der ich unschuldig bin und gestorben für deine Sünde.Ich bin jener, der mitleidigen Herzens und Augesden elenden Zustand des Menschen betrachtendzur Erde herabstieg als Botschafter des Friedens,allgemeine Vergebung bringend für die Frevel.Hier erstrahlt ein reines Licht von obenund das Bild und die Gestalt des Heils der Menschen.Ich bin für dich ganz sichere Ruhe,der gerade und sichere Weg, der wahrhafte Loskauf,Standarte und Banner des großen furchtbaren Gottesund das hervorragende Zeichen dieses Tempels.“

Wer sieht nicht, daß er das Bild des Gekreuzigten in der Mitte derKirche vorstellt, das den mahnt, der eintritt? Dazu sage ich dasselbe, wasich von der Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus berichtet habe. Dergute Vater Nylus gibt in einem Brief, der auf dem zweiten Konzil vonNicäa vorgelesen wurde, dem Olympiodorus den Rat, an die Ostseite derKirche das Kreuz zu setzen und an die Wände zu beiden Seiten die Ge-schichten des Alten und Neuen Testaments. Sophronius oder vielmehrJohannes Moscus Eviratus berichtet von einem Goldschmiedlehrling,der den Auftrag hatte, ein goldenes Kreuz anzufertigen, das der Kircheübergeben und geschenkt werden sollte. Er verwendete dazu außer demGewicht des Goldes, das man ihm übergab, eine bestimmte Menge vonseinem eigenen. Als der Auftraggeber des Kreuzes feststellte, daß es schwe-rer war, glaubte er, der Lehrling habe das Feingold, das er ihm gab, ver-tauscht oder verfälscht, und wurde sehr ungehalten. Aber der Junge sagteihm als wahre und heilige Entschuldigung, er habe keine Möglichkeitgehabt, aus eigenem ein ganzes Kreuz anzufertigen, um es Gott zu schen-

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ken, deshalb habe er wenigstens das Wenige verwenden wollen, was erhatte, um jenes, das er für ihn herstellte, schöner und größer zu machen;in ihm sei übrigens nur feines Gold. Diese Antwort gefiel dem Auftragge-ber des Kreuzes, der keine Kinder hatte, so gut, daß er ihn adoptierte.Anastasius Sinaiticus bestätigt in der Rede ‚De sacra sinaxi‘ ganz klar, daßes üblich war, daß sich das Kreuz in Kirchen befand. Nach dem Zeugnisdes gelehrten Baronius starb er vor tausend Jahren (599).

Es war also üblich, Kreuze in Kirchen zu haben, vor allem seit dasKaiserreich unter Konstantin christlich geworden war, denn vorher wares nicht so leicht möglich. Als Konstantin ein Bronzekreuz errichtenließ, sagt der Traktant (B.T. 43), „stellte er es nicht in einem Tempel auf,denn damals dienten die Tempel Roms noch für die heidnischen Göt-zenbilder“. Er bleibt stets bei seiner lästerlichen Unterscheidung desheidnischen und christlichen Idols. Es ist indessen wahr, daß die Chris-ten zur Zeit dieser Verfolgung wenige geweihte Kirchen hatten und ihreZusammenkünfte hielten, wo sie konnten. Nachdem aber die Kirchevon den Tyrannen befreit war, sah man, daß das Kreuz überall öffentlichgezeigt wurde: „in Häusern, auf Plätzen, an abgelegenen Orten, am Weg,auf Bergen, in Tälern, auf dem Meer auf Schiffen, auf Inseln, über demBett, auf Kleidern und Waffen, in Zimmern über dem Ehebett; bei Gast-mählern, auf Silber- und Goldgefäßen, auf Perlen und Wandgemälden,bei kranken Tieren und am Leib vom Teufel Besessener; in Krieg undFrieden, bei Tag und Nacht, in Versammlungen edler Weltleute und inden Reihen der Mönche; so sehr verlangte jedermann, diese wunderba-re Gabe für sich zu besitzen. Es ist eine große Gnade; keiner wird irre,keiner schämt sich, wenn er denkt, daß es ein Zeichen schmachvollenTodes war, sondern jeder wünscht sich mit ihm mehr als mit Kronen,Diademen oder vielen Halsketten und in Gold gefaßten Edelsteinen zuschmücken. Man flieht nicht vor ihm, es ist vielmehr begehrt und be-liebt, jeder zählt darauf; es erstrahlt überall und ist zu finden an Wändender Häuser, auf Gipfeln, in Büchern, in Städten, auf Straßen, an be-wohnten und unbewohnten Orten.“

Das sind die Worte des großen hl. Chrysostomus. Er hätte wahrhaftignicht eine so große Zahl von Orten und Gegenständen aufzählen kön-nen, an denen das Kreuz angebracht wurde, wäre die Kirche zu seinerZeit nach dem Muster der Reformation der Hugenotten gestaltet gewe-sen. Könnte man wohl von Genf, von Rochelle und ähnlichen Städtensagen, was der hl. Chrysostomus von seiner Zeit sagt? Dort sehen wirkein Kreuz aufgerichtet, weder an den Stadttoren noch vor den Häu-

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sern, Schlössern und Burgen, auf Verträgen und Testamenten. Man hatsie im Gegenteil zerstört und entfernt, soviel man konnte. Wozu dientalso das Gerede, sie lehnten das materielle Kreuz nicht ab an solchenweltlichen Gegenständen? Noch viel weniger wenden sie es bei krankenTieren und am Leib vom bösen Geist Besessener an, denn das hieße dieKraft des Kreuzes anerkennen und es zu heiligem Gebrauch anwenden.Ebensowenig haben sie es bei Reigen und Versammlungen von Welt-leuten und in den Reihen der Mönche.

Es ist also nicht in unserer Zeit noch gestern so weit gekommen, daßdas Kreuz in Kirchen angebracht wurde, wie der Traktant anscheinendbehaupten will.

7. Kapitel

Das Kreuz wurde verwendet bei Sakramenten und Prozessionen.

Ich muß meine Meinung sagen über die Absicht des hl. Chrysosto-mus, wenn er sagt, daß „das Kreuz öffentlich gezeigt wurde bei Reigenund Umzügen edler Weltleute und in den Reihen der Mönche: in chorisdelicatorum et monachorum ordinibus“. Das bringt mich nicht vonmeinem Weg ab. Ich glaube, er will von den Prozessionen von Weltleu-ten und Mönchen sprechen, weil mich sowohl die eigenartigen Aus-drücke, die er verwendet, zu dieser Auffassung einladen, und weil manim Altertum und besonders zu seiner Zeit bei den Prozessionen Kreuzetrug. Die Arianer hatten für ihre Sekte Hymnen und Gesänge verfaßtund ließen sie bei ihren Prozessionen abwechselnd singen, besondersbei Feierlichkeiten am Sonntag und Samstag. Der hl. Chrysostomusbefürchtete, daß auf diese Weise manche aus seinem Volk angelocktwürden (manche ließen sich zu diesen äußeren Besonderheiten verlei-ten, ohne die Grundlage und den Wert der Sache zu prüfen, wie diePsalmen Marots beweisen). Daher leitete er sein Volk zu einer ähnli-chen Singweise an, und innerhalb kurzer Zeit übertrafen die Katholikendarin die Häretiker, nicht nur an Zahl, sondern auch an Prunk, denn dieBilder und Zeichen des Kreuzes aus Silber gingen mit brennenden Fak-keln voraus, und der Hofmeister der Kaiserin hatte den Auftrag, Psal-men und Hymnen gegen Entgelt verfassen zu lassen. Diese Tatsacheberichtet Sozomenes. Man trug also damals bei den Prozessionen sil-berne Kreuze und brennende Fackeln.

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Eine große Pest suchte einst Deutschland heim und versetzte die gan-ze Nachbarschaft in Schrecken. Die Bewohner von Reims in der Cham-pagne nahmen ihre Zuflucht zu Gott durch die Fürsprache des hl. Re-migius. Sie nehmen Schmuck von seinem Grab, entzünden eine Füllevon Kerzen und Fackeln, und halten eine allgemeine feierliche Prozes-sion mit Kreuzen durch alle Winkel der Stadt unter dem Gesang vonHymnen und heiligen Gesängen. Was ereignete sich? Die Seucheherrscht rund um die ganze Stadt, aber gerade als sie den Ort erreicht,wo die Prozession gehalten wurde, wagt sie nicht nur nicht einzudrin-gen, so als hätte sie hier die Schranken und Grenzen ihrer Macht gese-hen, vielmehr wurde auf diese Weise auch zurückgedrängt, was es schonan Ansteckung gab. Der hl. Gregor von Tours, der vor fast tausend Jah-ren lebte, ist dafür mein Gewährsmann. So haben die Kaiser durch Ge-setz angeordnet, daß das Kreuz durch dazu Abgeordnete in Prozessiongetragen und dann an einen passenden, ehrenvollen Ort zurückgebrachtwird. Das veranlaßt mich, den Worten des hl. Chrysostomus den Sinn zugeben, den ich genannt habe.

Nun haben die Alten das Kreuz nicht nur in Kirchen und Prozessio-nen getragen, sondern sie weihten die Kirchen mit ihnen und stellten sieauf die Altäre. „Unser Gekreuzigter“, sagt der hl. Augustinus, „ist vomTod erstanden und in den Himmel aufgefahren; er hat uns das Kreuz alsAndenken an seine Passion hinterlassen; er hat sein Kreuz hinterlassenzum Heil. Dieses Zeichen ist ein Bollwerk für die Freunde und einSchutz gegen die Feinde. Durch das Geheimnis dieses Kreuzes werdendie Unwissenden im Glauben unterwiesen; durch dasselbe Zeichen desKreuzes empfangen die Getauften die Gnadengaben; durch die Hand-auflegung mit dem Zeichen desselben Kreuzes weiht man die Basiliken,konsekriert man die Altäre, vollzieht man das Sakrament des Altares;durch die Worte des Herrn empfangen mit ihm die Priester und Levitendie Weihen und in seiner Kraft werden allgemein alle Sakramente derKirche vollzogen.“ Das ist das Zeugnis des hl. Augustinus, denn selbstwenn diese Predigt nicht vom hl. Augustinus wäre, wie der Traktant(B.T. 32) einwendet (was gewiß sehr schwer zu beweisen ist gegen deneigenen Titel und die Überschrift), so ist doch diese Stelle vom hl. Au-gustinus, denn er sagt ganz dasselbe in seinen Abhandlungen über denhl. Johannes, die zweifellos von ihm sind. „Schließlich“, sagt er, „was istdas Zeichen Jesu Christi, das jeder kennt, wenn nicht das Kreuz JesuChristi? Wenn dieses Zeichen nicht auf die Stirn der Gläubigen ge-macht wird, oder über das Wasser selbst, durch das sie wiedergeboren

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wurden, oder über das Öl, mit dem sie gesalbt sind, oder über das Opfer,mit dem sie genährt wurden, so wird nichts von all dem rechtmäßigvollzogen. Wie soll daher nichts Gutes dadurch bezeichnet werden, wasdie Bösen tun, da uns durch das Kreuz Christi, das die Bösen gemachthaben, alles Gute angezeigt und in der Feier dieser Sakramente besie-gelt wird?“ Ob also die Predigt, die ich angeführt habe, vom hl. Augusti-nus ist oder von seinem Schüler Fulgentius oder von irgendeinem, so istdoch der Ausspruch, den ich daraus zitiert habe, vom hl. Augustinus.

Der hl. Chrysostomus hat schon früher das gleiche gesagt mit denWorten: „Tragen wir freudigen Herzens das Kreuz Jesu Christi wieeine Krone, denn alles, was uns zum Heil dient, wird in ihm vollzogen;denn wenn wir wiedergeboren werden, ist das Kreuz Christi da; wennwir gespeist werden mit seinem allerheiligsten Leib, wenn wir erwähltsind, um die Weihe zu empfangen, stets ist uns dieses Siegeszeichengegenwärtig. Bringen wir daher das Kreuz mit großer Liebe in dieHäuser und an die Wände (ihr seht, ich spreche vom Zeichen und Bilddes Kreuzes), in die Fenster, macht es auf die Stirn und im Geist, dennes ist das Zeichen, unseres Heils ...“ Und wenig später spricht er nochimmer vom Kreuz und sagt: „Man darf es nicht einfach mit dem Fin-ger auf dem Leib machen, sondern im Geist mit großem Glauben;denn wenn du es auf diese Weise deiner Stirn aufprägst, wird keinerder bösen Dämonen, wenn er die Lanze sieht, durch die er die tödlicheWunde empfangen hat, dich anzugreifen wagen.“ Das wiederholt er ananderer Stelle mit den Worten: „Dieses verfluchte und schauderhafteZeichen der Todesstrafe, nämlich das Kreuz, ist erhabener gewordenals die Kronen und Diademe, denn das Haupt wird durch eine Königs-krone nicht so geschmückt wie durch das Kreuz, das würdiger ist alsjedes Ehrenzeichen. Und wovor man einst Abscheu hatte, dessen Dar-stellung sucht man mit solchem Eifer, daß man es überall findet, beiFürsten und Untergebenen, bei Männern und Frauen, Jungfrauen undEheleuten, Sklaven und Freien. Jeden Augenblick bezeichnet sich je-der mit ihm, indem er es auf unserem edelsten Körperteil formt, dennman zeichnet es stets auf die Stirn wie auf eine Säule. So leuchtet es aufdem Tisch, so bei der Priesterweihe, so auch und von neuem auf demmystischen Mahl mit dem Leib Jesu Christi. Man sieht, daß es überallgeehrt wird ...“

Wer sieht also nicht, wie ausdrücklich der hl. Augustinus und der hl.Chrysostomus bezeugen, daß das Kreuz zu allem angewendet wurde, inallen heiligen und geweihten Dingen, die nicht als solche betrachtet

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würden, wären sie nicht mit dem Kreuz bezeichnet. Doch der hl. Augu-stinus weist besonders darauf hin, daß das Kreuz notwendig war beimSakrament des Altares, das er das Sakrament nennt, mit dem die Chris-ten genährt werden. Dasselbe sagt der hl. Chrysostomus darüber: DasZeichen des Kreuzes, sagt er, ist uns gegenwärtig, „wenn wir mit demallerheiligsten Leib gespeist werden, und es leuchtet auf dem heiligenTisch und von neuem beim mystischen Mahl mit dem Leib Jesu Chri-sti“. Könnte man deutlicher sprechen?

Doch merken wir an, der hl. Chrysostomus sagt, daß es „auf dem hei-ligen Tisch leuchtet“, und außerdem sogleich hernach, daß es „von neu-em auf dem mystischen Mahl mit dem Leib Jesu Christi leuchtet“. Mirscheint nämlich, damit will er sagen, daß das Kreuz sich nicht nur aufdem heiligen Altar oder Tisch befand (entsprechend der Weisung fürdie Priester in seiner Liturgie, sich dem Bild Jesu Christi zugewendet zuverneigen, und entsprechend dem Bericht des hl. Paulinus, daß man dasBild des Kreuzes nahe beim Altar anbrachte, wie ich oben gezeigt habe),sondern auch, daß das Bild und die Gestalt des Kreuzes auch der aller-heiligsten Speise der Eucharistie aufgeprägt war. Bei den Vorbereitun-gen der Liturgie oder Messe des hl. Chrysostomus, die von Leo Tuscusüberliefert ist, muß der Diakon mit einer Lanzette das Zeichen des Kreu-zes auf das zu konsekrierende Brot machen, und wenn es zur Zelebrati-on kommt, ist bestimmt, daß man die Brote in Kreuzesform auf denAltar legt. Das erörtert selbst Nicolas Cabasilos ausführlich in der Er-klärung der Liturgie.

Ich weiß, daß es in dem, was ich gesagt habe, mehrere Punkte gibt, diesich auf das einfache Kreuzzeichen beziehen, aber viele können nurverstanden werden vom Kreuz, das aus beständigem Stoff gemacht ist,so wenn es heißt, daß man das Kreuz anbrachte an Häusern, an Wänden,in Fenstern, auf dem heiligen Tisch, und daß man mit seinem heiligenZeichen die Basiliken weihte: Nun, ich habe nicht zu trennen gewagt,was meine Gewährsmänner verbunden haben.

Indessen darf man nach dem Glauben des Altertums offensichtlichkeine Schranke aufrichten zwischen dem Kreuz und den religiösen Ge-genständen. Es ist ein großer Jammer, daß man sie bei einem Stolzenund schlecht Unterrichteten nicht niederreißen kann. Calvin hat gesagt,„die Autorität der Kirche des Altertums hat bei uns einigen Einfluß.Wir stellen fest, daß in einem Zeitraum von ungefähr 500 Jahren, wäh-rend das Christentum in seiner Blüte stand und die Lehre die größteReinheit besaß, die Tempel der Christen rein und frei von dieser Besu-

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delung waren“. So spricht er von den Bildern Jesu Christi und der Hei-ligen und sagt kurz darauf, „wenn man ein Zeitalter mit dem anderenvergleicht, verdient wohl die Lauterkeit jener, die sich der Bilder bega-ben, höher geschätzt zu werden im Vergleich mit der Verderbnis, diedann folgte. Ich bitte euch, wo ist denn einer, der meinte, diese heiligenVäter hätten die Kirche bewußt einer Sache beraubt, die für sie nützlichund heilsam ist?“

Die bedauernswerten Hugenotten haben das vom Vater ihrer Refor-mation gelernt. Man hat ihnen tausendmal gezeigt, daß das eine falscheBehauptung war und daß es in den ersten 500 Jahren, ja sogar in denersten 300 Jahren Bilder in den Kirchen gab. Sie sagen trotzdem sounverschämt wie nie, das Altertum habe in den Kirchen keine Bilderangebracht. Nachdem ich aber bezüglich der Darstellung des Kreuzesdas Gegenteil gezeigt habe, kann ich sagen: Ich bitte euch, wo ist einer,der dächte, diese heiligen Väter Chrysostomus, Augustinus, Paulinushätten etwas eingeführt, was sie als unnütz und verderblich erkannt hät-ten? Aber das beste ist, daß sie nicht nur von ihrem Tun Zeugnis geben,sondern auch von der Übung der Christen ihrer Zeit. So erließ KaiserJustinian folgendes Gesetz: „Wenn der Bischof eine Kirche oder einKloster weiht, weihe er den Ort Gott, indem er an ihm das Zeichenunseres Heils aufrichtet (wir meinen das wahrhaft anbetungswürdigeund ehrwürdige Kreuz); so beginne er den Bau, indem er ein so gutesund gediegenes Fundament legt.“ Er sagt dasselbe an mehreren Stellenund will, daß man vor dem Bauen stets „venerabilem et sanctissimamCrucem, das ehrwürdige, hochheilige Kreuz“ aufpflanze. Was könnteman zu all dem bei so großen Gewährsmännern sagen?

Um nicht ganz stumm zu erscheinen, erwidert der Traktant (B.T. 50):Als Epiphanias „durch einen Ort namens Anablatha kam und eine Kir-che betrat, in der ein Schleier hing, farbig bemalt mit einem Bild wieJesus Christus oder irgendein Heiliger, da riß er den Schleier in Stücke,weil das gegen die Heilige Schrift verstieß. Das ist ausführlich zu lesenin seinem Brief, der vom hl. Hieronymus übersetzt wurde“. Nun, daraufantworte ich: 1. Dieser letzte Teil des Briefes, den der Traktant anführt,ist keineswegs vom hl. Epiphanias, sondern eine fremde Ausschmük-kung. Das ergibt sich daraus, daß der Sinn des Briefes ohne diesen Teilganz gut abgeschlossen war, daß er in keiner Weise den Stil des hl. Epi-phanias oder des hl. Hieronymus zeigt; außerdem haben die Bilderstür-mer, die alle möglichen Zeugnisse der alten Väter, namentlich des hl.Epiphanias anführten, wie auf dem zweiten Konzil von Nicäa dargelegt

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wurde, nie diesen Teil des Briefes zitiert, der vom hl. Hieronymus über-setzt wurde. 2. Ich antworte: In diesem Teil heißt es, das auf den Schleiergemalte Bild sei das eines Menschen gewesen, hangend wie Jesus Chris-tus oder irgendwer, im Gegensatz zur Heiligen Schrift. Es könnte alsosein, daß dieses Bild im Gegensatz zur wahren Geschichte der PassionUnseres Herrn gemalt war, auf irgendeine anstößige Weise, daß der hl.Epiphanias sich nicht vergewissern konnte, wen es darstellte, und rechthatte, es zu zerreißen. Aber was sagt das alles gegen die Darstellungendes Kreuzes und des Gekreuzigten, die die wahre Passion Unseres Herrndarstellen, wie sie in der Heiligen Schrift beschrieben ist? Wenn einBischof in irgendeiner Kirche seines Amtsbereichs das Bild eines Ge-kreuzigten fand, auf dem Unser Herr nicht angenagelt, sondern mit Strik-ken am Kreuz festgebunden war, wie man es infolge des Fehlers derMaler auf einigen Bildern sieht, tut er dann nicht seine Pflicht, wenn erein solches Bild zerreißt und zerstört? Und muß man deswegen sagen,er verwerfe den Gebrauch von Bildern, die richtig und gut gemalt sind?

Von ähnlicher Beweiskraft ist das Zeugnis des Konzils von Elvira, dasder Traktant (B.T. 54) zitiert, in dem es heißt, „man dürfe in der Kirchekeine Gemälde haben, damit nicht verehrt und angebetet werde, was andie Wände gemalt ist“. Ich sage nämlich 1. Es kann sich in irgendeinerProvinz eine Situation ergeben, in der man verbieten muß, daß es in denKirchen Bilder gibt, so wenn die Ungläubigen, Mauren, Türken undHäretiker die Kirchen plündern, die Bilder zerstören und aus Verach-tung gegen das, was sie darstellen, schänden; dann ist es doch nur gut,ihnen jede Möglichkeit und Gelegenheit dazu zu nehmen. Ich sage 2.: InAnbetracht des Grundes, der hier für das Verbot durch das Konzil vonElvira angeführt wurde, erstreckt es sich nicht auf bewegliche Bilder,sondern nur auf solche, die an und auf die Wände gemalt sind; undvielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn man sich an dieses Verbothielte, denn solche Bilder unterliegen der Gefahr, verdorben, zerstörtund ausgelöscht zu werden, nicht ohne Mißachtung ihres heiligen undgeheiligten Gebrauchs. Das ist der Grund, den das Konzil angibt: „Nequod colitur aut adoratur in parietibus pingatur; daß nicht, was verehrtund angebetet wird, an die Wände gemalt werde.“ 3. sage ich: Da manden eigentlichen Beweggrund des Konzils, das nur eine Provinzialsyn-ode von 19 Bischöfen war, nicht genau kennen kann, ist es nicht ver-nünftig, es der allgemeinen Übereinstimmung und Übung der Kirchedes Altertums entgegensetzen zu wollen, die Bilder in Kirchen zuließ,wie ich oben nachgewiesen habe. Wer aber darüber hinaus etwas bezüg-

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lich der beiden Einwände wissen will, der lese bei jenen nach, die dieKontroverse über die Bilder behandelt haben.

8. Kapitel

Das Kreuz war dem ganzen Altertum ehrwürdig.

„Wenn es darum geht, Entartungen zu reformieren, muß man demWort Jesu Christi im 19. Kapitel des hl. Matthäus folgen: Am Anfangwar es nicht so. Wenn daher am Anfang, als die Kirche rein und dieLehre unverfälscht war, das Zeichen des Kreuzes nicht gemacht, wennes nicht aufgerichtet, gegrüßt und verehrt wurde, war es sehr schlecht,diese Entartung einzuführen (man kann sie nicht gut einen Brauch nen-nen), und ist es noch schlimmer, daran festzuhalten.“ Das ist eine Be-hauptung des Traktanten (B.T. 57), auf die ich folgendermaßen antwor-te: Wenn man am Anfang, als die Kirche rein war, das Zeichen desKreuzes gemacht, es aufgerichtet, gegrüßt und verehrt hat, dann hat mansehr schlecht daran getan, die Anmaßung einzuführen (man kann sienicht gut Reformation nennen), das Zeichen des Kreuzes zu zerstören,es zu verachten und zu entehren. Das tat man am Anfang gewiß nicht.

Wie die Reformatoren zugeben, war die Kirche in den ersten 500Jahren rein, und wenn man dem Traktanten glauben muß, begannen erstzur Zeit des heiligen Papstes Gregor die Augen der Christen „sich zutrüben und kaum noch klar im Dienst Gottes zu sehen“ (B.T. 27). Sehenwir also, wie man sich damals zur Ehre des Kreuzes verhielt, und wirwerden finden, daß die Heiden die Christen als Schmähung „Verehrerdes Kreuzes, religiosos Crucis“ nannten. Tertullian leugnet das in seinerAntwort keineswegs, sondern gibt es zu. Dasselbe tut Justin der Märty-rer. Der hl. Athanasius sagt darüber folgende zutreffende Worte: „In derTat, wir verehren die Nachbildung des Kreuzes, die wir aus zwei Höl-zern herstellen.“ Diese Zeugnisse habe ich oben (2. Kap.) mit vielenanderen zitiert.

Nun lebten diese großen Männer in der Blütezeit der Kirche; von ihrsagt der hl. Thomas und der hl. Bonaventura, daß die Verehrung desKreuzes und anderer Bilder eine apostolische Überlieferung war. Siesahen, daß sie zugleich mit dem Christentum begann; und wenn manvon Jahrhundert zu Jahrhundert bis zur Zeit der Apostel zurückgehe,finde man eine ständige Beobachtung. Daher hielten sie sich an die

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Regel des hl. Augustinus, die lautet: „Man glaubt sehr zu Recht, daßdas, woran die ganze Kirche festhält und was nicht durch die Konzileeingeführt wurde, nur durch die Autorität der Apostel eingesetzt ist.“Der hl. Johannes von Damaskus hatte lange Zeit vor ihm darüber ganzdasselbe gesagt: „Es ist eine ungeschriebene Überlieferung“, sagt er,„ebenso wie die Anbetung gegen Osten, nämlich das Kreuz zu verehren...“ Das sind seine Worte. Und wo der hl. Basilius, noch viel früher, vonJesus Christus, von seiner Mutter und seinen Aposteln, von den Prophe-ten und Märtyrern spricht, sagt er, man „halte die Geschichte ihrer Bil-der in Ehren und verehre sie ganz offen, denn weil das von den Apostelneingesetzt wurde“, sagt er, „darf man das nicht verbieten, sondern wirbringen in all unseren Kirchen ihre Geschichte an.“

Das zweite Konzil von Nicäa behandelt die Verehrung des Kreuzesund der Bilder und schließt mit den Worten: „Das ist der Glaube derApostel, das ist der Glaube der Väter.“ Und dasselbe Konzil zitiert denBrief des seligen Vaters Nylus an den Prokonsul Olympiodorus, dereine Kirche bauen wollte. Darin rät er ihm, einzig und allein das Bildam heiligen Ort gegen Osten anzubringen. Nun, wer wüßte nicht, daßdie Christen in alter Zeit gegen Osten anbeteten? Dieser Vater wolltedaher, daß das Kreuz an der Stelle angebracht werde, gegen die mananbetete. Wie Sozomenes berichtet, bildete Konstantin sein Reichsban-ner in Form des Kreuzes, weil die Soldaten gewohnt waren, dieser Stan-darte ihre Ehrenbezeugung zu erweisen, damit sie sich auf diese Weisedurch den ständigen Anblick und die Verehrung des Kreuzes allmäh-lich daran gewöhnten, das Heidentum zurückzuweisen und den Glau-ben Jesu Christi anzunehmen. Der hl. Chrysostomus nennt das Kreuz„mehr als aller Verehrung würdig: omni cultu digniorem“ und bestimmtin seiner Liturgie, wie ich oben gesagt habe, daß der Priester bei derAnkunft am Altar dem Kreuz die Reverenz erweise.

Der hl. Augustinus bestätigt, obwohl man ehedem die Verbrecher kreu-zigte, habe man trotzdem zu seiner Zeit nicht mehr gekreuzigt. „So istdas Kreuz ehrwürdig und hat sein Ende gefunden“, sagt er. „Es hat seinEnde gefunden als Strafe, aber es bleibt in Ehren und ist von den Stättender Todesstrafe übergegangen zur Stirn der Kaiser.“ Auch der Traktantgibt (B.T. 47) zu, die Verbrecher wären „durch eine solche Todesstrafegeehrt“ gewesen. Deshalb bat der selige Apostelfürst, der hl. Petrus,bevor er gekreuzigt wurde, daß man ihn mit den Füßen nach oben kreu-zige, da er sich für unwürdig hielt, auf gleiche Weise wie sein Meistergekreuzigt zu werden, wie der hl. Hieronymus sagt. Auch der hl. Doro-

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theus erwähnt das. Der hl. Andreas, sein älterer Bruder, konnte dasKreuz, an dem er hangen sollte, nicht genug grüßen und liebkosen, sosehr fühlte er sich geehrt, dieses Todes zu sterben; das bezeugen diePriester von Achaia in dem Buch, das sie über sein Martyrium verfaß-ten.

Es war nun Konstantin, der die Todesstrafe des Kreuzes abschaffte,„weil er das Kreuz sehr verehrte, sowohl wegen der Hilfe, die er in seinerKraft in den Kriegen erfahren hatte, als auch wegen der göttlichen Er-scheinung, die er von ihm hatte“, wie Sozomenes sagt. Er sagt darüberetwas sehr Bemerkenswertes, wenn man es in Zusammenhang bringt miteiner Stelle bei Eusebius in der Lebensbeschreibung Konstantins. Euse-bius bestätigt, ehe Konstantin die Schlacht gegen Lucinius schlug, zog ersich außerhalb des Lagers in das Zelt des Kreuzes zurück mit einer gewis-sen Anzahl der Ergebensten seiner Umgebung, um Gott zu bitten undsich seiner Barmherzigkeit zu empfehlen. Das pflegte er bei ähnlichenGelegenheiten zu tun. Sozomenes andererseits schreibt, der große Kaiserhabe ein Zelt nach Art einer Kirche oder Kapelle machen lassen, das erimmer mitführte, wenn er in den Krieg zog, damit sowohl er als auch dasHeer einen Ort hatten, an dem man Gott lobte, ihn bat und die heiligenGeheimnisse empfangen konnte, denn die Priester (sacerdotes) und Dia-kone begleiteten in dieser Absicht stets dieses Zelt. Wer sieht nun nicht,daß das Zelt des Kreuzes, von dem Eusebius berichtet, nichts anderes warals die tragbare Kirche oder Kapelle, die von Sozomenes bezeugt wird?Es gab also im Lager Konstantins eine Kirche des heiligen Kreuzes, undnicht nur das Kreuz war in der Kirche, sondern die Kirche selbst war Gottgeweiht unter dem Titel des Kreuzes: ein großer Beweis für die Vereh-rung, die man zum Kreuz hegte.

In gleicher Absicht erließen die Kaiser Theodosius und Valerian fol-gendes Gesetz: „Da wir vor allem große Sorge tragen, die Religion derhöchsten Gottheit zu erhalten, soll es niemand erlaubt sein, das Zeichendes Erlösers Jesus Christus zu gravieren oder zu zeichnen, sei es auf dieErde, sei es in einen Stein oder Marmor, der auf die Erde gelegt wird.“Das geschah, weil sie wollten, daß sich das Kreuz an einem ehrenvollenPlatz befand, nicht auf dem Boden, wo es mit Füßen getreten werdenkonnte; solche Hochachtung hatten sie vor diesem heiligen Abbild. Sonennt es Justinian das hochheilige und ehrwürdige Kreuz. Sedulus, einsehr früher Dichter, spricht von der Ehre des Kreuzes folgendermaßen:

„O Kreuz, er war dein Friede, und durch seinen so würdigen Leibhat er deine Härte mehr denn je berühmt gemacht.

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Er hat deine Schande mit solcher Ehre bedeckt,daß deine Marter (o wundersame Kraft)sicherste Gewähr unseres Heils ist,beseligend die Qualen, deren Schmerz er erlitt.Wer will daher leugnen, daß wir zu ehren verpflichtetdas Bild des Kreuzes, oder wer kann es nicht kennen?Da unser großer Meister es zum Triumph geführtund es tragend erscheinen läßt aus gutem Grund,wie die Welt geteilt ist in vier Teile,im Kreuz sich alles findet als Inbegriff.“

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Prudens, ein noch älterer Gewährsmann, bestätigt, daß die christlichenKaiser das Kreuz verehrten:17

„Man sieht in Rom das Kapitol verwirrt,daß Jesus durch seine Könige als Gott gerühmt wird.In Kirchen sieht man ganz zur Erde gebeugtden Purpur der Römer demütig ausgebreitet,und der höchste Herrscher der Welttief verehrt die Fahne und das Zeichen des Kreuzes.“

Auf diese Gewohnheit der Kaiser bezieht sich der Rat, den der hl. Re-migius dem König Chlodwig gab:18

„Milder Sikambrer,beuge den Nacken, senke die Augen,verbrenne, was du angebetet, bete an,was du verbrannt hast.“

Das heißt, er wollte ihn für das Christentum empfänglich machen, dener die Götzenbilder verbrennen und das Kreuz verehren hieß.

Aber ich bitte euch, worauf zielte denn der Hohn‚ den die Heidengegen die Christen aussprachen? Er wird von Minutius Felix wiederge-geben im 11. Buch, das denen des Arnobius angefügt ist: „Hier sindStrafen für euch, Qualen und Kreuze, nicht um sie zu verehren, sondernzu erdulden.“ Setzt das nicht die Verehrung voraus, die die Christendem Kreuz erwiesen, die dazu führte, daß man ihnen die Worte vorhielt:„Ecce vobis supplicia, tormenta, et jam non adorandae, sed subeundaecruces“? Das genügt, um den Traktanten zu überführen, der zu sagenwagte, zur Zeit der reinen und ursprünglichen Kirche habe man dasKreuz nicht aufgestellt noch verehrt, oder was alles auf eines hinaus-kommt, man dürfe ihm keinerlei religiöse Verehrung erweisen; dennauf welche andere Ehre kann sich das beziehen, was ich bisher vorge-bracht habe?

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9. Kapitel

Wie das Kreuz gegrüßt wird und ob es angerufen wird.

Der Traktant begnügt sich nicht damit, im allgemeinen gesagt zu haben,man dürfe das Kreuz nicht verehren und es zu keinerlei religiösem Ge-brauch anfertigen; er geht auch dazu über, der Kirche Vorwürfe zu ma-chen wegen bestimmter Ehrenbezeigungen, die man dem Kreuz erweist,die nach seiner souveränen Meinung nichts anderes sind als Götzendienstund rasender Aberwitz. Er beklagt sich daher (B.T. 48) folgendermaßen:

„1. Es ist so weit gekommen, daß man das Kreuz in Kirchen gebrachthat; es wurde gegrüßt mit den Worten: O Crux ave, d. h. Wohl dir, Kreuz.Das sind alberne Worte. 2. Es wird unverzüglich angerufen mit denWorten: Auge piis justitiam reisque dona veniam, d.h. Vermehre denGuten die Gerechtigkeit und gewähre den Schuldigen Vergebung. 3.Item, Crucem tuam adoramus, Domine, d. h. Dein Kreuz, Herr, betenwir an. Das sind blasphemische Worte, denn solche Worte müssen anJesus Christus gerichtet werden; Jesus Christus ist der Sohn, der geküßtwerden muß, nicht das Holz seines Kreuzes ... (B.T. 50): Da aber dierömische Kirche sich an das materielle Kreuz wendet, ist das offenkun-dig unerträglicher Götzendienst. 4. Damit es nicht scheint, man tue ihrUnrecht mit solchen Worten, sind hier die Ausdrücke, die sie gebrau-chen, wenn sie das Holz des Kreuzes segnen (B.T. 51):19 Herr, segnegnädig dieses Holz des Kreuzes, damit es ein Heilmittel sei für dasMenschengeschlecht, Festigung des Glaubens, Förderung guter Werke,Erlösung der Seelen, Schutz gegen die unerbittlichen Angriffe der Fein-de. Item: Wir beten dein Kreuz an. Item: Kreuz, das du angebetet wer-den mußt, Kreuz, das du betrachtet werden mußt, liebenswert für dieMenschen, heiliger als alle, du allein hast verdient, den Schatz der Weltzu tragen; süßes Holz, süße Nägel, die süße Last getragen, rette die hierzu deinem Lob versammelte Gemeinde. Item: Treues Kreuz, unter al-len einzig würdiger Baum. Kein Wald bringt einen solchen hervor anZweigen, Blüten, Samen. Das süße Holz trägt süße Nägel und eine süßeLast. 5. (B.T. 52) Von gleicher Machart ist das sogenannte FranzösischeGebet, das man in fast allen Horen liest; ich habe es wenigstens gelesenunter denen, die Michel Jove 1568 in Lyon gedruckt hat, die für Rombestimmt sind; hier sind seine Ausdrücke:

Heiliges, wahrhaftig angebetetes Kreuz,das mit dem Leib Gottes geschmückt war

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und von seinem Schweiß reichlich benetztund von seinem Blut gerötet;durch deine Kraft, durch deine Machtbewahre meinen Leib vor schlimmem Übelund gewähre mir nach deinem Wohlgefallen,daß ich nach rechter Beichte sterben könne.

6. Nicht nur das Kreuz wird auree, d. h. angebetet genannt, sondernauch der (Kar)freitag wegen der Anbetung des Kreuzes an diesem Tag ...

7. (B.T. 53) Ähnliche Torheiten und Blasphemien werden begangenbezüglich der Lanze. Das Fest der heiligen Lanze wird am Freitag nachder Oktav von Ostern gefeiert und man richtet an sie folgendes Gebet:Wohl dir, siegreiches Eisen, das eindringend in die Seite des Lebens diePforte des Himmels öffnet; glückselige Lanze, verwunde unser Herzmit der Liebe dessen, der von dir durchbohrt wurde.“

Das sind die spitzfindigen Untersuchungen, die der drollige Traktantanstellt, um die Katholiken zu überführen, sie seien „von Sinnen, desGötzendienstes schuldig geworden und stupider als das Holz“ (B.T. 52f),denn so behandelt er uns. Beza hat ihm den Weg gewiesen in seinen‚Kennzeichen der Kirche‘, die ihm der große Geist de Spondes so gutausgelöscht hat, daß er mich der Verdrießlichkeit enthoben hätte, indieser Frage zu antworten, hätte ihn nicht Gott der Verdrießlichkeitdieser Welt entheben wollen, ehe sein Werk vollendet war. Deshalb ant-worte ich dem Traktanten, Beza und ihresgleichen, indem ich die Vor-würfe, die sie in dieser Beziehung vorbringen konnten, vornehme unddie Gründe nenne, warum sie nicht annehmbar sind.

1. Sie finden es nicht gut, daß man das Kreuz anredet, daß man esgrüßt, und noch weniger, daß man es anruft, weil es weder Gefühl nochVerstand hat. Aber unter diesem Gesichtspunkt müßte man sich auchüber die heiligen Propheten lustig machen, die an tausend Stellen ihrWort an gefühllose Dinge gerichtet haben. Tauet, Himmel, den Gerech-ten, Wolken regnet ihn herab; die Erde öffne sich und lasse den Erlösersprossen (Jes 45,8). Höre, Himmel, was ich sage (Dtn 32,1). Ich rufeHimmel und Erde zu Zeugen an (Jes 1,2). Preist, Sonne und Mond, denHerrn (Dan 3,62). Lobt ihn, Sonne und Mond (Ps 148,3). Was hast du,Meer, daß du fliehst, und du Jordan, daß du zurückweichst? (Ps 114,5).Sobald der hl. Andreas das Kreuz erblickte, an dem er gekreuzigt wer-den sollte, brach er in den heiligen Ruf aus: „Gutes Kreuz, du hast deineZier von den Gliedern meines Herrn empfangen; langersehntes, vielge-

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liebtes, unaufhörlich erstrebtes und schließlich meinem sehnenden Geistbereitetes, nimm mich auf von den Menschen und gib mich meinemMeister, damit Er mich annehme durch dich, der mich durch dich los-gekauft hat.“ Die fromme Paula betrat den Stall, in dem Unser Herrgeboren wurde, und seufzte unter Freudentränen: „Ich grüße dich, Bet-lehem, Haus des Brotes, in dem das Brot geboren ist, das vom Himmelherabstieg; ich grüße dich, Efrata, überaus fruchtbare und ertragreicheGegend, deren Fruchtbarkeit Gott ist.“ Lactanz sprach eines Tages vonder Auferstehung und sagte: „Salve festa dies, toto venerabilis aevo: Ichgrüße dich, festlicher Tag, der allen Zeiten ehrwürdig ist.“

Das sind Ausdrucksweisen, die den Seelen geläufig sind, die von einerlebhaften Empfindung ergriffen werden. Wer wüßte nicht, wie viele An-reden und Vermenschlichungen bei den verschiedensten Menschen all-gemein gebräuchlich sind? Und gibt es eine größere Torheit, als schließ-lich ähnliche Ausdrücke zu beanstanden? Und welche Gefahr kann inder Redeweise liegen:

Schenke den Guten Vermehrung der Gerechtigkeit,vergib den Sündern ihre Missetat?

Sie hat ihr Vorbild und Modell in der Heiligen Schrift und in tausendWendungen der ältesten Väter als Gewähr. Der Tau, den Jesaja vomHimmel erbittet, ist nichts anderes als der Erlöser, und David fordertFeuer und Hagel, Schnee und Eis auf, Gott zu loben, ebenso der hl.Andreas das Kreuz, daß es sich an seinen Meister wende. Aber das istihnen ebenso unmöglich, wie den Sündern zu vergeben.

Obwohl nun in all diesen Redewendungen die Worte an das Kreuz, anden Himmel, an den Schnee und ähnliche leblose Dinge gerichtet wer-den, geht doch die Anrufung über sie hinaus und bezieht sich auf Gottund den Gekreuzigten. Hier ist ein bezeichnendes Beispiel: Josua (10,12f)wünscht, daß Sonne und Mond stillstehen und in ihrem Lauf einhalten;an wen wendet er sich zu diesem Zweck, ich bitte euch? Der Absicht nachrichtet er seine Bitte in Wahrheit an Gott: Tunc locutus est Josue Domino,in die qua tradidit Amorrhaeum in conspectu filiorum Israel: Da sprachJosua zum Herrn am Tag, als der Herr vor den Augen der Söhne Israels denAmoriter preisgab. Das war seine Absicht, die unmittelbar auf Gott ge-richtet ist; seine Worte aber reichten nur bis zur Sonne und zum Mond:Dixitque coram eis: Sol, contra Gabaon ne movearis, et luna contra vallemAialon: Und er sprach vor ihnen: Sonne, bewege dich nicht gegen Gibeon,und du Mond, gegen das Tal von Ajalon. Das sind die Worte, die an Sonneund Mond gerichtet sind, und da ist die Wirkung, die nur von der Hand

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Gottes ausgeht: Stetit itaque sol in medio coeli, et non festinavit occumbe-re spatio unius diei; non fuit postea et antea tam longa dies, obediente Deovoci hominis: Also stand die Sonne still mitten am Himmel und eilte nichtunterzugehen einen Tag lang, und es war kein Tag so lang je vorher undnachher, da Gott der Stimme des Menschen gehorchte oder beistand. DasGebet „Schenke den Guten Vermehrung der Gerechtigkeit“ ist also nurder äußere Klang der Worte, der sich an das Kreuz wendet, die innereAbsicht wendet sich durchaus an den Gekreuzigten. Wenn Josua die Son-ne bittet, daß sie in ihrem Lauf einhalte, heißt das Gott bitten, daß er siestillstehen lasse. Wenn wir das Kreuz bitten, daß es den Sündern vergebe,heißt das den Gekreuzigten bitten, daß er uns durch seine Passion verzei-he. Wenn die Worte ihrer eigentlichen Bedeutung nach schlecht gewähltsind, sind sie durch die Absicht jener, die sie aussprechen, dennoch rich-tig gemeint, und es gibt nichts Ungebührliches, weil diese Redeweiseüblich und vertraut ist und recht verstanden wird von denen, die nichtstreitsüchtig oder übel gesinnt sind.

2. Daher habe ich hinreichend auf die Beanstandung des Traktantengeantwortet, daß man das Kreuz grüßt und anruft, folglich auch darauf,was er anführen kann über das Gebet in französischem Reim, von demer sagt, es stehe in den Horen, die „zum Gebrauch von Rom“ gemachtsind. Ich bewundere nur diese zartfühlende Seele; nachdem er behaup-tet hat, dieser Reim finde sich „fast in allen Horen“, erklärt er sein„fast“ mit den einzigen, die von Michel Jove 1568 gedruckt wurden;und um noch törichter zu sein, will er einen plattfranzösischen Reim inden Offizien von Rom in Gebrauch setzen. Weiß er nicht, daß man inRom nicht französisch spricht, vor allem nicht beim Offizium? DerSchmähsucht geht es nur darum zu reden, es ist ihr nicht wichtig, zuwissen, wie. Nun will er die Verleumdung verstohlen durchbringen, weildie Buchhändler sehr oft mit den Horen verbunden Traktate und Gebe-te im gleichen Band vereinigen, sehr oft unpassend, ohne Erlaubnis undGrund. Er wagt es zwar, die Werke des hl. Augustinus zu beurteilen undeinige Teile davon zu verwerfen, da sie in Stil und Würde nicht mit denanderen übereinstimmten, obwohl sie unter der gleichen Überschriftenthalten sind; aber er hat nicht erkannt, daß diese französischen Verseund andere Gebete dieser Art nicht zum Offizium und zu den Horenvon Rom gehören? Er ist ein Dummkopf, wenn er das nicht bedacht hat;er ist ein Lügner, wenn er es bedacht hat. Indessen spreche ich vondiesem Vers nicht in dieser Weise, weil ich der Meinung wäre, er be-inhalte eine Sinnwidrigkeit, denn er enthält nichts, was nicht einen gu-

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ten Sinn hätte, wie hinreichend aus dem hervorgeht, was ich vorhergesagt habe.

3. Dasselbe sage ich von der Verehrung, die manche in der HeiligenWoche und an den weißen Freitagen üben, die der Traktant (B.T. 60f)anführt und anzuschwärzen versucht. Das sind Beanstandungen, die sei-ner würdig sind und in keiner Weise die katholische Kirche betreffen,denn diese Andachtsformen haben keinerlei öffentliche Autorität, nochsind sie mit den Horen als ein Teil von ihnen verbunden. Unsere appro-bierten Kalendarien erwähnen weder weiße noch schwarze Freitage.Eine Dummheit hört nicht auf, eine zu sein, weil sie gedruckt ist oderam Schluß irgendwelcher schöner Bücher hinzugefügt ist. Ich will aberdennoch nicht sagen, daß der Kern dieser Andachtsformen schlecht sei;vielleicht gibt es dabei gewisse Umstände, die eher leichtfertig als schlechtsind; aber es ist eine unerträgliche Selbstgefälligkeit, innerhalb einerernsthaften Auseinandersetzung nach solchen Kleinigkeiten zu suchen.

10. Kapitel

Titel und ehrende Ausdrücke, die die Kirchefür das Kreuz gebraucht.

4. Der Traktant und Beza finden es nicht gut, daß wir sagen: Crucemtuam adoramus, Domine: Herr, wir beten dein Kreuz an; denn manmuß den Sohn küssen, sagen sie, nicht das Kreuz. Da ich im viertenBuch noch ausführlicher darauf antworten werde, sage ich: Das Kreuzanzubeten ist bei den Christen kein anderer Mißstand als bei den Judendie Anbetung der Bundeslade. Ich habe oben (I,5) gezeigt, daß sie esgetan haben. Dasselbe gilt davon, es zu küssen, so wenig wie die Spitzendes Stabes Josefs zu küssen, wie nach der wahrscheinlichen AuffassungJakob (Gen 47,31) getan hat, oder den des Artaxerxes, wie gemäß derHeiligen Schrift Ester (5,2) getan hat. Ich sage, die ganz reine Kirchehat es angebetet und für anbetungswürdig gehalten, wie ich nachweise,und hat es auch geküßt, wie der hl. Hieronymus bezeugt in der Homilieüber die Anbetung des Kreuzes. Ich sage, man küßt aus Ehrfurcht denFürsten und König hinreichend, wenn man den Saum seines Mantelsoder die Spitze seines Szepters küßt, wie man die Hände des Herrschersnicht anders küßt, als wenn man seinen Mantel küßt. Die Ehre, die mandem erweist, was ihnen gehört, bezieht sich auf jene, denen es gehört.

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Niemand wird es mißbilligen, wenn ein Untergebener sagt und erklärt:Herr, ich verehre dein Szepter, deine Krone oder deinen Purpur. So istes Unserem Herrn wohlgefällig, wenn man sagt: Herr, ich verehre oderbete an (denn das eine wie das andere ist in dieser Hinsicht dasselbe, wieim vierten Buch gesagt wird), ich sage also: ich bete dein Kreuz an. Esist also eine sonderbare Schikane, das einen Götzendienst zu nennen,weil dabei alle Ehre Christus zukommt; Er ist kein Götze, sondernwahrer Gott.

5. Sie werfen uns die Segnung des Kreuzes vor; aber wo finden sie, daßes schlecht sei, es zu segnen? Und ich halte ihnen den hl. Paulus entge-gen, der (1 Tim 4,4f) sagt, daß die ganze Schöpfung geheiligt wird durchdas Wort Gottes und das Gebet. Wo finden sie, daß die Titel schlechtseien, die man dem Kreuz gibt bei dieser Segnung und an vielen anderenStellen unserer Offizien, und wenn ich ihnen das ganze Altertum entge-genhalte? Welche Titel wollen sie dem Kreuz nehmen? Ich glaube, ammeisten verdrießen sie diese: Heilmittel für das Menschengeschlecht,Erlösung der Seelen, höchst anbetungswürdig, heiliger als alles, unsereeinzige Hoffnung. Wer weiß nicht, daß es die heiligsten und ältestenVäter der Kirche so genannt haben?

Der hl. Chrysostomus legt ihm in einer seiner Predigten mehr als fünf-zig Ehrentitel bei und nennt es unter anderen „Hoffnung der Christen,Auferstehung der Toten, Weg für Verzweifelte, Triumph über die Teufel,Vater der Waisen, Verteidiger der Witwen, Fundament der Kirche, Arztder Kranken“. In der ersten Predigt über das Kreuz und den Schächernennt er es „Substanz aller geistlichen Freude und überreiche Erweite-rung alles Guten“; in der zweiten nennt er es „unsere Sonne der Gerech-tigkeit“ und an anderer Stelle „Schwert, mit dem Jesus Christus die teuf-lischen Kräfte gebrochen und vernichtet hat“. Der hl. Ephräm nennt es„kostbare, belebende Siegerin über den Tod, Hoffnung der Gläubigen,Licht des Universums, Pforte des Paradieses, Zerstörerin der Irrlehre,Festigkeit des Glaubens, großer und heilsamer Schutz und ewiger Ruhmder Rechtschaffenen und ihr unüberwindliches Bollwerk“. Diesen letz-ten Titel hat ihm auch der hl. Antonius der Große beigelegt. Origenesnennt es „unser Sieg“, Eusebius und Konstantin der Große „heilsamesZeichen“, der hl. Augustinus „geehrt und mit Ehren überhäuft“, Justinder Märtyrer „vornehmstes Zeichen der Macht und Herrschaft“, KaiserJustinian „wahrhaft verehrungs- und anbetungswürdig“ und der hl. Chry-sostomus nennt es noch „mehr als aller Verehrung und Hochschätzungwürdig: omni cultu digniorem“. Welchen Vorwurf kann man uns ma-

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chen, wenn wir die Sprache unserer Väter und unserer Mutter sprechen?Die Häretiker, die fern vom Vaterhaus aufwachsen, sind es, die neue Aus-drücke erfinden und die Sprache der Hausgenossen fremdartig finden.

Indessen haben die Worte keine andere Bedeutung, als man ihnenbeilegt. Ich möchte gern sagen, sie sind wie die Null, die keinen Werthat, außer nach Maßgabe der Ziffern, die vor ihr stehen. Auch die Na-men haben ihre Bedeutung nur im Verhältnis zur Absicht, in der mansie ausspricht, wie die faltigen Gewänder, die weit oder eng sind je nachdem Körper, der sie trägt. Gibt es ein Wort von größerer Bedeutung alsdas Wort Gott? Trotzdem hat sie der Heilige Geist manchmal so abge-schwächt, daß sich das Wort mit Geschöpfen verbinden läßt: Ich habegesagt, ihr seid Götter. Gott findet sich in der Versammlung der Götterund richtet in ihrer Mitte die Götter (Ps 82,6). Ich habe dich zum Gott desPharao bestellt (Ex 7,1). Josef wurde Erlöser genannt (Gen 41,45), auchHoschea, der Sohn des Nun (Num 13,8); aber dieses Wort wurde auf sienicht so angewendet wie auf Unseren Herrn. Gott sandte seinen Sohn,damit die Welt durch ihn gerettet werde (Joh 3,17); der hl. Paulus istallen alles geworden, um alle zu retten (1 Kor 9,22): das sind ganzgleiche Worte dem Klang nach, aber der Sinn des einen ist sehr ver-schieden von dem des anderen. Die klarsehenden Geister, die Gott inder zweiten Ordnung der Engel anbeten, heißen Kerubim und ihre Dar-stellung wird (Ex 37,7) Kerub genannt; seht dasselbe Wort, aber dieDinge sind verschieden.

Es ist eine törichte Spitzfindigkeit, so viel über Ausdrücke zu strei-ten, wenn die gute Absicht offenkundig ist. Allgemein gilt die Regel,daß man sie verstehen muß nach der Kapazität des Gegenstandes, umden es sich handelt: secundum subjectam materiam. Es ist notwendig,daß die Dinge ihre Namen einander gegenseitig leihen, denn es gibtmehr Dinge als Ausdrücke, aber es ist darauf zu achten, daß sie ange-wendet werden nach dem Maß und dem Wert der Dinge, für die mansie gebraucht. Jesus, der hl. Paulus und das Kreuz retten; das ist eineinziger Ausdruck, aber in mehrfacher und verschiedener Bedeutunggebraucht: was Jesus betrifft, er rettet als der erste verdienstlich Han-delnde, der überreiches Lösegeld bezahlt; was den hl. Paulus betrifft,er rettet als Anwalt und Fürbitter, und das Kreuz als Instrument undWerkzeug unserer Erlösung. Die Ausdrücke der Guten und Weisenwerden stets weise und in gutem Sinn verstanden von den Guten; wasgibt es Besseres und Weiseres als die Kirche? Es ist eine vorsätzlicheBosheit, ihre Worte in einem blasphemischen Sinn zu verstehen, die

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einen geziemenden und angemessenen Sinn haben können, ohne derallgemeinen und gewöhnlichen Art des Verstehens Gewalt anzutun.Das Kreuz ist ein heilsames Mittel, Erlösung der Seelen, sehr ehrwür-dig, unsere einzige Hoffnung, über alles heilig; es ist zu verstehenentsprechend dem Rang, den es unter den Werkzeugen der Passionund unseres Heils einnimmt. Wer es als Erlöser selbst verstünde, wäreverrückt und dumm, denn der Gegenstand ist, ohne Schwierigkeit,dazu völlig ungeeignet und unfähig.

Im ‚Katalog der Zeugen‘ ihrer angeblichen Wahrheit habe ich gese-hen, daß Illyricus oder Simon Goulart den hl. Chrysostomus zitiert, derdem Kreuz mehrere schöne Titel zuschreibt, und dann als Kommentarhinzufügt: Encomia Crucis Chrysostomus suo more canit signo quodsignatae rei convenit tribuens; ista vero postea pontificii non sine blas-phemia et idolatria ad signum ipsum retulerunt; das heißt: „Chrysosto-mus singt auf seine Weise das Lob des Kreuzes, indem er dem Zeichenzuschreibt, was der dargestellten Sache gebührt, aber nachher haben diePapisten diese Dinge dem Zeichen selbst zugeschrieben, nicht ohneBlasphemie und Götzendienst.“ Als ich das sah, habe ich mich gewun-dert über die Heftigkeit der Leidenschaft, die es den Neuerern nichterlaubt, von der katholischen Kirche die gleichen Worte in gutem Sinnaufzufassen, die sie aus dem Mund des hl. Chrysostomus in gutem Sinnauffassen. Wer hat ihnen gesagt, ich bitte euch, daß wir, wenn wir wie derhl. Chrysostomus sprechen, es anders verstehen als er? Es ist sicher, daßwir sehr oft dem Zeichen zuschreiben, was der Sache gebührt, so wennwir sagen: Herr, ich verehre dein Szepter, Herr, ich bete dein Kreuz an.

Schließlich wäre an dieser Stelle die Unterscheidung am Platz, dieder Traktant so laut predigt, zwischen dem Kreuz als Marter und demKreuz als Werkzeug der Marter, denn sehr oft hört man, wenn das Kreuzgelobt wird, nicht nur vom Holz oder Zeichen des Kreuzes sprechen,sondern auch von Martern und Schmerzen, die Unser Herr ertrug. Aberder Traktant achtet nicht darauf, die Unterscheidung richtig und tref-fend zu machen.

6. Der Traktant geht dazu über, sich zu beklagen, daß man den Kar-freitag „aoré, d. h. angebetet nennt wegen der Anbetung des Kreuzes andiesem Tag“. Nun weiß ich nicht sicher, ob aoré angebetet oder vergol-det (adoré oder doré) bedeutet, oder vielmehr im Sinn von AnsuchenBitte und Gebet; aber ich sage: 1. Dieser Ausdruck trifft nur für be-stimmte Gegenden Frankreichs zu, sonst nennt man ihn nicht so. 2. Esist ein Name, der gut gewählt ist, denn „angebetet“ will in diesem Fall

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nichts anderes besagen als verehrt und geehrt. Wer wüßte denn nicht,daß die Tage, an denen irgendwelche heilige Handlungen vorgenom-men werden, oder auch, an denen man deren Gedächtnis begeht, in derHeiligen Schrift durchwegs sehr heilig, festlich und ehrwürdig (Lev23,37) genannt werden? Der Sonntag wird Tag des Herrn genannt, weiler Gott geweiht ist. Der hl. Augustinus nennt ihn ehrwürdig, wie Lac-tanz und der hl. Chrysostomus ebenfalls das Osterfest nennen; warumsoll der Karfreitag nicht ehrwürdig sein, der Gott geweiht ist zu Ehrender Passion? 3. Ich sage außerdem, der Hauptgrund, warum dieser Tagaoré genannt wird, ist nicht die äußere Anbetung des Kreuzes, sonderndie Heiligkeit des Todes des Erlösers, die an ihm gefeiert wird; seineäußere Anbetung ist nur eine feierliche Erklärung.

Wie alt die Feier des Freitags und vor allem des Karfreitags zu Ehrendes Kreuzes ist, bestätigt der hl. Chrysostomus; er sagt: „Meine Teuer-sten, beginnen wir heute über die Trophäe des Kreuzes zu predigen;ehren wir diesen Tag oder seien wir vielmehr gekrönt, indem wir diesenTag ehren, denn das Kreuz wird nicht durch unsere Worte geehrt, son-dern wir verdienen durch unser gläubiges Bekenntnis die Krone desKreuzes. An diesem Tag wurde das Kreuz aufgerichtet und die Weltgeheiligt.“ Und an anderer Stelle: „An diesem Tag hing Unser Herr amKreuz; feiern wir unsererseits sein Fest in übergroßer Freude, um zubegreifen, daß das Kreuz der Inbegriff all unserer geistlichen Freude ist;denn vorher bedeutete der bloße Name des Kreuzes Leid, aber jetzt wirder zur Ehre genannt; einst enthielt er Schrecken und Verurteilung, jetztist er ein Kennwort des Heils, denn das Kreuz ist die Ursache unseresganzen Glückes.“ Und weiter unten: „So hat der hl. Paulus selbst ange-ordnet, ein Fest für das Kreuz zu feiern, und hat den Grund hinzugefügtmit den Worten: weil Jesus Christus unser Osterlamm geopfert wurde füruns (1 Kor 5,7). Siehst du die Freude beim Anblick des Kreuzes? JesusChristus wurde ja am Kreuz geopfert.“ Sozomenes bezeugt, daß Kon-stantin der Große lange Zeit vor dem hl. Chrysostomus „den Sonntag inEhren hielt als den Tag, an dem Jesus Christus von den Toten erstandenist, und den Freitag als jenen, an dem er gekreuzigt wurde. Er hatte jaeine große Verehrung für das heilige Kreuz, sowohl wegen der Hilfe, dieer von seiner Kraft im Krieg gegen die Feinde erfahren, als auch wegender göttlichen Erscheinung, die er von ihm hatte.“

Der hl. Chrysostomus schreibt aber nicht nur, daß man den Freitagwegen des Kreuzes sehr in Ehren hielt, sondern sagt offen, daß man amKarfreitag das Kreuz verehrte: „Der Jahrestag kehrt wieder, der das

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dreimal glückselige und belebende Kreuz Unseres Herrn vor Augenstellt und es uns zeigt, damit es verehrt wird, damit es uns keusch macht,kräftiger und williger auf dem Weg des heiligen Fastens; uns, sage ich,die wir es mit reinem Herzen und mit keuschen Lippen verehren: nosqui sincero corde eam castisque labiis veneramur.“ Nun, welche Gefahrsollte denn dabei sein, wenn man das Kreuz verehrt, es küßt und denFreitag aoré oder angebetet nennt, selbst wenn man ihn so nennt wegender Verehrung des Kreuzes an diesem Tag? Warum nannte man denOstertag Pascha, wenn nicht deswegen, weil an ihm der Vorübergangdes Herrn geschah und weil von diesem Vorübergang sowohl der Tag alsauch das Opfer, das an ihm geschah, den Namen erhielt? Die Tage erhal-ten sehr oft ihren Namen von einer bestimmten Handlung, die an ihnengeschah. So kann der Freitag aoré genannt werden wegen der Verehrungdes Kreuzes, die an ihm geschah. Aber man nannte nicht Pascha dieTische, die Messer, die Tischtücher und was sonst zum Paschaopfergehörte; so nennt man auch aoré nicht den Ort und die Hülle, die Fingerund die Hand, die das Kreuz berühren, wie der Traktant (B.T. 51) unter-stellen will. Der Grund ist offensichtlich, weil das alles nicht der Feierdieser Handlung oder Verehrung geweiht ist wie der Tag. Aber derTraktant kennt weder Regel noch Maß, um Folgerungen zu ziehen; wennsie nur im Gegensatz zum Althergebrachten stehen, ist ihm das alleseinerlei.

7. Dasselbe sage ich von der Lanze; sie ist ehrwürdig, weil sie in das BlutUnseres Herrn getaucht wurde. Der hl. Ambrosius bekennt: „clavus ejusin honore est: der Nagel Unseres Herrn ist in Ehren.“ Warum die Lanzenicht? So nennt sie der hl. Athanasius geheiligt. Wenn man ihr bestimmteGebete widmet, dann deswegen, um ein sehr lebhaftes Verlangen auszu-drücken, nicht um von ihr gehört und verstanden zu werden. Die Gnadeerwartet man von Unserem Herrn. Wenn man ein Fest von ihr feiert, danndeswegen, um Gott zu danken für die Passion seines Sohnes und für seinvergossenes Blut; weil die Lanze dazu ein Werkzeug war, ist sie auch dasErinnerungszeichen daran und erweckt in uns die lebhafte Ergriffenheit,die uns das Fest feiern läßt. Unsere ordentlichen Kalendarien erwähnenallerdings diese Feier in keiner Weise, die von der römischen Kircheüberhaupt nicht vorgeschrieben ist.

Ich habe also die Kirche entlastet von Ungehörigkeiten und götzen-dienerischen Ausdrücken, die ihr der Traktant anlasten wollte. Es gibtnichts so Würdevolles und Geziemendes, worüber Demokrit nicht ge-lacht hätte, nichts so Sicheres, woran Pyrrho nicht gezweifelt hätte; die

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Vermessenheit des Häretikers, der weder Verstand noch Respekt hat,sondern seine Vorstellung für göttlich hält, lacht über alles und machtsich darüber lustig: über Zeremonien und Ausdrücke, über das Fege-feuer und die Trinität, über die Menschwerdung und die Taufe, über dieEucharistie, den Brief des hl. Jakobus und über die Makkabäer, und dasalles mit gleicher Sicherheit. Sie sitzen auf dem Lehrstuhl des verpeste-ten Spottes; ihr Spott ist viel mehr verpestet als ihre Behauptungen.

11. Kapitel

Das Bild des Kreuzes hat große Kraft.

Dem Traktanten mißfällt es auch, daß wir das Kreuz ein heilsamesMittel nennen. Die Alten haben es so genannt und Gott hat das durchtausendfache Erfahrung bestätigt. Nicht nur um das Kreuz, das Kon-stantin erschien, waren die Worte geschrieben: Durch dieses sollst dusiegen, sondern Unser Herr befahl ihm, ein gleiches Kreuz anfertigenzu lassen, um sich dessen als Schutz im Kampf zu bedienen. Nach seinerForm ließ er sein Feldzeichen machen, reich verziert, und bediente sichseiner als Schutzwehr gegen alle Anstrengungen seiner Feinde, und nachdiesem Muster ließ er mehrere weitere Kreuze anfertigen, die er stets ander Spitze seines Heeres tragen ließ. Unter anderem erkannte er in derSchlacht, die er gegen Maxentius schlug, daß Gott ihm durch das Zei-chen des Kreuzes sehr gnädig beistand. Als er nämlich nach der Rück-kehr aus ihr Gott gedankt hatte, ließ er an verschiedenen Stellen In-schriften und Säulen aufstellen, auf denen er allen die Macht und Kraftdes heilsamen Zeichens des Kreuzes verkündete. Insbesondere ließ ermitten auf einem wichtigen Platz von Rom sein Standbild errichten, dasein großes Kreuz in der Hand hielt, und ließ in unauslöschlichen Buch-staben folgende lateinische Inschrift einmeißeln:

HOC SALUTARI SIGNO VERO FORTITUDINISINDICIO CIVITATEM VESTRAM TYRANNIDIS JUGO LIBERAVI

ET S. P. Q. R. IN LIBERTATEM VINDICANSPRISTINAE AMPLITUDINI ET SPLENDORI RESTITUI.

Das heißt: „Ich habe eure Stadt durch diese heilsame Standarte, dasZeichen wahrer Kraft, vom Joch der Tyrannei befreit und den Senat unddas römische Volk in seinem alten Glanz und seiner Größe wie-

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derhergestellt und ihm seine Freiheit wiedergegeben.“ Das war das Be-kenntnis, das er vom siegreichen Kreuz ablegte.

Als er ein andermal gegen Licinius kämpfte und sich die Standarte desKreuzes an der Spitze seines Heeres befand, gewann er immer mehrSiegestrophäen, denn überall, wo man dieses Zeichen erblickte, ergrif-fen die Feinde die Flucht und die Sieger verfolgten sie. Das hatte derKaiser erfahren, und wenn er sah, daß irgendein Teil seines Heeres aneiner bestimmten Stelle schwach und matt wurde, befahl er, daß mandieses heilsame Zeichen dorthin brachte als sicheren Beistand, um denSieg zu erringen. Durch seine Hilfe wurde der Sieg sogleich errungen,da die Kräfte der Kämpfenden durch eine bestimmte göttliche Kraftsehr gefestigt wurden. Daher bestimmte man fünfzig der erfahrenstenund tapfersten Soldaten, die die Standarte gewöhnlich begleiteten, umsie abwechselnd aufzunehmen und zu tragen. Einer dieser Bannerträgerverlor mitten in einem sehr harten und schweren Gefecht den Mut, ver-ließ die heilige Fahne und gab sie einem anderen, um sich vor den An-griffen zu retten. Er war kaum außerhalb des Kampfgewühls und derSchutzwehr des heiligen Zeichens, da wurde er von einem Speer mittenam Leib durchbohrt und starb auf der Stelle. Dagegen konnte jener, deran seiner Stelle das Kreuz ergriff, niemals verwundet werden, obwohleine Unzahl von Speeren über ihn hagelte; die Pfeile sammelten sichund steckten alle im Baum oder Schaft der Standarte. Es war ein Wun-der, daß auf so geringem Raum eine solche Menge Pfeile stak und derTräger auf diese Weise heil und gesund blieb. So kam es, daß Licinius inWahrheit erkannte, wieviel göttliche und unüberwindliche Kraft in derheilsamen Trophäe der Passion Christi war. Er forderte seine Truppenauf, nicht mehr dagegen zu kämpfen und sie nicht anzuschauen, weil siegegen ihn war und viel Kraft besaß.

Das sind keine Altweibergeschichten, sondern Konstantin versicher-te das alles dem Eusebius, und Eusebius hat es dann niedergeschrieben.Seinem Bericht folgte ich fast wörtlich. Ebenso wurden die Skyten undSarmatiner, die die früheren Kaiser tributpflichtig gemacht hatten, wie-der unter die Herrschaft Konstantins gebracht. Er errichtete gegen siedas gleiche siegreiche Zeichen und vertraute sich dem Beistand seinesErlösers an. Daher wollte er, daß man in die Waffen das heilsame Zei-chen der Trophäe eingravierte und es an der Spitze seines Heeres trug.Auch das ist ein Bericht von Eusebius.

Ehe König Oswald gegen die Barbaren in die Schlacht zog, errichteteer ein großes Holzkreuz, kniete mit seinem ganzen Heer nieder und

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erbat von Gott den Sieg, den er sogleich erlangte. Darauf ereigneten sichan diesem Ort viele Wunder. Einige nahmen kleine Späne vom Holzdieses Kreuzes, die sie in Wasser tauchten. Von diesem Wasser ließensie kranke Menschen und Tiere trinken, und sie wurden plötzlich ge-heilt. Bothelmus, ein Mönch von Hagulstadt (Hexham), der sich denArm gebrochen hatte, legte sich einen Span von diesem Holz auf undwar sogleich geheilt. Dafür ist Beda der Ehrwürdige mein Gewährs-mann. Wie viele Wunder geschahen nach dem Bericht des hl. Athanasi-us durch das Bild des Gekreuzigten in der Stadt Beirut? Nach dem Toddes Julian Apostata ereignete sich ein so starkes Erdbeben, daß dasMeer über die Ufer trat und Gott die Welt mit einer allgemeinen Sint-flut zu bedrohen schien. Die Bewohner von Epidaurus erschraken darü-ber und kamen zum hl. Hilarion, der damals in der Gegend war, undbrachten ihn an die Küste. Er zeichnete drei Kreuze in den Sand, undsogleich blieb das Meer, das sehr aufgewühlt war, vor ihm stehen, undnachdem es ein großes Getöse gemacht hatte, zog es sich nach und nachvon selbst zurück. Dafür ist Hieronymus mein Zeuge.

Chosroe sandte einige Türken nach Konstantinopel. Der Kaiser sah,daß sie das Zeichen des Kreuzes auf der Stirn trugen, und fragte sie,warum sie dieses Zeichen trugen, dessen sie im übrigen nicht achteten.Sie antworteten, einst sei über Persien eine schwere Pest gekommen,gegen die einige Christen, die unter ihnen lebten, ihnen als Heilmitteldieses Zeichen zu machen beibrachten. Das berichtet Nicephorus Calix-tus. Die Bewohner einer bestimmten Stadt in Japan hatten aus Erfah-rung und durch die Portugiesen, die dort lebten, gelernt, daß das Kreuzals großes Heilmittel gegen die Teufel wirkte; daher ließen sie nach demBericht des großen Franz Xaver fast in all ihren Häusern Kreuze an-bringen, selbst ehe sie Christen waren. So berichtet der hl. Chrysosto-mus, daß man zu seiner Zeit die Häuser, die Schiffe, die Wege, krankeTiere und vom Teufel Besessene mit dem Kreuz bezeichnete, „so sehrgewann jeder diese wunderbare Gabe für sich“, sagt er. „Zeichnen wirdas Kreuz auf unsere Türen“, sagte der hl. Ephräm, „bewaffnen wir unsmit dieser unüberwindlichen Rüstung der Christen, denn beim Anblickdieses Zeichens erschrecken die feindlichen Mächte und ziehen sichzurück.“ Der Grund ihres Rückzugs ist, sagt der hl. Cyrill, „daß sie sichdes Gekreuzigten erinnern, wenn sie das Kreuz sehen, und den fürchten,der das Haupt des Dragon zerschmettert hat“. Und der hl. Chrysosto-mus sagt: „Wenn uns der Anblick eines Galgens Schrecken einjagt, wiesehr müssen wir glauben, daß der Teufel Angst bekommt, wenn er die

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Lanze erblickt, durch die er den Todesstoß erhalten hat?“ Ich will nichtzu sagen vergessen, daß man bei den indischen Barbaren lange vor unse-rer Zeit dieses Wahrzeichen des Evangeliums gefunden hat. UnsereKreuze genossen dort in verschiedenen Formen Ansehen, man gebrauchtesie, um sich gegen nächtliche Gesichte zu schützen, um sie über denKinderbetten gegen Zauber anzubringen.

Der Traktant gibt (B.T. 57) sehr kühl wieder, was Sozomenes über dieKraft des Kreuzes sagt, das beim Heer Konstantins getragen wurde, mitden Worten: „Es bleibt ein Zeugnis im 4. Kapitel des 1. Buches vonSozomenes, wo es heißt, daß die Soldaten Konstantins seine Standarte,die in Form des Kreuzes gemacht war, sehr in Ehren hielten und daß beiihnen einige Wunder geschahen.“ Das ist ein sehr matter Einwand; derBericht des Sozomenes ist etwas ganz anderes, aber ich habe ihn ananderer Stelle (8. Kap.) bereits zitiert, und der Traktant treibt ein schö-nes Spiel, wenn er es nicht unterlassen kann, darauf zu erwidern. Er sagtdaher, auch wenn man dem Bericht des Sozomenes „zustimmt, folgtdaraus nicht, daß man das materielle Kreuz anbeten müßte; denn wennsie es angebetet oder etwas nicht Statthaftes getan hätten, ist klar, daßman sie nicht nachahmen darf“. Aber warum sagen Sie nicht offen,Traktant, ob sie es verehrt haben oder nicht? Sagen Sie nein, dann zei-hen Sie Sozomenes und viele andere Autoren der Fälschung; und wel-che Zeugen haben Sie ihnen entgegenzusetzen? Wenn sie es verehrt ha-ben, dann geben Sie zu, daß wir nur tun, was man in der ganz reinenKirche getan hat. Sie hätten etwas nicht Statthaftes getan, sagen Sie; dassagen Sie leichtfertig und können es nicht beweisen. Welche Vollmachthaben Sie, so streng über die Christen der Frühzeit zu urteilen und überdie Schriftsteller, die sie loben?

Nach dieser Erwiderung will uns der Traktant (B.T. 57f) folgenderma-ßen mit unserem eigenen Argument widerlegen: „Die Folgerung kannumgekehrt gezogen werden, nämlich: wenn das Kreuz verehrt werdenmuß, weil es Wunder wirkt, dann folgt daraus, daß das Kreuz, das keineWunder wirkt, nicht verehrt werden darf. Nun ist es sicher, daß es vonhunderttausend Kreuzen keine drei gibt, die Wunder wirken, selbst wennman den Geschichten glaubt, die man davon erzählt, wie die Tatsachenzeigen und die Berichte von Exorzisten bestätigen.“ Ist das nicht einegrobe Unverschämtheit? Das formelle und erste Fundament, warumdas Kreuz Verehrung verdient, ist, daß die Kreuze Jesu Christi den Ge-kreuzigten darstellen, eines wie das andere. Aber außerdem gibt es an-dere, besondere und sekundäre Gründe, die ein Kreuz ehrwürdiger und

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begehrenswerter machen als andere: wenn es nicht nur Unseren Herrndarstellt, sondern von ihm oder von Heiligen berührt wurde oder zueinem wunderbaren Werk gebraucht. Dadurch wird es gewiß um so ehr-würdiger, aber wenn weder das eine noch das andere zutrifft, hört esdeswegen nicht auf, heilig zu sein, weil es ihn darstellt.

Wenn man mich also fragt, warum ich das Kreuz verehre, werde ichdiese zwei Gründe anführen: weil es ein Erinnerungszeichen an JesusChristus ist und weil Gott mit ihm als geheiligtem Werkzeug sehr oftWunder wirkt. Aber der erste Grund ist der hauptsächliche und dientals Begründung für den zweiten, denn das Kreuz stellt die Passion nichtdar, weil Gott mit ihm Wunder wirkt, sondern Gott bedient sich imGegenteil hauptsächlich des Kreuzes, um Wunder zu wirken, mehr alsanderer Dinge, weil es die Darstellung seiner Passion ist. So würde mandem antworten, der fragt, warum die Leute von Gennesaret so heiß nurden Saum des Gewandes Unseres Herrn zu berühren begehrten: dastaten sie deswegen, weil sie dieses Gewand als ein Werkzeug für Wunderund Heilungen betrachteten. Wenn man weiter fragt, warum sie dieseehrenvolle Auffassung eher von diesem Gewand als von anderen hatten,dann zweifellos deswegen, weil es Unserem Herrn gehörte. Das Ge-wand und das Kreuz gehörten vor allem Unserem Herrn, das ist dieQuelle ihrer Würde; wenn er sich dann ihrer zu einem Wunder bedient,ist das ein Bach aus dieser Quelle. Man heiligt und ehrt eine Sache nichtso sehr, wenn man sie zu etwas Heiligem gebraucht, als wenn man siefür heilig und ehrwürdig erklärt. Das Kreuz Jesu Christi ist daher ehr-würdig, weil es als zu ihm gehörig geheiligt ist, aber es wird um so mehrals ehrwürdig erklärt, weil es Unser Herr zu Wundern gebraucht: DasWunder ist daher nicht das einzige und nicht das hauptsächliche Funda-ment der Würde des Kreuzes, es ist vielmehr eine Wirkung und Konse-quenz davon. Die Bischöfe, die ihre Pflicht tun, sind doppelter Ehre wert(1 Tim 5,17). Ich bitte euch, müssen die verachtet werden, die ihrePflicht nicht tun? Im Gegenteil, der hl. Paulus bestätigt, daß man ihnentrotzdem Ehre und Achtung schuldet. Der Grund ist, daß ihr gutes Le-ben nicht die ganze Ursache der Verpflichtung zu diesen Ehrenbezei-gungen ist, sondern die Würde des Amtes, das sie über uns haben.

Plinius und Matteoli beschreiben eine Pflanze, die brauchbar ist ge-gen Pest, Kolik und Gallensteine, und wir pflanzen sie sorgsam in unse-ren Gärten. Vielleicht haben von tausend Millionen Pflanzen dieser Artnur drei die Wirkung, die uns diese Schriftsteller versprechen: wir schät-zen sie trotzdem alle, weil sie von der gleichen Art und Gattung sind wie

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die drei oder vier, die diese Wirkung hatten; sie haben den gleichen Wertund dieselbe Eigenschaft. Bei Gott, unsere alten Väter, geistliche Kräu-terkundige, beschreiben uns das Kreuz als einen ganz kostbaren Baum,geeignet zur Heilung und als Mittel gegen unsere Übel und vor allemgegen teuflische Angriffe; sie beglaubigen viele sichere Erfahrungen undProben, die sie gemacht haben: warum sollen wir nicht alle Kreuze schät-zen, die Gewächse der gleichen Art und Gattung sind wie jene, die einstWunder bewirkten? Warum halten wir sie nicht für gleichwertig und vondenselben Eigenschaften, da sie die gleiche Form und Gestalt haben?Wenn es auch nicht der einzige Zweck und unwichtig ist, daß das KreuzWunder bewirkt, so trifft es doch nicht zu, daß es in unseren Heeren nichtsoviel Kraft hätte wie in dem Konstantins, sondern daß wir nicht diegleiche Einstellung haben, wie man sie damals hatte, oder daß der göttli-che Arzt, der dieses heilsame Kraut anwendet, es nicht für angezeigt hält,es zu diesem Zweck anzuwenden. Aber es steht außer Zweifel, da es diestets gleiche Form hat, die Passion darzustellen, hat es auch die gleicheGewalt und Kraft, soviel es an ihm liegt. So sah Konstantin um das Kreuz,das ihm am Himmel erschien, die Worte: In diesem Zeichen sollst dusiegen. Aber das war nicht nur von dem einzigen Kreuz am Himmel zuverstehen, sondern auch von anderen ähnlichen. Tatsächlich existiertedieses himmlische Kreuz nicht mehr zur Zeit, als Konstantin kämpfte,sondern das Feldzeichen und andere Kreuze, die nach seinem Mustergemacht waren, waren wirklich von ihm verschieden in Stoff und Eigen-art, aber von der gleichen Art in der Form.

Wenn der Traktant übrigens die Geschichten der Exorzisten anführt,weiß ich nicht, ob er bei Verstand ist. Denn wenn dem so ist, daß es einKennzeichen der Gläubigen der Kirche ist, Teufel auszutreiben, undwenn es bei den Reformatoren keinen Exorzisten und keine Heilungvon Besessenen gibt, müßte er von daher erkennen, wo die wahre Kircheist; doch das gehört nicht zu unserem Thema. Was aber die Exorzismen„des so heiligen und berühmten Doktor Picard und anderer Lehrer derSorbonne“ betrifft oder „des Mönches des hl. Bernhard, den KardinalGondy nach Rom brachte“, die ihre Wirkung nicht erzielen konnten,wie der Traktant (B.T. 58) sagt, so ist das kein großes Wunder. DasGebet des hl. Paulus vermochte nichts, um den Bann dieses fleischli-chen Geistes zu erlangen. Das Gebet erwirkt Wunder, aber nicht immerund nicht unfehlbar; deswegen braucht man aber seinen Wert nicht zuverschmähen. Es ist sehr merkwürdig, daß es dieser Mann befremdendfindet, wenn unsere Exorzisten die Teufel nicht immer aus dem Leib

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austreiben, und nicht wollte, daß man es sonderbar finde, daß die Prädi-kanten nie einen einzigen ausgetrieben haben. Um die Kraft des Kreu-zes zu beweisen, haben sich die Väter damit begnügt, zu bezeugen, daßdie Teufel es fürchten und Angst vor ihm haben, und dieser Mann ver-langt, daß es sie unfehlbar austreibe. Und was, wenn der Leib durch denDämon gequält wird, damit der Geist des Besessenen gerettet wird (wieder Apostel 1 Kor 5,5 sagt)? Möchten Sie, daß der Exorzismus oder dasGebet diese Wirkung verhindert: Ihr seid im Irrtum, weil ihr weder dieHeilige Schrift noch die Macht Gottes kennt (Mt 22,29). Picard, den Siespöttisch heilig nennen, war das übrigens wirklich wegen seines Eifersfür den Dienst Gottes. Die Sorbonne mißfällt Ihnen immer, sie ist ja einunfehlbares Arsenal gegen eure Akademien. Und es ist nicht wahr, daßdie Kreuze von Rom heiliger sein sollen, wie Sie (B.T. 48) höhnischsagen, denn sie haben keine andere Beschaffenheit als die anderer Län-der, noch sind sie mehr der Sitz der Heiligkeit als die übrigen. IhreHeiligkeit ist die Beziehung zu Jesus Christus, den sie darstellen, woimmer sie sind, und sie sind nicht der Sitz des Papstes (Sie waren jazweifellos begierig, von ihm zu sprechen, Sie kleiner Traktant, wenn Sienicht ein wenig die Befürchtung, damit den Zweck zu verfehlen, vondiesem Seitenhieb zurückgehalten hätte), des Papstes, sage ich, der ‚Hei-ligkeit‘ genannt wird wegen der Erhabenheit des Amtes, das er im DienstJesu Christi und der Kirche innehat, der sich aber für sehr geehrt erach-tet, wenn er das einzige Zeichen dieser ersten, absoluten und höchstenHeiligkeit verehrt, die Jesus Christus der Gekreuzigte ist.

12. Kapitel

Das Kreuz war stets begehrt. – Das Zeugnis des Arnobius.

Die Kraft, welche die Alten im Kreuz über das teure und kostbareAndenken an die Passion hinaus feststellten, machte es ihnen überausbegehrenswert, und wie der hl. Chrysostomus sagt, „begehrte jeder heißdas Abbild dessen, wovor jeden schauderte. Es ist eine außergewöhnli-che Gnade, niemand wird verwirrt, niemand empfindet es als Schande,wenn er denkt, daß es das Zeichen eines fluchbeladenen Todes war;jeder hält sich im Gegenteil mit ihm für mehr geschmückt, als durchKronen, Geschmeide und Halsketten; man flieht es nicht, sondern be-gehrt und liebt es, jeder ist achtsam damit und überall erstrahlt es“.

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Dazu kommen die Ermahnungen des alten Origenes, des hl. Ephrämund vieler anderer, um den Gebrauch des Kreuzes zu empfehlen: „La-den wir freudig dieses Zeichen auf unsere Schulter, tragen wir dieseSiegesfahne; die Teufel werden zittern, wenn sie es erblicken.“ Der zweitesagt: „ Zeichnen wir dieses lebenspendende Zeichen an unsere Türen.“Der hl. Chrysostomus sagt: „Schlagen, schneiden wir das Kreuz mitgroßer Sorgfalt in Häuser, Wände, Fenster.“ Der große Athanasius sagtausdrücklich: „Wahrhaftig, wir verehren das Abbild des Kreuzes, daswir aus zwei Hölzern zusammensetzen.“

Der kleine Traktant sagt (B.T. 49f), daß „man diese ausdrücklichenWorte im 8. Buch des Arnobius liest, wenn er auf den Einwand derHeiden antwortet, die die Christen tadeln, als hätten sie das Kreuz ver-ehrt: wir verehren es nicht und wünschen keine Kreuze zu haben“. Demgleichen Einwand bin ich bei Illyricus im 10. Buch des ‚Katalogs derZeugen der (angeblichen) Wahrheit‘ begegnet. Das scheint mir die Stel-le zu sein, wo ihn der Traktant geschöpft hat; aber er beschneidet ihnnicht so stark wie dieser; er sagt: „Arnobius, der im Jahr 330 lebte, weistim 8. Buch ‚Contra Gentiles‘ diese Verleumdung zurück, als hätten dieChristen die Kreuze angebetet (die sie in der Luft machten, um sichdurch dieses äußere Bekenntnis von den Heiden zu unterscheiden), undantwortet folgendermaßen: Wir verehren es nicht und wünschen keineKreuze zu haben; ihr dagegen, die ihr Götzen aus Holz verwendet, betetvielleicht zufällig Kreuze aus Holz an, die zu euren Götzen gehören.“Nun, ich stelle fest, diese zwei reformierten Bücher widersprechen sichdarin, daß das, was der kleine Traktant auf die materiellen Kreuze be-zieht, der ‚Katalog‘ dem Zeichen zuschreibt, das in der Luft gemachtwird; aber sie haben nur eine Absicht, der Kirche zu widersprechen: dereine will nicht zugeben, was im Vorwurf der Heiden vorausgesetzt ist,nämlich daß die Christen in alter Zeit Kreuze in dauerhafter Form hat-ten, der andere gibt das zu und will damit zeigen, daß man sie nichtverehren darf. Um aber zu meiner Sache zu kommen, bitte ich euch,nehmen wir die Vernunft zu Hilfe.

Ist es vernünftig, daß der Traktant, der auf mehrere Sätze des hl. Augu-stinus nichts anderes antwortet als, die angeführten Bücher seien nichtvom hl. Augustinus, ohne andere Begründung als, daß Erasmus und dieDoktoren von Löwen sie so beurteilten; ist es vernünftig, sage ich, daß eres unternommen hat, ein 8. Buch ‚Contra Gentiles‘ von Arnobius anzu-führen, weil es sicher ist, daß Arnobius deren nur sieben geschriebenhat? Vielleicht wußte das der Traktant nicht; aber ein Mann, der so

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scharf darauf erpicht ist, die anderen zu tadeln, kann nicht durch Un-wissenheit entschuldigt werden, die nur für Kleine gilt. Hier sind dieWorte des hl. Hieronymus, der Arnobius ganz benachbart war; er sagt:„Arnobius hat 7 Bücher gegen die Heiden verfaßt, ebenso sein SchülerLactanz.“ Wäre ich ebenso arm an Recht und Vernunft wie der Traktant,würde ich hier haltmachen, ohne eine andere Antwort zu geben.

Ich sage aber zweitens, selbst wenn dieses 8. Buch von Arnobius wäre,dürfte man es nicht so grob verstehen und sagen, die Christen jener Zeithätten die Kreuze in keiner Weise begehrt und verehrt. Meine Begrün-dung ist klar: man kann nicht leugnen, daß um die ganze Zeit des Arno-bius die Christen Kreuze anfertigten, verehrten und begehrten. „Arno-bius lebte ungefähr um das Jahr 330“, sagt Illyricus. Ungefähr zu dieserZeit lebten Konstantin der Große, der hl. Athanasius, der hl. Antonius,der hl. Hilarion, Lactantius Firminianus; etwas früher lebten Origenes,Tertullian, Justin der Märtyrer; ein wenig später der hl. Chrysostomus,der hl. Hieronymus, der hl. Augustinus, der hl. Ambrosius, der hl.Ephräm. Konstantin läßt Kreuze anfertigen, um den Christen zu gefal-len, und macht sie bei seinen Soldaten ehrwürdig; der hl. Athanasiusbestätigt, daß die Christen das Kreuz verehren und daß es ein eindrucks-volles Heilmittel gegen die Teufel ist; der hl. Hilarion gebraucht esgegen die Überschwemmungen des Meeres; Lactanz, der Schüler desArnobius, schreibt ein ganzes Kapitel über die Kraft des Kreuzes; Ori-genes fordert dazu auf, sich mit dem Kreuz zu wappnen; Tertullian be-stätigt, daß die Christen das Kreuz verehren; dasselbe sagt Justin derMärtyrer; der hl. Chrysostomus sagt darüber, was wir gesehen haben,ebenso der hl. Ephräm; der hl. Ambrosius versichert, daß in diesemZeichen Jesu Christi das Glück und Gedeihen all unserer Unterneh-mungen liegt; der hl. Hieronymus lobt Paula, die vor dem Kreuz kniet;der hl. Augustinus bezeugt, daß dieses Kreuz angewendet wird bei al-lem, was unser Heil betrifft.

Sage ich daher nicht mit Recht, was der hl. Augustinus zu Julian sagte,der den hl. Chrysostomus gegen den Glauben der Christen anführte? „Ita-ne“, sagt er, „ista verba sancti Joannis Episcopi audes tanquam e contra-rio tot taliumque sententiis collegarum ejus opponere, eumque ab illo-rum concordissima societate sejungere et eis adversarium constituere.“Heißt das also, Sie kleiner Traktant, man müsse diese Worte des Arnobi-us abstempeln „als gegensätzlich zu so vielen Aussprüchen so bedeuten-der seiner Zeitgenossen und ihn zu ihrem Feind und Gegner machen“?Wahrhaftig, hätte Arnobius gewollt, daß das Kreuz in keiner Weise be-

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gehrt und verehrt würde, dann hätte er alle übrigen Lügen gestraft. Wenndagegen die übrigen Väter wollten, daß das Kreuz begehrt und auf jedeWeise und in jeder Form geehrt werde, dann widerlegen sie Arnobiusoder den Verfasser des Buches, das ihm der Traktant zuschreibt. Bringenwir sie nicht in diesen Zwiespalt, geben wir ihrer Aussage einen verträgli-chen Sinn, durch den sie einander nicht bekämpfen, bringen wir sie inÜbereinstimmung miteinander, wenn das geschehen kann, und bleibenwir bei ihnen. Das ist die wahre Regel, die Alten richtig zu lesen.

Das Kreuz wurde also verehrt und begehrt; das kann absolut nichtgeleugnet werden, dafür haben wir zu viele Zeugnisse, man muß sie nurrecht verstehen. Es wurde gewiß verehrt, nicht mit einer bürgerlichenVerehrung, denn es hatte keine bürgerlichen Vorzüge, die das verdie-nen; auch nicht mit einer absoluten und höchsten religiösen Verehrung,denn es besitzt keine absolute und höchste Erhabenheit. Es wird viel-mehr verehrt mit einer untergeordneten, mittelbaren und relativen reli-giösen Verehrung, denn sein Vorzug ist ein wahrhaft religiöser aberabhängiger, der hervorgeht aus der Beziehung, der Zugehörigkeit unddem Verhältnis zum Gekreuzigten. Im Gegenteil, das Kreuz wurde nichtbegehrt und verehrt wie eine Gottheit oder ein Idol; das widersprichtnicht dem, was die Alten gesagt haben.

Die Heiden sahen nun, daß das Kreuz bei den Christen in Ehren stand,und glaubten, es werde als Gott betrachtet wie ihre Götzen, und warfendas den Christen vor. Arnobius achtete mehr auf ihre Intention als aufihre Worte, widersprach ihrer Behauptung und sagt: „Wir begehren dieKreuze nicht und verehren sie nicht“, das bedeutet: nicht in der Art undWeise, wie ihr meint, und im Sinn eures Vorwurfs. Es kommt oft vor,daß man mehr der Intention als den Worten widerspricht, und das istder Grund, daß man dem Wort eines rechtschaffenen Mannes eher ei-nen ganz anderen Sinn gibt, als ihn zum Fälscher und Lügner zu ma-chen, wie Arnobius einer wäre, wenn er den übrigen Schriftstellern desAltertums widerspräche.

Ich will aber doch nicht zu sagen unterlassen, wer der Verfasser des 8.Buches ist, das der Traktant zitiert hat. Er verdient gewiß Respekt, dennes ist Minutius Felix, ein römischer Advokat, der an dieser Stelle Tertul-lian und Justin dem Märtyrer sogar fast wörtlich folgt. Er begnügt sichnicht damit, erwidert zu haben, daß die Christen das Kreuz nicht in derWeise anbeteten und begehrten, wie es die Heiden verstanden, sonderner tut noch zwei Dinge: das eine ist, daß er den Vorwurf der Heiden aufsie selbst zurücklenkt, indem er zeigt, daß ihre Standarten nichts ande-

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res waren als vergoldete und geschmückte Kreuze und daß ihre Sieges-trophäen nicht nur einfache Kreuze waren, sondern gewissermaßen ei-nen gekreuzigten Menschen darstellten: „Signa ipsa et cantabra et vexil-la castrorum, quid aliud quam auratae cruces sunt et ornatae? Trophaeavestra victricia non tantam simplicis crucis faciem verum et affixi homi-nis imitantur.“ Das zweite: er zeigte, daß das Zeichen des Kreuzes sei-ner eigenen Natur nach empfehlenswert ist, indem er anführte, daß dieSegel der Schiffe und die Joche in Form des Kreuzes gemacht sind, undmehr noch, daß die Menschen, wenn sie die Hände zum Himmel erhe-ben, um zu Gott zu beten, das gleiche Kreuz darstellen. Dann schließt erfolgendermaßen: Ita signo crucis aut ratio naturalis innititur, aut vestrareligio formatur.“20 Weit entfernt also, daß Minutius das Kreuz oderseine Ehre zurückweist, außer in dem Sinn, wie wir gesagt haben; imGegenteil, er begründet sie. Aber der Traktant hat keine andere Sorge,als seine Vorstellungen um jeden Preis geltend zu machen, und hat nurein kleines Stück der Aussage dieses Schriftstellers übernommen, dasihm für seine Absicht geeignet schien. Ich weiß, man könnte mit weni-gen Worten antworten: wenn Minutius gesagt hat: Cruces nec colimusnec optamus, will er von Jochen und Galgen sprechen, aber die andereAntwort scheint mir natürlicher.

Nachdem wir eine Lanze für Arnobius eingelegt und bewiesen haben,daß er das Kreuz nicht verachtet hat, lassen wir ihn selbst seine Auffas-sung darüber sagen. Arnobius selbst also erklärt die Worte: Fac mecumsignum in bonum im Psalm 86 (17) und läßt dazu die Apostel sagen:„Denn nachdem der Herr auferstanden und in den Himmel aufgefahrenist, werden wir, seine Apostel und Jünger, mit allen Gläubigen das Zei-chen seines Kreuzes hochachten, so daß die sichtbaren und unsichtba-ren Feinde auf unserer Stirn dein heiliges Zeichen sehen und bestürztwerden, denn in diesem Zeichen hilfst du uns und in diesem tröstest duuns, Herr, der du regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Irgendei-ner könnte sagen, diese Kommentare seien nicht vom Rhetoriker Arno-bius, aber er hätte nicht recht, das zu sagen. Das genügt.

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13. Kapitel

Wie sehr man das Kreuz schätzen muß im Vergleich mit der ehernen Schlange.

Die gewöhnliche Ausflucht der Hugenotten, irgendeine ausdrückli-che Stelle in der Heiligen Schrift zu verlangen, um einen Glaubensarti-kel anzunehmen, die scheint auch der Traktant zur Hand zu haben, denner wird mir sagen: Wo steht geschrieben, daß man die Darstellungen desKreuzes ehren muß und daß es die Kräfte hat, die ihr ihm zuschreibt?Ich habe darauf schon am Anfang des ersten Buches geantwortet, aberich sage nun: 1. Man ist nicht verpflichtet, ein ausdrückliches Gebot inder Heiligen Schrift nachzuweisen. Könnte man mir zeigen, daß manden Sonntag mehr ehren, achten und heilighalten muß als den Donners-tag? Item, wenn die Eucharistie nichts anderes ist als eine einfache Er-innerung an die Passion, wie die Reformierten voraussetzen: man wirdwohl finden, daß man sich selbst prüfen muß und sie nicht unwürdigessen darf, aber wo wird man mir zeigen, daß ihr irgendeine äußereEhre gebührt? Und ich bitte euch, warum sollte man mehr daran glau-ben, die Kreuze seien zu verbrennen und zu zerschlagen, als sie zu er-richten, zu ehren, sie heilig, kostbar und siegreich zu nennen? Denn daseine steht nicht geschrieben und noch weniger das andere.

Es ist eine grenzenlose Unverschämtheit, zurückzuweisen, was dieKirche annimmt. Ich finde in der Heiligen Schrift, daß man auf dieKirche hören muß (Mt 18,17), daß sie die Säule und Grundfeste derWahrheit ist (1 Tim 3,15), die die Pforten der Hölle nicht überwindenwerden (Mt 16,18), aber ich finde in der Heiligen Schrift nicht, daß manzerstören müßte, was sie errichtet, schmähen, was sie ehrt. Man muß andie Heilige Schrift glauben, wie sie uns die Kirche vorlegt, man muß andie Kirche glauben, wie es die Heilige Schrift verlangt. Die Kirche ge-bietet mir, das Kreuz zu ehren; es gibt keinen so redegewandten Huge-notten, der nachweisen könnte, die Heilige Schrift verbiete es. Aber dieHeilige Schrift, die die Kirche so sehr empfiehlt, empfiehlt hinreichenddie Kreuze, die in der Kirche und von der Kirche errichtet werden.

Mit Nicephorus von Konstantinopel sage ich, es ist geboten, das Kreuzzu ehren, wo geboten wird, Jesus Christus zu ehren, zumal das Bilduntrennbar von seinem Urbild ist. Das Bild und das Urbild sind ja das-selbe, nicht von Natur aus, sondern durch Gewohnheit und Bezug, undweil das Bild zu seinem Urbild in Beziehung steht, dem Namen, der

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Ehre und Verehrung nach, nicht wirklich gleich, sondern beziehungs-weise. Wurden der Stab des Mose und Aaron, die Bundeslade und tau-send solche Dinge nicht für heilig und geheiligt und folglich für ehrwür-dig gehalten? Sie waren jedoch nur Vorbilder des Kreuzes; warum alsosollte uns das Bild des Kreuzes nicht ehrwürdig sein? Sagen wir so:Heißt es nicht etwas in Ehren halten, wenn man es als ein heilsames undwunderbares Mittel gegen unsere Übel betrachtet? Aber welch größereEhre kann man Dingen erweisen, als sie in dieser Weise zu schätzen undzu diesem Zweck zu ihnen seine Zuflucht zu nehmen?

Nun, die ersten, überaus eifrigen Christen, hatten diesen ehrendenGlauben an den Schatten des hl. Petrus, und trotzdem wurde ihr Glaubegelobt und bestätigt durch den Erfolg und die Heilige Schrift selbst; unddoch ist der Schatten nichts anderes als eine unklare Dunkelheit, einsehr unvollkommenes Bild und Zeichen des Körpers, bewirkt nichtdurch irgendeine wirkliche Anwendung, sondern nur durch den bloßenEntzug des Lichtes. Die Ehrung dieses leeren, oberflächlichen und flüch-tigen Zeichens ist in der Heiligen Schrift angenommen, wieviel mehrvon bleibenden und gediegenen Zeichen, wie es das Kreuz ist?

Schließlich erinnere ich an den ehrenvollen Rang, den die eherneSchlange, ein Vorbild des Kreuzes, bei den Israeliten hatte, um zu zei-gen, wieviel mehr ihn die anderen Bilder des Kreuzes verdienen, die esin der Christenheit gibt. Der Grund ist wohl zu beachten, wie ich durchdie Erwiderung auf das zeigen werde, was der Traktant mit großem Auf-heben von der gleichen ehernen Schlange uns vorhält, damit sie unsbeiße; er sagt (B.T. 55): „Was aber im 21. Kapitel Numeri berichtetwird, darf nicht leichthin übergangen werden; denn wenn es ein Bei-spiel gibt, das den Mißbrauch, der mit dem Kreuz getrieben wird, förm-lich und sicher widerlegt, dann ist es das der ehernen Schlange. Siewurde auf Anordnung Gottes aufgerichtet; trotzdem war sie kein Göt-zenbild; denn obwohl es durch das allgemeine Gebot Gottes verbotenwar, ein Bild anzufertigen von Dingen im Himmel, auf Erden, im Was-ser unter der Erde, war Gott doch nicht an sein Gebot gehalten, sondernstand über ihm und konnte es außer Kraft setzen, wie er tatsächlichselbst sein Gebot außer Kraft gesetzt und befohlen hat, diese eherneSchlange zu machen, die ein Sinnbild der Erhöhung Jesu Christi amKreuz war, wie er selbst im 3. Kapitel beim hl. Johannes bestätigt.“ Undetwas später (B.T. 56f): „Sehen wir nun, was geschehen ist: Von da an biszur Zeit des guten Königs Hiskija, d. h. während ungefähr 735 Jahren,ist von dieser ehernen Schlange nicht mehr die Rede. Weil es damals

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dazu gekommen war, daß ihr das Volk Weihrauch streute, d. h. sie anbe-tete, obwohl sie von Mose angefertigt und durch 735 Jahre aufbewahrtworden war, zerbrach und verbrannte sie Hiskija. Daraus ziehen wir denSchluß vom Kleineren auf das Größere: wenn die Bilder im allgemei-nen und das des Kreuzes im besonderen nicht auf Anordnung Gottesangefertigt werden, sondern durch die Anmaßung und den Aberglaubender Menschen (die dachten, er sehe und höre sie nicht, wenn sie nichtsolche Bilder vor ihren Sinnen hätten), selbst wenn Bilder seit unvor-denklicher Zeit eingeführt wurden, wie sehr müssen sie entfernt wer-den. In der Tat, wenn die Dinge einen Punkt erreichen, daß sie am An-fang nicht für diesen gleichen Zweck bestimmt sein konnten, dann ist esoffenkundig, daß man sie abschaffen muß, wie Hiskija die Schlange ent-fernt hat, weil sie am Anfang nicht dazu errichtet sein konnte, daß manihr Weihrauch streute. Wegen des Mißbrauchs mit ihr, der hinzukam,hat er gut daran getan, sie ganz zu entfernen. Denn der Götzendienst istnicht von der Art, daß man sagen könnte: schafft den Mißbrauch ab undbehaltet den Gebrauch bei; denn wie man das Götzenbild auch betrach-tet, taugt es nichts.“ Das ist die ganze Schlußfolgerung des Traktanten;aber o Gott, welche Ungereimtheiten.

1. Traktant, Sie sagen, die eherne Schlange wurde auf Anordnung Got-tes angefertigt, der es Mose befohlen hat; aber ich sage, die Kreuze wur-den auf Anordnung Gottes angefertigt, der es der Kirche eingegebenund es durch die apostolische Überlieferung gelehrt hat. Sie werdenmich darauf hinweisen, daß Gott zu Mose gesprochen hat; ich werdeIhnen zeigen, daß er die Kirche belehrt und ihr ständig beisteht, so daßsie nicht irren kann.

2. Sie sagen, der Befehl, die eherne Schlange anzufertigen, setze dasVerbot außer Kraft, Bilder anzufertigen; also ist es kein Götzendienst,Bilder zu machen, noch sind die Bilder Götzenbilder, denn Götzen-dienst ist in jeder Form schlecht und kann unmöglich erlaubt sein, „zu-mal das Götzenbild nichts taugt, wie man es auch betrachtet.“ Gotthätte also niemals das Verbot außer Kraft gesetzt, Bilder anzufertigen,wenn das Götzendienst gewesen wäre, außer Gott könnte das Gebotaußer Kraft setzen, um verleugnet zu werden.

3. Sie sagen: „Von da an bis zur Zeit des guten Königs Hiskija, d. h.während ungefähr 735 Jahren, war von dieser ehernen Schlange nichtmehr die Rede.“ Haben Sie denn nicht zu Ihrer Erbauung ebenso be-merkt, daß sie, obwohl in der Heiligen Schrift nicht davon gesprochen

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wird, dennoch aufbewahrt und als kostbar gehütet wurde? Sie wurde jaaußerhalb und weit entfernt vom gelobten Land angefertigt, aber nichtdort zurückgelassen, wo sie gemacht wurde, sondern zusammen mit denanderen heiligen Einrichtungen mitgenommen. Item, obwohl sie nurangefertigt wurde (was das betrifft, was der einzige Text der HeiligenSchrift beinhaltet), um ein Heilmittel für jene zu sein, die in der Wüstevon Schlangen gebissen wurden, wurde sie dennoch im gelobten Landim Volk Israel in einem Zeitraum von ungefähr 735 Jahren, wie Siesagen, in ehrenvollem Andenken sorgsam aufbewahrt; im guten Glau-ben, diese eherne Schlange anzufertigen, sei eine Ausnahme vom Ver-bot, irgendwelche Bilder zu machen? Sie sagen so. Nun muß der Grundder Ausnahme zeitlich begrenzt sein und durch die Voraussetzung, de-retwegen sie gewährt wurde, denn wenn die Ursache wegfällt, hat siekeine Wirkung mehr. Da nun das Volk heil und gesund das gelobte Landerreicht hatte, konnte es in der Heiligen Schrift keine Grundlage mehrfinden, diese Darstellung beizubehalten, weil die Ursache der Ausnah-me weggefallen war. Geben Sie daher zu, daß diese Darstellung beimVolk lange Zeit ehrwürdig blieb ohne irgendein geschriebenes WortGottes. Daher ist es kein Götzendienst und kein Aberglaube, Bilderaußerhalb und über die Heilige Schrift hinaus zu haben.

Und seien Sie nicht so unverschämt zu behaupten, es sei Aberglaubegewesen, die eherne Schlange zu behalten und aufzubewahren, denn Siewürden die heiligsten und eifrigsten Diener, die Gott in Israel hatte, derleichtfertigen Duldung der Gottlosigkeit beschuldigen: Mose, Josua,Gideon, Samuel, David. Unter ihrer Autorität und Herrschaft wurdedieses Bild mitgenommen und so viele Jahre bewahrt über die Zeithinaus, für die es Gott angeordnet hatte. Wäre es nicht ihre Aufgabegewesen, es zu entfernen, wenn es nicht gut gewesen wäre, es über denGebrauch hinaus aufzubewahren, für den es angefertigt wurde? Hättendiese im Dienst ihres Herrn so strengen und aufrichtigen Geister diesenFehler verschwiegen? Item, haben Sie denn nicht bemerkt, daß man dieAbbildung nicht so lange aufbewahrt hätte, wenn sie nicht in irgendei-ner Beziehung ehrwürdig gewesen wäre? Welchen Grund konnte es ge-ben, sie aufzubewahren, weder nach ihrer Form noch nach ihrem Mate-rial? Sie konnte gewiß keinen anderen Rang haben als den eines emp-fehlenswerten und geheiligten Andenkens an die in der Wüste empfan-gene Wohltat oder eines heiligen Sinnbildes des Geheimnisses der künf-tigen Erhöhung des Gottessohnes. Das sind zwei religiöse und ehren-volle Formen des Gebrauchs, aber viel geeigneter für das Bild des Kreu-

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zes, das als Erinnerung an das Geheimnis der Kreuzigung in der Ver-gangenheit dient und an die Ankunft am Tag des Jüngsten Gerichtes.

4. Aber Sie haben nicht bedacht, daß jener, der die eherne Schlangezerschlug, als König über Israel gesetzt war und daß es ihm zustand,diese Maßnahme durchzuführen. Die Kreuzstürmer unserer Zeit dage-gen haben ihr Zerstörungswerk aufrührerisch begonnen ohne legitimeAutorität und Vollmacht. Item, das Volk beging eine große Abgöttereimit der ehernen Schlange: 1. weil der Weihrauch eine Gott gebührendeOpfergabe ist, wie man leicht aus der Heiligen Schrift ableiten kann;und das ganze Altertum hat es vermerkt von der Opfergabe von Gold,Weihrauch und Myrrhe, die die Könige Unserem Herrn dargebrachthaben; den Weihrauch Gott, sagen alle. Nachdem man den WeihrauchGott dargebracht hat, wendet man sich gegen das Volk, nicht um ihndiesem zu opfern, sondern um es an der geheiligten Sache teilhaben zulassen; man richtet ihn gegen die Altäre, aber er gilt Gott als demjeni-gen, der auf dem Altar angebetet wird; man richtet ihn gegen die Reli-quien und Gedenkstätten der Märtyrer, aber er gilt Gott als Danksagungfür den Sieg, den sie durch seine Güte errungen haben. Man bringt ihndar in Kirchen und Stätten des Gebetes, um sein Verlangen auszudrü-cken, daß das Gebet der Gläubigen wie Weihrauch zu Gott aufsteige.Darüber hat eine große Persönlichkeit unserer Tage etwas grob gesagt,man bringe ihn den Geschöpfen dar; das sind Unachtsamkeiten, die denGrößten manchmal unterlaufen, ut sciant gentes quoniam homines sunt(damit die Leute wissen, daß sie Menschen sind). 2. (beging das Volkeine Abgötterei) weil in alter Zeit das Darbringen des Weihrauchs sogenau geordnet war, daß er von den Priestern und Leviten dargebrachtwerden mußte, und weil er einzig über dem Feuer des Altares im Tem-pel von Jerusalem verbrannt wurde, wo der Rauchopferaltar dafür be-stimmt war (Ex 30,7f u. a.); anderswo war es nicht erlaubt, wie Sie selbst(B.T. 54) zugeben. Nadab und Abihu erging es schlecht, weil sie andershandelten (Lev 10,1f). Was Wunder also, wenn Hiskija, als er sah, daßdieses Volk sich vor diesem Bild erniedrigte und ihm göttliche Ehrenerwies, es zerstörte und vernichtete? So mußte er mit seinem Volk um-gehen, das so bereit zum Götzendienst war.

Daraus ziehen wir im Gegensatz zu dem, was Sie kleiner Traktantgetan haben, den Schluß: wenn die heiligen Bilder im allgemeinen unddas des Kreuzes im besonderen auf Anordnung der Kirche und folglichGottes angefertigt sind, wie sehr müssen sie dann erhalten und bewahrtwerden, obwohl sie von abergläubischen und ungläubigen Menschen

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geschmäht werden (die glaubten, daß Gott sie nicht sehen und hörenkönne, wenn sie solche Bilder nicht zerstört hätten), vor allem Bilder,die wir aus unvordenklichen Zeiten erhalten haben. Hiskija tat gut dar-an, die eherne Schlange zu zerstören, weil das Volk an ihm Götzen-dienst trieb; Mose, Josua, Gideon, Samuel und David taten gut daran,sie zu behalten, solange das Volk keinen Mißbrauch mit ihr trieb. Nun,weder die Kirche noch, mit ihrer Zustimmung, die Katholiken miß-brauchten je das Kreuz und andere Bilder; man muß sie also beibehal-ten. Die uns Götzendienst vorwerfen, sind nicht Hiskija, sie sind derAusstoß des Volkes und der Klöster, leidenschaftliche Leute, die diekeusche Susanna des Ehebruchs anzuklagen wagen, die der wahre Dani-el tausendfach in der Heiligen Schrift für unschuldig erklärt hat. Mandarf ihr nicht den Mißbrauch anrechnen, der bei einzelnen vorkommenkann. Das betrifft nicht die Öffentlichkeit, es ist nicht vernünftig, dasgleiche von den übrigen vorauszusetzen. Das Mittel, den Gebrauch desKreuzes wiederherzustellen, liegt nicht darin, es umzustürzen, sonderndarin, die Leute recht anzuleiten und zu unterweisen.

14. Kapitel

Von der Bestrafung jener, die das Bild des Kreuzes geschmäht haben, und wie sehr es von den Feinden Jesu Christi gehaßt wird.

Gott hat gezeigt, wie wohlgefällig ihm die Darstellung des Gekreuzig-ten und des Kreuzes ist, durch tausend Strafen, die er über jene verhängthat, die in Wort oder Tat eine solche Darstellung zu schmähen wagten.Ich lasse unzählige Dinge zu diesem Gegenstand beiseite, unter anderendie Geschichte des Vorfalls, der sich in Beirut ereignete, die vom hl.Athanasius berichtet wird und die ich oben (3. Kap.) erwähnt habe. EinJude sah in einer Kirche ein Bild Unseres Herrn (ohne Zweifel war esein Kruzifix); getrieben von der Wut, die er gegen dessen Urbild hatte,kommt er nachts, trifft das Bild mit einem Spieß, dann steckt er es unterseinen Mantel, um es in seinem Haus zu verbrennen. Da geschieht etwasWunderbares, wobei niemand bezweifeln kann, daß es durch göttlicheKraft geschah: aus der Stelle des Bildes, die er durchstoßen hat, fließtreichlich Blut. Der Übeltäter bemerkt es nicht, bis er in sein Haus kommtund vom Schein des Feuers erhellt sieht, daß er ganz mit Blut beflecktist. Ganz entsetzt stellt er das Bild in eine Ecke und wagt nicht mehr zu

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berühren, was er so frevelhaft geraubt hat. Indessen folgen die Christen,die das Bild nicht an seinem Platz finden, der Spur des vergossenenBlutes von der Kirche bis zu dem Haus, wo es versteckt wurde. Es wurdean seinen Platz zurückgebracht und der Räuber gesteinigt. Der hl. Gre-gor von Tours hat diese Geschichte vor fast tausend Jahren aufgeschrie-ben. Gonzalvo Fernandes schreibt in einem Brief, daß die Christen einKreuz auf einem Berg in Japan errichtet haben. Drei der vornehmstenJapaner kommen, um es umzuhauen. Sie haben es kaum vollbracht,beginnen sie gegeneinander zu kämpfen, zwei bleiben tot auf dem Platzund niemand hat je erfahren, was aus dem dritten geworden ist.

Vor einigen Jahren kamen französische Truppen an der Grenze unse-res Savoyen in ein Dorf Loette. Entsprechend dem Unglück unsererZeit waren die Kompanien auch mit einigen Hugenotten durchsetzt.Einige von ihnen betreten an einem Freitag die Kirche, um irgendeinFrikassee zu verschlingen. Andere von ihren Kameraden, die Katholi-ken waren, machen sie aufmerksam, daß sie Anstoß erregten und daßihr Hauptmann nicht so eingestellt sei. Die Schlemmer beginnen nachArt der Reformierten zu spotten und zu lachen und sagen, daß niemandsie sehe. Dann wenden sie sich an das Bild des Gekreuzigten und sagen:„Vielleicht willst du uns verklagen, du Knirps. Hüte dich, ein Wort zusagen, du Knirps“, und sie werfen Steine gegen das Bild mit einer Füllesolcher Schmähworte. Um diesen Lumpen zu zeigen, daß man das Bildehren muß um der Ehre dessen willen, den es darstellt, bezieht Gott dieSchmähung auf sich, und die Strafe folgt sogleich. Sie werden von Rase-rei ergriffen und fallen übereinander her, um einander zu zerfleischen.Einer stirbt auf der Stelle, die anderen werden auf der Rhône nach Lyongebracht, um Heilung von dieser Wut zu suchen, die in ihnen brannteund sie verzehrte. Ich habe darüber von sicheren Zeugen so viel gehört,daß ich es an dieser Stelle festhalten mußte, da es mir gelegen kam.

Das Kreuz ehren heißt den Gekreuzigten ehren, es verunehren heißtihn verunehren. Da die Juden, Türken, Apostaten und ähnliche Schur-ken Unseren Herrn nicht in seiner Person beschimpfen konnten (dennwie unser Sprichwort sagt, ist der Mond sehr gut vor Wölfen bewahrt),wandten sie sich gewöhnlich gegen sein Bild. Die Kaiser Honorius undTheodosius bestätigen, daß die Juden zu ihrer Zeit aus Verachtung fürunsere Religion an ihren höchsten Festen Bilder der Kreuzigung Unse-res Herrn zu verbrennen pflegten. Daher befahlen sie den Befehlsha-bern der Provinzen, darüber zu wachen, daß solche Unverschämtheitennicht mehr begangen werden und daß den Juden nicht mehr erlaubt

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werde, das Zeichen unseres Glaubens in ihren Synagogen zu haben. Derwiderwärtige Perser Xenaias zerstörte mit allen Mohammedanern über-all die Kreuze. Julian Apostata entfernte von der Fahne oder Standarteder Römer das Kreuz, das Konstantin darauf hatte anbringen lassen, umdie Leute zum Heidentum zu verleiten. Der gleiche Haß, den er gegenUnseren Herrn hatte, drängte ihn auch zu folgendem Streich: Eusebiusschreibt, die Frau, die durch die Berührung des Gewandes UnseresHerrn geheilt wurde, ließ später zur Erinnerung an diese Wohltat einsehr schönes Bronzestandbild vor der Tür ihres Hauses in der StadtCäsarea Philippi, sonst auch Paneas genannt, errichten. Auf ihm war aufder einen Seite Unser Herr mit seinem befransten Gewand dargestellt,auf der anderen kniend diese Frau, die ihre Hand nach ihm ausstreckt.Wie Sozomenes berichtet, erfuhr Julian davon, ließ dieses Standbildzerstören und an dessen Stelle sein eigenes setzen. Aber als das gesche-hen war, fiel Feuer vom Himmel, das das Standbild Julians zu Bodenwarf und in Stücke schlug. Es blieb geschwärzt und wie verbrannt biszur Zeit des Sozomenes erhalten. Damals zertrümmerten die Heidendas Standbild des Erlösers; die Christen sammelten die Teile und brach-ten sie in die Kirche.

So beschließe ich das zweite Buch und sage: es gibt zwei Hauptgrün-de, warum man die Kreuze mehr verehrt als die Lanze, die Krippen undGräber, obwohl, wie das Kreuz dadurch geadelt wurde, daß es im Dienstunserer Erlösung verwendet wurde, es wohl auch die Lanze, die Krippeund das Grab sind. Der eine Grund ist, daß seit der Zeit, als Konstantindie Kreuzesstrafe abschaffte, das Kreuz bei den Christen zu nichts ande-rem mehr gebraucht wird, als seine heilige Passion darzustellen, wäh-rend die Krippen, Gräber und andere ähnliche Dinge mehrere anderegewöhnliche und natürliche Verwendungen haben. Der zweite Grundist der, den der hl. Athanasius (s. 2. Kap.) angibt. Wenn irgendwelcheHeiden oder Hugenotten uns des Götzendienstes bezichtigen, als obwir das Holz anbeteten, können wir leicht die Teile des Kreuzes ausein-andernehmen. Daran, daß wir sie dann nicht mehr verehren, wird manerkennen, daß wir das Kreuz nicht wegen seines Materials verehren,sondern deswegen, was es darstellt und woran es erinnert. Das kann mannicht machen mit der Krippe, der Lanze und dem Grab und anderenDingen dieser Art; da sie ausdrücklich zur Darstellung heiliger Ge-heimnisse gebraucht werden, darf man ihnen die Ehre nicht entziehen.

Wenn also Bilder ihre Form und folglich die Eigenschaft einer Dar-stellung verloren haben, sind sie nicht mehr ehrwürdig; aber das gilt

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nur, wenn sie nicht eine andere ehrwürdige Eigenschaft haben außer derDarstellung und der Beziehung zu ihrem Vorbild, was gewöhnlich zu-trifft. Jenes Bild von Cäsarea war außer der Darstellung eine kostbareReliquie jener frommen Frau, ein ehrwürdiges Denkmal des Altertumsund das Werkzeug eines großen Wunders. Diese Eigenschaften sind nichtnur der Zusammenstellung eigen, der Symmetrie und Proportion derLinien und Profile eines Standbildes, sondern auch jedem seiner Teile.So werden die Bruchstücke antiker Statuen als Andenken des Alter-tums aufbewahrt; ebenso das kleinste Stück vom Gewand oder ein an-derer Gebrauchsgegenstand von Heiligen und der Werkzeuge Gottes.Jenes Standbild nun hatte ein großes Wunder bewirkt: es war auf einerhohen Steinsäule errichtet, auf der eine unbekannte Pflanze wuchs. So-bald sie den Saum des Gewandes der Statue berührte, heilte sie alleKrankheiten. Darin ist das Gewand Unseres Herrn dem Kreuz um somehr zu vergleichen, denn wenn das Gewand Wunder bewirkt, sobaldes berührt wird, so tut sein Kreuz sehr wohl das gleiche. Doch wennauch das Bild seines Gewandes Wunder bewirkt hat, so habe ich auchnachgewiesen, daß die Bilder des Kreuzes diese Gnade in besonderemMaß hatten, sehr oft wunderwirkende Werkzeuge seiner göttlichen Ma-jestät zu sein.

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Drittes BuchDrittes BuchDrittes BuchDrittes BuchDrittes Buch

VVVVVon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Krafon der Ehre und Kraft des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichenst des Kreuzzeichens

1. Kapitel

Definition des Kreuzzeichens.

Das Kreuzzeichen ist eine christliche Zeremonie, die die Passion Un-seres Herrn versinnbildet durch die Darstellung der Form des Kreuzes,die durch eine einfache Handbewegung gemacht wird. Ich habe gesagt,es ist eine Zeremonie, und sage, weshalb. Ein tüchtiger Mann macht alleseine Leute nützlich und setzt sie ein, uzw. nicht nur die mit einer akti-ven und kraftvollen Natur, sondern auch die Schwächsten; so auch dieTugend der Gottesverehrung. Das ihr eigene und naturgemäße Ziel ist,Gott soviel als möglich die ihm gebührende Ehre zu erweisen. Sie stelltdie tugendhaften Handlungen in den Dienst ihrer Absicht und richtetalle auf die Ehre Gottes aus; sie bedient sich des Glaubens, der Stand-haftigkeit, der Mäßigung durch den rechten Glauben, das Martyrium,das Fasten. Das sind schon tugendhafte und gute Akte in sich; die Tu-gend der Gottesverehrung tut nichts anderes, als sie auf ihre besondereAbsicht auszurichten, die darin besteht, durch sie Gott zu ehren. Abersie gebraucht nicht nur diese Handlungen, die von sich aus nützlich undgut sind, sondern setzt auch indifferente Handlungen ein, die ansonstenganz unnütz wären, wie der Mann im Evangelium (Mt 20,6f), der inseinen Weinberg jene schickte, die er müßig fand und deren sich bisdahin niemand bedienen wollte. Die indifferenten Handlungen bliebennutzlos, wenn sie nicht die Tugend der Gottesverehrung gebrauchte.Wenn sie von ihr eingesetzt werden, werden sie edel, nützlich und hei-lig, sie verdienen folglich den Lohn des Denars für den Tag. Diese Voll-macht, die Handlungen zu veredeln, die von sich aus gewöhnlich undunnütz wären, steht der Gottesverehrung als der Fürstin der Tugendenzu. Das ist ein Merkmal ihrer Hoheit, dessen sie sich so sehr erfreut, daßes nie eine Religion gab, die sich nicht solcher Handlungen bediente;sie sind und werden Zeremonien im eigentlichen Sinn genannt, sobaldsie in den Dienst der Gottesverehrung treten. Und in der Tat schuldet

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der ganze Mensch mit allen seinen Handlungen, mit allem, was von ihmabhängt, Gott Ehre. Da er aus Seele und Leib, dem Inneren und Äuße-ren besteht, und da es im Äußeren indifferente Handlungen gibt, ist esnicht verwunderlich, wenn die Religion, die die Aufgabe hat, ihm die-sen Tribut zu zollen, äußere, indifferente und körperliche Handlungenverlangt und als Zahlung annimmt.

Betrachten wir die Welt in ihrem Anfang: Abel und Kain bringen Opferdar (Gen 4,3f); welche andere Tugend als die der Gottesverehrung hat siedazu bewogen, das zu tun? Bald darauf kommen alle aus der Arche wieaus ihrer Wiege, und sogleich wird ein Altar errichtet und auf ihm werdenmehrere Tiere als Brandopfer dargebracht, dessen Rauch Gott als Wohl-geruch annimmt (Gen 8,18-21). Es folgt das Opfer Abrahams (12,8; 13,18;22,13), Melchisedeks (19,18), Isaaks (26,25), Jakobs (28,18; 33,20;35,14) mit seiner Waschung (32,2f). Die Beobachtung des mosaischenGesetzes bestand zum großen Teil in Zeremonien. Kommen wir zumEvangelium: wie viele Zeremonien sieht man in unseren Sakramenten(Lk 22; Joh 3), bei der Heilung von Blinden (Mk 8; vgl. 7), bei der Aufer-weckung von Toten (Joh 21,35-44), bei der Fußwaschung der Apostel(Joh 13,4f). Der Hugenotte wird sagen, dabei habe Gott getan, was ihmgefiel, und daraus dürfe von uns keine Folgerung abgeleitet werden. Dochda ist der hl. Johannes, der tauft (Mk 1,4), der hl. Paulus, der sich zufolgeseines Gelübdes in Kenchreä das Haupt scheren ließ (Apg 18,18); erbetet auf dem Boden kniend mit der Gemeinde von Milet (Apg 20,36):alle diese Handlungen waren aus sich selbst steril und unfruchtbar, da sieaber zum Zweck der Gottesverehrung verwendet wurden, waren sie ehr-würdige Zeremonien von großem Gewicht.

Nun sage ich ebenso: das Kreuzzeichen hat aus sich selbst keinerleiKraft, keine Wirksamkeit und keinen Wert, der irgendeine Ehre ver-dient. Trotzdem bekenne ich, „Gott wirkt nicht nur durch Formen undZeichen“, wie der Traktant (B.T. 15) sagt, und „in den natürlichen Din-gen geht die Wirksamkeit aus ihrem Wesen und ihrer Eigenschaft her-vor; in den übernatürlichen wirkt Gott durch Wunderkraft, die nicht anZeichen und Formen gebunden ist.“ Ich weiß aber auch, daß Gott, wenner seine Wundermacht gebraucht, sich sehr oft der Zeichen und Zere-monien, der Formen und Ausdrücke bedient, ohne deswegen seine Machtan diese Dinge zu binden. Mose berührte den Felsen mit dem Stab (Ex17,6; Num 20,11), Elischa schlug mit dem Mantel des Elija auf dasWasser (2 Kön 2,14), die Kranken suchten den Schatten des hl. Petrus(Apg 5, 15), die Schweißtücher des hl. Paulus (Apg 19,2) oder berühr-

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ten das Gewand Unseres Herrn (Mt 14,36), die Apostel salbten vielemit Öl (Mk 6,13), Dinge, die keineswegs geboten waren: Was machtensie anderes als reine Zeremonien, die keinerlei natürliche Kraft besa-ßen und dennoch zu wunderbaren Wirkungen angewendet wurden? Mußman etwa deswegen sagen, die Macht Gottes sei an diese Zeremoniengeheftet und gebunden gewesen? Im Gegenteil, die Macht Gottes, die sovielerlei Zeichen und Zeremonien verwendet, zeigt dadurch, daß sie ankeinerlei Zeichen und Zeremonien gebunden ist.

Daher habe ich gesagt: 1. Das Kreuzzeichen ist eine Zeremonie; alskreuzförmige Bewegung ist es nach seiner natürlichen Beschaffenheitweder gut noch schlecht, weder lobens- noch tadelnswert. Wie vielemachen die Weber, Maler, Schneider und andere, die niemand ehrt odergeringschätzt? Weil diese Kreuze (dasselbe sage ich von den Zeichenund Kreuzformen, die wir auf profanen Bildern, Fenstern und Gebäu-den sehen), diese Kreuze, sage ich, sind nicht zur Ehre Gottes noch zueinem religiösen Gebrauch bestimmt. Wenn aber dieses Zeichen imDienst der Ehre Gottes verwendet wird, wird aus dem Indifferenten, dases war, eine geheiligte Zeremonie, deren Gott sich zu vielen großenWirkungen bedient.

2. Ich habe gesagt, daß es eine christliche Zeremonie ist, zumal dasKreuz und alles, was es versinnbildet, den Heiden eine Torheit und denJuden ein Ärgernis ist (1 Kor 1,23). Wie der gelehrte Genebrard betont,der den Rabbi Kimhi zitiert, verabscheuen sie es so sehr, daß sie es nichteinmal mit seinem Namen bezeichnen wollen, sondern es ‚stamen‘ und‚subtegmen‘ nennen, Faden und Einschlag, die die Weber kreuzen, wennsie ihr Tuch herstellen. Ich weiß, daß im Alten Testament und sogar imNaturgesetz verschiedene Dinge geschahen, um den Tod des Messias zuversinnbilden, aber das waren nur Schatten, dunkle und undeutlicheBilder im Vergleich mit dem, was jetzt geschieht; das waren keine Zere-monien, die diesem Gesetz entsprachen, sondern gleichsam Blitze, diesie vorübergehend beleuchteten. Die Heiden und andere Ungläubigehaben sich manchmal dieses Zeichens bedient, aber sie haben es ent-lehnt, nicht als eine Zeremonie ihrer Religion, sondern der unseren.Und der Traktant gibt tatsächlich zu, daß das Kreuzzeichen ein Kenn-zeichen des Christentums ist.

3. Ich habe gesagt, diese Zeremonie stellt die Passion dar; das isttatsächlich seine erste und hauptsächliche Verwendung, von der alleanderen abhängen. Das unterscheidet sie von vielen anderen christli-chen Zeremonien, die dazu dienen, andere Geheimnisse darzustellen.

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4. Ich habe gesagt, es stellt sie dar durch den Ausdruck der Form desKreuzes, um den Unterschied anzudeuten, wie das Kreuzzeichen einer-seits und die Eucharistie andererseits das Geheimnis der Passion dar-stellen: Die Eucharistie stellt sie ja hauptsächlich dar im Sinn der voll-ständigen Identität dessen, der hier dargebracht wird, und dessen, deram Kreuz geopfert wird, d. h. ein und derselbe Jesus Christus; aber dasKreuzzeichen macht dasselbe, indem es die Form und Gestalt der Pas-sion ausdrückt.

5. Ich habe schließlich gesagt, das alles geschieht durch eine einfacheHandbewegung, um die Zeichen auszuschließen, die in feste Stoffe ein-geprägt und gezeichnet sind, von denen ich im vorhergehenden Buchgesprochen habe.

Von diesen Feststellungen hängt nun die übliche Art ab, das Kreuz-zeichen zu machen. 1. Es soll mit der rechten Hand gemacht werden,weil sie für die würdigere gehalten wird, wie Justin der Märtyrer sagt. 2.Man gebrauche dazu entweder drei Finger, um die heiligste Dreifaltig-keit zu versinnbilden, oder fünf, um die fünf Wunden des Erlösers zuversinnbilden. Obwohl es an sich wenig ausmacht, wenn man das Kreuz-zeichen mit mehr oder weniger Fingern macht, muß man sich doch andie allgemeine Art der Katholiken halten, um nicht den Anschein zuerwecken, man richte sich nach bestimmten Jakobiten und Armeniern.Die einen von ihnen bekannten, daß sie nicht an die Trinität glauben, dieanderen, daß sie nur an eine einzige Natur in Jesus Christus glauben,und sie machen das Kreuzzeichen mit nur einem Finger. 3. Man führtdie Hand zuerst nach oben zum Kopf und spricht: Im Namen des Va-ters, um zu zeigen, daß der Vater die erste Person der heiligen Dreifal-tigkeit ist und der Urgrund der beiden anderen. Dann führt man sieherab zum Leib und spricht: und des Sohnes, um zu zeigen, daß derSohn vom Vater ausgeht, der ihn herabgesandt hat in den Schoß derJungfrau. Und dann führt man die Hand von der linken Schulter oderSeite zur rechten und spricht: und des Heiligen Geistes, um zu zeigen,daß der Heilige Geist, die dritte Person der heiligen Dreifaltigkeit, ausdem Vater und dem Sohn hervorgeht, daß er das Band der Liebe zwi-schen ihnen ist und daß wir seiner Gnade die Wirkung der Passionverdanken. Dadurch legt man ein kurzes Bekenntnis von drei großenGeheimnissen ab: der Trinität, der Passion und der Vergebung der Sün-den, durch die wir von der linken Seite der Verdammnis auf die rechteder Seligpreisung versetzt wurden.

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2. Kapitel

Das Kreuzzeichen ist ein öffentliches Bekenntnisdes christlichen Glaubens.

Der Traktant sagt (B.T. 15-17): „Wir wissen wohl, daß einige der altenVäter vom Kreuzzeichen und von seiner Kraft geschrieben haben, aberdas geschah nicht in der Absicht und zu dem Zweck, den man heutevorgibt, denn sie gebrauchten es als ein öffentliches Bekenntnis undeine Bekundung ihres Christentums, sei es im geheimen oder öffentlich.Weil nämlich die Verfolgungen groß und hart waren, wollten sich dieChristen nur ihren christlichen Brüdern zu erkennen geben und sie er-kannten einander an diesem Zeichen, wenn die einen und die anderendas Kreuzzeichen machten, denn es war ein Zeugnis, daß sie zur selbenchristlichen Religion gehörten. Andererseits spotteten die Heiden überdas Kreuz Jesu Christi und sagten, es sei eine Torheit und eine Schande,an einen zu glauben, der am Kreuz gestorben ist. Deshalb wollten dieChristen, die wußten, daß unser ganzer Ruhm im Kreuz Jesu Christibesteht, im Gegenteil zeigen, daß sie sich seiner nicht schämten, undmachten öffentlich dieses Zeichen, um auszudrücken, daß sie Kreuzrit-ter waren, d. h. Jünger Jesu Christi. Darauf muß man beziehen, wasChrysostomus in der 2. Homilie über den Römerbrief sagt: Wenn dujemand sagen hörst: ‚Du betest einen Gekreuzigten an?‘, dann schämedich dessen nicht, schlage die Augen nicht nieder und rühme dich sei-ner, freue dich darüber in dir selbst und leg dieses Bekenntnis mit frei-em Blick und erhobenen Gesichts ab. Und der hl. Augustinus sagt im 3.Kapitel der 8. Predigt über die Worte des Apostels: Die Weisen dieserWelt greifen uns wegen des Kreuzes Christi an und sagen: ‚WelchenVerstand habt ihr denn, einen gekreuzigten Gott anzubeten?‘ Wir ant-worten ihnen: Wir haben nicht euren Verstand, wir schämen uns nichtJesu Christi und seines Kreuzes; wir zeichnen es auf die Stirn, wo derSitz der Scham ist; wir setzen es da hin, wohlgemerkt gerade an dieStelle, wo die Schande sichtbar wird, damit dort das angebracht sei,wessen man sich nicht schämt.“

Das hat der Traktant in einem Zug geschrieben; dann sagt er an ande-rer Stelle (B.T. 33 f) als Antwort auf elf Passagen alter Kirchenväter, diein den Flugblättern zitiert werden: „Die 14. ist aus dem 3. Traktat des hl.Johannes mit den Worten: Wenn wir Christen sind, schließen wir unsJesus Christus an, wir tragen sein Kennzeichen auf der Stirn, dessen wir

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uns nicht schämen, wenn wir es auch im Herzen tragen. Sein Kennzei-chen ist seine Demut. Diesem Zeugnis ordnen wir der Kürze wegen allefolgenden, bis zehn, zu, da sich fast alle darauf beziehen, was gesagtwurde, daß sich die Christen auf der Stirn mit dem Kreuz bezeichnen.Wir anerkennen also, daß diese Gewohnheit, das Kreuzzeichen auf derStirn zu machen, im Altertum eingeführt wurde; durch wen und wie,steht nicht fest.“ Und weiter unten (B.T. 35): „Oben wurde erklärt, wasdie Alten unter diesem Zeichen verstanden, nämlich das äußere Zeug-nis für den christlichen Glauben.“

Das ist gewiß Bekenntnis genug von meinem Gegner, um mich derVeranlassung zu entheben, etwas diesen Punkt Betreffendes zu bewei-sen. Da er aber diese Wahrheiten widerwillig schrieb, hat er sie gestrecktund verdünnt, soviel er konnte.

1. Er sagt: „Einige der alten Väter haben vom Kreuzzeichen gespro-chen.“ Ich fordere ihn auf, mir diejenigen zu nennen, die nicht davongesprochen. Durfte er dann sagen „einige“, als wollte er nur von zweioder drei sprechen?

2. Es heißt, sie haben davon nicht in der Absicht gesprochen, die manheute vorgibt: wenn er das aber von der Absicht der Katholiken ver-steht, werde ich ihm sonnenklar das Gegenteil zeigen. Wenn er es vonder Absicht versteht, die die hugenottischen Prädikanten den Katholi-ken unterstellen, als sei es die gewesen, die der Traktant behauptet, näm-lich dem bloßen Zeichen zuzuschreiben, was dem Gekreuzigten eigenist, so gebe ich zu, daß daran die alten Väter nicht gedacht haben. Das isteine allzu böswillige Unterstellung.

3. Er sagt, die Alten machten dieses Zeichen, um sich nur ihren christ-lichen Brüdern zu erkennen zu geben. Das kann ich wahrhaftig nichtglauben, denn welchen Zweck hätte es gehabt, das Kreuzzeichen zu ma-chen, um sich vor den Feinden zu verbergen? Wie er selbst etwas späterzugibt, spotteten doch die Heiden im Gegenteil über das Kreuz undmachten den Christen darüber die gewohnten Vorwürfe; die Christenaber zeigten, daß sie sich seiner nicht schämten, und machten offen dasKreuzzeichen. Bringt doch diese beiden Aussagen ein wenig in Ein-klang: Die Christen machten das Kreuzzeichen, um sich nur ihren christ-lichen Brüdern zu erkennen zu geben; die Christen machten das Kreuz-zeichen offen, um zu zeigen, daß sie sich seiner nicht schämten. Tertul-lian, Justin der Märtyrer, Minutius Felix bezeugen gewiß hinreichend,daß das Kreuzzeichen nicht ein so geheimes Bekenntnis des Glaubenswar, daß es nicht alle Heiden gut verstanden hätten.

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4. Er sagt, die Gewohnheit, das Kreuzzeichen zu machen, sei im Al-tertum eingeführt worden. Beachtet, daß er von der Zeit des hl. Augusti-nus spricht, von der Calvin als ganz offenkundig feststellt, daß damalsweder in Rom noch in anderen Städten eine Änderung der Lehre erfolgtwar; und der Traktant gibt (B.T. 17) zu, daß erst zur Zeit des hl. Gregordie Augen der Christen sich zu trüben und im Dienst Gottes kaum nochklar zu sehen begannen. Daher argumentiere ich folgendermaßen: ZurZeit des hl. Augustinus war keine Änderung der Lehre erfolgt; zur Zeitdes hl. Augustinus machte man allgemein das Kreuzzeichen; daher istdie Lehre, das Kreuzzeichen zu machen, rein und apostolisch.

5. Er sagt sehr artig, man wisse nicht, „durch wen und wie“ dieseÜbung im Altertum eingeführt wurde. Darauf erwidere ich ihm mitdem hl. Augustinus: „Was die ganze Kirche befolgt und was nicht durchdie Konzile eingeführt, sondern immer beobachtet wurde, davon glau-ben wir fest, daß es nur durch die apostolische Autorität eingesetzt wur-de“; und mit dem hl. Leo: „Man darf nicht daran zweifeln, daß alles ausder apostolischen Überlieferung und der Lehre des Heiligen Geisteshervorgegangen ist, was in der Kirche als Übung der Frömmigkeit ange-nommen wurde.“ Das ist die Regel, nach der die Alten die kirchlichenGebräuche beurteilten. Nach ihr muß das Kreuzzeichen, an dem in derKirche immer festgehalten wurde, von dem man nicht weiß, durch wenund wie es eingeführt wurde, auf die apostolische Einsetzung zurückge-führt werden.

3. Kapitel

Vom häufigen und vielfältigen Gebrauch des Kreuzzeichensin der frühen Kirche.

Man kann das Kreuzzeichen machen, um zu bezeugen, daß man anden Gekreuzigten glaubt, dann ist es ein Bekenntnis des Glaubens; oderauch um zu zeigen, daß man seine Hoffnung und sein Vertrauen in den-selben Erlöser setzt, und dann ist es eine Anrufung Gottes um seineHilfe kraft der Passion seines Sohnes. Der Traktant will glauben ma-chen, das Altertum habe das Kreuzzeichen nur zum ersten Zweck ge-braucht; doch man verwendete es im Gegenteil fast nie nur in diesereinzigen Absicht, sondern viel häufiger wurde es gebraucht, um Gottum Hilfe zu bitten.

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Der hl. Hieronymus schreibt an seine Eustochium: „Bei jedem Werk,bei jedem Kommen und Gehen mache deine Hand das Kreuzzeichen.“Der hl. Ephräm: „Ob du schläfst oder unterwegs bist, ob du aufwachstoder etwas unternimmst, ob du ißt oder trinkst, auf dem Meer bist oderFlüsse überquerst, bedecke dich stets mit diesem Panzer, schmücke undumgib alle deine Glieder mit diesem heilsamen Zeichen, und nichtsBöses wird dich erreichen.“ Tertullian: „Auf jedem Weg, bei jeder Be-wegung, bei jedem Eintritt und Ausgang, wenn wir uns kleiden und dieSchuhe anziehen, in den Bädern, bei Tisch, wenn man das Licht bringt,wenn wir das Zimmer betreten und uns setzen, wo immer uns das Ge-spräch in Anspruch nimmt, berühren wir unsere Stirn mit dem Kreuz-zeichen.“ Der hl. Cyrill sagt: „Man macht dieses Zeichen beim Essenund Trinken, im Sitzen und Stehen, beim Weggehen, auf dem Spazier-gang, kurz bei allem“; und an anderer Stelle: „Schämen wir uns alsonicht, uns zum Gekreuzigten zu bekennen; aber drücken wir mit Zuver-sicht das Kreuzzeichen mit den Fingern auf unsere Stirn, und das Kreuz-zeichen werde bei allem gemacht, beim Essen und Trinken, beim Ein-und Ausgehen, beim Niederlegen vor dem Einschlafen, beim Aufste-hen, im Gehen und Ruhen. Hier ist ein mächtiger Schutz; der Armenwegen wird er umsonst gewährt und ohne Mühe für die Schwachen, dadiese Gnade von Gott stammt, das Zeichen der Gläubigen und derSchrecken der Teufel ist.“ Der hl. Chrysostomus: „Das Kreuz leuchtetüberall, an bewohnten und unbewohnten Orten.“ Der hl. Ambrosius:„Wir müssen unser ganzes Werk im Zeichen des Erlösers tun.“

Fürwahr, kann dieser freigebige und allgemeine Gebrauch dieses hei-ligen Zeichens nur auf das Bekenntnis des Glaubens bezogen werden?Zu welchem Zweck sollte man dieses Bekenntnis des Glaubens bei je-dem Werk machen, wo es niemand sieht? Beim Aufstehen am Morgen,beim Schlafengehen am Abend, im Dunkel der Nacht, an unbewohntenOrten? Mehr noch: diese Väter, die den Gebrauch dieses Zeichens sosehr empfehlen, geben als Grund nie bloß das Bekenntnis des Glaubensan, sondern auch den Schutz und die Sicherheit, die wir von ihm erhal-ten können wie von einem Panzer und Harnisch in der Prüfung, wie esder hl. Ephräm nennt.

Obwohl nun die Alten das Kreuzzeichen so allgemein bei allen Ereig-nissen und Handlungen unseres Lebens machten als ein kurzes und le-bendiges äußeres Gebet, durch das man Gott anruft, will ich dennochnun sagen, wie es angewendet wurde bei Segnungen und Weihen, beiSakramenten, beim Exorzismus, in Versuchungen und bei Wundern.

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4. Kapitel

Alle guten und rechtmäßigen Zeremonienkönnen zur Segnung von Dingen angewendet werden

Jesus Christus erhob die Augen zum Himmel, als er für Lazarus bete-te (Joh 11,41), zu seiner Verherrlichung (Joh 17,1) und bei der Brotver-mehrung (Mt 14,19). Um zu sagen, daß er gebetet hat, sagt David (Ps121,1; 123,1), daß er die Augen zum Himmel erhob. Der Erlöser selbstbetete zu seinem Vater auf der Erde kniend (Lk 22,41), wie es die Hei-ligen sehr oft getan haben (1 Kön 8,54 u. a.). Als der hl. Paulus (Eph3,14) sagen wollte, daß er zu Gott gebetet hat, sagte er nur, daß er dieKnie zur Erde beugte, so sehr gehört diese Zeremonie zum Gebet. Beiden Juden (2 Chr 6,13 u. a.) und bei den Christen (1 Tim 2,8) war esstets ein heiliger Brauch, mit erhobenen Händen zu beten; aber das isteine so natürliche Zeremonie, daß fast alle Völker sie verwendeten,gleichsam als Anerkennung, daß der Himmel der Sitz der HerrlichkeitGottes ist. Das bestätigt jener, der sagte: „Et duplices tendens ad siderapalmas“; und an anderer Stelle:

„Corripio e stratis corpus, tendoque supinasad coelum cum voce manus, et munera libo.“

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Deshalb setzt der Psalmist beten und die Hände erheben gleich. Herr,den ganzen Tag habe ich zu dir gerufen, ich habe meine Hände nach dirausgestreckt (Ps 88,10). Die Erhebung meiner Hände sei ein Abendop-fer (Ps 112,2). Erhebe mitten in der Nacht die Hände zum Heiligtum (Ps134,3). So sagte Mose zum Pharao: Sobald ich aus der Stadt hinausgehe,will ich meine Hände zum Herrn erheben, und der Donner wird aufhören(Ex 9,29). Ebenso erhebt man die Hand, wenn man schwört, denn schwö-ren heißt nichts anderes als Gott zum Zeugen anrufen. Als daher Esra(2,9.15) sagen wollte, daß Gott geschworen hat, sagte er: er hat die Handerhoben. So allgemein ist der Brauch, beim Schwören die Hand zu erhe-ben. Wenn der hl. Johannes (Offb 10,5) den Schwur des großen Engelsbeschreibt, sagt er: Er erhob die Hand zum Himmel.

Man kann also sehr wohl durch Zeremonien beten. In der Tat liegt dasWesen des Gebetes in der Seele, aber die Stimme, die Handlungen unddie übrigen äußeren Zeichen, durch die man das Innere ausdrückt, sindvornehmes Zubehör und sehr nützliche Eigenheiten des Gebetes; siesind seine Wirkungen und Tätigkeiten. Die Seele ist beim Beten nichtzufrieden, wenn nicht der ganze Mensch betet. Sie läßt die Augen, die

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Hände und die Knie ebenso beten. Als der hl. Antonius die Grotte deshl. Paulus, des ersten Einsiedlers, betrat, „erblickte er den entseeltenLeib des Heiligen, die Knie gebeugt, das Haupt erhoben und die Händenach oben ausgestreckt. Auf den ersten Blick glaubte er, daß er nochlebe und bete, und er schickte sich an, das gleiche zu tun. Als er aberkeine Seufzer hörte, die der heilige Vater beim Beten auszustoßen pfleg-te, begann er ihn unter Tränen zu küssen und erkannte, daß selbst dertote Leib des heiligen Mannes durch diese heilige Haltung und frommeStellung zu Gott betete, für den alle Dinge leben und atmen.“22 Die vorGott hingestreckte Seele bringt leicht auch den ganzen Leib zu ihrerHaltung; sie erhebt die Augen, wohin sie das Herz erhebt, und die Hän-de dahin, woher sie ihre Hilfe erwartet. Sieht man nicht den Unter-schied der inneren Gefühle des Zöllners und des Pharisäers (Lk18,11.13)? Dadurch sind die Worte hinfällig geworden, die der Traktantgegen die heiligen Zeremonien vorbringt.

1. „Der Dienst, den wir seiner göttlichen Majestät schulden“, sagt er(B.T. 5), „muß ihm nach seinem Wohlgefallen und seiner Anordnunggeleistet werden. Nun ist es der offenkundige Wille Gottes bezüglichdieses Punktes, daß wir ihn anbeten und ihm dienen im Geist und inWahrheit, nach dem hl. Johannes 4. Daher weisen wir nicht nur diealten jüdischen Zeremonien zurück, sondern auch alle anderen, die inder christlichen Kirche darüber hinaus und ohne das Wort Gottes ein-geführt wurden.“

2. Er will den Grund angeben, warum die Heilige Schrift nicht aus-drücklich Wunder bezeugt, die durch das Holz des Kreuzes geschehensind. Statt den wahren und offenkundigen Grund zu nennen, daß dieseWunder geschehen sind lange Zeit, nachdem das Neue Testament aufge-schrieben wurde, macht er sich (B.T. 12) daran, folgendes zu sagen:„Dafür scheint es gewiß keinen anderen Grund zu geben als den, daßGott die Menschen nicht an solche irdischen Dinge binden wollte. Solehrt uns auch der hl. Paulus, im 2. Korintherbrief 5, durch sein Bei-spiel, daß wir Jesus Christus nicht dem Fleisch nach kennen dürfen, wieer auch im Kolosserbrief 3 sagt, daß wir Gott im Geist dienen und unsin Jesus Christus rühmen und nicht auf das Fleisch vertrauen.“

23 Sehen

wir die Nichtigkeit dieses Beweises.1) Am Anfang des ersten Buches habe ich gezeigt, daß diese Refor-

mierten mehrere Zeremonien und Gebräuche einhalten, ohne und über

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die Heilige Schrift hinaus; sie tadeln also unsere Zeremonien nicht,weil man sie nicht in der Heiligen Schrift findet.

2) Wenn man Gott nach seiner Anordnung dienen muß, dann mußman vor allem der Kirche gehorchen und ihre Gebräuche wahren. Weranders handelt, von dem verkündet der Erlöser (Mt 18,17), daß er einHeide und öffentlicher Sünder ist. Der hl. Paulus lehrt, daß die Männerentblößten und die Frauen bedeckten Hauptes beten müssen; das istnichts als eine reine Zeremonie. Er hält denen, die für das Gegenteilstreiten wollen, nur (1 Kor 11,16) die Worte entgegen: Wir haben einesolche Gewohnheit nicht, noch die Kirche Gottes. Er spricht nicht denhugenottischen Jargon, sondern die echte und einfache katholische Spra-che; die Gewohnheit der Kirche Gottes dient ihm als Begründung. Die-se Braut hat in ihrem Bräutigam einen zu guten Beistand, um auf ihremWeg zu straucheln oder zu fallen.

3) Wenn man, um Gott im Geist und in Wahrheit zu ehren und zudienen, die Zeremonien verwerfen muß, die nicht mit ausdrücklichenWorten in der Heiligen Schrift befohlen sind, dann durfte der hl. Paulusnicht anordnen, daß die Männer unbedeckten und die Frauen bedeck-ten Hauptes beten, weil er dazu keinen Auftrag hatte; ebenso durftendie Apostel (den Genuß von) Blut und Ersticktem nicht verbieten.Warum betet ihr Reformierten mit gefalteten Händen und kniend? Wirhaben das Beispiel Jesu Christi und der Apostel, sagt ihr. Wenn aber ihrBeispiel irgendetwas bei euch gilt, warum wascht ihr dann nicht vordem Abendmahl die Füße? Dafür hat Unser Herr (Joh 13,5.14f) nichtnur das Beispiel gegeben, sondern dazu eingeladen. Warum salbt ihreure Kranken nicht mit Öl, wie die Apostel getan haben (Mk 6,13)?Warum verlaßt ihr nicht nach ihrem Beispiel euren ganzen Besitz undeure Bequemlichkeit? Warum haltet ihr euer Abendmahl nicht alsAbendmahl, d. h. beim Abendessen, statt am Morgen beim Frühstück?

4) Doch wer hat jemals eine solche Folgerung gehört: Man muß imGeist und in Wahrheit beten, daher darf man nicht mit einer Zeremoniebeten? Sind die Zeremonien ein solcher Gegensatz zum Geist und zurWahrheit? Wer beauftragte Abraham, Aaron, Mose, David, den hl. Pau-lus, den hl. Petrus und tausend andere, mit erhobenen Händen und aufder Erde kniend zu beten? Und hat sie das gehindert, im Geist und inWahrheit zu beten oder wahre Anbeter zu sein? Es ist eine unverschäm-te Ignoranz, die Heilige Schrift in solch ungereimtem Sinn heranzuzie-hen; das ist eine förmliche Frevelhaftigkeit, nicht eine reformierte Got-tesfurcht. Daß im Geist und in Wahrheit beten hieße, ohne Zeremonien

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zu beten, das ist so weit gefehlt, als es kaum möglich ist, daß einer imGeist und in Wahrheit beten kann, ohne äußere Akte und Gesten zumachen, die mit den inneren Regungen übereinstimmen, so viel Ein-fluß haben die inneren Regungen der Seele auf die Bewegungen desKörpers. „Da die Bewegungen des Körpers nur erfolgen können, wenndie innere Regung des Geistes vorausgeht, und da sie nach außen wahr-nehmbar erfolgen, weiß ich nicht, wie anders durch sie die unsichtbareinnere Regung zunimmt, als daß die Regung des Herzens, die voraus-ging, um diese äußeren Bewegungen hervorzubringen, sich dadurch ver-stärkt, daß sie bewirkt und hervorgebracht werden.“ Eine recht bewegteSeele ist in allem bewegt, in der Sprache, in den Augen, in den Händen,sagt der hl. Augustinus.

Im Geist und in Wahrheit beten heißt von Herzen und innig beten,ohne Verstellung und Heuchelei, und im übrigen den ganzen Menscheneinsetzen, die Seele und den Leib, damit nicht getrennt werde, was Gottverbunden hat. Ich übergehe die ursprüngliche Bedeutung dieser WorteUnseres Herrn, der die Anbetung im Geist der den Juden eigenen An-betung gegenüberstellt, die fast ganz aus Zeichen, Sinnbildern und äu-ßeren Zeremonien bestand, und die Anbetung in Wahrheit der falschen,eitlen, häretischen und schismatischen Anbetung der Samariter. Wasich hier mache, bedarf keiner längeren Beweisführung.

5) Der hl. Paulus belehrt uns, Jesus Christus nicht dem Fleisch nachzu kennen. Wenn man sich deswegen nicht mit dem Kreuz befassen darfund mit ähnlichen irdischen Dingen, warum legt man dann Wert auf dasLeiden und den Tod Jesu Christi, die doch zu seinem Fleisch und zurZeit seiner Sterblichkeit gehören? Was wollen Sie sagen, Traktant? Daßman Jesus Christus nicht dem Fleisch nach kennen darf? Wenn Sie dar-unter verstehen, nach Ihrem Fleisch und nach dem anderer Menschen,stimme ich dem wohl zu; aber Sie wären töricht, deswegen das Kreuz zuverwerfen, denn das Kreuz ist nicht nach Ihrem Fleisch und nicht nachdem meinen, es ist im Gegensatz und feindlich zu ihm. Wenn Sie darun-ter verstehen, nach dem Fleisch Jesu Christi selbst, was der zutreffende-re Sinn ist, müßte man nicht sagen, daß man Jesus Christus absolutnicht dem Fleisch nach kennen und kennenlernen dürfe. Ist er dennnicht dem Fleisch nach aus der Jungfrau geboren? Ist er nicht dem Fleischnach gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren? Hat ernicht sein wahres Fleisch zur Rechten des Vaters? Ist es nicht der Wahr-heit entsprechend sein wirkliches Fleisch, oder nach euren eitlen Phan-tasien wenigstens das Zeichen seines Fleisches, das er uns zur Speise

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gegeben hat? Muß man also das alles vergessen, zusammen mit Verbumcaro factum est (Joh 1,14)?

Wenn also der hl. Paulus sagt, daß er Jesus Christus nicht dem Fleischnach kennt, dann ist das dem Fleisch nach, von dem er an anderer Stelle(Hebr 5,7) sagt, daß Jesus Christus in den Tagen seines Fleisches seinemVater Gebete und Bitten darbrachte. Hier ist das Wort Fleisch gebrauchtfür Sterblichkeit, Schwachheit und Leidensfähigkeit, als hätte er gesagt,Jesus Christus hat in den Tagen seines sterblichen, schwachen und lei-densfähigen Fleisches seinem Vater Gebete und Bitten dargebracht.Wenn er also sagt, daß er Jesus Christus nicht mehr dem Fleisch nachkannte, dann will er nichts anderes sagen, als daß er Jesus Christus nichtmehr für leidensfähig und sterblich hielt und ihn so kannte, denn dassind die natürlichen Eigenschaften des Fleisches, mit einem Wort, daßer ihn nicht mehr dem Fleisch nach kannte, das von Schwächen seinernatürlichen Beschaffenheit begleitet ist.

6) Ebenso unbegründet zitiert er den hl. Paulus im Kolosserbrief 3.Abgesehen davon, daß die Worte nicht da stehen, wo er angibt, auchwenn sie da stünden, wären sie kein Beweis gegen uns. Wir bekennen ja,daß man Gott im Geist dienen, sich in Jesus Christus rühmen muß undnicht auf unser Fleisch vertrauen darf; aber das alles entbindet den Leibund seine äußeren Tätigkeiten nicht von seinem Beitrag, den er zumDienst Gottes zu leisten hat. Nun, vielleicht wollte er anführen, was im3. Kapitel des Kolosserbriefes (1f) gesagt wird und was besser zu seinemAnliegen paßt: Wenn ihr mit Jesus Christus auferweckt seid, dann sucht,was droben ist, wo Jesus Christus zur Rechten des Vaters sitzt; denkt andas, was droben ist, nicht an das auf der Erde. Folgt denn daraus nicht,daß man keinen Wert legen darf auf das Kreuz, auf die Krippe, auf dasGrab und auf die anderen Reliquien Unseres Herrn, die hier unten aufErden sind? Das wäre tatsächlich gut angewendet gegen jene, die ihreAbsicht auf Dinge beschränken, die hier unten sind, und ihr Verlangendamit begrenzen. Sucht, was droben ist, würde man ihnen sagen: Sur-sum corda. Aber wir lassen unsere Gefühle nicht am Kreuz und an denanderen Reliquien haften, wir erheben sie zum Himmelreich, wir set-zen alle Dinge ein, es zu suchen, die uns helfen können, unser Herz zudem zu erheben, zu dem sie in Beziehung stehen. Man muß zum Him-mel aufsteigen, der unser Ziel und unsere letzte Heimat ist; die heiligenDinge hier unten dienen uns als Leiter, um dorthin zu gelangen.

Die Seeleute, die mit dem Blick auf die Sterne und unter ihrer Füh-rung segeln, fahren deswegen nicht im Himmel, sondern auf Erden, sie

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schauen auch nur zum Himmel, um das Land zu suchen. Im Gegenteil,die Christen, die nur nach dem Himmel trachten, wo ihr Schatz und ihrsicherer Hafen ist, sehen sehr oft auf die Dinge hier unten, aber nicht umzur Erde zu gehen, sondern in den Himmel. Sie sagen mir: Sucht JesusChristus, und was droben ist. Ich suche ihn wirklich; und so sehr dasKreuz, das Grab und andere heilige Geschöpfe mich Ihrer Meinungnach davon abhalten müßten, spornen sie mich noch mehr dazu an unddrängen mich, ihn zu suchen. Witterung und Spuren halten einen gutenJagdhund nicht vom Suchen ab, sondern spornen und feuern ihn dazuan. So werde auch ich um so mehr zu diesem gesegneten Suchen bewo-gen und begeistert, wenn ich im Kreuz, in der Krippe, im Grab den Wegund die Fährte meines Erlösers entdecke; er zieht mich dadurch nachsich wie durch den Duft seiner Salben.

So habe ich mich also dieses so aufdringlichen Mannes entledigt, wasdie Zeremonien im allgemeinen betrifft; ich muß meine Absicht weiterverfolgen.

5. Kapitel

Nach dem Beispiel der alten Kirche muß und kanndas Kreuz zur Segnung von Dingen verwendet werden.

Da man durch heilige und rechtmäßige Zeremonien beten kann, wa-rum sollte man nicht beten durch das Kreuzzeichen, eine heilige undchristliche Zeremonie? Doch sprechen wir diesmal von der Segnung ge-schaffener Dinge, die in der Kirche zu geschehen pflegt. Sie ist nichtsanderes als ein Gebet und ein guter Wunsch, durch die man von Gottirgendeine Gnade und Wohltat für ein Geschöpf erbittet, über das maneine gewisse Überlegenheit oder Hoheit hat. Es ist ja unwidersprochen,daß das Geringere durch das Bessere gesegnet wird (Hebr 7,7). Zeigen wiralso, welche Verwendung das Kreuzzeichen in dieser Hinsicht findet.

Im Alten Bund, wo alles im Schatten und Bild geschah, bestand dieübliche Segnung, die die Priester vornahmen, äußerlich aus zwei Tei-len: der eine war, daß der Priester dabei die festgesetzten Worte sprach:Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr zeige dir sein Angesichtund sei dir gnädig; der Herr wende dir sein Angesicht zu und gebe dirFrieden (Num 6,24-26). Der andere Teil war, daß der Priester die Handerhob, wie nach dem Bericht des tüchtigen und gelehrten Genebrard die

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Rabbiner bezeugen. Das kann man auch leicht der Übung entnehmen, dieman in der Heiligen Schrift findet. Aaron streckte seine Hand über dasVolk aus und segnete es, heißt es (Lev 9,2). Dieser Brauch stammt aus demNaturgesetz, wie aus dem Segen deutlich wird, den Jakob (Gen 48,14f)seinen Enkeln gab. Er bestand noch zur Zeit Unseres Herrn; darüberberichtet Matthäus (19,13), daß die Juden die kleinen Kinder zu ihm brach-ten, damit er ihnen die Hände auflege, d. h. damit er sie segne. Tatsächlichbestätigt der hl. Markus (10,16), daß Jesus diese Kleinen in seine Armeschloß, ihnen seine Hände auflegte und sie segnete.

Diese beiden Dinge beobachtet man nun noch bei allen kirchlichenSegnungen, aber mit einer deutlicheren Manifestation der Geheimnis-se, die darin enthalten sind. 1. Man ruft den Namen des Vaters und desSohnes und des Heiligen Geistes an. Das tat man im Alten Bund ver-hüllt; denn ich bitte euch, worauf anders als auf das Geheimnis derheiligsten Dreifaltigkeit zielte die dreifache Wiederholung: Der Herrsegne dich, der Herr zeige dir sein Angesicht, der Herr wende dir seinAngesicht zu? Ebenso der Segen Davids (Ps 67,7f): Gott segne uns, un-ser Gott, Gott segne uns. 2. Im Alten Bund erhob man einfach die Hän-de oder legte sie auf; stattdessen macht man jetzt das Kreuzzeichen, umzu beteuern, daß jede Segnung ihr Verdienst und ihren Wert von derPassion Jesu Christi hat, die auch Erhöhung genannt wird.

Was wird der Hugenotte dazu sagen? Wenn man die Hand erhebt, umzu segnen, geschieht es nach dem Beispiel des Erlösers, der bei der Him-melfahrt seine Jünger segnete, indem er die Hände erhob (Lk 24,50);wenn man das Kreuzzeichen macht, geschieht es, um zu zeigen, woherunsere Segnungen ihre Wirksamkeit und Kraft haben. Jakob deutete die-se Form bereits an, als er bei der Segnung der Kinder Josefs seine Händekreuzte, um den Jüngeren dem Älteren vorzuziehen; damit sagte er vor-her, daß Unser Herr, als er die Arme am Kreuz ausbreitete, die Welt inder Weise segnete, daß die Heiden tatsächlich den Juden vorgezogen wur-den. Vielleicht wird aber der Hugenotte sagen: Als der Erlöser seineApostel segnete, gebrauchte er nicht das Kreuzzeichen; warum macht ihres dann? Ich weiß tatsächlich nicht, ob der Erlöser dieses Zeichen mach-te, denn die Heilige Schrift, die es nicht bestätigt, bestreitet es auch nicht.Wohl aber weiß ich, daß der Gekreuzigte selbst zum Segnen das Kreuz-zeichen nicht zu verwenden brauchte; hatte er es denn nötig, sich selbstanzurufen oder zu bestätigen, daß der Segen von ihm kommt? Übrigenswar das Zeichen des Kreuzes hinreichend in den Händen Unseres Herrn,ohne daß er irgendeine Bewegung machte. Was waren denn die Wundma-

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le, die er an seinen Händen selbst nach seiner Auferstehung trug, anderesals ausgeprägte Merkmale und Zeichen seines Kreuzes? War es dahernotwendig, daß er irgendein anderes machte? Wenn aber die Christen dieHände erheben, um zu segnen, haben sie allen Grund, das Kreuzzeichenzu formen, um zu zeigen, daß sie sich keine Segnung anmaßen, außerdurch die Erhöhung Unseres Herrn am Kreuz.

Wie sehr dieser Brauch in der frühen Kirche gepflegt wurde, dafürgibt es nun sichere Beweise: „Alles, was zu unserem Heil beiträgt, istdurch das Kreuz vollbracht“, sagt der hl. Chrysostomus. Der hl. Diony-sius sagt von denen, die man weihte: „Der Bischof segnet sie und drücktjedem von ihnen das Kreuzzeichen auf.“ Der hl. Cyprian beteuert, daßes „ohne dieses Zeichen nichts Heiliges gibt“. So segnete der hl. Hilari-on jene mit der Hand, die einen französischen Edelmann vom Hof desKaisers zu ihm brachten, damit er vom bösen Geist befreit werde. Ruf-fin nennt ein Dutzend Einsiedler, „durch deren Hände gesegnet zu wer-den er die Ehre hatte“, wie er sagt. Der hl. Augustinus besuchte einenKranken, bei dem er den Ortsbischof antraf, und sagt: „Nachdem wirden Segen des Bischofs empfangen hatten, zogen wir uns zurück“; dasgeschah ohne Zweifel durch das Kreuzzeichen, „ohne das es nichts Hei-liges gibt.“

„Der Statthalter des Nahen Ostens kam in die Stadt Apamea und wollteeinen Jupitertempel zerstören, entsprechend der Vollmacht, die er vonKonstantin hatte. Er fand ihn aber derart mit Eisen und Blei befestigt,verschlossen und versiegelt, daß er nicht glaubte, irgendeine menschli-che Kraft könnte das sprengen. Da bot sich ein einfacher Mann an, es zutun. Er unterhöhlte eine Hauptsäule nach der anderen und unterlegtesie mit Holz, um sie zu stützen. Dann wollte er Feuer daran legen, damitdie Säulen einstürzten, aber der Teufel kam in schrecklicher schwarzerGestalt, um die Kraft und Entfaltung des Feuers zu verhindern. Daswurde sogleich dem Ortsbischof Marcellus berichtet; der eilte in dieKirche, ließ Wasser bringen und auf den Altar stellen, warf sich zu Bo-den und bat den gütigen Herrn, er möge einen größeren Fortschritt derGottlosigkeit nicht zulassen. Dann machte er das Kreuzzeichen überdas Wasser und befahl seinem Diakon Equitius, eilends hinzugehen unddas Feuer mit diesem gesegneten Wasser zu besprengen. Das geschah,und sogleich entfloh der Teufel, der die Kraft dieses Wassers nicht ertra-gen konnte, und das Feuer wurde durch das Wasser, sein Gegenteil,entfacht, als wäre es Öl; es ergriff das Holz und verzehrte es in kurzerZeit, so daß die Säulen, die keine Stütze mehr hatten, umstürzten und

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alles andere mitrissen, was sie trugen. Den Lärm dieses Einsturzes hörteman in der ganzen Stadt. Die Bewohner kamen zu diesem Schauspielzusammen, sahen die Flucht des Teufels und begannen den allmächti-gen Gott zu preisen.“ Haben Sie gesehen, daß das Wasser durch dasKreuzzeichen gesegnet wurde? Mein Gewährsmann dafür ist Theodo-ret.

Ein guter Mann namens Joseph wollte in der Stadt Tiberias eine Kir-che bauen. Dazu brauchte er eine große Menge Kalk. Er ließ ungefährsieben Öfen errichten, aber die Juden verhinderten durch Zauberei, daßsich das Feuer entzündete und brannte. Als Joseph davon erfuhr, nahmer ein Gefäß voll Wasser und vor aller Augen (denn eine große ScharJuden stand da, um zu sehen, was der gute Mann unternehmen werde),rief er laut, machte mit eigener Hand das Kreuzzeichen über das Was-ser, rief den Namen Jesu an und sagte: „Im Namen Jesu von Nazaret,den meine Vorfahren gekreuzigt haben, werde diesem Wasser die Kraftverliehen, allen Zauber und alle Hexerei dieser Leute zunichte zu ma-chen.“ So nahm er das Wasser, besprengte mit eigener Hand alle Öfen,und sogleich war aller Zauber zunichte und das Feuer entzündete sichvor aller Augen. Das anwesende Volk wandte sich davon ab und brach inden lauten Ruf aus: „Es gibt nur einen Gott, der den Christen hilft.“Dieser Bericht stammt vom hl. Epiphanius; er bringt das Kreuzzeichenzur Anwendung bei Segnungen.

Die Mutter des hl. Gregor von Nazianz war krank. Sie konnte nichtsessen, so daß sie in großer Gefahr war, aus Nahrungsmangel zu sterben.Hört, was der hl. Gregor selbst berichtet, wie ihr geholfen und wie sieernährt wurde. „Ihr schien“, sagt er, „als käme ich nachts zu ihr miteinem Korb und speise sie mit drei weißen Broten, die ich auf meinegewohnte Weise segnete. Auf diese Weise sei sie geheilt worden undwieder zu Kräften gekommen. Dieser nächtlichen Vision folgte dieWirklichkeit, denn von da an kam sie zu sich und faßte mehr Hoffnung,wie man offensichtlich erkannte.“ Der Brauch, das Kreuzzeichen überdie Speisen zu machen, war diesem großen Theologen des Altertumsgeläufig.

Julian Apostata ließ an seinem Standbild (das wie üblich auf demöffentlichen Platz stand) das Bild Jupiters anbringen, als komme ervom Himmel und bringe ihm die Krone und den Purpur, die kaiserli-chen Gewänder; außerdem ihm gegenüber Mars und Merkur, die aufihn schauten, um gewissermaßen zu bezeugen, daß er ein tapferer undredegewandter Mann sei. Damit wollte er unter dem Vorwand der Eh-

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renbezeugung, die man für den Kaiser angeordnet hatte, die Untertanenstillschweigend dazu zwingen, die Götzenbilder zu verehren, die mitseinem Standbild dargestellt waren. Denn das war sein Plan: wenn esihm gelang, sie zur Verehrung dieser Götzenbilder zu überreden, dannwar seine Sache gewonnen; wenn sie Schwierigkeiten machten, konnteer das zum Anlaß nehmen, sich an ihnen zu rächen, als störten sie dierömischen Bräuche und hätten durch ihre Weigerung sowohl den Staatals auch den Kaiser beleidigt. Nun erkannten nur wenige diesen Betrug.Diese wollten nicht länger, wie sie von früher gewohnt waren, das Bilddes Kaisers anbeten (d. h. verehren), das so zwischen die Götzenbildergestellt war, und wurden schließlich gemartert. Das gewöhnliche Volkaber war im guten Glauben, ohne darin etwas Schlechtes zu sehen, meintenur dem Kaiser die Ehre zu erweisen, und verehrte diese Götzenbilder.

Indessen suchte der Kaiser diesen Plan immer mehr zu fördern. Alsdie Zeit kam, sich den Soldaten zu zeigen und ihnen den Sold zu zahlen,ließ er in seiner Nähe und vor diesen Götzenbildern Feuer und Weih-rauch anbringen. Den Soldaten, die ihren Sold empfingen, ließ er befeh-len, Weihrauch auf das Feuer zu legen, als wäre das bei den Römerneine übliche Zeremonie. Einige durchschauten die List und weigertensich strikt, diese Abgötterei zu begehen; andere, die einfältiger waren,taten arglos, was man ihnen befahl; die übrigen ließen sich aus Hab-sucht oder aus Furcht zu dieser Sünde verleiten. Einige von denen, diees aus Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit getan hatten, trankenabends bei Tisch nach ihrer Gewohnheit einander zu, riefen Jesus Chris-tus über ihren Trunk an und machten das Kreuzzeichen. Einer, der da-beisaß, fragte, wie sie den Namen Jesu Christi anrufen und sein Zeichenzu machen wagten, obwohl sie ihn kurz zuvor verleugnet hätten. Als sieerkannten, daß man sie betrogen hatte, gingen sie auf die Straßen undPlätze, schrien überall und jammerten, man habe sie hintergangen, siehätten den heidnischen Kult nur mit den Händen gemacht, ihr Herz seistets weit davon entfernt gewesen. Sie kamen zum Kaiser, warfen ihmdas Geld vor die Füße, das er ihnen gegeben hatte, und verlangten denTod als Strafe für das Verbrechen, das sie begangen hatten, wenn auchunwissentlich. Obwohl der Kaiser darüber sehr unwillig war, wollte ersie nicht sterben lassen, aus Furcht, sie würden als Märtyrer betrachtet,sondern ließ sie einfach züchtigen. Sozomenes, der diese Geschichteerzählt, sagt nicht, daß sie das Kreuzzeichen machten (mein Gegnersoll nicht irrtümlich meinen, ich habe mich geirrt, wie er oft getan hat),sondern das ist der hl. Gregor von Nazianz.

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Man darf es nicht befremdend finden, daß diese braven Soldaten dasKreuzzeichen machten, ehe sie tranken. Früher war es üblich, nicht nurdie Tafel und die Mahlzeit zu segnen, sondern auch jede Speise für sichund auch den Trank. Das bestätigt der hl. Gregor von Tours in der köst-lichen Geschichte von einem häretischen Priester (denn das Wort stehtda), der mit ihm am gleichen Tisch saß und ihm nicht nur mit demSegnen zuvorkommen wollte, sondern auch mit dem Essen. Das gelangihm bei der ersten, zweiten und dritten Platte, die man auf den Tischstellte. Als er schließlich die vierte gesegnet hatte (der Eigensinn seinerHäresie führte nicht dazu, das Kreuzzeichen abzulehnen, wie die derReformatoren) und den ersten Bissen in den Mund schob, geschah es,daß er unter großem Gebrüll daran starb. Das veranlaßte unseren Pries-ter zu den Worten: „Periit“ hujus „memoria cum sonitu“,24 und den, derbeide eingeladen hatte, auf der Stelle katholisch zu werden.

So bestätigt auch der hl. Chrysostomus, daß man das Kreuzzeichenmachte „in Symposiis et Thalamis“, d. h. über Festmähler und Ehebet-ten; Tertullian „über Bäder, Tafeln und Kerzen“; Ephräm: „ob man aßoder trank“; Cyrill: „wenn man das Brot aß und den Becher trank“.Außerdem ist es sehr oft denen schlecht ergangen, die es verschmähten,dieses heilige Zeichen vor dem Essen und Trinken zu machen. EineBestätigung dafür ist die Ordensfrau, die einen Salat aß, und der Or-densmann, der trank, ohne das Kreuzzeichen zu machen. Beide wurdensogleich vom Teufel besessen.

Der Traktant erhebt (B.T. 18 u. 19) zwei Einwände gegen diese Zeug-nisse; den einen: „Wer sieht nicht, daß das ein Märchen ist?“ Und denanderen: „Der hl. Paulus sagt, das Fleisch wird für uns geheiligt durchdas Wort Gottes und durch das Gebet; er spricht nicht vom Kreuzzei-chen noch von einem anderen Zeichen.“ Er hat unrecht, denn an diesenBerichten ist nichts Unmögliches, nichts Albernes, und sie stammenaus ehrenhaftem Mund, d. h. vom hl. Gregor dem Großen, der mehrGewicht in der Lehre und Autorität hat als alle diese Reformierten. Solles daher dem Erstbesten erlaubt sein, auf diese Weise die alten Väter zuwiderrufen? Außerdem bestätigt das Wort des hl. Paulus, daß die Spei-sen durch das Gebet geheiligt werden; das haben wir ja gesagt. Das Kreuz-zeichen ist ja ein kurzes, leichtes, wirksames und übliches Gebet zurSegnung von Speisen. Wenn es heißt, daß ein Ordensmann und eineOrdensfrau vom Teufel besessen wurden, weil sie das Kreuzzeichen nichtmachten, dann heißt es, weil sie dieses Gebet nicht verrichteten, wel-ches das leichteste und vertrauteste ist, und mit größerem Recht als

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jedes andere. Außerdem ist es sehr wahr, daß das Kreuzzeichen einebesondere Kraft gegen die Teufel hat, über die jedem anderen Gebeteigene hinaus, wie wir später sehen werden.

6. Kapitel

Das Kreuzzeichen wird bei sakramentalen Weihenund Segnungen angewendet.

Die Seite des Erlösers, die am Kreuz von der Lanze durchbohrt wor-den ist, wurde zur lebendigen Quelle aller Gnaden, mit denen die See-len durch die heiligen Sakramente überschüttet werden. Darauf habenunsere Väter hingewiesen. Wo anders wäre daher das Kreuzzeichen bes-ser angebracht als bei den Sakramenten, und wenn es nur deswegenwäre, um zu bekennen, daß die Passion die Quelle der heilsamen Was-ser ist, die sie uns vermitteln? Die Weihen sind die vorzüglichsten An-rufungen, die in der Kirche gemacht werden. Weil das hochheilige Zei-chen ein dermaßen geeignetes Mittel zu beten ist, kann es nicht besserals zu diesem Zweck angewendet werden. Außerdem war es in der Kir-che des Altertums eine gebräuchliche Form, mit dem Kreuzzeichen zuweihen. Hören wir die Zeugen.

Der hl. Chrysostomus: „So leuchtet das Kreuz auf dem heiligen Tisch,bei der Priesterweihe, so ebenfalls mit dem Leib Christi beim mysti-schen Mahl.“ An anderer Stelle sagt er vom Kreuz: „Alles, was zu unse-rem Heil nützt, ist in ihm vollbracht; denn wenn wir wiedergeborenwerden, ist das Kreuz dabei, wenn wir mit der hochheiligen Speise ge-nährt werden, wenn wir vorgestellt werden, um zum Priester geweiht zuwerden, überall und stets begleitet uns dieses Siegeszeichen.“ Der hl.Augustinus: „Wenn dieses Zeichen nicht auf die Stirn der Gläubigengemacht wird oder über das Wasser selbst, durch das sie wiedergeborenwerden, oder über das Öl, mit dem sie im Chrisam gesalbt werden, oderbeim Opfer, von dem sie gespeist werden, dann wird nichts von all demgebührend vollzogen.“ Aber diese Zeugnisse habe ich schon an andererStelle wiedergegeben zusammen mit anderen, die hier angeführt wer-den können. Hier sind weitere.

Der hl. Cyprian: „Wir rühmen uns im Kreuz des Herrn, von dem dievollkommene Kraft aller Sakramente stammt. Ohne dieses Zeichen gibtes nichts Heiliges und keine Weihe erreicht ihre Wirkung.“ Und an

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anderer Stelle: „Wer immer schließlich die Verwalter der Sakramentesein mögen, wie die Hände sein mögen, mit denen man jene wäscht odersalbt, die zur Taufe kommen, aus welcher Kehle die heiligen Wortekommen mögen: die Autorität oder Wirkkraft gibt allen SakramentenWirkung im Kreuzzeichen.“ Der hl. Dionysius Areopagita bestätigt, daßder Chrisam in Kreuzesform in das Taufbecken gegossen wurde, wie wires jetzt noch machen; und von der heiligen Ölung sagt er: „Der Bischofbeginnt die Ölung mit dem heiligen Kreuzzeichen und überläßt denMenschen den Priestern, damit er von ihnen am ganzen Leib gesalbtwerde.“ Von den heiligen Weihen sagt er: „Nun wird jedem von ihnenvom segnenden Bischof das Kreuzzeichen gemacht.“

Der hl. Clemens sagt, wenn die ersten Bischöfe der Christenheit anden Altar traten, bezeichneten sie sich mit dem Kreuz: „Wenn also derBischof mit den Priestern allein betet, während er vor dem Altar ste-hend ein prächtiges oder strahlendes Gewand anlegt, bezeichne er sichauf der Stirn mit dem Siegeszeichen des Kreuzes und spreche: ‚Die Gnadedes allmächtigen Gottes, die Liebe unseres Herrn Jesus Christus unddie Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch‘ (2 Kor 13,13).“Der hl. Augustinus erwähnt den Brauch, die Kinder bei der Taufe (mitdem Kreuz) zu bezeichnen, wenn er sagt, daß er schon vom Mutterleiban mit dem Kreuzzeichen bezeichnet und mit Salz gewürzt war. Er wolltedamit sagen, daß ihn seine Mutter für die Taufe bestimmt hat, bei derman das Kreuzzeichen machte und Salz gab, wie man es jetzt macht.

Der Traktant erkennt es (B.T. 30) fast ebenso, aber er kann nie frei dieWahrheit sagen. In der Liturgie des hl. Jakobus und des hl. Chrysosto-mus wird dem Priester sehr oft empfohlen, das Kreuzzeichen zu ma-chen; in der des hl. Basilius macht der Priester das Kreuzzeichen nichtnur über die Opfergaben, sondern er macht es dreimal über das Volk inder Form unseres bischöflichen Segens. Das genügt.

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7. Kapitel

Warum man das Kreuzzeichen auf die Stirn der Täuflinge und beianderen Gelegenheiten macht.

Früher machte man das Kreuzzeichen auf alle Glieder im allgemei-nen: „Machen wir dieses lebenspendende Zeichen auf unsere Türen“,sagt der hl. Ephräm, „auf unsere Stirn, auf den Mund, auf die Brust undauf alle Glieder.“ Trotzdem bekreuzigt man sich gewöhnlich auf derStirn, wie man dem einnehmen kann, was ich bisher gesagt habe; aberhier sind einige Gründe dafür:

1. „So sehr ich mich des Kreuzes Jesu Christi schämen müßte, habeich es nicht an einer verborgenen Stelle, sondern ich trage es auf derStirn. Wir empfangen mehrere Sakramente auf verschiedene Weise;manche davon nehmen wir mit dem Mund auf, wie ihr wißt, einige imganzen Leib. Nun hat man die Scham auf der Stirn. Der gesagt hat: Wersich meiner vor den Menschen schämt, dessen werde auch ich mich vormeinem Vater schämen, der im Himmel ist (Mt 10,33; Lk 9,26), der hatdeswegen an die Stelle der Scham und Scheu die gleiche Schande ge-setzt, die die Heiden verachten. Ihr hört einen Menschen, der irgend-einen Unverschämten rügt, sagen: Er ist ‚unverfroren‘.25 Was soll dasheißen? Er hat keine Stirn, er ist unverschämt. Möge ich daher keinenackte Stirn haben; möge sie das Kreuz meines Erlösers bedecken.“Das ist tatsächlich eine schöne Begründung, mit den eigenen Wortendes hl. Augustinus vorgetragen. Der Traktant nimmt sie an, indem ersie zu diesem Gegenstand (B.T. 16) vom gleichen Kirchenlehrer zi-tiert.

2. Hier ist der zweite Grund: „Die Türpfosten der Häuser von Israelwaren mit Blut gesalbt und bestrichen (Ex 12,22f), um das Unheil fern-zuhalten; die christlichen Völker sind gezeichnet mit dem Zeichen derPassion des Erlösers als Schutzmittel des Heils.“ Das sind ebenfallsWorte des hl. Augustinus; durch sie zeigt er: wie die Kinder Israels dieTürpfosten und Oberschwellen ihrer Wohnung mit dem Blut des Pa-schalammes kennzeichneten, um vor der Ausrottung bewahrt zu wer-den, so werden die Christen bezeichnet auf der Stirn, gleichsam auf derOberschwelle des ganzen Menschen, mit dem Zeichen des Blutes undder Passion des Lammes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt (Joh1,29), um vor allen Feinden ihres Heils in Sicherheit zu sein. Dasselbesagt Lactanz auf sehr schöne Weise. Der hl. Ephräm erwähnt es im Buch

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von der wahren Buße und der hl. Cyprian sagt es ganz ausdrücklich inseinem 2. Buch an Quirinus.

Der Traktant anerkennt (B.T. 18) diesen Grund als vom hl. Augusti-nus und von Lactanz stammend, und sogleich fügt er folgende Kritikhinzu: „Wie dem auch sei, das war eine Form, die durch Nachahmungdes jüdischen Vorbilds eingeführt wurde, nicht durch ein Gebot. Nundarf man sich nie einzig auf das Beispiel von Menschen stützen, sondernauf die allgemeinen Regeln, die vom Gebot Gottes abgeleitet sind. DieIsraeliten hatten das Gebot Gottes, zu tun, was sie auf ihren Türschwel-len getan haben, aber den Christen wurde nicht befohlen, sich auf derStirn zu bezeichnen. Davon rührt außerdem ein verderblicher Irrtumher, der zunächst aus Einfalt entstand, dann durch Unwissenheit größerwurde und gegenwärtig aus Starrsinn aufrecht erhalten wird, nämlichdem Holz des Kreuzes zuzuschreiben, was nur dem Gekreuzigten eigenist.“ Das ist das Geschwätz des kleinen Traktanten, auf das ich einiges zuerwidern habe.

1) Der Traktant will die Alten tadeln, weil sie eine Zeremonie aner-kennen, von der nichts geschrieben steht, aber er weist keinerlei Autori-tät vor, um seinen Tadel zu begründen. Weil er kein Gebot der HeiligenSchrift hat, das Kreuzzeichen zu machen, will er es nicht tun; weil eskein Verbot in der Heiligen Schrift gibt, es zu machen, werde ich aufkeinen Fall aufhören, es zu machen.

2) Es ist eine ausgesprochene Ignoranz oder Dummheit zu behaup-ten, man dürfe sich niemals auf das Beispiel von Menschen stützen,sondern auf die allgemeinen Regeln, die vom Gebot Gottes abgeleitetsind. Wo ist geboten, auf der Erde kniend zu beten? Tatsächlich konnteCalvin das sonst nirgends finden als da, wo der Apostel (1 Kor 14,40)sagt: Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung. Aber ich bitte Sie,sehen Sie diese Folgerung: Alles geschehe wohlanständig und in Ord-nung, daher muß man beim Gebet knien. Was denn? Wäre es nichtwohlanständig und in Ordnung, zu sitzen, zu stehen oder ganz auf dieErde hingestreckt zu sein? Warum ist es nicht wohlanständig, sich aufder Stirn zu bekreuzigen? Welches Gebot hatten Isaak und Jakob, ihreKinder zu segnen (Gen 27,27.39; 49,28)? Welches der hl. Johannes, sorauhe Kleider zu tragen, in der Wüste zu leben und nicht im Haus seinesVaters, weder Wein noch Berauschendes zu trinken, nur Heuschreckenund wilden Honig zu essen und diesen Ledergürtel zu tragen (Mt 3,4)?Was den Gürtel betrifft, ahmte er Elija (2 Kön 1,8) nach, aber ohneGebot. Trotzdem sind das Dinge, die die Evangelisten für bemerkens-

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wert hielten und auch erwähnt haben. Welches Gebot hatte Elischa, alser mit dem Mantel seines Meisters das Wasser schlug (2 Kön 2,14)? Tater es nicht, um nachzuahmen, was sein Meister kurz zuvor (2,8) getanhatte? Die Hände erheben und auflegen, um zu segnen, wie wir schonoben gezeigt haben, wo wurde das geboten? Trotzdem wird von derHeiligen Schrift die Übung bezeugt.

3) Es ist eine Fälschung zu behaupten, den Christen sei es nicht gebo-ten worden, sich an der Stirn (mit dem Kreuz) zu bezeichnen, dennerstens ist das Kreuzzeichen ein Bekenntnis des Glaubens und eineAnrufung des Gekreuzigten, darum ist überall geboten, sich an der Stirnzu bezeichnen, wo es geboten ist, den Glauben zu bekennen und JesusChristus anzurufen. Ja, wird der Traktant sagen, aber man kann Gott aufandere Weise bitten. Das gebe ich zu, aber ich sage, man kann auch aufdiese Weise beten, ebenso gut wie durch das Erheben der Hände und derAugen. Da in den allgemeinen Geboten, zu Gott zu beten, den Glaubenseiner Religion zu bekennen, das Kreuzzeichen nicht ausgeschlossenist, warum soll man es davon ausschließen? Calvin gibt zu, man könnedurch keine ausdrückliche Schriftstelle nachweisen, daß jemals ein Kindvon den Aposteln getauft wurde, aber kühn behauptet er trotzdem, „mankann dennoch nicht sagen, sie hätten sie nicht getauft, weil sie nie davonausgeschlossen wurden, wenn berichtet wird, daß eine Familie getauftwurde.“26 Ebenso könnte ich sagen, man kann nicht ausdrücklich nach-weisen, das Gebet durch das Kreuzzeichen sei ausdrücklich geboten;trotzdem kann man nicht sagen, es sei nicht geboten, weil es nie ausge-schlossen ist, wenn zu beten geboten wird.

Item, wenn das Vorbild angeordnet ist, dann ist es die versinnbildeteSache hinreichend genug. Das Vorbild wurde ja nur gebraucht, um dieversinnbildete Sache zu empfehlen und uns ihres Erfolges zu versichern.Wenn man nun dem hl. Cyprian, dem hl. Augustinus, dem hl. Ephrämund anderen sehr alten Vätern mehr glauben muß als diesem kleinenTraktanten, dann war das Bestreichen der Türpfosten und Oberschwel-len ein Sinnbild des Zeichens, das man den Christen auf die Stirn macht.Wenn also dessen Vorbild den Juden geboten war, haben die ChristenGrund genug, um die versinnbildete Sache für ganz geboten zu halten.Die Beschneidung, das Vorbild der Taufe, wurde im Alten Testamentfür die kleinen Kinder angeordnet. Calvin macht es keine Schwierig-keit, auf dieses Gebot für das Vorbild einen gewissen Beweis für denArtikel von der Taufe der kleinen Kinder gegen die Wiedertäufer zustützen. Warum sollte es dem hl. Augustinus und anderen Kirchenvä-

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tern nicht erlaubt sein, vom Zeichen des Blutes des Lammes, das an denHaustüren angebracht war, eine Folgerung abzuleiten, um zu zeigen,daß wir unsere Stirn, gleichsam als Schwelle dieser irdischen Wohnung,mit dem Zeichen der heiligen Passion bezeichnen müssen?

Drittens, weil es aber nicht ganz ausdrücklich in der Heiligen Schriftsteht, hinterließen es die Apostel im anderen Teil der christlichen undevangelischen Lehre, die man Überlieferung nennt. „Welches Gesprächund welche Tätigkeit uns auch beschäftigen mag, wir berühren unsereStirn mit dem Kreuzzeichen. Wenn du jedoch nach einem geschriebenenGebot dieser Übung fragst, wirst du keine finden; man wird dir die Über-lieferung als Quelle nennen, den Brauch als Bestätigung und den Glau-ben als Bewahrer.“ Das sind die Worte des altehrwürdigen Tertullian;und der hl. Basilius sagte wenig später: „Wir haben bestimmte Artikel,die in der Kirche nach der schriftlich festgelegten Lehre verkündet wer-den, einige entnehmen wir auch der Überlieferung der Apostel, die sie alsMysterium hinterlassen haben“, d. h. als Geheimnis, „und beide habendie gleiche Bedeutung für die Frömmigkeit, und niemand widersprichtdem, so wenig er wissen mag, was die kirchlichen Vorschriften sind. Wennwir nämlich die ungeschriebenen Bräuche abzulehnen versuchen, als sei-en sie kaum wichtig, werden wir unkluger Weise auch die zum Heil not-wendigen Dinge verwerfen, die im Evangelium stehen. So werden wirvielmehr die Verkündigung des Glaubens selbst zu einem leeren undeitlen Wort entwerten. Von dieser Art ist (um als erstes zu nennen, wasdas Erste und Bekannteste ist), daß wir mit dem Kreuzzeichen jene be-zeichnen, die ihre Hoffnung auf Jesus Christus gesetzt haben: wer hat dasnach der Schrift gelehrt?“ Haben Sie diesen großen, altehrwürdigen Mei-ster gehört, Sie kleiner Traktant, wie er den Brauch, sich auf der Stirn zubezeichnen, für durchaus geboten hält, obwohl er nicht ausdrücklich ge-schrieben steht? Was können Sie ihm erwidern, außer Ihrer Gewohnheitentsprechend, daß er (nur) ein Mensch ist? Gewiß ist er ein Mensch, abersehr christlich und sehr bewandert im evangelischen Gesetz, einer, der inder Kirche zur Zeit ihrer größten Reinheit lehrte. Damals nannte ihn derhl. Gregor von Nyssa „eine großartige Stimme und Posaune und das Augeder Welt“. Er war ein einzelner Bischof, aber in sehr guter Kenntnis derkirchlichen Lehre und Disziplin in Übereinstimmung mit allen seinenAmtsbrüdern.

Schließlich möchte ich gern, daß der Traktant die Zeit nennt, zu derder Irrtum aufkam, dem Holz zuzuschreiben, was dem Gekreuzigteneigen ist. Wenn er von der Verehrung des Kreuzes reden hört, die er in

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der katholischen Kirche rügt, wird er nicht nachweisen können, wannsie entstanden ist, denn sie bestand immer; und er ist töricht zu sagen,sie sei aus Einfalt entstanden. Der hl. Ambrosius, der hl. Paulinus, derhl. Augustinus und tausend andere Väter wie sie, die diese Verehrunglehrten, wie ich in den zwei vorausgehenden Büchern nachgewiesen habe,waren tatsächlich einfältig wie Tauben, gleichzeitig waren sie aber auchklug wie Schlangen, so daß ihre heilige Einfalt keinen Irrtum hervor-bringen konnte. Das ist die Schmähung, die diese Neuerer gegen dasAltertum ausstoßen, die nur schlecht gemildert wird, wenn man sie derEinfalt zuschreibt. Denn diese irrende Einfalt und Mutter des Irrtumsheißt Torheit bei denen, die Verantwortung für die Völker haben. Au-ßerdem verleumdet der Traktant, wenn er behauptet, man schreibe demHolz des Kreuzes zu, was dem Gekreuzigten eigen ist. Daran haben wirdoch nie gedacht und haben es nicht getan, wie ich vorher gezeigt habe.Übrigens ist es eine spassige Abstufung, die dieser Mann macht, wenner sagt, der Irrtum, das Kreuz zu verehren, sei „entstanden aus Einfalt,sei größer geworden durch Unwissenheit und werde jetzt aus Starrsinnaufrecht erhalten“. Damit schreibt er ja unserer Zeit das Wissen und dieErkenntnis verbunden mit Starrsinn zu, den Vorfahren eine einfacheUnwissenheit und den frühesten Christen eine unwissende Einfalt, denneine andere Einfalt kann keinen Irrtum verursachen. Dabei wären imGegenteil die so Klarsichtigen des Altertums viel mehr unentschuld-bar, den Irrtum begonnen zu haben, wenn es einen gab, als wir, die wirdessen viel weniger verständige und weise Anhänger wären. Dann wärenwir es, die aus Einfalt und Unwissenheit in der Nachfolge der Altenirrten. Aber ich gebe mich mit diesem plumpen Schwätzer zu viel ab.

3. Der dritte Grund, sich auf der Stirn zu bezeichnen, wird vom hl.Hieronymus folgendermaßen angegeben: „Der Priester des Alten Bun-des trug an seinem Kopfbund befestigt ein Blatt aus sehr feinem Gold,das über seine Stirn hing; darauf war eingeprägt: ‚Sanctum Domino;dem Herrn heilig‘. Diese Schrift mußte er stets auf seiner Stirn tragen,damit Gott ihm gnädig sei (Ex 28,36-3 8). Was einst im Goldblatt ge-zeigt wurde, ist uns im Kreuzzeichen gezeigt; das Blut des Evangeliumsist kostbarer als das Gold des Alten Bundes.“ Um also zu zeigen, daßdie Christen als eine königliche Priesterschaft (1 Petr 2,9) dem Herrnheilig sind durch das Blut des Erlösers, tragen sie statt des Goldblattesdas Kreuzzeichen auf der Stirn.

Es gibt noch andere Gründe, die vom altehrwürdigen Origenes undvom hl. Chrysostomus angeführt werden: 4. Das Kreuzzeichen ist unse-

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re Standarte, die an der sichtbarsten Stelle unserer Stadt angebracht seinmuß. 5. Er ist unsere Siegestrophäe; man muß sie zuhöchst in unseremTempel anbringen, gleichsam auf einer Ehrensäule. 6. Es ist unsere Kro-ne, sie gehört auf unser Haupt. 7. Es ist unser Wappenschild; es gehörtan das Portal und an den Giebel unseres Hauses. 8. Es ist ein Ehrenzei-chen; man muß es mit der rechten Hand als der vornehmeren machenund es auf den erhabensten Teil unseres Körpers setzen. Es gibt derennoch tausend ähnliche bei den alten Vätern.

8. Kapitel

Ein weiterer (neunter) Grund,warum man das Kreuzzeichen auf der Stirn macht,

dem Propheten Ezechiel entnommen.

Ezechiel (9,3-6) sagt: Gott rief den Mann im Linnenkleid, der Schreib-geräte an der Hüfte trug, und der Herr sprach zu ihm: Geh mitten durchdie Stadt, mitten durch Jerusalem und bezeichne mit einem Tau die Stirnder Menschen, die seufzen und klagen wegen der Greuel, die in ihr gesche-hen. Und gleich danach gebot er den sechs Männern, die tödliche Waf-fen in den Händen hatten, alles zu töten, was sie in der Stadt finden. Anwem ihr aber das Tau findet, den tötet nicht, sprach er. Dieses Tau, dasZeichen der Rettung, versinnbildete nichts anderes als das Kreuz. Nunwar es auf der Stirn gezeichnet, und deswegen machen wir das Kreuzzei-chen auf der Stirn. Das ist ein schöner Beweis für die Ehre und Kraft desKreuzes und um so bemerkenswerter, weil ihn der Traktant zu verwi-schen versucht. Sehen wir daher im einzelnen, was er darüber sagt, undprüfen es.

1. Er gibt (B.T. 21) den Text Ezechiels folgendermaßen wieder: „Be-zeichne die Stirn der Menschen mit einem Zeichen“; dann fährt er sofort: „In diesem Sinn und mit ähnlichen Worten hat es der griechischeÜbersetzer übersetzt; auch der hl. Hieronymus berichtet, daß die Über-setzer der Septuaginta, auch Aquila und Symmachus dasselbe sagten,nämlich: Mache ein Zeichen oder Kennzeichen auf ihre Stirn. DennTau bedeutet auch im Hebräischen ein Kennzeichen oder Zeichen undkommt vom Wort ‚Thavah‘, d. h. bezeichnen oder kennzeichnen.“ Dassind keine großen Neuigkeiten; viele der Unseren haben das schon be-

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richtet, unter anderen Sixtus von Siena. Aber welche Folgerung gegenuns kann man daraus ziehen?

Nehmen wir an, diese Übersetzung sei die bessere, haben wir dabeinicht immer noch den Vorteil, daß darunter das Kreuzzeichen verstan-den werden kann und muß? Es ist ja das vorzüglichste der reinen undeinfachen Zeichen, das große Zeichen des Menschensohnes, geeigneterals irgendeines unter dem Namen und Wort Kennzeichen oder Zeichenfür sich. Denn obwohl es mehrere Zeichen des Menschensohnes gebenkann, wenn jedoch absolut vom Zeichen des Menschensohnes gespro-chen wurde, verstanden es die Alten vom Kreuz. Und wenn der hl. Hie-ronymus im Brief an Fabiola das Zeichen Ezechiels nicht für den blo-ßen Buchstaben Tau hält, sondern für Zeichen und Kennzeichen imallgemeinen, so versäumt er dennoch nicht, es auf das Kreuz anzuwen-den. „Damals“, sagt er, „wurde nach dem Wort Ezechiels das Zeichenauf die Stirn der Klagenden gemacht, jetzt machen wir das Kreuzzei-chen und sagen: Herr, das Licht deines Angesichts ist über uns gezeich-net“ (Ps 4,7). So heißt es auch in der Geheimen Offenbarung (7,3):Schädigt nicht die Erde noch das Meer und die Bäume, bis wir die Dienerunseres Gottes auf ihrer Stirn gekennzeichnet haben. Das Kennzeichen,von dem hier die Rede ist, ist nichts anderes als das Kreuz; davon sindOecomenes, Rupert, Anselm und viele andere von den Alten mit gutemGrund überzeugt; denn welches andere Zeichen könnte man auf derStirn tragen, das vor Gott Vater ehrenvoller wäre, als das seines Sohnes?Und auf welche andere Art von Kennzeichen könnte man alle dieseheiligen Worte besser anwenden als auf jenes, von dem wir wissen, daßsich die größten Diener Gottes alle damit bezeichnet und daß sie so vielvon ihm gehalten haben?

2. Nachdem der Traktant in dieser Weise seine Meinung über die Über-setzung dieser Stelle vorgetragen hat, fährt er (B.T. 22) folgendermaßenfort: „Es ist wahr, daß Theodotion und die Interpretation der Vulgatadas Wort Tau beibehalten und es buchstäblich verstanden haben, wieman in den Schulen sagt; darunter haben einige nach ihrem Beliebenphilosophiert. Wie derselbe hl. Hieronymus sagt, haben die einen ge-sagt, durch den Buchstaben Tau, den letzten im hebräischen Alphabet,würden jene versinnbildet, die ein vollkommenes Wissen haben. Dieanderen sagen vom gleichen Buchstaben, darunter sei das Gesetz zuverstehen, das im Hebräischen Torá heißt; davon ist das Tau der An-fangsbuchstabe. Derselbe hl. Hieronymus hat schließlich den Ausdruckbeiseite gelassen, den der Prophet gebrauchte, hat den Ausdruck der

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Samariter erforscht und sagt, bei den Samaritern habe das Tau Ähnlich-keit mit einem Kreuz, aber er zeichnet die Gestalt dieses Tau der Sama-riter nicht. Er spürt jedoch, daß diese seine Auslegung weit hergeholtist, und fügt unmittelbar darauf eine andere Auslegung hinzu, daß näm-lich das Tau, das der letzte Buchstabe im Alphabet ist, die rechtschaffe-nen Menschen versinnbilde, die von der Menge jener übrigbleiben, dieein schlechtes Leben führen.“ Das ist der zweite Geistesblitz des Traktan-ten zu dieser Frage. Dazu habe ich einiges zu sagen.

1) Die alte allgemeine Ausgabe der Vulgata verdient sehr wohl so vielGlauben, daß man sie nicht übereilt zugunsten irgendeiner anderen auf-gibt. Da sie am Tau als dem Kennzeichen festhält, mit dem die Klagen-den bezeichnet werden mußten, dürfen wir es nicht einer Kleinigkeitwegen ablehnen.

2) Es ist ein sehr schlechter Ausdruck zu sagen, einige hätten darüber„nach ihrem Belieben“ philosophiert, wenn er damit die Erwägungenmeint, die man früher über diese Prophezeiung anstellte; denn diesealtehrwürdigen und gediegenen Geister haben die Heilige Schrift nichtnach ihrem Belieben gehandhabt, sondern haben ihr Belieben nach derHeiligen Schrift gerichtet.

3) Obwohl der hl. Hieronymus mehrere Bedeutungen anführt, sinddiese nicht gegensätzlich, sondern lassen sich alle vereinbaren mit jener,die der hl. Hieronymus für die angemessenste hält, die ungezwungen undnatürlich ist. Denn die Fülle der Erkenntnis, versinnbildet durch das Tauals Schluß und Vollendung der Buchstaben, besteht darin, das Gesetz zukennen und zu erfüllen, das ebenfalls durch das Tau versinnbildet wird,insofern das Wort Torá, das Gesetz bedeutet, mit Tau beginnt. Nun wirddas Gesetz nur vom Rest und der kleinen Zahl der Guten gehalten, unddas kraft des Kreuzes und des Todes des Erlösers, dessen Zeichen sie aufihrer Stirn tragen, dargestellt durch den hebräischen Buchstaben Tau.Das heißt zur Ehre Gottes Philosophieren, nicht nach seinem Belieben.

4) Aber ist es nicht eine allzu große Durchtriebenheit, weismachen zuwollen, der hl. Hieronymus habe sich nicht auf die dritte Bedeutungfestlegen wollen, weil sie zu weit hergeholt sei, und habe deswegen dieanderen angeführt? Gewiß, das ist eine ausgesprochene Fälschung; denn1. Die letzte Auslegung ist gezwungener, die dritte geläufiger; welcheÜbereinstimmung besteht denn zwischen dem Rest der Bösen und demletzten Buchstaben des Alphabets? Sie ist aber groß zwischen dem altenhebräischen Tau und dem Kreuz, wie derselbe hl. Hieronymus sagt. 2.Der hl. Hieronymus wiederholt an anderer Stelle die dritte Auslegung;

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das zeigt hinlänglich, daß er sie für rechtmäßig hält. Ich habe die Stelleoben zitiert. 3. Er bekennt offen, daß das seine Auffassung ist, dennnachdem er die beiden ersten angeführt hat, trägt er die dritte folgender-maßen vor: „Um aber zu unserer Frage zu kommen, von allen Buchsta-ben der Hebräer, die die Samariter bis heute verwenden, hat der letzteBuchstabe Tau eine Ähnlichkeit mit dem Kreuz, das auf die Stirn derChristen gezeichnet und sehr oft mit der Hand gemacht wird.“

5) Daraus ersieht man, daß der Traktant entweder aus Unwissenheitoder böswillig sagt, der hl. Hieronymus habe den Buchstaben beiseitegelassen, den der Prophet verwendete, um den Buchstaben der Samari-ter zu erforschen. Gibt es einen so armseligen Menschen, der nicht wüß-te, daß Ezechiel vor Esra lebte? Der starb in der Gefangenschaft, diesernach ihr und nach der Wiedererrichtung des Tempels. Wer wüßte nicht,daß Esra der letzte in der ununterbrochenen Abfolge der Prophetenwar? Nun war es Esra, der die früheren Buchstaben der Hebräer ändertein jene, die wir jetzt haben. Aber die Samariter behielten sie bei (manvergleiche, was der hl. Hieronymus darüber im ‚Prologus galeatus‘ sagt).Ezechiel, der vor der Änderung schrieb, gebrauchte also die alte Formder hebräischen Buchstaben, nach der das Tau dem Kreuz ähnlich war.Es ist daher so weit gefehlt, daß der hl. Hieronymus den Buchstabenbeiseite gelassen hätte, den der Prophet verwendete; er hat im Gegenteilbei den alten hebräischen Buchstaben nach ihm geforscht, der bei denSamaritern erhalten blieb. Der hl. Hieronymus forscht auch nicht nachdem Buchstaben der Samariter, wie der Traktant behauptet, sondernvielmehr nach dem der früheren Hebräer, „dessen sich die Samariterbis heute bedienen“, sagt er. Er wußte ja, daß Ezechiel zweifellos diesenfrüheren Buchstaben verwendete, weil die Änderung noch nicht gesche-hen war, als er seine Prophezeiung machte und verkündete.

3. Der Traktant wirft weiterhin unserer Begründung, die von der Pro-phezeiung Ezechiels abgeleitet ist, das Mißverständnis vor, das nach sei-ner Behauptung (B.T. 22f) zwischen dem Kreuz und dem früheren Tauder Hebräer bestünde: „Denn ob der Buchstabe Tau in hebräischer Schriftgeschrieben wird oder in samaritanischer in einem Zeichen, ist doch leichtzu erkennen, daß es wenig Ähnlichkeit mit einem ganzen Kreuz hat, denndas hebräische Zeichen wird anders geschrieben als das samaritanischeZeichen T, das nicht die wirkliche Gestalt eines Kreuzes hat, denn hierfehlt der obere Teil, an dem die Inschrift oder das Urteil des Kreuzesangeheftet war, wie Lypsius im 10. Kapitel seines ersten Buches über dasKreuz zu Recht festgestellt hat.“ Sind das nicht große Kniffe?

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1) Er sagt, zwischen dem T und einem ganzen Kreuz + bestehe wenigÄhnlichkeit. Aber welche größere Ähnlichkeit kann es denn geben alszwischen dem Tau und einem Kreuz? Wir sagen gewiß nicht, das Tau seiein Kreuz, sondern daß es ihm ähnlich ist. Nun, similia non sunt eadem(ähnlich ist nicht gleich). Es ist kein Kreuz, aber es fehlt nicht viel dazu.Wollte Gott, diese Reformatoren hätten diesen selten großen Geist Ju-stus Lipsius nachgeahmt; dann wären sie nicht länger Feinde des Kreu-zes.

2) Er hat auch unrecht anzuführen, wie das hebräische Zeichen ge-macht wird, denn das ist das Zeichen, wie es heute gemacht wird; wirsprechen aber nicht von diesem, sondern von dem, das zur Zeit Ezechielswar; von ihm sagt der hl. Hieronymus, daß es dem Kreuz ähnlich ist.

3) Was das samaritanische Schriftzeichen betrifft, weiß ich nicht, obes zur Zeit des hl. Hieronymus ganz dasselbe war, wie es heute ist. Ichglaube, dann hätten es die Juden und Rabbiner geändert aus Haß gegendas Kreuz, das sie so sehr verabscheuen, daß sie es nicht einmal nennenwollen, wie der gelehrte Genebrard bemerkt hat und ich an andererStelle gesagt habe.

4. Der Traktant wendet (B.T. 23) noch ein: Wenn das gesprochene Taumit seinen Konsonanten und einem Vokal geschrieben wurde, wie esheute im hebräischen Text steht, dann hat es noch weniger Ähnlich-keit.“ Darauf antworte ich: Tau bedeutet ein Zeichen und einen einzel-nen Buchstaben, ähnlich dem Kreuz. Wenn die Prophezeiung als einZeichen für sich zu verstehen ist, muß man sie stets auf das Kreuz bezie-hen wegen seiner Vorzüglichkeit, wie ich zuvor gesagt habe. Da sie au-ßerdem ausgedrückt wurde durch ein Wort, dessen Anfangsbuchstabedie Form des Kreuzes hat, und nicht nur das, sondern auch noch einbestimmtes einziges Zeichen darstellt, das Ähnlichkeit mit dem Kreuzhat, sind wir bei Erwägung so vieler Umstände stets mehr gezwungen,dieses Zeichen der Prophezeiung als das des Kreuzes zu verstehen. Wennaber das Wort Tau nicht nur ein Zeichen darstellt, sondern auch einKreuz, wie Genebrard versichert, ein äußerst oder unglaublich in derhebräischen Sprache Bewanderter, welch größeres Licht wollte man alsBestätigung unserer Behauptung noch haben?

5. „Aber nach den Worten muß man zum Sinn kommen“, sagt derTraktant (B.T. 23). „Vor allem ergibt sich aus dem, was im 8. und 9.Kapitel Ezechiels berichtet wird, daß alles, was da gesagt ist, in einergeistigen Vision vorgestellt wurde, so daß sich die Sache nicht in Wirk-lichkeit zugetragen hat.“ Hier stimme ich gern zu und sage: Da diese

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Vision geistig war, bezieht sie sich um so mehr auf den Geist des Evan-geliums als auf den Buchstaben des alttestamentlichen Gesetzes. Dasich die Sache nicht wirklich im alten, wirklichen Jerusalem zugetragenhat, mußte sie tatsächlich im neuen, christlichen Jerusalem in Erfül-lung gehen.

„Zweitens ist klar“, sagt der Traktant (B.T. 23), „daß diese Prophezei-ung eigentlich und im besonderen gegen die Stadt Jerusalem gerichtetwar und daß ihre Erfüllung sich zeigte, als die Babylonier die Stadt Jeru-salem einnahmen und zerstörten und einen bestimmten Rest des Volkesin Gefangenschaft führten. Daher ist es unvernünftig, was für eine be-stimmte Zeit, einen bestimmten Ort und für bestimmte Personen gesagtwurde, auf andere anzuwenden und zu beziehen, was nie die Absicht Gotteswar, der durch den Mund Ezechiels gesprochen hat.“ Hier hätte ich vielzu sagen, aber für meinen Zweck genügt das folgende:

1) Obwohl diese Worte Ezechiels unmittelbar gegen Jerusalem ge-richtet waren, ist es dennoch eine Folgerung aus Ignoranz, den Schlußzu ziehen, sie dürften nicht auf das geistige Jerusalem angewendet wer-den. Wie viele Prophezeiungen gibt es, die auf die Wahrheit des Evange-liums abzielten, die aber trotzdem ihrem ursprünglichen Sinn nach nurdas betrafen, was im Schatten und Gleichnis des Alten Bundes geschah?Siehe Psalm 72: Gott, gib dein Gericht dem König. Das zielt ganz aufunseren Erlöser und sein Königtum, obwohl es unmittelbar für Salomobestimmt war, der hier als Schatten und Gleichnis dient, um Jesus Chris-tus zu versinnbilden, den Fürsten des ewigen Friedens. Ebenso heißt esim 2. Buch Samuel (7,14): Ich werde ihm Vater und er wird mir Sohnsein. Ist das nicht unmittelbar und in seinem ursprünglichen Sinn vonKönig Salomo zu verstehen, den Sohn der Batseba? Trotzdem bezieht essich auf den Heiland der Welt und kommt auf ihn hinaus, außer Sieverwerfen, um Ihre Ungereimtheiten aufrecht zu erhalten, auch den He-bräerbrief, denn dort ist (1,5) dieser Text ausdrücklich auf Jesus Chris-tus bezogen. Und das Wort: Ihr werdet an ihm kein Gebein zerbrechen,versteht der hl. Johannes (19,36) von Jesus Christus, und trotzdem wur-de es unmittelbar vom Osterlamm gesagt. Wenn also Ezechiel seineProphezeiung unmittelbar gegen Jerusalem richtet, muß sie dennochvom Geheimnis der Kirche verstanden werden.

2) Aber selbst wenn es nur aus Ehrfurcht vor den Alten wäre, die dasTau Ezechiels auf das Kreuz bezogen haben, müßte der Traktant eherJahre darauf verwenden, um die Gründe dafür zu erforschen, als sofrech zu behaupten, das sei unvernünftig, der Text sei verdreht und es sei

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nie die Absicht des Heiligen Geistes gewesen, daß er so verstandenwird. Wenn man den Grund nicht sieht, der unsere Väter bewogen hat,etwas zu sagen, darf man sie deswegen nicht für unvernünftig halten. Eswäre besser, mit jenem zu sagen: Was ich davon verstehe, ist schön, undich glaube auch das, was ich nicht verstehe. Und wie viele Väter habendieses Tau Ezechiels auf das Kreuz bezogen!

Origenes: „Wenn das Blutbad in der Person der Heiligen begonnenhat, werden nur die gerettet, die mit dem Tau, d. h. mit dem Abbild desKreuzes, gekennzeichnet sind.“ Tertullian: „Der griechische BuchstabeTau und unser T ist das Gleichnis des Kreuzes, von dem er (Ezechiel)vorhergesagt hat, daß es auf unserer Stirn gegen das katholische Jerusa-lem sein muß.“ Der hl. Cyprian: „Daß in diesem Zeichen das Heil füralle liegt, die mit ihm auf der Stirn bezeichnet sind, sagt Gott durchEzechiel: Geh mitten durch Jerusalem und kennzeichne jene, die seuf-zen (et notabis signum, sagt er).“ Der hl. Chrysostomus: „In der Zahl300 wird das Geheimnis des Kreuzes gezeigt; der Buchstabe T ist dasZeichen der Dreihundert, von denen bei Ezechiel die Rede ist: Du sollstauf die Stirn der Seufzenden das Tau schreiben, und wer mit ihm be-zeichnet ist, werde nicht getötet. Denn wer die Standarte des Kreuzesauf der Stirn trägt, der kann vom Teufel nicht verwundet werden.“ Derhl. Hieronymus, bereits oben zitiert, ist hier ganz deutlich. Wo der hl.Augustinus in den Fragen zu den Richtern von der Zahl der 300 han-delt, bezieht auch er den Buchstaben T auf das Geheimnis des Kreuzes.Ich könnte noch viele andere anführen, aber hier ist die Blüte der altenVäter, vor allem Origenes, der hl. Chrysostomus und der hl. Hierony-mus für die Sprachen und Eigenheiten der Ausdrücke in der HeiligenSchrift. Wie konnte es daher der Traktant wagen, unseren Grund soschlecht zu behandeln, den wir von Ezechiel abgeleitet haben, der vondiesen gelehrten, altehrwürdigen Lehrern so gut behandelt wurde?

6. Gehen wir weiter zum Rest der Behauptung des Traktanten zu die-sem Punkt.

„Man wird niemals finden“, sagt er (B.T. 24), „daß die Juden mitirgendeinem Zeichen, was immer es sei, auf der Stirn bezeichnet wären,und noch weniger mit dem Kreuz, das damals bei allen Völkern etwasVerhaßtes und Schmachvolles war.“ Hier nehme ich Sie beim Wort,Traktant, und fordere Sie auf, mir zu sagen, ob die Ausdrücke Ezechielsnicht besagen, daß die Seufzenden an der Stirn bezeichnet wurden. Siekönnen es nicht leugnen: entweder wurden sie also bezeichnet, dannsagen Sie zu Unrecht, sie seien niemals bezeichnet worden; oder sie

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wurden nicht bezeichnet, dann frage ich Sie, wann die Prophezeiung sogenau erfüllt wurde, wie es ihre Ausdrücke besagen. Das geschah nichtim zeitlichen Jerusalem, es wird also im geistigen Jerusalem geschehen,das die Kirche ist. In Wahrheit sind diese alttestamentlichen Visionen,Sinnbilder und Prophezeiungen, nie so vollkommen an ihrem erstenGegenstand erfüllt worden, an den sie unmittelbar gerichtet waren, alsan ihrem letzten und schließlichen, auf den sie nach dem geheimnisvol-len Sinn bezogen waren, wie der hl. Augustinus vorzüglich darlegt ander Stelle, die ich eben angeführt habe. So sind der Psalm 72, das Wortim Buch Samuel und Exodus, die ich schon angeführt habe, viel voll-kommener in Jesus Christus gewahrt, der ihr letzter Gegenstand war,als in Salomo oder im Osterlamm, die der erste waren. Auch wenn dieApostel die Prophezeiungen und Sinnbilder auf unseren Erlöser oderauf die Kirche anwenden, gebrauchen sie oft die Worte: damit erfülltwerde, was geschrieben steht (Mt 27,35). Da also die Juden nicht mitdem Tau bezeichnet werden, wie der Traktant will, ziehe ich den Schluß:um diese Vision recht zu erfüllen, müssen die Christen, die geistigenIsraeliten, mit ihm bezeichnet werden, d. h. mit dem Kreuz, das durchdas Tau versinnbildet wird.

7. Trotzdem fährt der Traktant (B.T. 24) folgendermaßen fort: „Nundenn, der wahre Sinn der Stelle bei Ezechiel ist, daß Gott erklärt, wenndas große Urteil über die Stadt Jerusalem vollzogen wird, werden davonnur verschont sein, die durch den Geist Gottes bezeichnet sind. DieserSprachgebrauch ist dem entnommen, was man im 11. Kapitel Exodusliest, wo ... den Israeliten befohlen wurde, Blut vom Osterlamm auf dieSchwelle ihrer Wohnungen zu streichen, damit der Engel das Zeichendes Blutes sehe und vorübergehe, ohne den Israeliten zu schaden. Sowird auch im 7. Kapitel der Geheimen Offenbarung auf jene hingewie-sen, die gekennzeichnet sind, das sind jene, die an anderer Stelle Auser-wählte Gottes genannt werden, oder jene, die der Herr als die Seinenanerkennt, weil er sie gleichsam mit seinem Siegel gekennzeichnet hat,und wie die Heilige Schrift sagt, weil er ihre Namen in das Buch desLebens geschrieben hat. Denn wie der hl. Paulus im 2. Korintherbriefschreibt, hat er uns gesalbt und gekennzeichnet und hat uns das Unter-pfand seines Geistes ins Herz gelegt.“ Das ist die Behauptung des Traktan-ten; dazu bemerke ich:

1) Wenn dieser Sprachgebrauch des Propheten vom Zeichen des Blu-tes des Lammes genommen ist, das auf die Türpfosten der Israelitengemacht wurde, muß es sich folglich auf ein wirkliches und äußeres

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Zeichen beziehen, denn die Schwellen und Türpfosten wurden tatsäch-lich gekennzeichnet und bezeichnet.

2) Das Kennzeichen der Türpfosten war ein Sinnbild und eine Vor-hersage des Kreuzzeichens, wie ich oben gezeigt habe. Wenn das Zei-chen Ezechiels von ihm abgeleitet ist, muß es ebenfalls auf das Zeichendes Kreuzes zurückgeführt und in ihm erfüllt werden.

3) Die Gekennzeichneten der Geheimen Offenbarung bestätigen unsnoch stärker, denn wie uns die alten Schriftausleger sagen, sind das jene,die wegen des Bekenntnisses ihres Glaubens und wegen der Anrufungdes Erlösers mit dem Zeichen des Kreuzes gekennzeichnet werden. Aus-erwählte sind nur jene, die mit dem Mund, mit dem Herzen, durch Zei-chen und Werke mit dem Apostel (Gal 6,14) bekannt haben, daß siekeinen anderen Ruhm haben außer im Kreuz Jesu Christi. In der Tat istes der Gipfel unseres Glückes, von unserem Meister im Herzen gesalbtund gekennzeichnet zu sein, aber das äußere Zeichen ist erforderlich,weil man es nicht verachten kann, ohne das innere zurückzuweisen.Und es ist begründet, weil wir mit unseren beiden Bestandteilen, demInneren und Äußeren, Jesus Christus angehören und weil beide auchsein Zeichen und seine Aufschrift tragen müssen.

9. Kapitel

Zehnter Grund, warum man das Kreuzzeichen auf der Stirn macht: um den Antichristen zu verabscheuen.

Nachdem der Traktant versucht hat, sein unsichtbares KennzeichenEzechiels mit dem Kennzeichen der Auserwählten zu begründen, vondenen in der Geheimen Offenbarung die Rede ist, führt er schließlichzugunsten seiner Absichten (B.T. 25) das Kennzeichen des Tieres ein;das sind seine Worte: „Im entgegengesetzten Sinn heißt es im 16. Kapi-tel der Geheimen Offenbarung, daß der Engel seine Schale ausgoß, umdenen eine schlimme Wunde beizufügen, die das Zeichen des Tierestragen, d. h. den Dienern des Antichristen.“ Doch das alles bestätigtgewiß noch mehr die Auffassung der Alten vom Wort Ezechiels; unddas ist für die Christen der zehnte Grund, warum sie das Kreuzzeichengern empfangen und machen. Der Antichrist, das ist der Mensch derSünde, dieses wilde Tier, das die Disziplin und die christliche ReligionStück für Stück zerstören möchte, indem es den Satzungen der Gläubi-

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gen gegenteilige entgegensetzt, unter anderem sie mit einem Zeichenversehen und ihnen ein Merkmal aufprägen läßt; so sagt die GeheimeOffenbarung (13,16). Aber dieses Zeichen wird meines Wissens sicht-bar oder wahrnehmbar sein. Die Neuerer sagen nein, und mit dem Zei-chen des Tieres gezeichnet sein bedeutete nichts anderes, als ein Dienerdes Antichristen zu sein, der seine Greuel annimmt und billigt. Siesagen das, aber beweisen es nicht. Ich sage nun im Gegenteil, daß diesesZeichen offenkundig und sichtbar sein wird; aber hier sind meine Grün-de, die meiner Meinung nach unwiderlegbar sind.

1. Die Worte der Geheimen Offenbarung bezeichnen ausdrücklichein tatsächliches und äußeres Zeichen und es gibt keine Schwierigkeit,sie so zu verstehen. Warum soll ich ihnen einen fremden Sinn geben,wenn der natürliche passend ist?

2. Der Antichrist wird überaus stolz sein. Dazu paßt sehr gut, daß erdie Seinen ein Kennzeichen tragen läßt, wie die Großen ihren Leuteneine Livree geben.

3. Der Teufel, der ein Geist ist, begnügt sich nicht damit, die Huldi-gung der Hexenmeister zu empfangen, sondern prägt ihnen ein körper-liches Merkmal ein, wie tausend Berichte und Prozesse, die man gegensie geführt hat, bestätigen. Wer zweifelt daher daran, daß dieser Menschder Sünde, ein so gelehriger Schüler des Teufels, dasselbe tut und daß er,wie im Altertum viele taten, gekennzeichnete und gebranntmarkte Die-ner haben will?

4. Der hl. Hippolyth, dieser altehrwürdige Märtyrer, Primasius, Beda,Rupert haben die Stelle so verstanden. Hier sind die Worte des Erstge-nannten, wo er vom Antichristen spricht: „Unverzüglich wird jeder, vomHunger getrieben, zu ihm kommen und ihn anbeten. Ihnen wird er einKennzeichen an der rechten Hand und auf der Stirn einprägen, damitkeiner mit seiner Hand das kostbare Kreuz auf seine Stirn zeichne“; undetwas später: „Die ihm gehorchen, wird er mit seinem Siegel kennzeich-nen.“ Wer sieht hier nicht den Gehorsam vom Kennzeichen unterschie-den? Und wer wird nicht eher den unvoreingenommenen Alten folgen alsdiesen Neuerern, die ganz hingerissen sind vom Verlangen, ihre Hirnge-spinste unter dem Vorwand irgendeiner Schriftstelle zu begründen?

5. Doch hier ist ein unwiderlegbarer Grund. Der hl. Johannes sagtvom Antichristen im 13. Kapitel der Geheimen Offenbarung (16f) aus-drücklich: Er bewirkte, daß alle, Kleine und Große, Reiche und Arme,Freie und Sklaven, ein Zeichen auf ihrer rechten Hand oder auf ihrer Stirntrugen und daß keiner kaufen oder verkaufen kann, wenn er nicht das

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Kennzeichen oder den Namen des Tieres trägt oder die Zahl seines Na-mens. Diese Alternative: auf ihrer Hand oder auf ihrer Stirn, zeigt dienicht, daß es ein wahrnehmbares Zeichen sein wird und etwas anderes,als ein Anhänger des Antichristen zu sein? Und wie könnte man an-dernfalls jene, die die Möglichkeit haben, Handel zu treiben, von denenunterscheiden, die sie nicht haben, wenn es nicht sichtbar ist? Wie sollteman die erkennen, die die Zahl oder den Namen oder das Zeichen tra-gen, wenn es im Herzen wäre? Nun, was im 16. Kapitel der GeheimenOffenbarung gesagt wird, steht in Beziehung zu dem, was im 13. Kapitelgesagt wurde. Wenn also an der einen Stelle das Zeichen des Antichri-sten als sichtbar beschrieben wurde, dann wird es auch an der anderensichtbar und äußerlich sein, das ist ganz klar. Es ist also ein Mißver-ständnis zu behaupten, dieses Zeichen des Antichristen sei nicht wirk-lich und wahrnehmbar. Wenn also der Antichrist wie ein Affe Christusvorstellen und nachahmen will, seine Leute auf der Stirn kennzeichnetund sie dadurch verpflichtet, das Kreuzzeichen nicht zu machen, wieder hl. Hippolyth sagt, wieviel eifriger müssen daher wir am Gebrauchdieses heiligen Zeichens festhalten, um zu beteuern, daß wir Christensind und dem Antichristen niemals gehorchen werden?

Die Prädikanten hatten ihre Hugenotten gelehrt, die Tonsur der Geist-lichen sei das Zeichen des Tieres. Sie sahen aber, daß sie kein deutliche-res Zeichen des Tieres tragen konnten, als das zu sagen; denn einerseitsträgt sie der größte Teil der Papisten (wie sie sagen) nicht, der hl. Johan-nes betont aber, daß alle Anhänger des Tieres sein Zeichen tragen; an-dererseits hören jene, die die klerikale Tonsur nicht tragen, doch nichtauf, Handel zu treiben, wogegen der Handel denen verwehrt ist, die sietragen. Das hat sie veranlaßt, sich auf die Auslegung zu verlegen, dasZeichen des Tieres müsse unsichtbar sein. Das ist immer ein Kennzei-chen des Tieres oder des tierischen Starrsinns, wie ich eben gezeigthabe.

Das sind zehn Gründe, nach dem Beispiel der Kirche des Altertumsdas Kreuzzeichen auf der Stirn zu machen und zu empfangen, sowohlbei der Taufe und Firmung wie bei anderen Gelegenheiten. Das läßt denhl. Ambrosius zur glückseligen hl. Agnes sagen, Unser Herr habe sie imGesicht gekennzeichnet, damit sie keinen anderen Liebhaber annehmeals ihn; und der hl. Augustinus sagt über den hl. Johannes: „Jesus Chris-tus hat nicht gewollt, daß ein Stern sein Zeichen auf der Stirn der Gläu-bigen sei, sondern sein Kreuz: wodurch er erniedrigt wurde, dadurchwurde er verherrlicht.“ Victor de Vita beschreibt die Marter, der man

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Armogast unterwarf, und sagt, die Folter habe sein Gesicht dermaßenverunstaltet, daß die Haut nur mehr Spinnweben glich, so dünn undausgedehnt war „die Stirn, auf der Jesus Christus seine Standarte aufge-pflanzt hatte“, sagt er. Wie der Gebrauch (des Kreuzzeichens) von denHugenotten ganz und gar verschmäht wird, so wird er von den Isinern,häretischen Indern, abergläubisch beobachtet. Sie begnügen sich nichtdamit, bei der Taufe ihrer Kinder einfach das Kreuzzeichen zu machen,sondern brennen es ihnen mit einem heißen Eisen auf der Stirn ein. DieNarren gehen immer bis zum Extrem.

10. Kapitel

Die Macht des Kreuzzeichens gegen die Teufelund ihre Anstrengungen.

Wenn die Heiligkeit und Tüchtigkeit der alten Väter bei uns irgendet-was gilt, dann geben sie uns Zeugnisse genug, um uns die Kraft desKreuzes erkennen zu lassen. 1. Der hl. Martial, ein Jünger Unseres Herrn:„Habt stets im Geist, im Mund und im Zeichen das Kreuz UnseresHerrn, an den ihr als wahren Gott und Sohn Gottes geglaubt habt. Denndas Kreuz des Herrn ist eine unüberwindliche Rüstung gegen den Satan,ein Helm, der das Haupt schützt, ein Harnisch, der die Brust bedeckt,ein Schild, der die Streiche des Bösen zurückschlägt, ein Schwert, dasverhindert, daß die Bosheit und die teuflischen Nachstellungen der bö-sen Macht ihm nahekommen. Denn einzig durch dieses Zeichen wurdeuns der himmlische Sieg verliehen und durch das Kreuz die Taufe gehei-ligt.“

2. Der hl. Ignatius, Schüler des hl. Johannes: „Der Fürst dieser Weltfreut sich, wenn jemand das Kreuz verleugnet, denn er hat wohl erkannt,daß das Bekenntnis des Kreuzes sein Tod ist, weil es ein Siegeszeichengegen seine Macht ist; wenn er es sieht, bekommt er Angst, wenn er vonihm hört, fürchtet er es.“

3. Origenes: „Meine vielgeliebten Brüder, freuen wir uns und erhebenwir die heiligen Hände in Kreuzform zum Himmel. Wenn die Dämo-nen uns in dieser Weise bewaffnet sehen, werden sie überwunden sein.“

4. Der hl. Athanasius: „Alle Zauberkunst wird durch das Kreuzzei-chen zurückgeschlagen, aller Zauber aufgehoben.“ Und wenig später:„Wer die Erfahrung dieser Dinge sucht, d. h. die Blendwerke der Dämo-

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nen, der trügerischen Weissagungen und Wunder der Magie, der kom-me, mache das Kreuzzeichen (das sie für lächerlich halten) und sagenur den Namen Jesu Christi; er wird sehen, daß dadurch die Teufelvertrieben werden, die Weissagungen verstummen, alle Magie und Zau-berei wird zerstört.“

5. Lactanz: „Wie er (Jesus Christus) unter den Menschen lebend alleTeufel durch sein Wort austrieb, so vertreiben jetzt seine Anhänger diegleichen ekelhaften Geister sowohl durch den Namen ihres Meisters alsauch durch das Zeichen der Passion. Der Beweis dafür ist nicht schwer,denn wenn sie ihren Göttern opfern und es ist einer anwesend, dessenStirn bezeichnet ist, dann halten sie ihre Opferfeier auf keinen Fall.“

6. Der hl. Antonius trotzte den Teufeln auf folgende Weise: „Wenn ihrirgendeine Kraft besitzt, wenn euch der Herr irgendeine Macht übermich verliehen hat, dann kommt, hier bin ich; verschlingt den, der euchüberlassen wurde. Doch wenn ihr es nicht könnt, warum versucht ihr esdann vergeblich? Das Kreuz und der Glaube an den Herrn ist eine un-überwindliche Mauer für uns.“ Und zu seinen Schülern sagte er: „DieTeufel kommen in der Nacht und verstellen sich, als wären sie EngelGottes. Wenn ihr sie seht, dann wappnet euch und eure Häuser mit demKreuzzeichen, und sie werden sogleich zunichte, denn sie fürchten die-ses Siegeszeichen, durch das er die Mächte der Luft beraubte und zumGespött machte.“

7. Der hl. Chrysostomus: „Er27 hat das Kreuz kostbar genannt. Mandarf es nicht einfach mit dem Finger auf seinem Körper bilden, sondernin Wahrheit zuerst in der Seele. Denn wenn du es in dieser Weise aufdeiner Stirn machst, wird kein Teufel dich anzugreifen wagen, wenn erdie Lanze sieht, von der er den tödlichen Stoß erhalten hat.“

8. Der hl. Ephräm: „Schmücke und umgib deine Glieder mit diesemheilsamen Zeichen, und kein Unglück wird dir nahen. Denn beim An-blick dieses Zeichens werden die feindlichen Mächte vor Schreckenzitternd fliehen.“

9. Der hl. Cyrill von Jerusalem: „Das ist das Zeichen der Gläubigenund der Schrecken der Dämonen, denn er (er spricht von Unserem Herrn)hat in diesem Zeichen über sie triumphiert. Zeig es kühn, denn wenn siedas Kreuz sehen, erinnern sie sich an den Gekreuzigten; sie fürchtenden, der dem Dragon das Haupt zertreten hat.“

10. Der hl. Augustinus: „Wenn der Feind manchmal Fallen stellenwill, soll der Erlöste wissen, daß er ihm mit dem Wort des Glaubensbe-

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kenntnisses und mit der Fahne des Kreuzes entgegentreten muß.“Wahrhaftig eine bemerkenswerte Übereinstimmung der Stimmen die-

ser untadeligen Senatoren der Kirche. Seht nun die Erfahrungen, dieihre Aussagen bestätigen.

„Der hl. Hilarion hörte eines Abends das Wimmern kleiner Kinder,das Blöken von Schafen, das Brüllen von Ochsen mit sonderbaren Ru-fen verschiedener Stimmen. Da erkannte er, daß es teuflische Vorspie-gelungen waren, daher kniete er nieder und bezeichnete sich auf derStirn mit dem Kreuz Jesu Christi, so daß er mit diesem Helm des Glau-bens bewehrt, krank darniederliegend, tapferer kämpfte ... Aber sobalder den Namen Jesus angerufen hatte, wurde dieser ganze Spuk vor sei-nen Augen von einer plötzlich aufgebrochenen Öffnung der Erde ver-schlungen“ (Hieronymus). Das Kreuz stärkt ihn, und das Kreuzzeichenmachen heißt „Jesus Christus anrufen“; das ist bedeutsam.

Lactanz berichtet, daß einige Christen dabei waren, als ihre Herrenden Götzenbildern opferten. Sie machten das Kreuzzeichen und ver-trieben deren Götter, so daß sie ihre Weissagungen von den Eingewei-den der Opfertiere nicht machen konnten. Als die Wahrsager das merk-ten, reizten sie auf Anregung der Dämonen diese Herren zum Zorngegen die christliche Religion und brachten sie dazu, den Kirchen vielLeid zuzufügen.

Den Bericht darüber schließt dann Lactanz gegen das Heidentum fürdie christliche Religion folgendermaßen: „Aber die Heiden sagen, die-se Götter fliehen vor dem Kreuz nicht aus Furcht, sondern aus Haß. Ja,als ob jemand einen hassen könnte, außer er schadet ihm oder kann ihmschaden. So wäre es der Größe dieser Götter besser angestanden, jenezu strafen und zu quälen, die sie haßten, als zu fliehen. Da sie aber andiejenigen nicht herankommen können, an denen sie das himmlischeKennzeichen erblicken, noch denen schaden, welche die unsterblicheFahne wie ein uneinnehmbares Bollwerk schützt, kränken und bedrän-gen sie diese durch die Menschen und verfolgen sie durch die Händeanderer. Wenn sie das zugeben, haben wir in Wahrheit den Kampf ge-wonnen.“ Das hat dieser große Mann gewiß sehr gut gesagt.

Julian Apostata wollte wissen, welchen Erfolg sein Plan haben werde,sich zum unumschränkten Herrn des Reiches zu machen. Er traf einenbestimmten Zauberer und Wahrsager und betrat mit ihm eine tiefe Höhle.Beim Hinabsteigen hörte er einen schrecklichen Lärm, nahm großenGestank wahr und sah feurige Gespenster. „Ganz erschrocken darüber,nahm er seine Zuflucht zum Kreuz, dem alten Heilmittel, und bekreu-

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zigte sich. Er nahm den zum Beschützer, den er verfolgte.“ O Wunder:„Dieses Zeichen hatte Macht; die Teufel waren überwunden und dieSchrecken wichen.“ Und was geschah weiter? Der Böse kommt wieder zuAtem; er fährt fort, ist zu seinem Unternehmen angeregt und die Schrek-ken bedrängen ihn stärker. Er nimmt zum zweitenmal Zuflucht zumKreuzzeichen, und die Teufel sind bezwungen. Erfahren in dieser Kunst,war Julian ganz verblüfft, „die Teufel durch das Kreuz überwunden zusehen“. Der Zaubermeister schalt ihn, wendete die Sache zu seinen Gun-sten und sagte ihm: „Glaube ja nicht, sie hätten Angst gehabt. Sie habenAbscheu vor diesem Zeichen, nicht als wären sie vor ihm erschrocken.“Der Böse verführt ihn, er sagt das und überredet ihn: „Abominationi illisfuimus, non timori. Vincit quod pejus est, haec dixit simul et persuasit.“Das sind die Worte des hl. Gregor von Nazianz, der die Geschichte mitTheodoret und der ‚Historia tripartita‘ berichtet.

Der hl. Gregor der Große erzählt, daß sich ein Jude eines Nachts ineinem Apollotempel befand, in dem einige Teufel versammelt waren,als hielten sie Rat. Nachdem er sich mit dem Kreuz bezeichnet hatte,konnten sie ihm nichts anhaben, denn, sagten sie, „er ist ein leeres Ge-fäß, aber er ist gekennzeichnet.“

Das genügt für meinen Zweck. Aber hören wir, was der Traktant dazusagen wird, denn er wird um jeden Preis reden.

1. Auf das letzte Beispiel erwidert er (B.T. 27): „Wer sich dieser Passageentledigen möchte, könnte sagen, daß solche Dialoge voll von leichtferti-gen Berichten sind.“ Das ist des törichten Richters kurzer Urteilsspruch.

Diesen Bericht gibt der hl. Gregor der Große, der altehrwürdige Papst,und der Traktant, der höchstens irgendein unnützer Prädikant sein kann,beschuldigt ihn der Dummheit und Lüge: wem sollen wir glauben? Groß-artig, wenn alles, was nicht nach dem Geschmack dieser Neuerer ist, alsFabel betrachtet werden muß. Aber was kann er Absurdes in diesemBericht nennen, um ihn zurückzuweisen, wenn er von so guter Stellestammt, wie es das Zeugnis des hl. Gregor ist? Sollte es das sein, daß dieTeufel Versammlungen und Beratungen halten? Aber hier ist die Heili-ge Schrift ganz deutlich (1 Kön 22,10-23; 2 Chr 18,18-22) und der hl.Johannes Cassian erzählt ein ähnliches Beispiel. Sollte es das sein, daßdas Kreuzzeichen die Anstrengungen des Teufels vereitelt? Aber diealten und ganz reinen Christen haben das alle geglaubt und unzähligeErfahrungen bestätigen es. Was anders konnte daher den Traktantenaufstacheln, dieses Urteil gegen den hl. Gregor zu fällen, als die Wut,von der er erfüllt ist, um seine Ansichten zu stützen?

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2. Aber nachdem er auf den hl. Gregor im einzelnen geantwortet hat,stellt er allgemeine Einwände auf, um den Punkt aller dieser Wunder, dieangeführt wurden, und vieler anderer zu erledigen. 1) „Gott hat oft zuge-lassen, daß Dinge geschahen, die er nicht billigte, wie zahllose Folgenbestätigen, die einst um alte Orakel eintraten. Wenn das geschieht, sagtMose in Deuteronomium 13, wo er über außergewöhnliche Wirkungenvon falschen Propheten spricht, will Gott prüfen, ob man ihn fürchtet undob man ihn allein liebt. Denn es genügt nicht zu sagen, daß irgendetwasgeschehen ist, sondern man muß wissen, ob Gott dessen Urheber ist, obes etwas ist, das zum Heil der Menschen und zur Ehre Gottes gereicht ...“(B.T. 18). – 2) „Es kann sein, daß Gott in den Anfängen der Verkündi-gung des Evangeliums außergewöhnliche Dinge geschehen lassen wollte,um den Herzen der Menschen eine tiefere Auffassung von der Passionunseres Herrn Jesus Christus einzuprägen. Doch wenn es Gott damalsgefallen hat, den Seinen manchmal seine Güte zu zeigen, muß man dasanerkennen, um ihm für seinen Beistand zu danken. Wenn er aber gewollthat, daß jene, die schon wenig sahen, noch weniger sehen oder sogar ganzerblinden, dann anerkennen wir seine Urteile und halten wir seine Wahr-heit rein“ (B.T. 20). – 3) Wenn diese Wirkungen eingetreten sind „durchdie Macht Jesu Christi, dann geschah es durch die Anrufung seines Na-mens, nicht durch ein Zeichen. Wenn es durch ein schlechtes Mittel ge-schah, dann mag ein Zauber durch einen Gegenzauber aufgehoben wor-den sein, ... indem Gott dem Satan Wirksamkeit des Irrtums verlieh, umdie Menschen zu täuschen. Als der Satan sich durch Jesus Christus ausseiner Festung vertrieben sah, hat er eine andere Festung gegen JesusChristus errichtet und zu diesem Zweck sich der Einfalt der Christenbedient, ... und indem er vor dem Kreuz floh, hat er es wie jene gemacht,die zurückweichen, um weiter vorzustoßen“ (B. T. 27f). – 4) Zum Bei-spiel von Julian Apostata sagt er (B.T. 29): „Das Beispiel eines solchenSchurken darf man nicht anführen, um eine Lehre in der Kirche zu be-gründen, denn ein solches Beispiel ist nicht lobenswert, ... in der Weise,daß man gut den Schluß ziehen kann: Da Julian Apostata und ähnlichedieses Zeichen gemacht haben und ihnen, wie man sagt, dadurch geholfenwurde, geht das offenbar nicht von Gott aus, sondern ist vom Satan ge-kommen, der ihn nach dem gerechten Urteil Gottes mehr und mehr betö-ren und verstricken wollte. Denn dieses außergewöhnliche Ereignis dien-te dazu, diesen Schurken um so mehr zu erniedrigen, sowohl in seinemGewissen als auch vor den Menschen.“ Das sind insgesamt die Einwändedes Traktanten; ihnen halte ich entgegen:

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1) Ihre Widersprüchlichkeit, Unschlüssigkeit und Zweifelhaftigkeit.Er weiß nicht, wem er die Ehre für die Ereignisse zuschreiben soll: „obes durch die Macht Jesu Christi geschehen ist, ... ob durch schlechteMittel, ... Es konnte geschehen, um eine tiefere Auffassung von der Pas-sion Jesu Christi einzuprägen ... Daß Gott dem Satan Wirksamkeit desIrrtums verlieh, um die Menschen zu täuschen ...“ Welches Getue: zeigter mit dieser Unschlüssigkeit nicht, daß er sehr verlegen ist, daß er aufden Busch klopft, um zu versuchen, ob man irgendeine Antwort findenkönnte?

2) Ich halte ihm das ganze Altertum entgegen, das in unvergleichli-cher Einmütigkeit lehrt, daß diese wunderbaren Ereignisse von der HandGottes sind. Hätten diese großen Väter, die wir zitiert haben, noch dazuin so großer Zahl, uns wohl eingeladen, das Kreuzzeichen zu machen,wenn sie den Verdacht gehabt hätten, der Teufel könnte dessen Urhebersein? Und wer wird bezweifeln, daß Jesus Christus dessen Urheber ist,wenn er nach den Ausführungen des Lactanz bedenkt, wie sehr es zurEhre Gottes gereicht, wenn das einfache Zeichen seiner Passion dieFeinde vertreibt?

3) Ich erwidere, daß diese Einwände stark nach dem Häretiker undVerzweifelten riechen. Das war die gewöhnliche Art der alten Aufrüh-rer, die Wunder dem Zauber und dem Wirken der Teufel zuzuschrei-ben. Beispiele dafür sind die Schriftgelehrten und Pharisäer, die (Mt12,24; Lk 11, 15) die Werke Jesu Christi dem Beelzebul zuschrieben;nach dem Bericht des hl. Hieronymus die Anhänger des Vigilantius undnach dem Bericht des hl. Ambrosius die Arianer. Denkwürdig ist derAusspruch Tertullians: Er überredete seine Frau, sich nicht mit einemUngläubigen wiederzuverheiraten: „Wird es verborgen bleiben“, sagteer, „wenn du über deinem Bett und deinem Körper das Kreuzzeichenmachst? Wird er nicht für Zauberei halten, was du tust?“ Seht ihr nicht,wie Tertullian den Heiden das Gerede der Hugenotten zuschreibt, daßnämlich das Kreuzzeichen als Zauberformel diene?

4) Ich erwidere, daß das Eintreten solcher Wirkungen stets zur EhreGottes gereichte und auf das Heil der Menschen zielte; darauf habenalle Väter hingewiesen. Ist es nicht die Ehre Gottes und das Wohl derMenschen, wenn der Teufel überwunden und vertrieben wird? Gewiß,der Gottessohn selbst nennt unter den Wirkungen des Kreuzestodes(Joh 12,31) diese: Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen. Dasläßt den Teufel vor dem Kreuz als der lebendigen Verkörperung derKreuzigung fliehen.

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5) Es konnte sein, daß die Wunder, die am Kreuz geschahen, durchdie Macht Gottes geschehen sind, um dem Herzen der Menschen denGedanken an den Tod und die Passion unseres Erlösers einzuprägen,wie der Traktant zugibt; daher erwidere ich, daß er unrecht hat und sichals voreingenommen erweist, wenn er noch einen anderen Grund fürdiese Wunder sucht, denn dieser gereicht mehr zur Ehre Gottes undzum Heil der Menschen, als wenn man sagt, der Teufel sei ihr Urheber,wie derselbe Traktant dann sagt.

6) Ich erwidere, daß das bedeutet, dem Irrglauben die Tür zu öffnen,der auf alle Wunder der Teufelsaustreibung, sowohl durch UnserenHerrn als durch seine Jünger, antworten wird, der Teufel weiche schein-bar zurück, um besser voranzukommen. Und wenn der Traktant be-hauptet, der Teufel bediene sich zu diesem Zweck der Einfalt der Chris-ten, so spräche der Anschein dafür, wenn man ihm das Zeugnis irgend-welcher Schwachsinniger vorgetragen hätte. Wenn man ihm aber Marti-al, Ignatius, Origenes, Chrysostomus, Augustinus vorführt, wie kann erdann wagen, sie einer törichten Einfalt zu zeihen oder vielmehr derDummheit? Gibt es unter den Lebenden einen Menschen, der mit ihnenvergleichbar wäre sowohl an Fähigkeit als an Heiligkeit, wenn wir vonder Mehrzahl sprechen?

7) Und was die Tat des Julian Apostata betrifft, von der der Traktantsagt, man dürfe sie nicht nachahmen, sondern müsse sie vielmehr ver-werfen, weise ich darauf hin, daß es ein Zug der Unredlichkeit amTraktanten ist, in dieser Weise von der gesunden Vernunft abzuweichen.Denn wer veranlaßt denn je eine Tat wie die des Julian Apostata? Manträgt sie vor, um zu zeigen, daß das Kreuzzeichen so viel Macht gegendie bösen Geister hat, daß sie es nicht nur in guten Händen fürchten,sondern auch in den Händen jedes anderen, wer es auch sei. Dafür lie-fert das, was sich bei Julian ereignet hat, einen klaren Beweis. In der Tatbehaupten der hl. Gregor von Nazianz und Theodoret entschieden, daßdie Teufel aus Furcht vor dem Anblick des Kreuzes fliehen. ErlaubenSie uns, Traktant, daß wir eher ihrer Meinung folgen als der Ihren oderder des Zaubermeisters. Um nicht zuzugeben, daß die schmählicheFlucht seiner Meister aus Furcht erfolgte, sagt der Wahrsager nach demBericht dieser altehrwürdigen Väter zu Julian, sie hätten Haß gegen dasKreuz, nicht Angst vor ihm. „Vincit quod deterius est“, sagt der hl.Gregor von Nazianz, „das Schlimmere besiegte ihn.“ Hätte er aber gese-hen, daß der Traktant die Flucht der bösen Geister der Schlauheit undKriegslist zuschreibt, als hätten sie schlau ihre Flucht vorgetäuscht, um

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ihren Mann zu überrumpeln, ich glaube, er hätte gesagt: „Vincit quodpessimum est: das Allerschlechteste hat gesiegt.“ In der Tat, was gibt esnoch Sicheres auf der Welt, wenn es erlaubt ist, Wundern und außerge-wöhnlichen Ereignissen diesen Sinn zuzuschreiben? Wird es dann nichtfür den Starrsinn ein Leichtes sein, selbst die Auferweckung von Totendem teuflischen Blendwerk zuzuschreiben? Aber wozu hätte es der Teu-fel nötig gehabt, bei Julian Apostata die List anzuwenden, ebenso beiden Juden, von denen der hl. Gregor berichtet? Was hätte er mit dieserVerstellung bezweckt bei Leuten, die ihm bereits ganz ergeben waren?Was hätte er von Julian noch mehr erreichen können, der ihn anbeteteund hinabstieg, um sich an ihn zu wenden? Beachtet doch bitte das Wortdes hl. Gregor von Nazianz, wenn er sagt, Julian habe „zum alten Heil-mittel“ Zuflucht genommen, d. h. zum Kreuz, das er als Heilmittel ken-nengelernt hatte zur Zeit, als er Katholik war. Traktant, Sie werden ei-nes Tages Rechenschaft geben über diese eitlen Spitzfindigkeiten, durchdie Sie alles nach Ihrem ruchlosen Sinn verdrehen.

8) Nein, Traktant, Ihre Kunstgriffe sind zu grob gesponnen, dabei hatder Teufel die Herrschaft über Sie. Welche List sollte es denn vom Teu-fel sein, vor dem Kreuz zu fliehen? Durch diese Flucht verlieren ja dieSeinen das Vertrauen in seine Macht und die Guten werden dadurchgetröstet, wie so viele Väter bestätigen, die alle dem bösen Geist undseinem Anhang diese Flucht vorhalten, ebenso Julian, der darüber ganzerschüttert war, und der bekehrte Jude.

9) Aber, sagt der Traktant, Mose weist darauf hin, daß man den außer-gewöhnlichen Werken falscher Propheten nicht glauben darf. Das istrichtig, aber das Kreuz ist kein falscher Prophet; es ist ein heiliges Zei-chen, es ist das Zeichen des Christentums, wie der Traktant selbst zuge-geben hat; vor ihm hat der Teufel Angst, in wessen Hand es auch seinmag. Und wird man wohl wagen, so viele Heilige, die dieses Zeichenssich zu wunderbaren Werken bedient haben, durch die Bezeichnung alsfalsche Propheten zu verleumden?

10) Wenn nun irgendjemand diese Wunder zum Anlaß für den Aber-glauben genommen hätte, dürfte man diese Wunder trotzdem nicht demTeufel zuschreiben. Die Wunder, die durch die eherne Schlange gescha-hen, waren göttlichen Ursprungs, obwohl sie das Volk zum Anlaß fürden Götzendienst nahm (2 Kön 18,4). Man müßte also den Mißbrauchabschaffen und am Gebrauch festhalten, wie man nicht nur bei gutenund heiligen Dingen wie dem Kreuz tut, sondern auch bei schädlichenund giftigen.

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11) Schließlich sind so viele andere Wunder durch das Kreuzzeichengeschehen, abgesehen von der Flucht der bösen Geister, die man inkeiner Weise ihrer Verstellung oder Kriegslist zuschreiben kann, so daßman bei diesen ebensowenig daran glauben darf.

11. Kapitel

Die Macht des Kreuzzeichens bei anderen Gelegenheiten.

Das Kreuz hat aus zwei Gründen so viel Macht gegen den Feind;einmal, weil es ihm den Tod des Erlösers vorstellt, der ihn bezwungenund unterworfen hat, was sein eigensinniger Stolz aufs höchste haßt undfürchtet; zum anderen, weil das Kreuzzeichen eine kurze und bündigeAnrufung des Erlösers ist und in diesem Sinn bei allen Gelegenheitenangewendet werden kann, wo Gebet und Bitte angebracht ist. WelcheGelegenheit ist nun denkbar, wo das Gebet nicht von Nutzen wäre, seies, um Gift unschädlich zu machen, Blinden wieder das Augenlicht zugeben, Krankheiten zu heilen, gegen die Feinde gefeit zu sein? Vondieser Art ist der Gebrauch des Kreuzzeichens.

Gewiß, Prochorus, kein gewöhnlicher Schriftsteller, berichtet, daßder heilige Evangelist Johannes einen Fieberkranken geheilt hat, indemer das Kreuzzeichen machte und den Namen Jesus anrief. Und derselbeHeilige hat das Kreuzzeichen über einen an beiden Beinen Gelähmtengemacht und ihm befohlen, sich zu erheben, der sogleich aufstand. Be-rühmt ist die Geschichte des arianischen Bischofs Cyrola und seinesBlinden. Als Cyrola sah, daß die katholischen Bischöfe Eugen, Vinde-mialis und Longinus mehrere Wunder zur Bekräftigung der katholi-schen Partei wirkten, hoffte er einen Wurf für seine Sekte zu machen,wenn er weismachen konnte, daß er die gleiche Vollmacht hatte. Ergewann einen Elenden, köderte und bearbeitete ihn so, daß er ihn dazubrachte, sich blind zu stellen, mitten in der Menge zu warten, bis ervorüberkam, und ihn um Heilung zu bitten. Der mißbrauchte Kerl setztsich in Positur und spielt seine Rolle. Cyrola glaubt die seine zu spielen,bleibt stehen, legt dem angeblich Blinden die Hand mit bestimmtenWorten auf und befiehlt ihm, die Augen zu öffnen und zu sehen.

Aber das wurde ein wahrhaft häretisches Wunder: der arme Mann,der sich blind gestellt hatte, wurde wirklich blind, mit heftigen Schmer-zen in den Augen, so daß ihm schien, man habe sie ihm ausgestochen. Er

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bekannte seine Verstellung und Heuchelei, nannte zugleich seinen Ver-führer und die Geldsumme, die er für dieses Spiel erhalten hatte, beidem er das Augenlicht verlor. Dann bat er unsere katholischen Bischöfeum Hilfe und Heilung. Sie prüften seinen Glauben und hatten Mitleidmit ihm. „Und sie kamen einander in gegenseitiger Ehrerbietung zu-vor“ (das sind die eigenen Worte des hl. Gregor von Tours, der meinGewährsmann ist) „und es entstand ein heiliger Streit unter ihnen, werdas Zeichen des hochheiligen Kreuzes über seine Augen machen sollte:Vindemialis und Longinus baten Eugen darum, Eugen dagegen bat sie,ihm die Hände aufzulegen. Sobald sie das getan und ihm die Hände aufsHaupt gelegt hatten, machte der hl. Eugen das Kreuzzeichen über dieAugen des Blinden mit den Worten: ‚Im Namen des Vaters und desSohnes und des Heiligen Geistes, des wahren Gottes, den wir als Drei-faltigen in Gleichheit und Allmacht bekennen, mögen sich deine Augenöffnen.‘ Und sogleich schwindet der Schmerz und er gewinnt seine frü-here Gesundheit wieder.“ Haben Sie gesehen, Traktant, wie das Kreuz-zeichen angewendet wurde zur Wiederherstellung des Augenlichts die-ses Armseligen und wie sich die heiligen Bischöfe gegenseitig die Ehreanboten, es zu machen? Werden Sie sagen, der Teufel habe das Spielzugunsten der Katholiken gegen die Arianer gemacht? Welche Aus-flucht können Sie finden?

Die Arianer von Nicäa hatten vom häretischen Kaiser Valens die Kir-che der Katholiken erhalten. Der hl. Basilius erfährt davon, wendet sichan den Kaiser selbst und hält ihm das Unrecht, das er den Katholikenzugefügt hat, so lebhaft vor, daß der Kaiser schließlich dem hl. Basiliusdie Vollmacht gibt, diesen Streit zu entscheiden, mit der einzigen Be-dingung, daß er sich nicht zum Eifer für seine Partei, d. h. der Katholi-ken, zum Nachteil der Arianer hinreißen lasse. Der hl. Basilius nimmtdiesen Auftrag an und, zweifellos vom Himmel inspiriert, ordnet er an,daß die Kirche fest verschlossen und sowohl von den Arianern als auchvon den Katholiken versiegelt werde; weiter, daß die Arianer drei Tageund drei Nächte im Gebet verbringen und dann zur Kirche kommen;wenn sie sich ihnen öffnet, sollen sie für immer deren Besitzer sein.Ebenso sollen die Katholiken eine Nacht wachen, dann sollen sie dieLitanei singend zur Kirche kommen; wenn sich die Kirche für sie öff-net, sollen sie für immer ihre Besitzer sein, wenn sie sich nicht öffnet,soll sie den Arianern gehören. Die Arianer fanden den Spruch annehm-bar, aber die Katholiken murrten, da er für die Arianer zu günstig undaus Furcht vor dem Kaiser gefällt sei.

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Er wurde jedoch ausgeführt: Die Arianer beten drei Tage und dreiNächte, kommen zu den Kirchentoren (die äußerst fest verschlossenwaren, denn die eine wie die andere Partei war dabei sehr sorgfältig),verharren da vom Morgen bis zur Sext, rufen ihr ‚Kyrie eleison‘, abervergeblich. Des Wartens müde ziehen sie schließlich ab. Darauf ruft derhl. Basilius allgemein das ganze gläubige Volk zusammen und führt esin die Kirche des heiligen Märtyrers Diomedes außerhalb der Stadt, woes die ganze Nacht im Gebet verbringt. Am Morgen führt er es zurKirche unter dem Gesang des Verses: ‚Heiliger Gott, heiliger Starker,heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser.‘ Auf dem Vorplatz der Kir-che angekommen, wo vorher die Arianer versammelt waren, sagt erzum Volk: „Erhebt eure Hände zum Himmel, zum Herrn, und ruft‚Kyrie eleison‘.“ Nachdem das Volk das getan hat, segnet sie der hl.Basilius mit dem Kreuzzeichen und gebietet zu schweigen. Er machtdreimal das Kreuzzeichen gegen die Tore der Kirche und sagt: „Geprie-sen sei der Gott der Christen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Wäh-rend das Volk „Amen“ antwortet, lösen sich durch die Macht des Gebe-tes die Riegel und Schlösser, die Tore öffnen sich plötzlich wie voneinem heftigen Windstoß. Darauf sang der große Bischof: Ihr Fürsten,hebt eure Tore und ihr, ewige Tore, erhebt euch, und der König der Herr-lichkeit wird einziehen (Ps 24,7.9). Er trat mit dem heiligen Volk in dieKirche ein und feierte dort das göttliche Mysterium.

In dieser Geschichte gibt es drei oder vier Punkte, die für Ihren Magenschwer verdaulich sind, Traktant, wenn Sie nicht inzwischen von IhremTraktat geheilt sind: die Kirchen der Heiligen, in denen man zu Gottbetet; die heiligen Gesänge mit den Litaneien in der Form von Prozessio-nen; der bischöfliche Segen über das Volk mit dem Kreuzzeichen (SanctusEpiscopus illos consignans, sagt der hl. Amphilochius, der mein Gewährs-mann ist); die Anwendung des Kreuzzeichens, um dieses Wunder zu er-wirken; und daß es heißt, nachdem der hl. Basilius eingetreten war, voll-zog er das heilige Mysterium, fecit divinum mysterium. Das ist ja einAusdruck, der nicht passend ist für das Gebet, das sie schon die ganzeNacht verrichtet hatten, noch für die Predigt, denn predigen heißt nichtdas göttliche Geheimnis feiern, sondern verkünden, und gewiß nicht fürdas Abendmahl, in dem nichts Göttliches vollzogen wird, sondern nurein bereits fertiges und vorbereitetes Brot gereicht wird. Ich sehe nicht,was Sie auf dieses Zeugnis für die Kraft des Kreuzes antworten könnten.Denn wenn Sie sagen sollten, der Teufel habe das getan, um den Schlauenzu spielen, wird Ihnen der hl. Amphilochius nachweisen, daß durch die-

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ses Wunder die Katholiken getröstet wurden und viele Arianer sich be-kehrten; welchen Vorteil hätte also der Teufel aus dieser Sache gewon-nen? Und ich mache Sie aufmerksam, daß Sie nicht genügend Ehre besit-zen, um den hl. Basilius der Magie und Zauberei zu verdächtigen, nochden hl. Amphilochius der Lüge oder Albernheit. Wenn Sie sagen, der hl.Amphilochius schreibe das Wunder dem Gebet zu, so entspricht das dem,was ich will: denn das Kreuzzeichen ist ein Teil des Gebetes, das der hl.Basilius verrichtete, sowohl über das Volk, indem er es segnete, als auchüber die Tore, als er das Kreuzzeichen gegen sie machte; zu welchemanderen Zweck sollte er es angewendet haben?

Eine Frau in Karthago hatte ein Krebsgeschwür an der Brust, ein nachdem Urteil des Hippokrates unheilbares Übel. Sie empfahl sich Gott,und kurz vor Ostern wurde sie im Schlaf angewiesen, in das Baptisteriumzu gehen und sich von der ersten neugetauften Frau, der sie begegnete, dasKreuzzeichen machen zu lassen. Sie tat es und wurde auf der Stelle ge-heilt. Bei diesem Schlag ist der Traktant sehr verlegen. Er schwankt, undnachdem er die Geschichte auf ungeziemende Weise wiederholt hat, ver-sucht er der Frage auszuweichen, die ihm das Flugblatt gestellt hatte. Wasden Bericht betrifft, gibt er ihn (B.T. 32) so: „Eine gewisse Frau vonKarthago wurde von einem Krebsgeschwür an der Brust geheilt, nachdemsie im Schlaf die Weisung erhalten hatte, die erste getaufte Frau, die ihrbegegnete, mit dem Kreuzzeichen zu bezeichnen.“ Das ist in keiner Wei-se wahr und angemessen, denn sie wurde nicht angewiesen, die andere mitdem Kreuz zu bezeichnen, sondern sich selbst das Kreuzzeichen auf diekranke Stelle machen zu lassen. Das Verlangen, zu tadeln, verblendetdiese armseligen Reformatoren. Was die Antwort betrifft, gibt er sie nachseiner Gewohnheit ohne Urteil und Aufrichtigkeit; er sagt nämlich (B.T.33), diese Frau „hatte sich vorher nur an Gott gewandt“, dem sie ihreHeilung zuschrieb, und nicht irgendeinem Zeichen.

Das ist unsinnig, denn wer sagt jemals, irgendeine Heilung oder einWunder, das durch das Kreuzzeichen oder auf andere Weise geschehenist, müßte einem anderen als Gott allein zugeschrieben werden? Er ist derGott allen Trostes (2 Kor 1,3). Unsere Meinungsverschiedenheit bestehtnämlich darin, ob Gott das Kreuzzeichen gebraucht, um durch die Men-schen Wunder zu wirken, da er ohne Zweifel sehr oft verschiedene Dingefür übernatürliche Wirkungen gebraucht. Der Traktant sagt Nein und weißnicht, warum wir Ja sagen und es durch die Erfahrung beweisen. Ist esnicht töricht, zu antworten, daß Gott diese Wunder wirkt, da man nichtfragt, wer sie wirkt, sondern wie und durch welche Werkzeuge und Mit-

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tel? Gott hat sie geheilt, und er konnte sie heilen, ohne sie an die andereFrau zu verweisen, damit diese sie mit dem Kreuz bezeichne. Das wollteer nicht, sondern er verwies sie an diese Mittel, deren er sich bedienenwollte. Wollen wir weiser sein als er und sagen, diese Mittel seien nichtangemessen? Ihm beliebt es, daß wir sie anwenden; wollen wir sie zu-rückweisen? Nun ist der hl. Augustinus der Verfasser dieses Berichtes,der gleich darauf sagt, er habe die geheilte Frau streng getadelt, weil siedieses Wunder nicht genügend bekanntgemacht hat. Ein guter Hugenottedagegen hätte es viel eher vergraben lassen, und das aus Eifer für diereformierte Reinheit (des Glaubens); aber diese großen Seelen des Alter-tums begnügten sich mit der geschaffenen Reinheit.

Im übrigen stand das Gebet des Kreuzzeichens in der Urkirche desAltertums in so hohem Ansehen, daß man es bei allen Vorkommnissenanwandte. Man bediente sich seiner als allgemeines Schutzmittel gegenjedes Unglück, zu Wasser und zu Land, wie der hl. Chrysostomus sagt,bei kranken Tieren und bei jenen, die vom Teufel besessen waren. Derhl. Martin bekannte, daß er alle Linien der Feinde durchdrang und über-rannte, weil er sich mit dem Kreuzzeichen gewappnet hatte. Der hl.Laurentius heilte mit ihm die Blinden; Paula machte sterbend das Kreuz-zeichen auf den Mund. Der heilige Märtyrer Gordius, der in der StadtCäsarea den Martertod erleiden sollte, ging ihm freudig entgegen, weiler sich mit dem Kreuzzeichen gerüstet hatte, sagt der hl. Basilius. Alsder große hl. Antonius den hl. Paulus, den ersten Einsiedler, besuchenwollte und dem Waldungeheuer, Faun oder Zentaur begegnete, machteer sogleich das Kreuzzeichen, um sich zu schützen. Hier kann ich dasBuch des Mathias Flaccus Illyricus nicht übergehen, das erweitert inGenf erschien unter dem Titel ‚Cathalogus testium veritatis‘. Er führtmit einmaliger Unverschämtheit den hl. Antonius an seinem Platz ge-gen uns an und sagt, er habe seine Lebensbeschreibung gelesen, abernirgends gefunden, daß er das Kreuzzeichen angewendet habe. Wie lan-ge will man denn die Leute auf diese Weise täuschen? Gewiß, die Zeug-nisse, die ich im vorhergehenden Kapitel zitiert habe, sind dem hl. Atha-nasius entnommen, dieses dem hl. Hieronymus.

Nun, ich habe gesagt, das Kreuz hatte bei diesen Gelegenheiten Kraftals ein sehr machtvolles Gebet. Daraus folgt, daß die mit dem Kreuzbezeichneten Dinge eine besondere Heiligkeit besitzen als gesegnet undgeheiligt durch dieses heilige Zeichen und durch dieses bekannte Ge-bet, das außerordentlich geeignet ist, weil es eingesetzt, anerkannt undbestätigt ist durch Jesus Christus und durch seine ganze Kirche. Daher

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ließen es sich die Alten sehr angelegen sein, mit in Kreuzform erhobe-nen Armen zu Gott zu beten, wie aus unzähligen Zeugnissen ersichtlichist, vor allem aber aus dem, was ich oben (10. Kap.) vom altehrwürdigenOrigenes angeführt habe. Dadurch machten sie nicht nur gleichsam einständiges Kreuzzeichen, sondern töteten auch das Fleisch ab. Darin ahm-ten sie Mose (Ex 17,11) nach, der Amalek überwand, als er in dieserWeise betete, indem er das Kreuz Unseres Herrn versinnbildete undvorhersah, daß das die Quelle aller Gnaden ist, die unsere Gebete erlan-gen können. Das lehren uns der hl. Cyprian, der hl. Gregor von Nazianzund ungezählte sehr altehrwürdige Väter.

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WWWWWelche Velche Velche Velche Velche Verehrerehrerehrerehrerehrung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldetung man dem Kreuz schuldet

1. Kapitel

Vorwurf des Traktanten gegen die Katholiken.

Nachdem der Traktant seine feierliche Unterscheidung zwischen derbürgerlichen Ehre und der religiösen Ehre ins Feld geführt hat, die ichin meinem Vorwort hinreichend zurückgewiesen habe, macht er (B.T.48f) folgenden Vorstoß: „Wahr ist, daß die Scholastiker darüber nichtgeschwiegen haben, mit welcher Art von Ehrung es (das Kreuz) verehrtwerden müsse. Einige haben gesagt, das echte Kreuz, das den Leib JesuChristi berührt hat, müsse durch ‚Latrie‘ verehrt werden oder wenigs-tens durch ‚Hyperdulie‘, den anderen aber müsse die Ehre der ‚Dulie‘erwiesen werden.28 Das heißt, das echte Kreuz müsse verehrt werdenmit der Ehre, die Christus gebührt, und die anderen Kreuze müßtenverehrt werden mit der Ehre, welche die Diener ihren Herren schulden:und das ist die schöne Folgerung des zweiten Flugblatts.“

Nun faßt das Flugblatt keineswegs eine solche Folgerung. Es sprichtweder viel noch wenig von ‚Latrie, Dulie, Hyperdulie‘, noch gebrauchtes die Unterscheidung zwischen dem echten Kreuz und der Abbildungdes Kreuzes und dessen Zeichen. Seine Folgerung ist einfach: „Wirmüssen uns gedrängt fühlen, das Bild des Kreuzes zu verehren und es anallen wichtigen Orten zu errichten, um uns zum Gedenken an den Todund die Passion unseres Gottes und Erlösers anzuregen, dem Ehre undVerherrlichung sei, Amen.“ Die Absicht des Verfassers der Flugblätterwar auch nur, Rechenschaft über die Errichtung des Kreuzes bei Anne-masse durch die Bruderschaft von Annecy zu geben; das war nicht einStück des echten Kreuzes, sondern nur dessen Abbild.

Da nun der Traktant fälschlich die Quästionen der Scholastiker an-führt, will ich in diesem Buch, so einfach ich kann, die katholischeLehre über die Art der Verehrung darlegen, die dem Kreuz gebührt. Ichweise indessen darauf hin, daß die Scholastiker, die so genau die Unter-schiede der Verehrung untersuchen, die dem Kreuz gebührt, hinreichend

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zeigen, daß sie von dem heiligen und reinen Eifer beseelt sind, von demich im Vorwort gesprochen habe. Denn wie sie dem Kreuz die Vereh-rung zuteilwerden lassen, die ihm je nach dem Grad der Abhängigkeitvon unserem Erlöser gebührt, so achten sie auch sorgsam darauf, ihmnur die zuteilwerden zu lassen, die ihm gebührt, und vor allem in keinerWeise die Ehre Gottes zu beeinträchtigen, dem Kreuz weder wenigernoch mehr Achtung zu zollen, als er will und verlangt. Dadurch ist derTraktant hinreichend der Verleumdung überführt, wenn er uns beschul-digt, wir stellten jemand Gott gleich.

2. Kapitel

Was die Ehre ist, wem die Ehre zukommt,verehrt zu werden, und warum.

Ich muß ein Wort über die Ehre sagen, weil die Verehrung eine Artderselben ist. Die Ehre ist also ein Bekenntnis oder eine Anerkennungder hervorragenden Bedeutung irgendjemandes. Das verstehe ich so:

1. Die hervorragende Bedeutung einer Person erkennen heißt nochnicht, sie ehren. Der Neidige und Böse erkennt die Vortrefflichkeit sei-nes Feindes, hört aber trotzdem nicht auf, ihn zu schmähen. JemandemReverenzen und äußere Ehrenbezeigungen erweisen, heißt nicht, ihnauch ehren; die Schmeichler und Lügner erweisen solche jenen, die siefür die Unwürdigsten der Welt halten. Einzig der Entschluß des Wil-lens, durch den man eine Person aufgrund der Überzeugung von ihrerBedeutung schätzt und achtet, ist das, worin das wahre Wesen der Ehreliegt. Zwischen dem Gegenstand der Liebe und dem der Ehre ist nur eingeringer Unterschied: jene gilt dem Wert, diese dem hervorragendenWert. Ebenso ist nur ein geringer Unterschied im Philosophieren überdas eine und das andere. Vergleichen wir sie, so dient die Erkenntnis deseinen der des anderen. Die Liebe wird hervorgerufen durch die Erkennt-nis eines Gutes, die Ehre durch die Erkenntnis der Vortrefflichkeit desGutes. Die Liebe bringt ihre äußeren Erweise hervor und die Ehre bringtäußere Zeichen und Bekundungen hervor: aber wie die Liebe, strenggenommen, ihren Sitz im Herzen des Liebenden hat, so wohnt auch dieEhre im Willen dessen, der ehrt. Die äußeren guten Dienste nennt manFreundschaft, die äußeren Bekundungen nennt man Ehre, aber dieseBezeichnungen gelten für das Äußere nur wegen seiner Verbindung mit

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dem Inneren, die man voraussetzt. Wenn ich also sage, die Ehre ist einBekenntnis oder eine Anerkennung, so verstehe ich das nicht davon,was dem äußeren Anschein nach geschieht, sonst könnten die Engel undGeister nicht ehren, sondern davon, was im Willen vorgeht, der sichentschließt, eine Person nach ihrem Verdienst zu schätzen, denn dieserEntschluß ist die wahre und wesentliche Form der Ehre.

2. Da nun die Ehre eigentlich im Willen liegt, muß sie auf das Gutgerichtet sein, das ihr eigentlicher Gegenstand ist. Sie richtet sich stetsnur auf ihr Ziel und ihren Gegenstand oder auf das, was ihm angehört.Es gibt drei Arten von Gütern: das Ehrenhafte, das Nützliche und dasAngenehme. Die Ehre ist ganz auf das Ehrenhafte gerichtet, wie dasWort selbst ausdrückt; die Ehrenhaftigkeit wird nur so genannt, weil inihr der Zustand und die Grundlage der Ehre liegt: „honestas quasi ho-noris status“,29 sagt Isidor. Die Ehre zielt auf sie; wenn sie dort ist, bleibtsie. Und welches ehrenhaftere Gut gibt es als die Tugend, und was zu ihrgehört? Daher kann das Gut, dessen Anerkennung die Ehre ist, nur vondieser Art sein. Wenn man nun das ehrenhafte Gut oder die Tugendeinfach als Gut betrachtet, wird es einfach nur Gegenstand der Liebesein; wenn man es aber als vorzüglich, hervorragend und erhaben be-trachtet, dann lenkt es die Ehre als den ihm eigenen Tribut auf sich; ihrenatürliche Bewegung richtet sich auf das ehrenhafte Gut unter besonde-rer Berücksichtigung irgendeines Vorzugs oder einer Vortrefflichkeit.„Irgendeines“ Vorzugs sage ich, denn sei es, daß das ehrenhafte Guteinen Vorzug vor dem hat, der ehrt, oder nicht, es genügt, daß es irgend-einen Vorzug hat, um wahrer Gegenstand der Ehre zu sein. Ich habealso gesagt, daß aus all diesen Gründen die Ehre eine Bestätigung derVortrefflichkeit des Gutes ist.

3. Und wenn ich gesagt habe, der Bedeutung irgendjemandes, d. h.irgendeiner Person, so hatte ich dafür folgenden Grund: Die Vortreff-lichkeit des Gutes, die der eigentliche Gegenstand der Ehre ist, ist nichtsanderes als die Tugend; die Tugend findet sich nur in Personen; folglichbezieht sich die Ehre mittelbar oder unmittelbar nur auf Personen, dieder Gegenstand sind, der geehrt wird, und deren Tugend der Grund ist,weshalb sie geehrt werden: „objectum quod et objectum quo“, sagenunsere Scholastiker. Diese Schlußfolgerung schließt von der Möglich-keit, zu ehren und geehrt zu werden, jede Sache ohne Gefühl, Lebenoder Sinne, die Teufel und die Verdammten aus; denn all das hat keiner-lei Güte der Ehrenhaftigkeit, um geehrt zu werden, und kann sie nichthaben, noch hat sie irgendwie den Willen oder eine gute Neigung zur

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Tugend, um sie zu ehren. Wenn diese Dinge die Tugend ehrten, wären sieunter diesem Gesichtspunkt selbst ehrbar, denn die Tugend ehren istetwas Ehrbares. Tugend kann nur in denen wohnen, die sie schätzen undehren. Wenn man daher irgendeine gefühllose oder nicht tugendhafteSache ehrt, dann geschieht es nicht, um die Ehre einfach und absolut aufihr ruhen und bleiben zu lassen, sondern um sie weiterzugeben und aufirgendeine Tugend oder Tugendhaftes zu beziehen. Die Ehre der Obrig-keit geht über und bezieht sich auf Gott und auf den Staat, den sie reprä-sentiert; die Ehre des Alters auf die Weisheit, die dessen ehrwürdigesKennzeichen ist; die Ehre der Wissenschaft auf den Fleiß und andereTugenden, deren Wirkung und Ursache sie sind.

Sprechen wir von heiligen Dingen: die Ehre der Kirchen und heiligenGefäße gilt der Religion und zielt auf sie, deren Werkzeuge sie sind. DieEhre der Bilder und Kreuze bezieht sich auf die Güte Gottes, an die sieerinnern; die Ehre kirchlicher Personen auf Den, dessen Diener sie sind.Kurz, es gilt das alte Wort: Die Ehre ist der Lohn der Tugend. Nicht weildie Tugend keine andere Belohnung verdiente, die ihr anhaftet, nützlichund angenehm ist, sondern weil die Ehre rein und einfach keinen anderenGegenstand hat als die Tugend und den Tugendhaften; wenn sie daher aufanderes gerichtet wird, wie auf leblose Dinge, so bleibt sie dort keines-wegs, sondern geht durch sie hindurch, insofern sie irgendwie zu einemtugendhaften Gegenstand gehören, oder zur Tugend selbst, wohin sie sichschließlich als zu ihrem eigenen und naturgemäßen Sitz wendet. Wenn esdaher manchmal heißt, daß die leblosen Dinge und die Teufel Gott Ehreerweisen, dann heißt das nicht, daß diese Ehre von diesen Dingen alsUrsache ausgeht, sondern nur von einer Gelegenheit, die die Menschenzum Anlaß nehmen, Gott zu ehren. Oder es geschieht, weil solche Dingeäußere Ehrenerweise geben; obwohl sie ihrer Seele beraubt sind, die dieinnere Absicht bildet, behalten sie bei den Leuten dennoch den NamenEhre, wie der tote Mensch doch Mensch genannt wird.

3. Kapitel

Von der Anbetung: was sie ist.

Sehen wir die Auffassung des Traktanten und erwägen wir den Wertseiner Argumente. Seine Auffassung ist mit einem Wort: „Anbetungheißt, sich verneigen, Weihrauch streuen, die Knie beugen“ (B.T. 55).

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Mein Gott, wie grobschlächtig ist das. Sagen wir zuerst die Wahrheit, siewird von selbst die Lüge hinreichend zerstören.

Die Anbetung ist eine besondere Art und Weise der Ehre; denn dievortreffliche Güte, deretwegen man einen anderen ehrt, kann von zwei-erlei Art sein: entweder ist sie hervorragend, größer und den überra-gend, der ehrt, oder nicht. Wenn sie es nicht ist, dann ist nur die einfacheEhre am Platz, wie sie selbst vom Gleichen dem Gleichen erwiesenwerden kann, sogar vom Höheren den niedriger Stehenden. Davon sprichtder Apostel, wenn er (Röm 12,10) sagt: Honore invicem praevenientes:kommt einander an Ehre zuvor; und der hl. Petrus (1 Petr 2,17), dersagt: omnes honorate: ehrt jeden. In diesem Sinn heißt es (Est 6) sogar,daß Artaxerxes den Mordechai ehrte. Eustratius führt die Ehre als Bei-spiel an, die der hl. Gregor von Nazianz und der hl. Basilius einandererwiesen. Wenn dagegen die Vortrefflichkeit der Güte, deretwegen manehrt, größer und den Ehrenden überragend ist, dann handelt es sichnicht um eine einfache Ehre, sondern um die Ehre der Anbetung. Da dieEhre nichts anderes ist als das Bekenntnis und die Anerkennung dervorzüglichen Güte jemandes, ist folglich auch die Anbetung die Aner-kennung der vorzüglichen Güte, die erhaben und den überragend ist,der ehrt. Eine einfache Vortrefflichkeit der Güte genügt für eine einfa-che Ehre, aber für die Ehre der Anbetung ist eine den Ehrenden überra-gende Vortrefflichkeit erforderlich.

Wie ich vorhin (2. Kap.) gesagt habe, handelt sich beim rechten Ehrenum drei Tätigkeiten; bei der rechten Anbetung handelt es sich um eben-soviele, und mit viel größerem Recht, weil anbeten nichts anderes ist alseine hervorragende Art zu ehren. 1) Man muß die Überlegenheit deranbetungswürdigen Vortrefflichkeit erkennen und geistig erfassen; dasist die erste Tätigkeit, die dem Verstand eigen ist. 2) Man muß sichunterwerfen, die Unterlegenheit anerkennen und bekennen; das betrifftden Willen. 3) Und drittens muß man nach außen Zeichen und Beweiseder Unterwerfung geben, was im Willen liegt.

Doch in welcher dieser Tätigkeiten liegt das wahre und eigentlicheWesen der Anbetung? Das liegt nicht in der ersten, denn die Teufel oderjene, von denen der hl. Paulus (Röm 1,24) sagt, daß sie Gott erkanntaber nicht als Gott verherrlicht haben, sondern das Joch abschütteltenund sagten: Wir wollen nicht dienen (Jer 2,20), die haben ihn erkanntaber nicht anerkannt. Diese erste Tätigkeit ist nur das Fundament undder Anfang des Gebäudes der Anbetung, sie ist nicht das Gebäude selbst.

Sollte es also die dritte Tätigkeit sein, ganz äußerlich und körperlich,

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in der das wahre Wesen der Anbetung liegt? Der Traktant behauptet das,wie wir gesehen haben: „Anbeten heißt, sich verneigen, Weihrauch streu-en, die Knie beugen.“ Ich sage Nein und beweise es unzweifelhaft, vor-ausgesetzt, daß ich erklärt habe, vom wahren Wesen der Anbetung zusprechen.

1. Wenn die Anbetung in diesen äußeren Handlungen bestünde, könn-ten die Engel und die seligen Geister nicht anbeten, denn sie habenkeine Knie und kein Haupt, um niederzuknien und sich zu verneigen.Trotzdem haben sie den Auftrag anzubeten: Betet ihn an, ihr alle seineEngel (Ps 97,8). Ich glaube nicht, daß jemand meint, der Weihrauch,den sie Gott streuen, sei materiell, denn der hl. Johannes erklärt (Offb5,8; 8,4) im Gegenteil: Das sind die Gebete der Heiligen. Wenn es (Offb4,10) heißt, sie legen ihre Kronen dem zu Füßen, der auf dem Thronsitzt, so wird zwar ihre Anbetung durch eine äußere Handlung ausge-drückt, sie darf aber nur vom Geist verstanden werden; denn wenn ihreKronen und Seligkeiten geistig sind, so ist auch die Huldigung, Anbe-tung und Unterwerfung rein geistig, die sie dadurch ausdrücken.

2. Aber um Gottes willen, können die Gichtbrüchigen und Lahmen,die keinen Weihrauch und keine Bewegung in den Knien haben, Gottnicht anbeten? Oder sind sie von dem Gebot (Mt 4,10) ausgenommen,das sagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten?

3. Ihr Christen mit Knien und einem Leib, wenn ihr die heiligen Zere-monien bekämpft, wißt ihr euch bei passender und unpassender Gele-genheit so gut darauf zu berufen, daß die wahren Anbeter im Geist und inWahrheit anbeten (Joh 4,23). Diese heiligen Worte schließen die äuße-ren Handlungen gewiß nicht aus, wenn sie aus dem Geist und in Wahr-heit hervorgehen; aber seht ihr nicht ganz offenkundig, wie sie im Ge-gensatz zu euch erklären, daß die wahre und wesentliche Anbetung imWillen und im inneren Akt besteht?

4. In der Tat, wer wollte jemals sagen, die äußeren Handlungen derHeuchler, wie die Kniebeugen jener, die unseren Erlöser am Tag seinerPassion verhöhnten, indem sie ihm die Dornenkrone aufs Haupt setz-ten, das Rohr in die Hand gaben und die Knie vor ihm beugten, wäreneine echte Anbetung gewesen und nicht vielmehr wahre Beschimpfun-gen und Schmähungen? Die Heilige Schrift nennt das (Mt 27,29; Mk15,17-20) wohl anbeten und grüßen, aber sie erklärt sogleich, daß siedas nicht der Wirklichkeit und dem Wesen nach versteht, sondern nachdem äußeren Schein und der Verstellung, wenn sie sagt, daß sie sichüber ihn lustig machten. Wer wagte diese Elenden wahre Anbeter zu

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nennen und nicht eher wahre Spötter? Die Dinge tragen manchmal denNamen dessen, wovon sie den Anschein haben, obwohl sie dennochunwürdig sind, ihn zu tragen. So, wenn die Kinder dieser Welt (Lk 16,8)klug genannt werden und ihre List und Schlauheit als Weisheit bezeich-net wird, obwohl sie vor Gott und in Wirklichkeit nur Torheit ist (1 Kor1,20). So nenne auch ich die Unverschämtheit des Traktanten Begrün-dungen, obwohl sie dieses Namens unwürdig sind.

Überlegen wir nun ein wenig, welche Gründe der Traktant anführt,um zu beweisen, daß „anbeten heißt, sich verneigen, Weihrauch streuen,die Knie beugen“. Er sagt (B.T. 55): „Das ergibt sich aus der Ausdrucks-weise der Heiligen Schrift, die mit dem Kniebeugen den Götzendienstbezeichnet. Das geht aus der Antwort hervor, die Elija, 1. Könige, Kapi-tel 19, erhielt, wo die wahren Diener Gottes im Gegensatz zu den Göt-zendienern bezeichnet werden, weil sie das Knie nicht vor Baal gebeugtund dessen Mund nicht geküßt haben. Die Heilige Schrift gebrauchtdiese Worte auch, um die Götzendiener zu beschreiben: daß sie sichverbeugt, Weihrauch gestreut, die Hand oder die Lippen geküßt haben.Das tun die von der römischen Kirche bei ihren Bildern, Reliquien undKreuzen. Die Folgerung daraus ist offenkundig: wenn sie keine Götzen-diener sind, so tun sie doch, was die Götzendiener tun.“

Ist es möglich, daß der Traktant diese Dinge im wachen Zustand ge-schrieben hat? Wenn das Beugen des Knies Götzendienst wäre, könnteman nicht gehen, ohne Götzendienst zu betreiben, denn um zu gehen,muß man das Knie beugen. Das Knie beugen, ja sich zu Boden werfen isteine indifferente Handlung und hat etwas Gutes oder Schlechtes nurdurch das Ziel, auf das man sie lenkt. Der Unterschied zwischen derGüte oder Schlechtigkeit geht aus der Absicht hervor. Damit das Knie-beugen ein Götzendienst wird, sind zwei Dinge erforderlich: das eine,daß es vor einem Götzenbild geschieht, denn wer das Knie vor demNamen Jesu beugt, wie es vernünftigerweise jeder tun soll, oder vor demFürsten, soll der ein Götzendiener sein? Das andere ist, daß nicht nurdas Knie vor dem Götzenbild gebeugt wird, sondern daß es freiwilliggeschieht; das Herz muß sich zugleich mit dem Körper beugen, dennder Götzendienst hängt wie jede andere Sünde von der Seele und vonder Absicht ab. Wenn daher am Äußeren etwas Schlechtes ist, kommt esvon da her aus seiner Quelle. Wer Götzen verehrt, wenn er weder Knienoch Beine hat und unbeweglicher ist als ein Stein, der ist trotzdem einwahrer Götzendiener. Und wer im Gegenteil die Knie ständig auf dieErde hingestreckt hätte, wäre trotz alledem kein Götzendiener ohne

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diese beiden Bedingungen, die eine, daß es freiwillig geschieht, und dieandere, daß es zur Ehre eines Götzen geschieht. So heißt es auch nie, dasKnie beugen sei Götzendienst, wohl aber (1 Kön 19,18), es vor Baalen,Astarten, Dagon und ähnlichen Greueln beugen. Dasselbe sage ich da-von, die Hand und den Fuß zu küssen, Weihrauch zu streuen und sich zuverbeugen.

Wenn also der Traktant behauptet, daß die Katholiken diese äußerenHandlungen bei Reliquien, Bildern und Kreuzen machen, sagt er ingewisser Weise die Wahrheit; aber um davon den Schluß abzuleiten, dieKatholiken seien Götzendiener, bleibt ihm noch zu beweisen, daß dieBilder, Reliquien und Kreuze Götzenbilder sind. Dazu wird weder ernoch seine Anhänger imstande sein; ich fordere sie dazu heraus. Umböse, ein Götzendiener und Zauberer zu sein, genügt es nicht, zu tun,was solche Leute tun, wenn man es nicht in der gleichen Absicht undunter gleichen Umständen tut. Die Götzendiener beugen die Knie, streu-en Weihrauch, errichten Tempel und Altäre, feiern Feste, bringen Opferdar; die Katholiken tun dasselbe, folglich sind sie Götzendiener. DieseSchlußfolgerung ist dumm; denn obwohl diese Handlungen bei den ei-nen und den anderen gleich sind nach Stoff und Materie, sind sie esnicht der Form, der Art und der Absicht nach. Nun sieht Gott nicht sosehr darauf, was geschieht, sondern auf die Art, wie es geschieht. DerGötzendiener richtet alle diese Handlungen auf den Götzen; das machtihn zum Götzendiener. Die Absicht des Katholiken dagegen ist bei alldiesen Handlungen auf Gott gerichtet, und das macht ihn zum Katholi-ken. Der Tyrann und der Fürst verurteilen zum Tod; beim einen ist esein Verbrechen, beim anderen Gerechtigkeit. Der Räuber und der Chi-rurg schneiden Glieder ab und vergießen Blut; der eine, um zu töten,der andere, um zu heilen. Wir tun manches, was die Götzendiener tun,aber wir machen nichts wie sie: der Gegenstand unserer Religion ist derlebendige Gott, der sie ganz heilig und geheiligt macht.

Daher muß man ohne Zweifel den Schluß ziehen, daß das wahre undreine Wesen der Anbetung im inneren Akt des Willens liegt, durch denman sich dem unterwirft, der angebetet wird; und daß die Erkenntnis,die Tätigkeit des Verstandes, der Unterwerfung als Grundlage voraus-geht. Die äußere Handlung dagegen folgt auf die Unterwerfung als Wir-kung und ist von ihr abhängig.

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4. Kapitel

Wer anbeten und wer angebetet werden kann.

Die höchste Erhabenheit ist anbetungswürdig für alle und kann nie-manden anbeten: wenn sie die höchste ist, wie könnte sie irgendeineandere als höher anerkennen? Die Vortrefflichkeit der göttlichen Erha-benheit vor allem anderen ist unendlich und unendlich erhaben; imVergleich mit ihr ist alles niedrig oder nichts. Gott kann daher als Gottnicht anbeten, wohl aber kann er ehren, da die einfache Ehre zum Ge-genstand nur die einfache Vortrefflichkeit hat, nicht eine höhere Erha-benheit wie die Anbetung.

Aus dem entgegengesetzten Grund können die vernunftlosen Dingenicht anbeten infolge ihrer äußersten Niedrigkeit, denn ihnen mangeltdie Erkenntnis, folglich der Wille und die (Fähigkeit zur) Anerken-nung. Die Teufel und die Verdammten können nicht anbeten; den Grunddafür habe ich eben (3. Kap.) genannt; sie erkennen das Gute, aber sieverachten es und lästern dagegen, ihr Wille haßt und verabscheut es. Werwird dich in der Hölle bekennen, Herr, Gott, sagte David (Ps 6,5)? Wennsie aber Gott nicht anbeten, werden sie einen anderen als Gott anbetenkönnen? Ich sage, nicht im eigentlichen Sinn. Die Anbetung ist eine Artder Ehrung; die Ehre gilt der Tugend: nun haben diese Elenden keiner-lei Vorliebe für die Tugend, und gerade in dieser Vorliebe besteht dieEhre. Die Ehre entspringt einem wohlgeordneten Willen, der irgendei-ne Vortrefflichkeit anstrebt und anerkennt: die Verdammten haben ih-ren Willen ganz zerrüttet und verdorben, er strebt nur nach dem Bösen.Wenn sie irgendetwas Höheres anerkennen, dann stets nur gezwungen,und das kann keine Anbetung sein. So viel zur aktiven Anbetung.

Was die passive Verehrung betrifft, sind davon einzig die Verdamm-ten ganz und gar ausgeschlossen aus folgenden Gründen: Die Vortreff-lichkeit ihrer Natur ist auf keinerlei Gut ausgerichtet, sondern kreistunwiderruflich um das Böse. Nun gilt alle Ehre der Tugend und Ehren-haftigkeit; ihre Vortrefflichkeit ist verschüttet und erstickt durch äußer-stes Elend und Gemeinheit. Die Ehre setzt Zuneigung zu dem voraus,was man ehrt. Nun sind die Bösen unversöhnlich gegen uns und wirdürfen mit ihnen keinerlei Beziehung der Zuneigung haben, sondernvollständige Ablehnung und Abscheu. Alles andere kann verehrt wer-den, aber mit sehr verschiedener und unterschiedlicher Verehrung, undes muß ohne irgendeinen Anlaß zum Ärgernis geschehen.

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5. Kapitel

Die Verehrung wird Gott und Geschöpfen erwiesen.

Das Wort anbeten30

, woher es auch kommen mag, will nichts anderesbesagen als, Gott oder Geschöpfen Ehrerbietung erweisen, obwohl daseinfache Volk meint, das sei ein Wort, das nur der Gott gebührendenEhre eigen ist. Abraham verneigte sich vor dem Volk des Landes, d. h.vor den Söhnen Hets (Gen 23,7); das waren Geschöpfe. Ebenso ver-neigten sich sein Verwandter Lot (19,1), Josua (5,15), Bileam (Num 22,31) vor den Engeln; Saul (1 Sam 28,14) verneigte sich vor der SeeleSamuels; als Isaak (Gen 27,29) seinen Sohn Jakob segnete, wünschte erihm, daß die Völker ihm dienen und die Kinder seiner Mutter sich vorihm verneigen; Josef träumt (37,9f), daß sein Vater, die Mutter und dieBrüder sich vor ihm verneigen; David gebietet (Ps 99,5; 122,7), denSchemel der Füße Gottes anzubeten, weil er heilig ist. Doch die einzigeStelle des 1. Buches der Chronik (29,20) könnte genügen: Benedixitomnis ecclesia Domino Deo patrum suorum; et inclinaverunt se et ad-oraverunt Deum; et deinde Regem: Die ganze Gemeinde pries den Herrn,den Gott ihrer Väter; sie verneigten sich vor Gott und beteten ihn an;dann vor dem König. Hier ist das Wort Anbetung verwendet für die Gottund Geschöpfen erwiesene Ehre.

Die Alten folgten diesem Weg, so daß der hl. Augustinus sagt, daß wirkein einfaches lateinisches Wort haben, um die Gott allein gebührendeVerehrung zu bezeichnen, sondern dafür das griechische Wort ‚latria‘bestimmt haben, mangels eines anderen brauchbaren. Obwohl das WortAnbetung nicht nur die Gott gebührende Ehrerbietung bezeichnet, son-dern auch diejenige, die wir Geschöpfen schulden, neigt es doch etwasmehr dazu und ist geeigneter, um die Gott gebührende Ehrerbietung zubezeichnen. Deshalb haben die Alten manchmal ohne Bedenken gesagt,man könne die Geschöpfe anbeten, und manchmal hatten sie Bedenken,das zuzugeben, besonders dann, wenn sie es mit Nörglern und Häretikernzu tun hatten. Der hl. Hieronymus z. B. bekennt: „Ich kam nach Betlehemund betete die Krippe und Wiege des Herrn an“; und an anderer Stelle:„Gott befohlen, Paula, und hilf durch Gebete deinem ergebenen Diener.“Trotzdem bestreitet derselbe bei anderen Gelegenheiten, daß man irgend-ein Geschöpf anbeten und ihm durch Ergebenheit dienen könne: „Wirdienen nicht den Serafim und beten sie nicht an, noch irgendetwas, wasman in diesem oder im anderen Leben nennen könnte.“

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„Wer wollte je die Märtyrer anbeten, wer dächte jemals, ein Menschsei Gott?“ Hier gebraucht er das Wort anbeten für die Ehre, die Gotterwiesen wird.

Der hl. Ambrosius sagt: „Helena fand das Kreuz des Herrn; sie beteteden König an, nicht das Holz, gewiß deswegen, weil das ein heidnischerIrrtum wäre; sie betete vielmehr den an, der am Holz gehangen.“ Erspricht von der Anbetung in der Weise, daß er sie anscheinend nur Gottzuerkennen will, aber bald darauf dehnt er sie auch auf Geschöpfe aus:„Helena handelte weise, als sie das Kreuz über das Haupt der Königeerhob, damit das Kreuz Jesu Christi in den Königen angebetet werde.Das ist keine Anmaßung, sondern Ehrfurcht und Frömmigkeit, wennman es auf die heilige Erlösung bezieht.“ Und weiter unten führt er dieJuden an, die sich über die Ehre, die man Unserem Herrn erweist, fol-gendermaßen beklagen: „Wir haben den gekreuzigt, den die Königeanbeten; ja selbst sein Nagel wird in Ehren gehalten; und was wir zuseinem Tod errichtet haben, ist ein heilsames Mittel und quält durcheine bestimmte unsichtbare Macht die Dämonen. Die Könige neigensich vor dem Eisen seiner Füße und die Kaiser ziehen den Nagel seinesKreuzes ihren Kronen und Diademen vor.“ Ihr Reformierten, habt ihrdie Klage dieses beschnittenen Packs gehört? Sie beklagen die Ehre unddie Kraft des Kreuzes: Herr, Gott, was soll aus euch werden, die ihrdasselbe tut?

Der hl. Athanasius sagt zu Antiochus: „Wahrhaftig, wir beten das Kreuzan, das wir aus zwei Hölzern zusammensetzen.“ Aber gegen die Heidenändert er die Ausdrücke und sagt: „Jesus Christus allein wird angebe-tet.“ Wo der gleiche im ‚Buch von der Jungfräulichkeit‘ die gläubigeSeele unterweist, sagt er: „Wenn ein Gerechter bei dir eintritt, geh ihmentgegen und verneige dich zu seinen Füßen, zur Erde, mit Furcht undZittern, denn du wirst nicht ihn anbeten, sondern Gott, der ihn sendet.“Doch wenn er gegen die Heiden schreibt, sagt er: „Das Geschöpf betetdas Geschöpf nicht an.“

Wo der hl. Epiphanius vor den Frommen den Lobpreis der hl. Maria,der Mutter Gottes behandelt (denn so ist die Predigt überschrieben),sagt er: „Ich sehe, daß sie von den Engeln angebetet wird.“ Doch wenner die Häretiker widerlegt, sagt er: „Maria werde in Ehren gehalten, derHerr werde angebetet.“

Ich habe also bewiesen: 1. daß das Wort ‚anbeten‘ nicht nur für dieGott gebührende Huldigung verwendet wird, sondern auch für die denGeschöpfen gebührende Ehre; die Zitate aus der Heiligen Schrift und

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die Passagen der Väter bestätigen das. 2. Daß das gleiche Wort trotz-dem etwas mehr und passender dazu neigt, die Ehre zu bezeichnen, dieGott allein gebührt. Diese Erwägung bewog die Alten, gewöhnlich an-dere Ausdrücke als den der Anbetung zu verwenden, um die den Heili-gen und anderen Geschöpfen gebührende Ehrerbietung zu bezeichnen;oder wenn sie dafür keine anderen Ausdrücke gebrauchten, haben siedas Wort Anbetung durch irgendeine Abschwächung eingeschränkt. Sosagt der hl. Cyrill gegen Julian: „Wir beten die Heiligen nicht als Götteran, sondern wir ehren sie als vornehme Persönlichkeiten.“ Das 2. Kon-zil von Nicäa nennt die Verehrung der Heiligen eine „Anbetung ehren-halber: honorariam adorationem“. Das Konzil von Trient folgt dieserLinie und erklärt: „Wir beten Jesus Christus an und verehren die Heili-gen durch die Bilder, die wir küssen.“ Es gebraucht für Unseren Herrndas Wort ‚anbeten‘ und für die Heiligen ‚verehren‘.

Dieser Sprachgebrauch hängt nun von zwei Grundsätzen ab: erstens,daß unter allen Arten der Ehre die Anbetung die würdigste ist; darübersagt der hl. Augustinus, daß „die Menschen des Dienstes und der Vereh-rung würdig genannt werden, und wenn man dem noch viel hinzufügenwill, werden sie noch anbetungswürdig genannt.“ Es bedarf eines gro-ßen Wertes, um etwas anbetungswürdig zu machen. Der zweite Grund-satz ist, daß von allen Arten der Anbetung die Gott gebührende unver-gleichbar die höchste und kostbarste ist. Sie ist der Kern jeder Anbe-tung, oder wie der Bischof Anastasius von Theopolis sagt, der stärksteund vorzüglichste Ausdruck aller Ehre. Da dem so ist und das WortAnbetung die Anerkennung einer höheren und hervorragenden Erha-benheit bezeichnet, ist es viel besser vereinbar mit der Gott gebühren-den Ehre als mit der den Geschöpfen gebührenden, denn hier findetsich die ganze Weite und Vollkommenheit ihres Gegenstandes, die sichsonst nirgends findet. Mit einem Wort, die Anbetung kommt den Ge-schöpfen nicht in gleicher Weise zu wie Gott, d.h. nicht unbegrenzt. DieGott gebührt, ist im Vergleich mit jeder anderen, die Geschöpfen erwie-sen wird, so überragend, daß sie zueinander fast in keinem Verhältnisstehen, daß die anderen Arten der Anbetung im Vergleich mit der Gottgebührenden fast keine Anbetung sind.

Da nun die Anbetung die höchste Art der Ehre ist, kommt sie in be-sonderer Weise der höchsten Erhabenheit Gottes zu; und obwohl sieauch Geschöpfen zugesprochen werden kann, so doch in einem ganzentfernten Verhältnis und analog. Wenn man daher nicht durch einenoffenkundigen Umstand die Bedeutung des Wortes Anbetung auf die

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Ehre der Geschöpfe anwendet, neigt es stets zur Gott gebührendenHuldigung, entsprechend dem alten Satz der Logiker: Ein mehrdeuti-ges Wort oder eines, das zwei verschiedene Dinge bezeichnet, wird stetsin seiner würdigsten und vornehmsten Bedeutung aufgefaßt, wenn es fürsich ganz allein und ohne weitere Erklärung gebraucht wird: „analo-gum, per se sumptum, stat pro famosiori significato.“ So bezeichnet indem Gespräch zwischen Unserem Herrn und der Samariterin (Joh 4,20-24) das Wort ‚anbeten‘, das hier ganz kurz ohne anderen Zusatz steht,nicht nur die Gott allein gebührende Anbetung, sondern die vorzüglich-ste von allen, die Gott erwiesen werden kann, d. h. das Opfer, wie meh-rere große Persönlichkeiten durch unwiderlegbare Gründe beweisen.

Das habe ich sowohl deswegen gesagt, weil es in dieser mißlichen undhändelsüchtigen Zeit zweckmäßig ist, daß man genau weiß, was dieseWorte bedeuten, als auch deswegen, um dem Traktanten zu antworten.Indem er uns vorwirft, wir beteten das Kreuz und die Bilder an, machteer sich das Spiel mit uns leicht und sagt (B.T. 54): „Es ist eine leichtfer-tige Erwiderung zu sagen, man bete sie nicht an und man setze seinVertrauen nicht in sie.“ Ich sage dagegen, der Traktant ist äußerst leicht-fertig, wenn er sich einbildet, das sei eine Antwort für uns, von der wirnicht annehmen, daß sie so geglaubt wurde, wie sie niedergeschriebenist. Wir halten uns vielmehr an das Vorgehen der Heiligen Schrift undunserer Vorfahren, wir bekennen, daß man erlaubter Weise die heiligenGeschöpfe verehren kann, namentlich das Kreuz, und sagen ganz lautmit dem hl. Athanasius: „Wir verehren die Darstellung des Kreuzes“;und mit Lactanz: „Beugt das Knie, betet das ehrwürdige Holz des Kreu-zes an.“

Es ist wahr, der gut unterrichtete Katholik weiß, daß das Wort ‚anbe-ten‘ mehr nach der Gott gebührenden Ehre neigt als nach der von Ge-schöpfen und daß das einfache Volk es gewöhnlich in diesem Sinn ge-braucht; der gut unterrichtete Katholik, sage ich, wird dieses Wort nichtgebrauchen, ohne eine gute Erklärung damit zu verbinden; nicht vorSchismatikern und Häretikern, Reformatoren und Irrgläubigen, umihnen keinen Anlaß zur Verleumdung zu geben; nicht vor kleinen undschwachen Geistern, um ihnen keinen Anlaß zu Mißverständnissen zugeben, denn so haben es die Alten gemacht. Wenn man daher sagt, mansetze sein Vertrauen nicht auf das Kreuz, dann deswegen, um zu zeigen,daß man es nicht als Gott anbetet, nicht aber, um zu sagen, daß man es inkeiner Weise verehre. Aber der Traktant behandelt das Kreuz, unsereund seine Sache, nach seiner Laune.

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6. Kapitel

Der Unterschied zwischen Anbetung und Verehrungliegt in der Tätigkeit des Willens.

Da das eigentliche und wahre Wesen der Anbetung im Willen liegt undnicht in der äußeren Ehrenbezeugung, muß die Größe oder Kleinheit derVerehrung und ihr eigentlicher Unterschied rein und einfach nach derTätigkeit des Willens beurteilt werden, nicht nach der Tätigkeit des Ver-standes, noch nach den äußeren Ehrenbezeugungen. Einer erkennt in sei-ner Seele einen bestimmten hervorragenden Vorzug eines anderen überihn, er möchte ihn aber trotzdem nicht in dem Maß anerkennen, wie erihn erkennt, sondern viel weniger oder mehr. Ein Beispiel dafür sind jene,die Gott erkannt, aber nicht als Gott angebetet haben (Röm 1,21). DerUnterschied der Anbetung oder Verehrung in ihrer Größe oder Kleinheitkommt also nicht vom Verstand. Ebenso sagt die Heilige Schrift (1 Chr29,20): Die ganze Gemeinde pries den Herrn, den Gott ihrer Väter; sieverneigten sich vor Gott und beteten ihn an, dann vor dem König. Sieerweisen ohne Zweifel eine zweifache Verehrung, uzw. recht verschie-den, die eine Gott, die andere dem König; trotzdem machen sie nachaußen nur eine Verneigung: die gleiche äußere Unterwerfung hat alsonicht die gleiche Ehre oder Verehrung zur Folge. Sich verbeugend undzur Erde verneigt verehrte der Patriarch Jakob siebenmal seinen älterenBruder Esau (Gen 33,3); die Brüder Josefs verehrten ihn zur Erde ver-neigt (Gen 43,26.28); die Frau aus Tekoa fiel vor David nieder und ver-ehrte ihn (2 Sam 14,4); als die Söhne der Propheten Elischa begegneten,fielen sie vor ihm nieder und verehrten ihn (2 Kön 2,15); die Schunemi-tin fiel Elischa zu Füßen (2 Kön 4,27.37); Judit (10,20) verneigte sich zurErde und verehrte Holofernes. Was konnten diese heiligen Seelen mehrals das tun, um Gott anzubeten?

Die Verehrung darf also nicht nach den äußeren Handlungen undEhrenbezeugungen beurteilt werden. Jakob verneigte sich in gleicherWeise vor Gott und vor seinem Bruder, aber die unterschiedliche Ab-sicht, die ihn bei diesen Verbeugungen und Verneigungen leitet, unter-scheidet die Verehrung, die er durch die Verneigung Gott darbringt,entscheidend von der für seinen Bruder. Unser Leib hat nicht so vieleVerbeugungen und Haltungen wie unsere Seele, er kennt keine demüti-gere Unterwerfung, als sich vor jemandem zur Erde zu verneigen; aberdie Seele hat deren unzählige größere, so daß wir gezwungen sind, die

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körperlichen Kniebeugen, Ehrenbezeugungen und Verbeugungen glei-cherweise zu gebrauchen, sowohl zur höchsten Ehre Gottes als auch zurgeringeren Ehre der Geschöpfe. Wir gebrauchen sie wie Münzen, ein-mal für zehn, einmal für hundert, einmal für tausend, und überlassen esdem Willen, den Wert dieser Zeichen und äußeren Haltungen zu be-stimmen, je nach der Absicht, mit der er sie dem Leib befiehlt. Und esgibt vielleicht keine äußere Handlung, so demütig sie sein mag, dienicht zur Ehre der Geschöpfe verwendet werden könnte, wenn sie auseiner wohlgeordneten Absicht entspringt, ausgenommen einzig dasOpfer mit allem, was hauptsächlich und notwendig zu ihm gehört, dasnur Gott allein dargebracht werden kann als Anerkennung seiner höch-sten Herrschaft. Denn zu wem hörte man jemals sagen: Ich bringe dirdieses Opfer dar, Petrus, Paulus? Abgesehen davon ist alles Äußeregeeignet zur Ehrenbezeugung für Geschöpfe, wenn man darunter jeden-falls nicht die Worte versteht, von denen es so viele gibt, die nur auf Gottallein bezogen werden können.

Der Traktant verlegt das Wesen der Anbetung in die Kniebeuge undandere äußere Handlungen, wie es alle Schismatiker unserer Zeit tun;daher ist er gezwungen, wo die gleiche Verbeugung oder Ehrenbezeu-gung vorliegt, zu sagen, hier liege auch die gleiche Anbetung vor. Dasbraucht man wohl, um das gewöhnliche Volk zu fangen; doch was wirder mir auf folgende Frage antworten? Magdalena kniet zu Füßen Unse-res Herrn und wäscht sie (Lk 7,38); Unser Herr kniet vor dem hl. Petrusund wäscht ihm die Füße (Joh 13,6); die Handlung Magdalenas ist einesehr demütige Anbetung: mein freundlicher Traktant, sagen Sie mir,was war die Handlung Unseres Herrn? Wenn sie keine Anbetung war,was wahr ist, kann daher ‚sich verneigen‘, Ehrenbezeugungen und Knie-beugen machen nicht ‚anbeten‘ bedeuten, wie Sie behauptet haben. Folg-lich kann ein und dieselbe Handlung gemacht werden aus Anbetungund ohne Anbetung; daher wird man aus den gleichen äußeren Hand-lungen weder auf die gleiche noch auf verschiedene Verehrung schlie-ßen können. Wenn die Handlung Unseres Herrn ebenso Anbetung warwie die Magdalenas (Sie sind gut genug, das aufrechthalten zu wollen,vor allem, wenn Sie ein wenig vom Zorn überrascht sind), dann beteteer die Geschöpfe an: warum also wollen Sie nicht, daß wir dasselbe tun?Wahrhaftig, das Wesen und die Unterschiede der Anbetung in äußereHandlungen zu verlegen, das bedeutet, es anders auffassen als UnserHerr, der es (Joh 4,23) in den Geist verlegt, und anders als selbst derTeufel, der sich (Mt 4,9f) nicht damit begnügt, von Jesus Christus zu

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verlangen, daß er sich verneige, sondern auch will, daß er vor ihm nie-derfalle und ihn anbete; er sagt: Wenn du niederfällst und mich anbetest,will ich dir das alles geben. Ihm ist nichts gelegen an der Verneigung undVerbeugung, wenn sie nicht von der Anbetung begleitet ist. O Reforma-tion, willst du es besser wissen als dein Meister? Um die Gott gebühren-de Ehre zu zeigen, sagt der Unsere als Antwort auf den Euren nicht: Dusollst dich verneigen, weil die Verneigung eine rein indifferente Hand-lung ist, sondern er sagt nur: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten.Und weil die Anbetung noch nicht ausschließlich und in besondererWeise der Ehre Gottes eigen ist, sondern auch für Geschöpfe gebrauchtwerden kann, fügt er zur Anbetung das Wort ‚Latrie‘ hinzu und sagt: Dusollst ihm allein dienen. So sagt er auch nicht: du sollst den Herrn deinenGott allein anbeten, sondern vielmehr: Du sollst ihm allein dienen. Die-se Feststellung stammt ausdrücklich vom großen hl. Augustinus in denQuästionen zur Genesis. Anbeten kann man auch einen anderen alsGott, aber keinem anderen als Gott dienen durch den Dienst, der nachden Griechen ‚Latrie‘ genannt wird.

7. Kapitel

Erste Einteilung der Verehrung:nach dem Unterschied der Vortrefflichkeit.

Es kommt also dem Willen zu, das Wesen und die Verschiedenheitder Verehrung zu bestimmen. Aber welche Mittel hat er dazu? Vor al-lem zwei: erstens durch die Unterscheidung der Vortrefflichkeiten, de-retwegen er die Dinge verehrt; für verschiedene Vorzüge bedarf es un-terschiedlicher Ehre. Zweitens durch die unterschiedliche Art, wie dieGegenstände an den Vorzügen, deretwegen man sie verehrt, teilhabenund sie besitzen. Denn wie es verschiedene Vorzüge gibt, so kann manauch unterschiedlich und auf verschiedene Weise an ein und demselbenteilhaben.

Teilen wir nun alle Arten der Verehrung ein nach der allgemeinstenUnterscheidung der Vorzüge. Jede Vortrefflichkeit ist entweder unend-lich oder endlich, d. h. entweder göttlich oder geschaffen. Ist sie unend-lich und göttlich, dann ist die ihr gebührende Verehrung die höchste,absolute und unbegrenzte und heißt Latrie, denn wie der hl. Augustinussagt, „nach dem Sprachgebrauch jener, die uns die göttlichen Worte

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begründet haben, wird Latrie der Dienst genannt, der der AnbetungGottes zugehört, entweder immer oder wenigstens so oft, daß es fastimmer zutrifft: latria, secundum consuetudinem qua locuti sunt quinobis divina eloquia condiderunt, aut semper aut tam frequenter ut pae-ne semper, ea dicitur servitus quae pertinet ad colendum Deum.“ In derlateinischen Sprache gibt es kein anderes Wort, das so einfach die Gottallein gebührende Verehrung bezeichnete. Ist die Vortrefflichkeit end-lich, abhängig und geschaffen, dann wird die Verehrung untergeordnetund geringer sein.

Weil es aber in dieser zweiten Art der Vortrefflichkeit unzählige Un-terschiede und große Vielfalt gibt, teilen wir sie noch in ihre hauptsäch-lichen Arten ein; ebenso werde auch die ihr entsprechende Verehrungeingeteilt. Die geschaffene Vortrefflichkeit ist entweder natürlich oderübernatürlich: wenn sie natürlich ist, gebührt ihr eine bürgerliche,menschliche und einfache moralische Verehrung; so ehrt man die Wei-sen und Tapferen. Ist sie übernatürlich, so gebührt ihr eine mittlereVerehrung, die nicht rein menschlich und bürgerlich ist, aber auch nichtgöttlich oder unbegrenzt, denn die Vortrefflichkeit, auf die sie sich be-zieht, ist unendlich geringer als die göttliche und ist stets untergeordnet.Man kann diese Verehrung wohl eine religiöse nennen, denn wir unter-werfen uns übernatürlichen Dingen nur auf Antrieb des gottesfürchti-gen, frommen Glaubens, oder eine innerliche, aber die Theologen nen-nen sie im besonderen ‚Dulie‘; sie sahen nämlich, daß das griechischeWort ‚Dulia‘ gleicherweise für den Dienst Gottes (Offb 22,9) und derGeschöpfe (Tit 2,9; 1 Kor 9,19) gebraucht wird und daß dagegen dasWort ‚Latria‘ fast ausschließlich für den Dienst Gottes gebraucht wird;daher haben sie Verehrung der Latrie jene genannt, die man Gott er-weist, und jene, die man den Geschöpfen erweist, Verehrung der Dulie.Und um noch eine Einteilung der Ehre der Geschöpfe zu treffen, habensie gesagt, die hervorragendsten werden durch ‚Hyperdulie‘ verehrt, dieanderen durch gewöhnliche oder allgemeine ‚Dulie‘.

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8. Kapitel

Zweite Einteilung der Verehrung:nach der unterschiedlichen Art des Teilhabens an den Vorzügen.

Die zweite Unterscheidung der Verehrung hängt ab von der verschie-denen Art und Weise, wie die Dinge, die man verehrt, teilhaben an denVorzügen, deretwegen man sie verehrt. Denn um sehr ehrwürdig zu sein,genügt es nicht, an einer großen Vortrefflichkeit teilzuhaben, wenn mandaran nicht in hervorragender Weise teilhat. Man ehrt jede Art von Be-amten wegen der Hoheit des Fürsten, dessen Diener und Beauftragte siesind. Es ist der gleiche Vorzug, deswegen man sie ehrt, aber man ehrt sienicht gleichermaßen, weil nicht alle gleicherweise an diesem Vorzugteilhaben. Ein und dieselbe Sonne erhellt die Dinge mehr oder weniger,je nachdem, wie nahe sie ihr sind oder wie sie ihre Strahlen aufnehmen.So erweisen wir die Verehrung oder Ehre nicht nur nach den Vorzügen,sondern nach der verschiedenen Art der Teilhabe an den Vorzügen. Ichsage daher folgendes:

Was wir verehren, hat die Vortrefflichkeit, deretwegen wir es vereh-ren, entweder in sich und aus sich selbst, dann gebührt ihm die absoluteund unabhängige, erhabene und höchste Verehrung; diese Ehre stehtGott allein zu, denn er allein ist in sich, aus sich und durch sich selbsterhaben, ja die Erhabenheit selbst.

Oder es hat die Vortrefflichkeit in sich, aber nicht aus sich, wie vieleMenschen und die Engel. Sie haben wirklich die Werte und Tugenden insich, deretwegen man sie ehrt, aber sie besitzen sie nicht von sich selbst,sondern durch die Gnade Gottes. Deshalb ist die Ehre, die ihnen ge-bührt, in Wahrheit absolut, aber nicht die höchste und nicht unabhän-gig, sondern untergeordnet und abhängig; denn wie sie ihre Vortreff-lichkeit von Gott haben, muß auch die Ehre, die man ihnen dieser Vor-trefflichkeit wegen erweist, auf Gott bezogen werden. Diese Art derVerehrung steht nur vernunftbegabten und tugendhaften Geschöpfenzu, denn kein anderes als dieses kann die Tugend besitzen; sie ist dieVortrefflichkeit, deretwegen man sie ehrt.

Oder das Ehrwürdige hat die Vortrefflichkeit, deretwegen man es ver-ehrt, in Wirklichkeit weder aus sich noch in sich, sondern nur durch einebestimmte Anrechnung und Beziehung infolge der Verbindung, Zugehö-rigkeit und Ähnlichkeit, wegen des Verhältnisses und der Beziehung zudem, was die Vortrefflichkeit und Güte in sich selbst hat; dann heißt die

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unter diesem Gesichtspunkt den Dingen gebührende Verehrung eine be-ziehungsweise, zugeschriebene oder bedingte. Diese steht allen Geschöp-fen zu, vernunftbegabten und anderen, außer den unglücklichen Verdamm-ten; sie haben nur eine Beziehung zum Unglück, das ihnen alles verdun-kelt, was von ihren natürlichen Fähigkeiten verblieben sein kann.

Doch Gott, der nur die unabhängige Erhabenheit besitzen kann, stehtnur die unabhängige Anbetung zu. Für Gott ist es zu gering und zugewöhnlich, die Vollkommenheit in Abhängigkeit und anders als aussich selbst zu besitzen, und noch viel mehr, sie durch Anrechnung oderBeziehung zu besitzen; diese geringen Ehren sind für eine unendlicheErhabenheit nicht angemessen.

Die erhabene und höchste Ehre gebührt also Gott, nicht nur wegender unendlichen Vollkommenheit, die in ihm ist, sondern auch wegender Art, wie er sie besitzt, denn er besitzt sie aus sich und durch sichselbst. Die absolute untergeordnete Ehre steht nur vernunftbegabtenGeschöpfen zu, die allein die Tugend in sich haben, die die absoluteEhre erfordert; aber sie haben diese nicht aus sich, daher ist sie unterge-ordnet. Die bedingte oder zugeschriebene ist in gewissem Sinn den ver-nunftlosen Geschöpfen im besonderen eigen, da ihnen keine andereEhre zusteht, weil sie weder aus sich noch in sich selbst tugendhaft sind.Trotzdem sind die vernunftbegabten Geschöpfe auch für diese bedingteEhre ebenso empfänglich wie für die absolute untergeordnete. So kannich den hl. Johannes betrachten entweder als sehr heilige Persönlich-keit und werde ihn deswegen ehren mit einer absoluten wenn auch un-tergeordneten Ehre, oder als nahen Verwandten Unseres Herrn, unddeswegen ehre ich ihn mit einer bedingten und zugeschriebenen Ehre.

9. Kapitel

Woher der Unterschied bei der bedingten Ehre kommtund wie man sie nennt.

Die bedingte Ehre muß bewertet werden nach dem Maß und Gewichtder Vortrefflichkeit, der sie gilt, und nach dem Unterschied, wie sichdie Vortrefflichkeit in der verehrten Sache findet. Ich will zum Beispieldas Bild des Fürsten mit dem Sohn eines Freundes vergleichen: Wennich den Wert der Vorzüge bedenke, deretwegen ich das eine und denanderen ehre, werde ich das Bild des Fürsten mehr ehren als den Sohn

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des Freundes (ich setze voraus, daß mir dieser Sohn nur wegen der Lie-be zum Vater schätzenswert ist), weil das Bild des Fürsten einer Persön-lichkeit zugehört, die mir ehrenwerter ist. Wenn ich aber den Rang undden Grad der Zugehörigkeit jedes dieser Dinge zur Vortrefflichkeit be-denke, deretwegen ich sie ehre, werde ich den Sohn meines Freundesviel mehr ehren als das Bild des Fürsten; denn obwohl ich den Fürstenhöher schätze als den einfachen Freund, gehört doch das Bild unver-gleichlich weniger zum Fürsten als der Sohn zum Freund. Ebenso istnach der ersten Überlegung das Bild Unseres Herrn ehrwürdiger als derLeib eines Märtyrers, da es einer unendlichen Erhabenheit zugehört,der Leib des Märtyrers aber nur einer begrenzten Vortrefflichkeit. Dochnach der zweiten Überlegung ist der Leib des Märtyrers ehrwürdiger alsdas Bild Unseres Herrn, denn obwohl das Bild Gottes einer unendli-chen Erhabenheit zugehört, so gehört es zu ihr doch fast unendlich we-nig im Vergleich damit, daß der Leib dem Märtyrer viel enger zugehört,ein wesentlicher Teil von ihm ist, der auferweckt werden wird, um derHerrlichkeit teilhaftig zu werden.

Um also der beziehungsweisen oder bedingten Ehre, die den Dingengebührt, den rechten Wert zu geben, muß man die Vortrefflichkeit, dersie zugehören, erwägen und abschätzen, und zugleich den Rang und denGrad ihrer Zugehörigkeit zu diesem Vorzug. So verdienen das echteKreuz und die Abbildungen des Kreuzes ein und dieselbe Ehre, inso-fern das eine und das andere sich auf Jesus Christus bezieht, aber sieverdienen sie auf verschiedene Weise, insofern das echte Kreuz JesusChristus vorzüglicher zugehört als die Darstellung des Kreuzes; denndas echte Kreuz gehört ihm an als Reliquie, als Werkzeug der Erlösung,als Altar seines Opfers und auch dessen Bild, aber die Darstellung desKreuzes gehört zu ihm nur als Erinnerung an seine Passion. Der Unter-schied ihrer Verehrung kommt nicht vom Gegenstand, dem sie zugehö-ren, sondern von der Art, wie sie zu ihm gehören. Sie gehören ein unddemselben Gegenstand an, aber nicht in gleicher, sondern auf verschie-dene Weise; das macht den Unterschied aus und begründet die unter-schiedliche Verehrung.

Doch wie sollen wir die entsprechenden Arten der Verehrung nachihrer Verschiedenheit nennen?

1. Man darf sie wahrhaftig niemals einfach Anbetung ohne rechte Ein-schränkung nennen; denn wenn das Wort Anbetung mehr zur Bezeich-nung der Gott allein gebührenden Ehre neigt als zur untergeordnetenund wenn es deshalb nicht zur Bezeichnung der untergeordneten ge-

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braucht werden darf, außer wenn es durch irgendeinen Zusatz einge-schränkt wird, um wieviel weniger darf man es gebrauchen, um die be-dingte und unvollkommene zu bezeichnen, außer man hat den Umfangseiner Bedeutung nach dem Maß der Ehre begrenzt, die man bezeich-nen will.

2. Es genügt nicht, eine dieser Arten der Verehrung eine bedingte oderunvollkommene Anbetung zu nennen, denn durch diese Ausdrücke wür-de man keinen Unterschied zwischen ihnen machen: alle haben teil andieser Bezeichnung der bedingten Verehrung als ihrer Gattung, dieserGehalt ist ihnen gemeinsam. Sie sind alle von dieser Art der Verehrung,die man Verehrung nennt, und alle von dieser Art der Verehrung, dieman bedingt nennt. Man muß also diese zwei Bezeichnungen noch be-grenzen durch irgendeinen Zusatz. Doch woher soll man diesen Zusatznehmen? Man muß ihn in der Beschaffenheit des Vorzugs suchen, aufdie die Verehrung abzielt: wenn sie der göttlichen Erhabenheit gilt,muß man sie bedingte Verehrung der Latrie nennen, denn die Ehre, diedie Gottheit zum Gegenstand hat, heißt Latrie. Wenn sie einem überna-türlichen geschaffenen Vorzug gilt, nennt man sie die bedingte Vereh-rung der Dulie oder Hyperdulie, je nach der größeren oder geringerenVortrefflichkeit, denn so nennt man die übernatürlichen Vorzügen ge-bührende Ehre. Wenn die Verehrung einem rein menschlichen Vorzuggilt, heißt sie bedingte menschliche oder bürgerliche Verehrung.

3. Wer aber diese Arten der Verehrung noch näher bestimmen wolltenach dem Unterschied des Ranges und der Zugehörigkeit der Sache, dieer ehren will, zum Vorzug, dem sie gilt, der kann das leicht tun, indem erz. B. sagt: Ich ehre das mit der beziehungsweisen Verehrung der Latrieals Reliquie, als Bild, als Andenken oder Werkzeug Jesu Christi. Somuß man auch sprechen von den Reliquien, Bildern und Werkzeugender Heiligen und jeder Sache ihren Rang lassen; denn in Wahrheit ver-dienen die Reliquien, wie die Nägel, das echte Kreuz, das heiligeSchweißtuch, mehr beziehungsweise Verehrung der Latrie als die Bil-der und einfachen Kreuze Unseres Herrn, weil sie zu Unserem Herrn inlebendiger und engerer Beziehung stehen als die einfachen Andenken.

4. Niemand darf es befremdend finden, wenn diese geringen, unvoll-kommenen und bedingten Ehren den Namen einer absoluten und voll-kommenen Verehrung der Latrie, Hyperdulie und Dulie tragen; dennwie könnte man die Blätter besser benennen als mit dem Namen desBaumes, der sie hervorbringt und von dem sie abhängen? Die Dinge,die wir mit einer beziehungsweisen Verehrung ehren, gehören absolu-

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ten Vorzügen an und hängen von ihnen ab; auch die Ehre, die wirihnen erweisen, gehört zur absoluten Ehre, die wir absoluten Vorzü-gen erweisen, und hängen von ihr ab. Das Kreuz gehört Jesus Christusan, die Verehrung des Kreuzes gehört zur Verehrung Jesu Christi; dieVerehrung Jesu Christi heißt gerechterweise Latrie, die Verehrung desKreuzes gehört zur Latrie, sie ist ein Blatt dieses großen Baumes, sieist eine Feder dieses Adlers, der geradewegs zur Sonne der Gottheitstrebt.

Warum nennt man das Bild des hl. Claudius einfach St. Claudius,ebenso seinen toten Leib, wenn nicht wegen des Verhältnisses und derBeziehung des einen wie des anderen zu diesem Heiligen zu dessenLebzeiten? Ebenso kann man die dem Leib und dem Bild dieses Heili-gen gebührende Ehre mit dem Namen der Ehre bezeichnen, die demHeiligen selbst gebührt, denn die dem Leib und dem Bild eines Heili-gen gebührende Ehre steht zu der Ehre, die seiner Person gebührt, imgleichen Verhältnis wie das Bild oder der Leib eines heiligen Menschenzur Person des Heiligen selbst. Der Mensch im Bild ist Mensch, eintoter Mensch ist Mensch, aber nicht einfach Mensch, sondern Menschnach der Entsprechung, Darstellung und Beziehung. Ebenso wird auchdie dem Bild und dem Leib dieses Menschen gebührende Ehre sein:wenn er einfach ein Mensch ist, wird sie menschlich sein, nicht absolut,sondern durch die Entsprechung und Beziehung; wenn er ein heiligerMensch ist, wird es die Ehre der Dulie sein, aber beziehungsweise undbedingt; wenn es das Bild Jesu Christi ist, wird es die Verehrung derLatrie sein, aber beziehungsweise. Wenn man mich fragt, welche Liebemich veranlaßt, den Diener meines Bruders, ja seinen Hund zu strei-cheln, dann könnte ich nicht leugnen, daß es die brüderliche Liebe ist,daß diese Zuneigung und dieser Gunsterweis brüderlich sind; nicht weilich den Diener oder den Hund für meinen Bruder hielte, sondern weilsie zu meinem Bruder gehören. So sind auch der Antrieb und die Nei-gung, die ich zu ihrem Wohl habe, nicht einfach brüderlich und nichtvon der gleichen Art wie diejenige, die ich meinem Bruder gegenüberhabe, aber sie stehen in Beziehung und im Verhältnis zu ihm, weshalbsie beziehungsweise brüderlich genannt werden. Diese beziehungswei-se und unvollkommene Ehre geht aus einer absoluten und vollkomme-nen hervor, und sie geht nicht nur aus ihr hervor, sondern bezieht sichauf sie und wird auf sie zurückgeführt; es ist also nicht verwunderlich,wenn sie den Namen vom Ort ihres Entstehens und ihrer letzten Be-stimmung entlehnt.

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5. Übrigens darf man nie einfach sagen, man bete jemanden mit derVerehrung der Latrie an, außer den allmächtigen Gott. Der gelehrteBellarmin beweist das hinreichend, wenn er nur das 7. allgemeine Kon-zil anführt, das eindeutig bestimmt, daß man die Bilder verehren muß,aber nicht durch die Latrie, denn was hier von den Bildern gesagt wird,gilt für alle äußeren Dinge, die Gott zugehören. Weil die Ehre der Latriedie höchste ist, gebührt sie gewiß nur der höchsten Erhabenheit. Ichhabe gesagt, einfach die Verehrung der Latrie, denn wenn man von einerunvollkommenen und beziehungsweisen Latrie spricht, mit ähnlichenEinschränkungen und Abschwächungen, muß man sie dem Kreuz undanderen Dingen zuerkennen, die Jesus Christus angehören, sonst nicht,in welcher Form es auch sei.

Der Grund ist der, daß nach der Regel der Logiker das Wort, das zweioder mehr Dinge bezeichnet, das eine vor allem und unmittelbar bedeu-tet, das andere in ähnlicher Weise und verhältnismäßig. Wenn es fürsich allein und ohne Einschränkung gebraucht wird, meint es immerdas hauptsächlich bezeichnete: „analogum per se sumptum stat pro fa-mosiori significato.“ Wenn man Mensch sagt, versteht man daruntereinen wirklichen und natürlichen Menschen, nicht einen toten oder ab-gebildeten; wenn man Latrie sagt, so ist das die wirkliche Latrie undnicht die unvollkommene und bedingte. Wenn ich immer gesagt habe,man darf nicht einfach sagen, daß man die Geschöpfe anbete, außer mangibt die Umstände an, die die Bedeutung des Wortes ‚anbeten‘ einschrän-ken, zumal sie mehr zur Ehre Gottes neigt als zu jener der Geschöpfe,mit wieviel mehr Recht sage ich, man darf das Wort Latrie allein fürkeine andere Ehre gebrauchen als allein für die Ehre Gottes, weil dasWort Latrie besonders gewählt und ausschließlich für diese Bedeutungbestimmt wurde und nunmehr nicht anders gebraucht werden kann,außer beziehungsweise und im weiteren Sinn. In der Tat wird das mehr-deutige Wort immer in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden,wenn es allein und ohne Einschränkung dasteht, und nicht von den un-wesentlichen und weniger ursprünglichen. Das scheint mir wohl ausrei-chend für jene, die es gut verstehen.

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10. Kapitel

Notwendige Lösung einer Schwierigkeit.

Es ist besser, dieses Wort hier einzufügen, denn es ist notwendig. Diebedingte Verehrung dessen, was Jesus Christus zugehört, heißt unvoll-kommene Latrie, weil sie sich auf die echte und vollkommene Latriebezieht, die Jesus Christus gebührt; ebenso heißt die entsprechende Ver-ehrung dessen, was Unserer lieben Frau angehört, Hyperdulie, weil sieauf die vollkommene Hyperdulie zielt, die der himmlischen Frau ge-bührt, oder die entsprechende Verehrung, die man dem erweist, was denHeiligen zugehört, heißt bedingte Dulie, weil sie sich auf die vollkom-mene Dulie zurückführen läßt, die diesen glorreichen Vätern gebührt.Warum soll man dann die Ehre, die man der jungfräulichen Gottesmut-ter und den Heiligen erweist, nicht Verehrung der Latrie nennen, da dieEhre der Mutter und der Diener vollständig überströmt und sich ganzbezieht auf die Ehre und Herrlichkeit des Sohnes und Herrn Jesus Chris-tus, unseres erhabenen Gottes und Erlösers? Wie im Vorwort deutlichnachgewiesen wurde, bezieht sich alle Ehre auf Gott; daher muß alleEhre bedingte Verehrung der Latrie sein und heißen. Diese Schwierig-keit verdient eine Antwort; ich entnehme sie dem großen Lehrer, demhl. Bonaventura.

Die untergeordneten Ehrungen beziehen sich auf Gott in zweifacherWeise: entweder als auf ihr erstes Prinzip und letztes Ziel oder als aufihr Objekt und Subjekt. Nun bezieht sich die abhängige Ehrung auf Gottals ihr erstes Prinzip und letztes Ziel und nicht als ihr Objekt; aber diebedingte Ehrung bezieht sich auf Gott als ihr Objekt und Subjekt, wes-halb sie Ehrung der Latrie genannt wird. Sie ist trotzdem unvollkom-men und bedingt, weil sie nicht Gott zum Gegenstand hat, insofern Gottin sich selbst oder in seinem eigenen Wesen betrachtet wird, sondernnur, insofern er dargestellt und anerkannt wird in dem, was ihm zuge-hört und von ihm abhängt, durch das Verhältnis und die Beziehung, diees zu seiner göttlichen Majestät hat. Die Ehrerbietung des hl. Johannes(1,27) vor den Sandalen Unseres Herrn, die zu tragen er sich für unwür-dig hielt, war eine heilige Regung der Latrie, aber der bedingten Latrie,durch die er seinen Meister nicht in seiner Person selbst verehrte, son-dern in dieser geringen und niedrigen Sache, die ihm gehörte. Die Eh-rungen nun, die auf Jesus Christus als ihr Prinzip und letztes Ziel ge-

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richtet sind, können und müssen Latrie genannt werden, aber bedingtund unvollkommen.

Die Ehrung der seligsten Jungfrau und der Heiligen dagegen hat zumGegenstand ihre eigene Vortrefflichkeit, die sich tatsächlich in ihrerPerson findet, und deshalb hat sie ihren eigenen Namen der Dulie undHyperdulie, obwohl sie sich dann auf Gott als ihr Ziel und ihr Prinzipbezieht.

Die Verehrung des Kreuzes und anderer Dinge, die unserem Erlöserangehören, hat Unseren Herrn selbst zum Gegenstand, den sie in diesenleblosen Dingen betrachtet und anerkennt durch die Beziehung, die siezu ihm haben, so daß man diese Verehrung vernünftigerweise bedingteLatrie nennt. So gibt man das Brot dem Armen als Almosen und demPriester als Opfergabe; die eine wie die andere Gabe zielt auf Gott undgilt ihm, aber auf verschiedene Weise; denn das Almosen zielt auf Gottals sein Ziel und hat zum Gegenstand den Armen, die Opfergabe zieltauf Gott als ihren eigentlichen Gegenstand, obwohl sie der Priesterempfängt.

11. Kapitel

Zwei Arten, das Kreuz zu verehren.

Man kann abwesende Dinge verehren, selbst vergangene und zukünf-tige, wenigstens bedingungsweise; man kann sie auch schätzen und prei-sen. Wie oft und auf wie vielfache Weise haben die Väter des AltenBundes dem künftigen Messias Ehre und Verehrung erwiesen. Und inder Tat, wenn man das Wesen der Ehre und Verehrung recht bedenkt, istdie Gegenwart ihres Gegenstands nicht erforderlich; sie kann auch ver-gangenen und zukünftigen Dingen gelten. Der kleine Traktant dürftekaum wagen, diese Wahrheit zu leugnen. „Wir können das Kreuz, denTod und die Passion Unseres Herrn nie genug ehren“, sagt er (B.T. 38).Nun sind der Tod und die Passion Vergangenheit, Jesus Christus stirbtnicht mehr, er leidet nicht mehr. Man kann also abwesende Dinge ver-ehren und solche, die nicht (mehr) sind. Gehen wir mit dieser Voraus-setzung weiter.

Man kann das echte Kreuz betrachten, wie es jetzt ist, getrennt undlosgelöst vom Gekreuzigten, dann wird es eine kostbare Reliquie desErlösers sein, sein Ehrenlager, der Thron seines Königtums, die Tro-phäe seines Sieges und das glorreiche Werkzeug unserer Erlösung. Da

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nun alle diese Eigenschaften bedingt und ganz auf Jesus Christus bezo-gen sind, ist auch die Ehre, die man dem Kreuz ihretwegen erweist, ganzauf den Herrn selbst bezogen und deshalb, weil sie dem Erlöser gilt,eine Verehrung der Latrie. Da sie ihm aber nicht unmittelbar, sondernbeziehungsweise gilt, ist sie eine unvollkommene und bedingte Latrie,und sie darf nicht einfach Latrie genannt werden, ebenfalls nach dem hl.Bonaventura, im 3. Buch über die Sentenzen, nicht Anbetung, wie ichvorhin gesagt habe. Von dieser Art war die Verehrung, die man demKreuz im Altertum erwies. Man wünschte von ihm kleine Teilchen zubesitzen, die nach dem Bericht des hl. Chrysostomus und des hl. Cyrillüber die ganze Welt verstreut wurden. Sie gleicht der des hl. Johannesfür die Sandalen Unseres Herrn, die zu tragen er sich für unwürdighielt; sie gleicht der des Elischa (2 Kön 2,13 f) für den Mantel des Elija,den er so hochschätzte wie der hl. Athanasius den Mantel des hl. Anto-nius; sie gleicht auch der Verehrung aller Christen für das hochheiligeGrab Unseres Herrn, die der Prophet Jesaja (11,10) ausdrücklich vor-hergesagt hat.

Man betrachtet das Kreuz auch, nicht wie es gegenwärtig ist, getrenntvom Gekreuzigten, als eine Reliquie, sondern wie es zur Zeit der Passi-on war, als der Erlöser auf ihm angenagelt war, als dieser kostbare Baumseine Frucht trug, als aus dieser Terebinthe oder Myrrhe auf allen Seitendas heilbringende Blut tropfte. Und bei dieser Erwägung ehrt unsereSeele das echte Kreuz mit der gleichen Verehrung, mit der es den Ge-kreuzigten ehrt, nicht so sehr beziehungsweise (um es genau zu sagen)als vielmehr folgerichtig und durch Teilhaben oder Überströmen. Dennganz so, wie Unser Herr am Tag seiner Verklärung deren Strahlen aus-sandte und sogar seinen Kleidern mitteilte, so daß sie diese weiß wieSchnee machte (Mt 17,2), ebenso ist die Latrie, mit der wir Jesus Chris-tus den Gekreuzigten verehren, so lebhaft und überreich, daß sie aufalles ausstrahlt und überfließt, was ihn berührt und zu ihm gehört. Daswar die Auffassung jener armen Frau (Mt 19,20), die sich damit begnüg-te, den Saum des Gewandes des Erlösers zu berühren; so küssen auchwir den Purpur und das Gewand der Großen.

Das bedeutet nun nicht so sehr, das Gewand oder das Kreuz verehren,als es nebenbei und als Folge mit der Verehrung verbinden. In der Tatverehrt keiner den König des Gewandes wegen, aber keiner trennt dasGewand vom König, um rein die königliche Person zu verehren; manerweist die Reverenz dem bekleideten König, und wir beten Jesus Chris-tus den Gekreuzigten an. Die dem Gekreuzigten erwiesene Ehre findet

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ihren Widerschein und strahlt auf das Kreuz zurück, auf die Nägel unddie Dornenkrone als auf Dinge, die mit ihm vereinigt und verbundenund zu ihm gehörig sind. Deshalb trägt diese Verehrung oder vielmehr,was mit der Verehrung verbunden ist, als ein Zubehör zur Verehrung,die dem Sohn Gottes erwiesen wird, auch den Namen und die Bezeich-nung der Hauptperson und nimmt an ihrer Natur teil. Auf diese Weisedas Kreuz zu verehren und zu betrachten, darauf beziehen sich fast allefeierlichen Worte, Lobpreisungen und Zeremonien, die in der katholi-schen Kirche im Hinblick auf das Kreuz üblich sind, doch vor allem derganz heilige und fromme Hymnus, den der gute Theodulf, einst Bischofvon Orléans, verfaßt hat; sehen wir ihn in allen Teilen, lateinisch undfranzösisch:31

Der König siegt, sein Banner glänzt,geheimnisvoll erstrahlt das Kreuz,an dessen Balken ausgereckt,im Fleisch des Fleisches Schöpfer hängt.Geschunden hängt der heil’ge Leib,vom scharfen Speere roh durchbohrt,uns reinzuwaschen von der Schuld,strömt Blut und Wasser von ihm aus.Erfüllt ist nun, was David einstim Liede gläubig kundgetan,da er im Geiste prophezeit’:Vom Kreuz herab herrscht unser Gott.O edler Baum in hehrem Glanz,von königlichem Purpur rot,du werter, du erwählter Stamm,du trägst den Lösepreis der Welt.O heil’ges Kreuz, sei uns gegrüßt,du einz’ge Hoffnung dieser Welt.Den Treuen schenke neue Kraft,den Sündern tilge alle Schuld.Dir, höchster Gott, Dreifaltigkeit,lobsinge alles, was da lebt;du hast uns durch das Kreuz erlöst:Bewahre uns in Ewigkeit. Amen.

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Wer sieht nicht, daß man in all diesen Versen das Kreuz betrachtet alseinen Baum, an dem die kostbare Frucht des Lebens hängt, der Schöpferder Welt, als einen Thron, auf dem der König der Könige sitzt? Ebensoist es, wenn die Kirche singt, was uns der kleine Traktant (B.T. 51) an-kreidet: „Kreuz, das verehrt werden muß, Kreuz, das bewahrt werdenmuß, den Menschen liebenswert, heiliger als alle, das allein das Löse-geld der Welt zu tragen würdig war; süßes Holz, süße Nägel, süße Lastbeschwert euch.“ Das ist die Übersetzung des Traktanten, die gewißnicht sehr genau ist; aber das Latein ist schöner: „O crux adoranda, oCrux speciosa, hominibus amabilis, sanctior universis, quae sola dignafuisti portare talentum mundi; dulce lignum, dulces clavos, inter omnesarbor una nobilis, nulla silva talem profert, fronde, flore, germine; dul-ce lignum, dulces clavos, dulce pondus, sustinet.“ Das ist ein Teil desHymnus, den der gute Vater Fortunatus, Bischof von Poitiers, verfaßthat.

Alle diese Worte gelten dem Kreuz, das mit Nägeln dem Gekreuzig-ten verbunden ist, wie es zur Zeit der Passion war. Aber warum grüßtman es denn, warum spricht man es an, als spräche man mit dem Ge-kreuzigten selbst? Gewiß deswegen, weil zwar die Worte an das Kreuzgerichtet sind, aber die Absicht dem Gekreuzigten gilt. Man sprichtvom Gekreuzigten unter dem Namen des Kreuzes. Sagen wir nicht ge-wöhnlich: Er rief 50 Kürasse, 50 Lanzen, 100 Musketen, 100 Pferde?Nennen wir nicht Feldzeichen einer Kompanie jenen, der das Feldzei-chen trägt? Wenn wir von Pferden sprechen, meinen wir die Reiter.Wenn wir unter Musketen, Lanzen, Kürassen jene verstehen, die dieMusketen, Lanzen und Brust-Panzer tragen, warum sollten wir wohlnicht unter dem Kreuz den Gekreuzigten verstehen? Sprechen wir nichtoft vom König von Frankreich und vom Herzog von Savoyen unter demNamen der Lilie und des weißen Kreuzes, weil das die Wappen dieserhohen Fürsten sind? Warum sollten wir nicht vom Erlöser unter demNamen des Kreuzes sprechen, das sein wahres Wappen ist? In diesemSinn wendet man sich also an das Kreuz, grüßt es und ruft es an; sowenden wir uns auch an den Thron und berufen uns auf ihn, um auszu-drücken, daß man sich auf den beruft, der auf dem Thron sitzt. Demmuß man aber hinzufügen, was ich im 9. und 10. Kapitel des zweitenBuches gesagt habe

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12. Kapitel

Zwei andere Arten, das Kreuz zu verehren.

Es gibt zwei Arten von Zeichen; denn die einen stellen etwas natürli-cher Weise dar und bezeichnen es durch ihre Abhängigkeit, Zugehörig-keit und Beziehung, durch ihr Verhältnis zu dem, was durch sie darge-stellt wird. So sind die Losung und der Mist der Hirsche und Wild-schweine oder ihre Spuren und Fährten natürliche Zeichen der Tiere,die sie gemacht und hinterlassen haben, infolge der Abhängigkeit undBeziehung, die sie zu ihnen haben; so ist der Rauch Zeichen des Feuers,der Schatten das des Körpers. Andererseits gibt es Zeichen, die eineSache nicht auf natürliche Weise darstellen, sondern auf Grund derEinführung durch den Willen der Menschen, so wenn im Altertum dieKriegskommissare oder Richter das Theta als Zeichen für den Tod setz-ten und das Tau als Zeichen für das Leben. „O multum ante alias infoe-lix litera Thita“;32 oder wenn Rahab (Jos 2,18) eine rote Schnur in ihrFenster hängte als Zeichen des Schutzes, den die Israeliten ihrem Hausgewähren mußten. Denn welche Übereinstimmung oder welches Ver-hältnis bestand zwischen den bezeichneten Dingen und diesen Zeichen,die man natürlich nennen könnte? Ich behaupte nicht, diese Zeichenseien ohne Grund und Geheimnis eingeführt worden, aber ich sage, daßsie ihrer Natur nach keinerlei Beziehung zu dem hatten, was sie dar-stellten, und daß es notwendig war, sie durch menschliche Einführungzu dieser Verwendung zu bestimmen und umzuformen, während dienatürlichen Zeichen ohne irgendeine Einsetzung infolge ihrer natürli-chen Verbindung und Beziehung zu ihrem Objekt diese bezeichnen unddarstellen.

Die Abbildung des Kreuzes kann nun auf die eine und die andere Artverwendet werden: sie kann ein natürliches Zeichen sein und ein ge-wolltes oder willkürliches. Das Kreuz hat gewiß eine natürliche Über-einstimmung und Beziehung zum Gekreuzigten und zur Kreuzigung;das zeigen schon die Ausdrücke. Daher stellt es natürlicherweise denGekreuzigten dar und bezeichnet ihn. Das ist seine gewöhnliche Ver-wendung, die seine natürliche Bedeutung nicht überschreitet. So be-trachtet, ehrt man es mit der Verehrung, die ich so oft genannt habe, d. h.mit einer unvollkommenen und bedingten Latrie, wie man sie dem Evan-gelienbuch und anderen heiligen Dingen erweist, wie es auf dem 7. Kon-

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zil im Artikel VII bestimmt wurde und auf dem 8. Konzil im Artikel X.Sie wird tatsächlich und unmittelbar dem Kreuz erwiesen als dem ers-ten und besonderen Gegenstand, dann in einem Zug auf den Gekreuzig-ten übertragen und ausgerichtet als auf ihren letzten, allgemeinen undgrundlegenden Gegenstand. Die dem Kreuz (insofern es ein Andenkenan den Gekreuzigten und seine Kreuzigung ist) erwiesene Ehre ist janichts anderes als eine Abhängigkeit, Zugehörigkeit und Zugabe zurgroßen und höchsten Latrie, die der Majestät dessen gebührt, der, ob-wohl er Gott, seinem Vater gleich war, sich verdemütigt und erniedrigt hatbis zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-8).

Das ist die dem Kreuz gebührende Ehre als natürliches Zeichen unse-res Erlösers, der für uns gelitten und geduldet hat. Um es vor allenEinwänden zu bewahren, war es zweckmäßig, dem die Einführung durchdas christliche Volk hinzuzufügen; denn da die Abbildung des Kreuzesvon Natur aus zum Kreuz des Erlösers kein engeres Verhältnis hat alszu dem der Räuber, die nahe bei ihm gekreuzigt wurden, oder zu demsoviel tausend Gekreuzigter, die man anderswo und bei anderen Gele-genheiten hinrichtete, warum sollte man so unterschiedslos die Kreuzeeher als Andenken und natürliche Zeichen der einzigen Passion desErlösers annehmen als von anderen? Wie ich schon gesagt habe, bedurf-te es dazu gewiß der Einführung des christlichen Volkes, um das Zei-chen und die Bedeutung, die die Abbildung des Kreuzes natürlicher-weise haben konnte, darauf einzuschränken und zu begrenzen, daß esnicht anders verwendet werde als zur Darstellung und als Zeichen derheiligen Kreuzigung des Erlösers. Das wurde seit der Zeit Konstantinsdes Großen eingehalten.

Da ich aber hier nur vom Kreuz Jesu Christi spreche, meine ich auchkeine andere Abbildung eines Kreuzes als von diesem, die besondersund ausdrücklich dazu gebraucht wird, Jesus Christus als den Gekreu-zigten darzustellen. So kommt hier keine Unterscheidung in Betracht,weil die Abbildung des Kreuzes Jesu Christi natürlicherweise keineandere Beziehung hat als die zur Kreuzigung Jesu Christi, weil man siedarauf beschränkt und begrenzt hat. So hat das Bild Cäsars keine andereBeziehung als die zu Cäsar, wenn man es so im besonderen betrachtet,obwohl es eine Beziehung zu jedem Menschen haben könnte, wenn manes als Bild eines Menschen betrachtet. Daher behaupte ich, daß die Kreuzeder Christen natürlicherweise nichts anderes bezeichnen als die Passi-on Jesu Christi, weil die Christen kein anderes Bild oder keine andereDarstellung des Kreuzes schätzen als die im besonderen, die das Abbild

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des Kreuzes ihres Erlösers ist.Sehen wir nun, ob die Abbildung des Kreuzes Jesu Christi durch die

Wahl und Einführung des christlichen Volkes irgendeine andere eh-renvolle Verwendung finden kann außer jener, die sie ihrer Natur nachhat. Der Wille des Menschen hat nicht die Macht, Dingen irgendeinenwirklichen Wert zu geben über den hinaus, den sie von Natur aus haben,aber er kann ihnen wohl einen gedachten Wert und eine angenommeneoder angebliche Wertschätzung zuschreiben, nach der man sie mehroder weniger ehrt oder entehrt. Zum Beispiel: Der Gesandte des Königswird manchmal als Gesandter geehrt; dann wird genau genommen erselbst geehrt, denn er ist auch Gesandter im eigentlichen Sinn, und dasist die Eigenschaft, deretwegen er geehrt wird, obwohl es im Hinblickauf einen anderen, nämlich den König geschieht. Andere Male ehrt manihn anstelle des Königs mit einer dem König eigenen Ehre; dann ist esgenau genommen der König, der in seinem Gesandten geehrt wird, nichtder Gesandte selbst, weil der Gesandte eigentlich nicht der König ist; ernimmt nur die Stelle des Königs ein und stellt ihn nach der Annahmeund Vorstellung der Leute dar. Das gleiche ist es, wenn jemand für einenanderen Besitz von einer Sache ergreift; dann ist eigentlich nicht er derBesitzer, sondern jener, für den Besitz ergriffen wird. Item, wenn manden Standbildern verstorbener Fürsten alle Ehren und Zeremonien er-weist, die man dem lebenden König erwiese, so als nach dem Zeugnisdes Sextus Aurelius Victor der bereits verstorbene Trajan in Rom tri-umphierte und sein Standbild auf den Triumphwagen gesetzt wurde.Man könnte kaum sagen, diese Ehren seien den Standbildern im enge-ren Sinn erwiesen worden, sondern den Fürsten, die von den Standbil-dern dargestellt wurden, nicht infolge einer natürlichen Darstellung,sondern durch eine willkürliche, angenommene und durch die Einfüh-rung der Menschen vorgestellte Darstellung.

Diese Beispiele führt der gelehrte Bellarmin an. Es gibt deren nochandere nicht weniger passende; so jenes, das Nicetas Choniates im 5. Buchder Taten des Kaisers Manuel Comnenus vom Bild Unserer lieben Frauanführt, das auf einen vergoldeten Triumphwagen aus Silber gesetzt unddurch die Stadt Konstantinopel geführt wurde, aus Dankbarkeit für denSieg, den der Kaiser dank der Fürbitte der glorreichen Jungfrau über diePannonier errungen hatte. Wer sieht denn nicht, daß bei dieser Feierlich-keit der Triumph nicht dem Bild zugeschrieben wurde, sondern Unsererlieben Frau, die durch das Bild dargestellt war? Außerdem, daß diesesBild die seligste Jungfrau nicht einfach seiner natürlichen Bedeutung nach

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darstellte, sondern infolge einer von den Menschen eingeführten willkür-lichen Vorstellung und Hochschätzung? So sieht man häufig die Bildnis-se und Abbildungen anstelle von Übeltätern geschändet, die man nichtfassen kann: man hängt und verbrennt an ihrer statt ihr Bildnis, als wärensie selbst es; und dabei wird nicht eigentlich das Bild entehrt, sondern derÜbeltäter, an dessen Stelle es gedacht ist. Man sagt auch nicht, man habedas Bild dieses oder jenes Übeltäters gehängt, sondern man habe den oderjenen in effigie gehängt, weil diese Exekutionen an den Bildern nur vorge-nommen werden, insofern man durch Rechtsfiktion die Übeltäter fürgezüchtigt, entehrt und bestraft hält.

Über die natürliche Fähigkeit hinaus, Dinge darzustellen, deren Ab-bildung sie durch die Übereinstimmung und Beziehung zu ihnen sind,können also die Bilder durch die Annahme und Einführung der Men-schen auch zu einer anderen Darstellung und Stellvertretung verwendetwerden. So ist es, um auf unsere Frage zurückzukommen, mit den Ab-bildungen des Kreuzes. Über die natürliche Eigenschaft hinaus, JesusChristus den Gekreuzigten darzustellen, die sie verehrungswürdig durcheine Verehrung der unvollkommenen Latrie macht, darüber hinaus sageich, können sie durch die Wahl und Annahme der Menschen auch dazubestimmt und gebraucht werden, die Stelle und den Platz des Gekreu-zigten einzunehmen, oder vielmehr des echten Kreuzes, insofern es mitdem Gekreuzigten in Verbindung steht. So betrachtet, gilt die Ehre undEhrenbezeugung, die man ihm erweist, eigentlich nur dem Gekreuzig-ten oder dem mit dem Erlöser verbundenen Kreuz und nicht der Abbil-dung des Kreuzes. Sie wird in diesem Fall nur dazu gebraucht, ihreäußere Erscheinung zu leihen, um die äußeren Handlungen entgegen-zunehmen, die dem Gekreuzigten gebühren, den es stellvertretend dar-stellt und versinnbildet, und das dient zum äußeren Bekenntnis der Ver-ehrung, die wir dem Gekreuzigten erweisen.

In diesem Sinn sagte der glorreiche Apostelfürst, der hl. Petrus, als erans Kreuz genagelt war, zum Volk: „Das ist das Holz des Lebens; als derHerr Jesus an ihm erhöht war, hat er alles an sich gezogen. Das ist derBaum des Lebens, an dem der Leib des Herrn, des Erlösers gekreuzigtwurde.“ So berichtet es Abdias von Babylon (wenn der Titel des Buchesnicht trügt) im ersten Buch des ‚Apostolischen Kampfes‘. Und der an-dere Apostel, älter als der hl. Petrus: „Ich grüße dich, Kreuz; du warstdem Leib Christi geweiht und geschmückt mit den Perlen seines Leibes.Gutes Kreuz, du hast deine Schönheit und deinen Glanz von den Glie-dern des Herrn erhalten“, und was im Bericht der Priester von Achaia

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folgt. Wer sieht nicht, daß das Kreuz des einen wie des anderen derBrüder nicht das echte Kreuz des Erlösers war? Und trotzdem sprechensie es ebenso an, als wäre es das gleiche Kreuz des Heils. Woher kommtdas, wenn nicht daher, daß sie ihr Kreuz als stellvertretend und anstelledes echten Kreuzes betrachteten?

Ebenso ist es, wenn die Kirche anordnet, daß das Volk am Karfreitagkniend das Bild des Kreuzes küßt. Es ist ja nicht das Bild, das man zeigt,dem man diese Ehre erweist, außer insofern es Jesus Christus den Ge-kreuzigten darstellt, wie er am Tag seiner Passion war. Seine Stelle nimmtes ein, um einfach diese äußere Huldigung zu empfangen, ohne daß sichdie Absicht im geringsten auf die gegenwärtige Gestalt beschränkt. Dadem so ist, gebraucht man Worte, die das hinreichend enthüllen; dennder Offiziator singt: „Ecce lignum Crucis: Seht das Holz des Kreuzes,an dem das Heil der Welt gehangen“; und man antwortet ihm: „Kommt,laßt uns anbeten.“ Nun achtet man nicht darauf, ob die vorgestellte Ab-bildung aus Bronze, aus Silber oder aus einem anderen Material ist; daszeigt hinlänglich, wenn man es Holz nennt, dann insofern, als man esanstelle und stellvertretend für das echte Kreuz vorstellt. Und in derTat, wie man alle Ehrungen an den Tagen der Geburt, der Passion undAuferstehung Unseres Herrn den Tagen erweist, die sie darstellen undderen Platz einnehmen, entsprechend der Einführung der Jahrestageund Gedächtnisse, die man hält, so erweist man der Abbildung des Kreu-zes nach außen gleiche Ehre wie dem Gekreuzigten, aber es geschiehtnur zum Gedächtnis und auf Grund der Annahme, daß die Abbildungden Gekreuzigten darstellt und seine Stelle zum Empfang dieser äuße-ren Zeremonien einnimmt. Es wäre gewiß schwierig, die äußeren Eh-rungen in einem anderen Sinn umzudeuten, die man im Alten Testa-ment der Bundeslade erwies. Und die Engländer ehren aus der gleichenÜberzeugung den leeren Thron ihrer Königin. Nun, wie dem auch sei,wenn man entweder das Kreuz stellvertretend für den Gekreuzigtenehrt oder etwas anstelle dessen, was es darstellt, dann ehrt man ebensonicht eigentlich sie, wie sie genau genommen nicht das sind, was siedarstellen. Die Verehrung, die man in dieser Weise dem Kreuz erweist,ist also genau genommen nur eine Verehrung im Hinblick auf den Ge-kreuzigten und in Bezug auf das Kreuz ist es nur eine uneigentliche undstellvertretende Verehrung.

Man kann sagen, daß das Kreuz dem äußeren Anschein nach auchnoch irgendwie verehrt wird, wenn man vor dem Kreuz zu Gott betet,ohne andere Absicht als die, zu zeigen, daß man auf Grund des Todes

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und der Passion des Erlösers betet. Man kann aber viel eher sagen, dasheißt nicht das Kreuz mehr oder weniger verehren, da weder die äußerenoch die innere Handlung auf das Kreuz gerichtet ist; nicht mehr undnicht weniger, als wenn wir nach alter Tradition nach Osten gewendetanbeten. Wir beten ja keineswegs den Osten an, sondern zeigen damitnur, daß wir den allmächtigen Gott anbeten, der sich zu uns erhoben hataus der Höhe (Lk 1,78), um jeden Menschen zu erleuchten durch seinKommen in diese Welt (Joh 1,9).

Übrigens können die Partikel des echten Kreuzes, wie wir sie gegen-wärtig besitzen, in die Gestalt eines Kreuzes eingefügt werden (wie esdas heilige Kreuz von Aix in Savoyen ist) und außer den Formen derVerehrung, die sie als Reliquien verdienen, in jeder Weise als Abbil-dung des Kreuzes gebraucht werden. Als daher die selige Paula das ech-te Kreuz verehrte, das sich zu ihrer Zeit in Jerusalem befand, warf siesich, dem Bericht des hl. Hieronymus in ihrer Grabinschrift zufolge,vor ihm nieder, als sähe sie an ihm den Erlöser hangen. Ebenso wird dasKreuzzeichen, das man durch die Handbewegung macht, wie alle Ab-bildungen des Kreuzes gebraucht und teilt folglich alle Ehre mit ihnen;außerdem hat es noch die besondere und ständige Ehre, ein kurzes undmachtvolles Gebet zu sein, weshalb es sehr ehrwürdig ist.

13. Kapitel

Die Verehrung des Kreuzes verstößt nicht gegen das erste Gebotdes Dekalogs. Kurze Auslegung desselben.

Aber ein großer Einwand scheint noch bestehen zu bleiben; denn essteht (Ex 20,5) geschrieben: Du sollst keine anderen Götter neben mirhaben. Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen noch eine Abbildungdessen, was oben im Himmel ist, noch was auf der Erde unten ist, nochvon dem, was in den unterirdischen Gewässern ist. Du sollst sie nichtanbeten und ihnen nicht dienen: denn ich bin der Herr dein Gott und sehreifersüchtig. Es ist also untersagt, Abbildungen des Kreuzes und irgend-welche andere zu haben. Die Schismatiker und andere Gegner der Kir-che schöpfen aus diesem Gebot eifrig alle Schmähungen, die sie gegendie Katholiken ausstoßen, so wenn sie diese Götzendiener nennen, aber-gläubisch, übelriechend, von Sinnen, herzlos, wie es der kleine Traktantan mehreren Stellen tut. Es wird also gut sein, das Gebot gut zu erwägenbezüglich des von ihm erlassenen Verbots, keinerlei Bilder zu machen.

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Das ist es, was unseren Gegenstand betrifft.1. Die Juden nehmen die Worte dieses Verbots so genau, daß sie alle

Bilder ablehnen, welcher Art sie auch sein mögen, und großen Haßgegen sie haben, wie der kleine Traktant (B.T. 11) sagt. Diese Meinungist ganz ungebildet. Die Bilder der Kerubim, Löwen, Kühe, Granatäpfelund Palmen, der ehernen Schlange sind von der Heiligen Schrift (Ex 25,18; 1 Kön 6,23.29; 7,29.42; Num 21,9) gutgeheißen; die Söhne Rubens,Gad und Manasse, machten ein Abbild des Altares Gottes (Jos 22,10.30),und ihr Werk wurde gebilligt; die Juden zeigten Jesus das Bildnis desKaisers (Mt 22,19-21), und er hat es nicht zurückgewiesen. Die Kirchehatte zu allen Zeiten die Abbildung des Kreuzes, wie ich im zweitenBuch nachgewiesen habe. Von Natur aus macht man das Bild von sichselbst in den Augen derer, die uns ansehen, in der Luft, im Wasser, imGlas, und die Malerei ist eine Gabe Gottes und der Natur. Diese Ausle-gung widerspricht also der Heiligen Schrift, der Kirche, der Natur undist in keiner Weise anwendbar für die ersten Worte, die eine Vielzahlvon Göttern verbieten, wozu das Verbot der Bilder nichts dient; nochauf die folgenden Worte, die die Anbetung von Bildnissen verbieten;denn wozu die Anbetung verbieten lassen, wenn es nicht erlaubt ist, siezu besitzen und zu machen? Wenn man überhaupt verbietet, irgendeinBildnis zu haben, wozu ist es dann notwendig, dessen Anbetung zu ver-bieten?

2. Eine große Zahl von Schismatikern und Streitsüchtigen gibt zu, daßin dem Gebot, von dem hier die Rede ist, nicht verboten wird, Bildnisseund Bilder zu haben und zu machen, sondern nur, sie in Kirchen undTempeln aufzustellen und zu machen (B.T. 49). Diese Meinung wider-spricht noch offenkundiger der Heiligen Schrift als die vorhergehende:denn die Juden und Mohammedaner haben wenigstens einen Vorwandin den Worten des Gebots, die ganz einfach lauten, daß man keinerleiAbbild machen darf; aber die von diesem anderen Bündnis vermöchtennicht ein einziges Wort der Heiligen Schrift anzuführen, das besagte, essei weniger erlaubt, Bilder in Kirchen zu haben als anderswo. Die Judenhaben in dieser Frage wenigstens einen gewissen Schein der HeiligenSchrift für sich, aber diejenigen, die immer nur nach der Heiligen Schriftschreien, haben davon weder den Sinn noch den Schein, und trotzdemerklären sie jeden, der nicht an ihr Wort glaubt, als Götzendiener undAntichrist. Aber ich bitte euch, wo befanden sich denn die Abbildungender Kerubim, Kühe, Löwen, Granatäpfel und Palmen des Alten Bun-des, wenn nicht im Tempel! Und was die Kerubim betrifft, an der heilig-

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sten Stätte.Das ist ein großes Vorbild für uns; wer es unseren Händen entreißen

will, muß eine große Autorität als Gewährsmann anführen. Unser Vor-bild steht in der Heiligen Schrift; um uns an seiner Nachahmung zu hin-dern, bedarf es einer ebenso großen Autorität; dazu genügt es nicht, Wor-te zu machen. Gott hat die Ausschmückung dieses alten Tempels mitBildern angeordnet angesichts eines Volkes, das so zum Götzendienstneigte; wer will es der Kirche verwehren, die ihren mit Erinnerungen andas Kreuz zu schmücken und an die ruhmvollen Streiter, die unter dieserFahne jeden Götzendienst überwunden haben? Sie hat es gewiß auch zuallen Zeiten getan; sie hatte nie (daß man es wüßte) ein Gotteshaus ohneKreuz, wie ich oben (Zweites Buch, 6. Kapitel) nachgewiesen habe. Wenndie Kirchen Häuser des Königs der Könige sind, dann ist ihre Ausschmük-kung sehr angebracht. Der Tempel ist ein Bild des Paradieses, warumsollte man in ihm nicht Abbildungen dessen anbringen, was es im Para-dies gibt? Welch heiligeren Schmuck könnte man darin anbringen?

Und über all das hinaus, diese von den Neuerern so sehr geprieseneAuslegung stimmt keineswegs mit der Absicht des Gesetzes überein,die alle Abgötterei verwerfen will. Kann man denn nicht außerhalb derTempel ebensogut wie in ihnen Götzenbilder haben und Abgötterei be-treiben? Das Götzenbild Labans (Gen 31,19) hörte nicht auf, ein Göt-zenbild zu sein, obwohl es nicht in der Kirche war, ebenso nicht dasgoldene Kalb (Ex 32,4). Dieses Gebot hätte also demnach nicht jedeAbgötterei hinreichend verwehrt.

3. Andere haben gesagt, von diesem Verbot seien die anderen Abbil-dungen nicht betroffen, außer jenen, die gemacht sind, um Gott nachseinem Wesen und seiner göttlichen Natur unmittelbar und förmlichdarzustellen. Sie haben die Wahrheit gesagt in dem Punkt, daß die Bil-der Gottes im engeren Sinn verboten sind; aber sie haben das Gebotschlecht verstanden, wenn sie meinen, darin seien andere Abbildungenals jene Gottes nicht verboten.

Es gibt keinen Zweifel, daß sie im ersten Punkt recht haben, denn siesprechen von äußerlichen, materiellen und künstlichen Bildern. Nun,solche Bilder im engeren Sinn müssen die Form und Gestalt dessen dar-stellen, wessen Bild sie durch die Ähnlichkeit mit ihm für die äußerenSinne sind. Aber die äußeren Sinne sind nicht fähig, durch irgendeineErkenntnis die unendliche und unsichtbare Natur Gottes zu erfassen.Und welche Form und Gestalt könnte eine Ähnlichkeit haben mit derNatur, die weder Form noch Gestalt hat und unvergleichbar ist? Das sei

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gesagt, ohne die Bilder zu verwerfen, auf denen man Gott Vater als Greisdarstellt und den Heiligen Geist in der Gestalt einer Taube oder feurigerZungen; sie sind ja nicht eigentlich Bilder Gott Vaters oder des HeiligenGeistes, sondern sind Bilder der Erscheinungen und Gestalten, durch dieGott sich der Heiligen Schrift zufolge geoffenbart hat. Diese Erscheinun-gen und Gestalten stellen Gott nicht nach Art eines Bildes dar, sondernnach Art einfacher Zeichen. So waren der brennende Dornbusch undähnliche Erscheinungen nicht Bilder Gottes, sondern Zeichen von ihm;und alle Darstellungen geistiger Dinge sind nicht so sehr Bilder dieserDinge als Formen und Erscheinungen, durch die diese Dinge kundgetanwurden. Man verwirft ebenfalls nicht die mystischen Bilder und Gestal-ten, wie die eines Lammes, um den Erlöser darzustellen, oder von Tau-ben, um die Apostel zu versinnbilden, denn das sind nicht Bilder derDinge, die sie versinnbilden, ebensowenig wie die Ausdrücke oder dieBuchstaben Bilder dessen sind, was sie bezeichnen. Sie stellen lediglichfür die äußeren Sinne Dinge dar, die durch die Sprache Dinge in Erinne-rung bringen, die auf Grund irgendeiner geheimen Übereinstimmung aufmystische Weise versinnbildet werden. Trotzdem möchte ich mit demgelehrten Bellarmin meinen, man sollte diese Bilder mystischer Dingenicht zu sehr vermehren und es sollte nicht zulässig sein, solche ohne dasUrteil eines erfahrenen Theologen zu machen.

Doch schließlich sage ich, daß das Gebot Gottes viel weitreichenderist, als diese Überlegung reicht. Denn wenn dieses Gebot nur verbietet,Bilder der Gottheit zu machen, wozu sollte es im einzelnen verbieten,irgendein Abbild der Dinge zu machen, die im Himmel, auf Erden undin den Gewässern sind? Soll außerdem einer, der das Götzenbild einergeschaffenen Sache anbetet, kein Götzendiener sein im Gegensatz zudiesem Gebot? Also ist diese Auslegung nicht rechtmäßig und entsprichtnicht dem Gesetz.

4. Hier ist daher schließlich das rechte und christliche Verständnisdieses Gebotes, dargestellt der Reihe nach so kurz und klar, wie ich esvermag.

1) Die Abgötterei besteht in zweierlei Akten: die einen sind innere;durch sie glaubt und anerkennt man als Gott, was nicht Gott ist. Dieanderen sind äußere; durch sie gibt man dem Inneren Ausdruck durchäußere Verneigungen und Unterwerfung. Die Akte der ersten Art kön-nen ohne die der zweiten sein und gleicherweise die der zweiten ohnedie der ersten; denn wer Götzen ergeben ist, obwohl er es nach außen inkeiner Weise zeigt, der ist ein Götzendiener, und wer die Götzenbilder

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freiwillig äußerlich anbetet oder verehrt, obwohl er keine Zuneigung zuihnen hat, der ist äußerlich ein Götzendiener, und sowohl der eine wieder andere fehlt gegen die Gott gebührende Ehre. Die inneren Akte derAbgötterei sind verboten durch die Worte: Du sollst keine anderen Göt-ter neben mir haben; die äußeren sind verworfen durch die folgenden:Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen noch irgendein Abbild; dusollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen.

Diese zwei Verbote, die nur dasselbe Ziel haben, jeden Götzendienst zuverwerfen, machen nur ein einziges Gebot aus, das aus zwei Teilen be-steht. Wenn dem so ist, woran ich nicht zweifle, muß man dieses Verbot,keinerlei Abbild zu machen, nicht absolut und schlechthin auffassen, son-dern vom Ziel und der Absicht des Gebotes her, so als ob es lautete: Dusollst keine anderen Götter außer mir haben; du sollst dir kein geschnitztesBild noch irgendein Abbild machen, nämlich, um sie für Gott zu halten,noch sollst du sie als solche anbeten und ihnen dienen. Auf diese Weisewird alles, was in diesem Gebot ausgesprochen ist, vollständig auf deneinen Punkt zurückgeführt, keinen anderen Gott als den wahren Gott zuhaben, keiner Sache irgendeine Ehre zu erweisen, die seiner göttlichenMajestät gebührt, und insgesamt kein Götzendiener zu sein.

2) Wenn aber jemand daran festhalten will, das Verbot, keinen anderenals allein den wahren Gott zu haben, das sei ein eigenes Gebot, getrenntvon dem anderen Verbot: Du sollst dir kein geschnitztes Bild oder irgendeinAbbild machen, dann will ich mich nicht dabei aufhalten, ihn durch kräf-tige Gründe zu widerlegen, die ich zu diesem Zweck anführen könnte,und mich damit begnügen, wenn er mir zustimmt, daß das Verbot, keiner-lei Abbild zu machen und es anzubeten, nur ein und dasselbe Gebot ist.(Das kann man gewiß in keiner Weise leugnen, außer man wollte, imGegensatz zum reinen und ausdrücklichen Wort der Heiligen Schrift,mehr als zehn Gebote schaffen und diesen Gesetzen den Namen Dekalognehmen). Denn wenn es nur ein einziges Gebot ist, das verbietet, irgend-ein Bildnis zu machen und es anzubeten, dann muß der eine oder andereder zwei Teile, die es enthält, der hauptsächliche und fundamentale seinund der andere sich auf ihn als sein Ziel und seine Absicht beziehen: dennwenn der eine sich nicht auf den anderen bezöge und nicht von ihm ab-hängig wäre, wären es zwei Gebote und nicht ein einziges.

Nun bitte ich euch, welchen Teil dieses zweiten Gebotes (ich sage so,um einen Streit zu vermeiden) soll man für den wichtigsten halten? Ent-weder den: Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen noch irgendeinBildnis, oder diesen: Du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen?

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Man kann wahrhaftig nicht behaupten, das Verbot, irgendein Bildnis zumachen, sei die Absicht und das Ziel des ganzen Gebotes; denn unterdieser Voraussetzung dürfte man überhaupt kein Bild haben und machen,aber das ist eine allzu große Übertreibung. Und wie könnte man übrigensdas Verbot, Bilder anzubeten, auf jenes zurückführen, sie zu machen?Wenn es verboten ist, sie zu machen, wozu dann noch verbieten, sie zuverehren? Ohne sie zu machen, kann man sie nicht anbeten, daher wäreetwas allzu Überflüssiges in diesem Gebot, mehr als in anderen. Daher istder wichtigste Teil dieses Gebotes, seine ganze Substanz, seine Absichtund sein Ziel das Verbot, Götzenbilder und Bildnisse von geschaffenenDingen anzubeten und ihnen zu dienen; und der andere Teil, sie nicht zumachen, bezieht sich darauf, sie nicht anzubeten und ihnen nicht zu die-nen, so als hieße es: Du sollst dir kein geschnitztes Bild und kein Bildnismachen, um es anzubeten und ihm zu dienen.

Das ist der wahre Kern dieses Gebotes. Das kann man offensichtlicherkennen aus den großen Vorzügen, die diese Auslegung vor den ande-ren hat, denn:

1) Sie ist klar dem Wort Gottes entnommen. Was dort an einer Stelledunkel gesagt ist, wird gewöhnlich an einer anderen deutlicher gesagt,namentlich bei wichtigen und notwendigen Artikeln. Was nun hier durchdie doppelte Verneinung gesagt ist: Du sollst kein geschnitztes Bild ma-chen noch irgendein Bildnis; du sollst sie nicht anbeten und ihnen nichtdienen, steht im Levitikus (26,1) rein und einfach, wie wir es erklären,folgendermaßen: Ihr sollt euch keine Götzenbilder machen, ihr sollt kei-ne Standbilder aufstellen und kein Steinmal in eurem Land, um es anzu-beten. Und wo Gott im Exodus (20,23) sein erstes Gebot einprägt, sagter: Ihr sollt euch keine Götter aus Silber und Gold machen. Damit zeigter hinreichend: wenn es verboten ist, irgendein Bildnis zu machen, dannnur, damit man es nicht mache, um Götzendienst zu treiben.

2) Diese Auslegung ist sehr gut vereinbar mit allen Teilen nicht nurdes ersten Gebotes, sondern der ganzen ersten Tafel, die nur die Sacheder wahren Ehre Gottes zum Ziel haben. Sie beseitigt ja jeden Anlaßzum Götzendienst und zu jeglichem Aberglauben, die Gottes Eifer-sucht kränken können, ohne jedoch jeden rechten Gebrauch von Bil-dern auszuschließen, noch Gott eine ungeordnete und maßlose Eifer-sucht zuzuschreiben, entsprechend dem, was ich im Vorwort gesagt habe.

3) Und wie diese Auslegung die rechte Verwendung von Bildern inkeiner Weise ausschließt, worin die Juden und Türken irren, so verwirftund beseitigt sie auch jede Verwendung von Bildern, Statuen und Dar-

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stellungen, die der Ehre Gottes widerspricht, nicht nur in Tempeln undKirchen, wie manche Neuerer törichterweise meinen, was nicht genügt,und nicht nur von Abbildungen, die gemacht sind, um die Gottheit dar-zustellen, wie einige andere meinen, was ebensowenig genügt, sondernjede abgöttische Verehrung. Das ist der wahre und einzige Zweck diesesersten Gebotes.

4) Fügt die Übereinstimmung der inneren Abgötterei mit der äußerenhinzu. Die (innere) Abgötterei besteht nicht darin, sich in der Seele dieGeschöpfe durch anschauliche Gestalten und Bilder vorzustellen, son-dern nur, sie sich als Gottheiten vorzustellen, genau so besteht die äußereAbgötterei nicht darin, sich die Geschöpfe durch die sinnfälligen Dar-stellungen und Bilder zu vergegenwärtigen, sondern nur darin, sie alsGottheiten darzustellen. So wie daher das Gebot: Du sollst keine anderenGötter neben mir haben, nicht verbietet, sich die Geschöpfe innerlichvorzustellen, so verwehrt auch das Verbot: Du sollst dir keinerlei Bildnismachen, nicht, die Geschöpfe äußerlich darzustellen, sondern sie als Gottdarzustellen, indem man sie anbetet und ihnen dient. Das alles ist verbo-ten, sowohl für den inneren als auch für den äußeren Bereich.

5) Überdies stimmt diese Auslegung durchaus mit der ältesten undkatholischen Übung der heiligen Kirche überein, die immer Bilder hatte,namentlich solche des Kreuzes, was soviel bedeutet wie versichern, daßes der Absicht des Heiligen Geistes entspricht. Kurz, das Wort Tertulli-ans ist sehr wahr: „Non videntur similitudinum prohibitarum legi refra-gari non in eo similitudinis statu deprehensa ob quem similitudo prohi-betur: Nicht diese Dinge da scheinen dem Gesetz der verbotenen Bildnis-se zu widersprechen, die sich nicht im Zustand und in der Beschaffenheiteines Bildnisses befinden, weshalb das Bildnis verboten ist.“

Möge man daher Abbildungen des Kreuzes haben auf Feldern, in Städ-ten, auf den Kirchen, in den Kirchen, auf den Altären; das alles ist nurgut und heilig. Sie sind ja gemacht, aufgestellt und verwendet zur Erhal-tung der schuldigen Erinnerung an die Wohltaten Gottes und um seinegöttliche Güte um so mehr zu ehren, wie ich im ganzen Verlauf dieserBücher gezeigt habe. Daher kann es nicht in der ersten Tafel verbotenworden sein, die nur die Errichtung des wahren Dienstes Gottes und dieÜberwindung des Götzendienstes zum Ziel hat. Ebenso daß man dasKreuz in allem und überall ehrt, da man es nur verehrt, um Gott um somehr zu ehren; daß alle Verehrung, die man ihm erweist, bedingt undabhängig ist oder der höchsten Verehrung zugehörig, die man der göttli-chen Majestät schuldet; daß sie nur ein Ast dieses großen Baumes ist:

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Das alles ist in keiner Weise verboten, weil dieses Abbild und dieseDarstellung zu keiner Handlung verwendet wird, deretwegen die Bild-nisse verboten sind, d. h. weder ein Götzendienst noch Gegenstand derAbgötterei. Es ist weit davon entfernt, das zu sein, denn das Götzenbildist nichts anderes als die Darstellung einer Sache, die nicht die Beschaf-fenheit hat, wie man sie darstellt, und ein Trugbild, wie Habakuk (2,18)und der hl. Paulus (1 Kor 8,4) sagen. Das Kreuz dagegen stellt etwasganz Echtes dar, nämlich den Tod und die Passion des Erlösers; undman fertigt es nicht an, um es anzubeten und ihm zu dienen, sondern umin ihm und durch es den Gekreuzigten anzubeten und ihm zu dienen,entsprechend dem wahren Wort des hl. Athanasius: „Qui adorat imagi-nem, in illa adorat ipsum Regem“ (Wer das Bild verehrt, betet in ihmden König selbst an). Deshalb ist der rechte Gebrauch von geweihtenund heiligen Bildern in keiner Weise verboten, sondern ist geboten undin allem enthalten, wo geboten wird, Gott anzubeten und seine Heiligenzu verehren, denn es ist eine rechtmäßige Form, eine Person zu ehren,wenn man ihr Bild und Porträt anfertigt, um es nach Maßgabe seinesVerhältnisses zum Wert des Hauptgegenstands hochzuschätzen.

14. Kapitel

Bekenntnis Calvins zum Gebrauch von Bildern.

Unter allen Neuerern und Reformatoren hat es nach meiner Meinungkeinen so scharfen, streitsüchtigen und unversöhnlichen gegeben wieCalvin. Keiner hat der heiligen Kirche mit solcher Heftigkeit und sol-chem Ingrimm widersprochen wie er, noch hat einer eifriger nach Gele-genheiten dazu gesucht, vor allem bezüglich der Verwendung von Bil-dern. In seinem Kommentar zu Josua habe ich ein großes und klaresBekenntnis zugunsten des rechten Gebrauchs von Bildern gefunden;deswegen wollte ich es an den Schluß dieses Buches setzen, damit manerkenne, wie mächtig die Wahrheit des katholischen Glaubens ist, dieden Händen dieses großen und grimmigen Feindes entschlüpft und ent-sprungen ist, der sie ungerecht unterdrückt (Röm 1,18). Damit nun al-les besser gewertet werde, will ich sowohl seine Worte als auch denGegenstand seiner Aussage ausführlich behandeln.

Die Söhne Israels hatten bereits das Land der Verheißung in Besitzgenommen, die Lose und Anteile waren jedem Stamm zugewiesen, sodaß der große Josua glaubte, den Stamm Ruben, Gad und die Hälfte von

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Manasse entlassen zu müssen. Sie hatten schon ihr Los und ihren Anteiljenseits des Jordan in Besitz genommen und erhalten, waren aber trotz-dem den übrigen Söhnen Israels in allem und überall zu Hilfe gekom-men, um sie in den friedlichen Besitz jenes Teils des Landes zu bringen,den Gott ihnen verheißen hatte, um gleichsam einer für den andereneinzustehen. Als nun die zwei Stämme und der Halbstamm entlassenwaren, um sich an den Ort ihrer Anteile im Land Gilead zurückzuzie-hen, und sie im Gebiet des Jordan angekommen waren, errichteten siedort einen Altar von ungeheurer Größe.

Die Söhne Israels, die im Land Kanaan verblieben, erfuhren von derErrichtung dieses Altars und zweifelten, ob die Rubeniten, Gaditen undder Halbstamm Manasse durch diesen Altar nicht ein Schisma und eineSpaltung der Religion vom übrigen Volk Gottes herbeiführen wollten.Um die ganze Wahrheit darüber zu erfahren, schickten sie daher Pin-has, den Sohn des Hohepriesters Eleasar, als Abgesandten zu ihnen. Dersetzte eine schlechte Absicht bei der Errichtung des Altars voraus undrügte dessen Erbauer zunächst streng, als hätten sie eine Neuerung inder Religion einführen und Altar gegen Altar setzen wollen. Daraufantworteten die zwei Stämme und der Halbstamm, sie befürchteten,daß in Zukunft die Nachkommen der anderen Stämme ihren Kindernden Zutritt zum echten Altar, der sich in Kanaan befand, verwehrenkönnten unter dem Vorwand der Trennung des Wohnsitzes der einenvon dem der anderen durch den Jordan, da der eine diesseits, der anderejenseits dieses Flusses liege. Und deshalb, das waren ihre Worte, habenwir gesagt, wenn sie so zu uns oder zu unseren Nachkommen sagen soll-ten, werden wir ihnen antworten: Seht das Abbild des Altars des Ewigen,das unsere Väter gemacht haben, nicht für Brand- und Schlachtopfer,sondern damit er Zeuge zwischen euch und uns sei (Jos 22,26-28).

So übersetzt Calvin, und zur Entschuldigung der zwei Stämme unddes Halbstamms gibt er folgenden Kommentar: „Trotzdem lag schein-bar noch ein gewisser Fehler bei ihnen, weil das Gesetz verbietet, Stand-bilder jeglicher Art zu errichten. Aber die Entscheidung fällt leicht,weil das Gesetz keinerlei Bilder verbietet außer jene, die dazu dienen,Gott darzustellen. Dagegen hat das Gesetz nie mit irgendeinem Satzverboten, ein Steinmal zu errichten, sei es als Siegeszeichen oder umZeugnis für ein Wunder zu geben, das geschehen ist, oder um eine her-vorragende Wohltat Gottes in Erinnerung zu rufen; andernfalls hättensich sowohl Josua als auch viele heilige Richter und Könige, die nachihm kamen, durch eine profane Neuerung befleckt.“

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Dieser Kommentar ist beachtenswert, denn er war die letzte Arbeitseines Verfassers (wie Beza in seinem Vorwort dazu sagt), die ihn aucham besten kennzeichnet. Folglich muß das, was in ihm gesagt wird, al-lem vorgezogen werden, was er in seinen anderen Schriften unüberlegtund in der Hitze des Streites, den er entfacht hat, gesagt hat. Vor allemaber gibt der Text Anlaß zu einer ausgezeichneten Betrachtung über dieEinführung des rechten Gebrauchs von Bildern und Darstellungen hei-liger Dinge. Erwägen wir ihn daher und beschließen diese ganze Ab-handlung im Namen Gottes.

15. Kapitel

Erwägung über den angeführten Text aus Josuaund Schluß dieses ganzen Werkes.

Die zwei Stämme und der Halbstamm einerseits wurden also als derSpaltung verdächtig verhört wegen der Errichtung der Nachbildung desAltars, die sie errichtet hatten, und wir andererseits als der Abgöttereischuldig und des Aberglaubens angeklagt wegen der Abbildung des Al-tars des Kreuzes, die wir überall anbringen und errichten. Die Beschul-digungen gleichen sich fast, aber:

1. Die Angeklagten und die Ankläger sind im einen und im anderenFall sehr verschieden; denn die Ankläger der zwei Stämme und desHalbstamms waren die zehn Stämme Israels; im Vergleich zu den zweiStämmen und dem Halbstamm waren sie erstens die Mehrheit und dieKörperschaft der Kirche, die zwei und der Halbstamm waren nur einGlied und ein Teil von ihr. Zweitens waren die zehn im Besitz des ech-ten Zeltes und Altars, die zwei und der Halbstamm hatten davon nur dieKenntnis. Drittens hatten die zehn Stämme ihrerseits und bei sich denLehrstuhl des Mose, die Priesterwürde, die Hirtengewalt in der Nach-folge Aarons, die zwei und der Halbstamm waren nur ein einfachesVolk und ein Teil der Herde. Das gab den zehn Stämmen ein großes,offenkundiges und gediegenes Recht, die zwei und den Halbstamm we-gen ihres Tuns zurechtzuweisen, da sie ihnen an Zahl, Würde und Vor-rang bei weitem nachstanden.

Wenn wir unsere Lage, die wir Katholiken sind, betrachten und dieder Neuerer, die uns so hart beschuldigen, dann werden wir sehen, daßhier alles umgekehrt ist. 1) Die Katholiken, die angeklagt werden, sindder Stamm und der Körper der Kirche; die Neuerer sind nur abgebro-

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chene Äste und abgetrennte Glieder. 2) Die Katholiken sind im festenund zweifelsfreien Besitz des Titels der wahren Kirche, das Zelt Gottesunter den Menschen (Offb 21,3), der Altar, auf dem allein der Duft desWohlgeruchs Gott wohlgefällig ist (Ez 20,40f; Eph 5,2); die Neuerer,die nur aus der Erde sprießen wie Pilze, haben davon nur eine leere undkraftlose Anmaßung. 3) Die Katholiken haben in sich und zu ihrenGunsten den Lehrstuhl des hl. Petrus, die Priesterwürde, das Hirtenamtund die apostolische Nachfolge; ihre Ankläger sind Neuankömmlingeohne anderen Lehrstuhl als jene, die sie selbst errichtet haben, ohnepriesterliche Würde, ohne Hirtenamt und ohne das Recht der Nachfol-ge, Gesandte ohne Sendung, Abgeordnete ohne Delegation, Kinder ohneVater, Vollstrecker ohne Auftrag. Das sind Punkte, die das ganze Ver-fahren der Anklage der Reformatoren gegen uns als Katholiken zweifel-haft machen, ja des Verbrechens überführen; in diesen Punkten sind sieuns auf so vielfache Weise und so offenkundig unterlegen.

2. Es gibt noch einen anderen Unterschied zwischen dem Gegenstandder Anklage, die gegen die zwei Stämme und den Halbstamm vom übri-gen Israel erhoben wurde, und der, welche die Neuerer gegen uns erhe-ben, der sehr beachtenswert ist. Die Errichtung von Zeichen und Bild-nissen dient als Anstoß für die eine wie für die andere: für die eine dieNachbildung des Altars des Gesetzes, für die andere die Errichtung derAbbildung des Altars des Kreuzes; aber zum Unterschied zwischen dereinen und der anderen Errichtung ist zu sagen, daß die Errichtung desAltars des Gesetzes etwas offenkundig Neues war, die folglich gut erwo-gen werden mußte, wie es mit einigem Argwohn geschah, und daß ihrerBilligung eine genaue Prüfung vorausging; aber die Errichtung der Ab-bildung des Altars des Kreuzes, die in der Kirche zu allen Zeiten ge-schah, besaß durch ihr Alter eine weitreichende Ausnahme von jederRüge und Anklage.

3. Außerdem gab es noch einen großen Unterschied in der Vorgangs-weise bei der Beschuldigung. Obwohl die zehn Stämme den zweien unddem Halbstamm überlegen sind, stürzen sie sich nicht leichtfertig inden Krieg, sondern 1) sie schicken eine ehrenvolle Gesandtschaft zuden Beschuldigten, um ihre Absicht bei der Errichtung ihres neuen Al-tars zu kennen; und zu diesem Zweck machen sie 2) die heilige Autori-tät ihres Hohepriesters und Hirten sowie die bürgerliche ihrer wichtig-sten Oberhäupter geltend; 3) sie verlangen nicht absolut, daß der betref-fende Altar abgetragen und zerstört werde, sondern einfach, daß diezwei Stämme und der Halbstamm, wenn sie einen zweiten Altar errich-

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ten, keine Spaltung oder Trennung in der Religion herbeiführen; 4) sieführen für ihre Zurechtweisung keine andere Autorität an als die derKirche: So spricht die ganze Gemeinde des Ewigen (Jos 22,16). O heili-ges und heilsames Vorgehen!

Ganz im Gegenteil dazu haben die Reformatoren, unsere Ankläger,obwohl sie uns offenkundig unterlegen sind, 1) sich mit einem Satz inBlitz und Ungewitter, Stürme und Hagelschlag an Lästerungen, Belei-digungen, Vorwürfen und Verleumdungen gestürzt; sie haben ihre Zun-ge und ihre Feder mit den schärfsten Pfeilen bewaffnet, die man imNachlaß der ältesten Feinde der Kirche finden konnte, und haben siesogleich mit solcher Wut abgeschossen, daß wir schon verloren wären,wenn uns nicht die göttliche Wahrheit mit ihrem undurchdringlichenSchild (Ps 91,5) gedeckt hätte (ich lasse den weltlichen Krieg außeracht, den sie durch diese bewaffneten Evangelisten überall schürten, wosie Zutritt hatten). 2) Bei ihrer angeblichen Reformation haben sie nurdie weltliche Frechheit von Schafen gegen ihre Hirten angewandt, vonUntergebenen gegen ihre Vorgesetzten und die Verachtung des evange-lischen Hohepriesters, des Stellvertreters Jesu Christi. 3) Aus eigenerErmächtigung haben sie die errichteten Kreuze umgestürzt, zerschla-gen und zerstört, ohne jede Prüfung des gerechten Anspruchs noch desbehaupteten Rechtes derjenigen, die sie errichtet haben. 4) Gegen dieoffenkundige Übereinstimmung der ganzen Kirche widersprachen sieoffen der ganzen Gemeinde des Ewigen, den allgemeinen Konzilen, derständigen Übung der Christen. Diese großen Unterschiede zwischenunseren Anklägern, deren Gegenstand und Vorgangsweise einerseits undden Anklägern oder vielmehr Prüfern der zwei Stämme und des Halb-stamms, deren Gegenstand und Vorgangsweise andererseits setzen ei-nen vierten Unterschied voraus und führen zu einem fünften.

4. Sie setzen einen großen Unterschied der Absicht bei den einen undden anderen voraus. Die zehn Stämme hatten kein anderes Ziel, als dieSpaltung und Trennung zu verhindern; es war die Liebe, die sie zu die-sem Dienst der Zurechtweisung drängte. Wer könnte den Eifer gebüh-rend loben, den sie in dem Angebot an diejenigen zeigten, die sie zu-rechtweisen wollten? Wenn das Land eures Erbbesitzes unrein ist, dannzieht hinüber in das Land des Erbbesitzes des Ewigen, in dem das Zeltdes Ewigen aufgeschlagen ist; ihr sollt euren Besitz unter uns haben undeuch nicht auflehnen ... (Jos 22,19). Das ist ein Angebot, würdig derGemeinde Gottes.

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Dagegen atmet das ganze Vorgehen der Reformatoren gegen uns nurAuflehnung, Haß und Spaltung. Ihre Angebote bestehen nur darin, ih-nen die Leitung der Kirche zu überlassen, sie regieren und herrschen zulassen, uns der Willkür ihrer Satzungen zu unterwerfen. Was den beson-deren Punkt betrifft, der zur Frage steht, haben sie deutlich erkennenlassen, daß sie zum Zerschlagen und Zerstören der Kreuze aus Steinund aus Holz von keiner anderen Leidenschaft getrieben wurden als vonder, die Kreuze aus Gold und Silber zu rauben und zu stehlen. Damithaben sie die alte christliche Disziplin umgestoßen, die das Kreuz nurwegen seiner Gestalt hochschätzt, während sie es nur wegen des Materi-als schätzen.

5. Aber was war schließlich die Folge so vieler Unterschiede? Sicherdas, was man davon erwarten mußte: aus verschiedenen Ursachen ver-schiedene Wirkungen. Die zehn Stämme, die wegen so vieler Vorrechteund Gründe das Recht zur Zurechtweisung hatten, haben kaum die Er-klärung über die Absicht der zwei Stämme und des Halbstamms gehört,da nehmen sie diese freundlich an, und ohne die Antwort und Rechtfer-tigung der Beschuldigten durch irgendeine Erwiderung oder Auflage zubelasten, schenken sie ihrem Wort volles Vertrauen. Die Liebe drängtsie ebenso, an der Errichtung des neuen Altars Anstoß zu nehmen unddie Rechtfertigung jener anzunehmen, die ihn errichtet hatten. Der Fallwar dennoch in religiöser Hinsicht sehr kitzlig; die Trennung der Wohn-gebiete erregte sehr zu Recht den Verdacht des Schismas: aber die Liebeist langmütig, sie ist gütig, sie denkt nicht schlecht, sie hat kein Gefallenam Unrecht, sondern freut sich über die Wahrheit; sie glaubt alles (1 Kor13,4-7).

Die katholische Kirche, mit so vielen hervorragenden Vorzügen undklaren Kennzeichen ihrer Echtheit und Heiligkeit, kann dagegen keinenoch so heilige Entschuldigung finden und keine noch so feierlicheRechtfertigung für ihre Absicht bei der Errichtung der Kreuze anfüh-ren, die ihre Ankläger nicht als Gottlosigkeit und Abgötterei zu verdre-hen suchten, so sehr sind sie die geborenen Ankläger ihrer Brüder (Offb12,10). Wir können noch so sehr die Geradheit unserer Absichten, dieReinheit unseres Ziels betonen, diese Hergelaufenen, diese Nachkom-men Abirams und Michals mißachten alles, schänden alles. Es gibt kei-ne Entschuldigung, die sie nicht beschuldigen, es gibt keine Begrün-dung, die sie gelten lassen. Man kann nicht mit ihnen leben, außer mitgebundenen Händen und Füßen, um sich in alle Abgründe ihrer Auffas-sungen hineinreißen zu lassen. Sie betrachten alles nur von ihren Plä-

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nen her; alles was sie sehen, erscheint ihnen schwarz und verkehrt undihrer reformierenden Hand bedürftig, so glühende Reformatoren sindsie. Wir graben es in Stein und Erz, wir beteuern vor Himmel und Erde:

Es ist nicht der Stein und das Holz,was der Katholik anbetet,sondern Gott, am Kreuz gestorben,der das Kreuz mit seinem Blut adelt.

(Wir beteuern), daß wir das Bild des Kreuzes anfertigen, um seineGottheit darzustellen, aber als Zeichen und Trophäe des Sieges, denunser König errungen, als Zeugnis des großen Wunders, durch das dasLeben sterblich wurde und den Tod lebenspendend machte, und um dieunbegreifliche Großtat unseres Erlösers in Erinnerung zu rufen. FürCalvin, der diese Anlässe (ungeachtet der Strenge des Gesetzes) fürlegitim hält, um Abbilder zu verfertigen, wo es sich darum handelt, diezwei Stämme und den Halbstamm zu entschuldigen, für Calvin, sageich, und für die anderen Reformatoren ist das bei uns Scheinheiligkeit,Mißbrauch und Greuel. Um das Gift ihrer Reformation herzustellen,trachten sie, die ehrlichsten Absichten zu verdrehen und zu verdächti-gen. Unsere heiligen Entschuldigungen oder vielmehr unsere vernünfti-gen Erklärungen sollten sie zur Beruhigung und Befriedung ihres sounruhigen Gewissens annehmen, ohne sich weiter zu entsetzen und zuerregen in ihrem eitlen Wahn vom angeblichen Götzendienst des Kreu-zes; aber selbst das weisen sie zurück und verabscheuen es am meistenund nennen es aus Verachtung und Geringschätzung ein ‚Schlafmittel‘.33

Sie sind unversöhnliche Feinde; ihr Herz ist aus Staub, die Klarheitverhärtet es. Es gibt keine Genugtuung, die sie zufriedenstellt. Wennman sich ihrem unbarmherzigen Tadel nicht beugt, gibt es kein Mittelgegen ihren wütenden Groll. Was sollen wir daher mit ihnen machen?Sollen wir aufhören, uns für ihr Heil einzusetzen, da sie nicht einmaldessen Kennzeichen sehen können? Aber wie könnten wir am Heil ir-gendjemandes verzweifeln, wenn wir die Kraft und die Ehre des Kreu-zes bedenken? Es allein ist der Baum unserer ganzen Hoffnung. Seineam meisten anerkannte und sichere Ehre liegt in der Kraft, nicht nur dieunheilbaren und tödlichen Wunden zu heilen, ihn in seinem Schattenkostbarer und heilsamer zu machen, als das Leben sonst je war.

Fallt daher auf eure Knie, die Arme gebunden durch die heilige Medi-tation, gebunden, sage ich, und mit bloßen Füßen vor diesem Baum, ihrKatholiken, meine Brüder. Je mehr die Worte, die Schriften, der schlechteLebenswandel unserer Ankläger einen unversöhnlichen Haß gegen das

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Kreuz und seine Verehrer atmen, um so mehr müssen wir unsererseitsglühend für sie seufzen und von ganzem Herzen den anrufen, der in denÄsten hängt als Blatt, Blüte und Frucht. Herr, vergib ihnen, denn siewissen nicht, was sie tun (Lk 23,34).

Ich grüße dich, heiliges Kreuz,unsere einzige Hoffnung in diesen Bedrängnissen:Gib Wachstum der Gerechtigkeit den Guten,vergib den Sündern ihre Bosheit.

Es gibt kein Eis, das bei solchem Wind nicht schmilzt, keine Verbitte-rung, die nicht besänftigt wird durch das Eintauchen dieses Holzes.

Hier müssen unsere Hoffnungen sich einnisten, sowohl auf unsereBesserung als auch auf die Umkehr der Verirrten. Diese muß man er-leichtern durch Ermahnung und Belehrung, denn so hat es Gott be-stimmt. Das wollte ich in dieser Schrift tun für die Einfältigen, die des-sen am meisten bedürfen. Ihr zarteres und weicheres Herz kann viel-leicht das Einprägen des Kreuzzeichens durch eine so schwache Handwie die meine gut aufnehmen, während die steinernen und ehernenHerzen jener, die etwas zu sein glauben, sich dem nicht öffnen werden,außer dem Meißel und Stichel eines kräftigeren Meisters. Wenn aberGott meinem Vorhaben irgendeinen wünschenswerten Erfolg verleiht,wenn es ihm gefällt, mir in diesem Kampf, den ich für seine Ehre gegenden unbekannten Traktanten unternommen habe, irgendeine Beute indie Hand zu geben, gebührt ihm allein die Ehre dafür, müssen die Tro-phäen am Kreuz wie in einem heiligen Tempel aufgehängt werden. Wennaber meine Unfähigkeit und Schwachheit mich jedes anderen Gewinnsberauben sollten, werde ich wenigstens das Glück haben, für die wür-digste Fahne gekämpft zu haben, die es gab und gibt und geben wird, dieam meisten von der Welt bekämpft wird.

Die Kreuzesfahne war kaum entrollt, da war sie schon dem Wider-spruch der Juden, Irrlehrer und Abgefallenen ausgesetzt, von denen derhl. Paulus (Phil 3,18) sagt: Viele wandeln, wie ich euch schon oft gesagthabe, jetzt aber unter Tränen sage, als Feinde des Kreuzes Jesu Christi.Das waren Neuerer, die es für unvereinbar mit der Würde der Persondes Gottessohnes hielten, daß er gekreuzigt wurde, wie der große Kardi-nal Baronius ausführlich in seinen ‚Annalen‘ darlegt. Seitdem haben dieTalmudisten, Samaritaner, Mohammedaner, Wiclefiten und ähnlicheSeuchen der Welt diese Tradition bezüglich der heiligen Fahne in stän-diger Abfolge fortgeführt, wenn auch unter verschiedenen Vorwänden.Die Angriffe scheinen sich in unserer Zeit zu verdoppeln, derAntichrist

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rückt immer näher, da ist es nicht verwunderlich, wenn seine Truppendichter herandrängen. Wenn dieser Mensch der Sünde und König derGreuel gekommen sein wird, dann wird die Kreuzesfahne am meistenbekämpft werden. Mag aber die Hölle alle Anstrengungen machen, die-se Standarte wird in der katholischen Armee stets sichtbar hoch erho-ben sein.

Als die Apostel, die Jünger und die ersten Christen sahen, daß dieHäretiker das Kreuz für unwürdig Jesu Christi hielten, brachten sie dasZeichen des Kreuzes überall in Übung, um sich selbst in Jesus Christuszu ehren und Jesus Christus im Kreuz. Und wie die Kirche, ebenso wieder Apostel, stets nichts anderes zu wissen und zu predigen gedachte alsJesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten (1 Kor 2,2), so hat sieauch stets nur Jesus Christus geehrt, und zwar als den Gekreuzigten;nicht Jesus Christus ohne Kreuz, sondern Jesus Christus mit seinemKreuz und im Kreuz. Wir beten an, was wir kennen (Joh 4,22). Nun, wirkennen Jesus Christus im Kreuz und das Kreuz in Jesus Christus; des-halb schließe ich mit dieser Zusammenfassung der christlichen Lehreund all dessen, was ich bisher ausgeführt habe, und bekenne mit demglorreichen Prediger des Kreuzes, dem hl. Paulus (gib aber, mein Gott,daß es mehr mit dem Herzen und in der Tat als durch die Schrift und mitdem Mund sei und daß ich so meine Tage beschließe): Fern sei es vonmir, mich zu rühmen, außer im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus (Gal6,14). Amen.

Anhang: These über das Kreuz34

Das Kreuz wird auf fromme Weise verehrt.

David, Psalm 132, Vers 7, zeigt, daß diese Verehrung legitim ist, wenner sagt: Wir fallen nieder vor dem Ort, wo seine Füße standen. DieseWorte wurden vom hl. Hieronymus ausdrücklich auf die Verehrung desKreuzes angewendet.

Demgemäß schreibt der hl. Gregor von Nyssa, der im Jahr des Herrn430 in Griechenland lebte, daß seine Schwester, die hl. Makrina, undder hl. Basilius ein Kreuz mit großer Ehrfurcht bei sich trugen.

Der hl. Hieronymus in der Grabinschrift der sehr frommen Frau Pau-la, die er lobt, daß sie das Kreuz kniend „genau so verehrte, als hätte siean ihm den Herrn hangen gesehen“.

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Der hl. Ambrosius sagt im Buch über den ‚Tod des Theodosius‘: „Nichtdas Holz, sondern der König des Himmels wird am Holz angebetet.“

Der hl. Augustinus sagt im 2. Buch vom ‚Krankenbesuch‘, im 3. Kapi-tel, daß das Kreuz der Verehrung würdig ist, und er verrichtet vor ihmsein Gebet zu Jesus Christus.

Im 22. Buch vom ‚Gottesstaat‘, Kapitel 8, bestätigt derselbe, daß eineFrau von einem tödlichen Krebsgeschwür geheilt wurde, als man dasKreuzzeichen über sie machte.

Und im 1. Buch seiner ‚Bekenntnisse‘, Kapitel 11, daß er begann, sichmit dem Kreuz zu bezeichnen, als er Christ wurde.

Und im 3. Traktat über den hl. Johannes sagt er, wenn wir Christensind, müssen wir auf der Stirn mit dem Kreuz bezeichnet sein.

Lactanz sagt im ‚Gesang von der Passion‘: „Flecte genu, lignumqueCrucis venerabile adora: Beuge das Knie und verehre das ehrwürdigeHolz des Kreuzes.“

Kaiser Konstantin machte seine Standarte in der Form des Kreuzes,um seine Feinde zu schrecken, und er stellte es auf diese Weise an dieSpitze seines Heeres, um sie daran zu gewöhnen, das Kreuz zu verehren.So sagt Eusebius im 1. Buch des ‚Lebens Konstantins‘ und Sozomenesim 1. Buch seiner ‚Geschichte‘, Kapitel 4.

Der hl. Cyrill von Alexandrien, der im Jahr 430 lebte, sagt im 6. Buchgegen Kaiser Julian Apostata, der über die Christen spottete, daß sie dasKreuz anbeteten, zur Verteidigung der Christen: „Das Holz des Heilesruft uns die Wohltaten in Erinnerung, die wir von Jesus Christus emp-fangen haben, hält sie uns vor Augen und regt uns an zu denken, wie derhl. Paulus sagt, daß Er allein für uns gestorben und auferstanden ist.

Der hl. Athanasius sagt in der Quästion 16 zu Antiochus: „Wir kön-nen beweisen, daß wir nicht das Holz anbeten, sondern die Darstellung,wenn wir die zwei Hölzer, die das Kreuz bilden, auseinandernehmen;denn dann erweisen wir ihnen keine Ehre mehr.“

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E. Codex FE. Codex FE. Codex FE. Codex FE. Codex Fabrianusabrianusabrianusabrianusabrianus

Diese Arbeit ist ursprünglich nicht unter dem Namen des hl. Franz von Saleserschienen, stammt aber zweifellos von ihm. Sie war kein selbständiges Werk, son-dern das erste Buch (Titel I) eines umfangreichen Rechtskompendiums auf derGrundlage des Codex Justinianus. Sie wurde daher auch die längste Zeit nicht in dieAusgaben der Werke des hl. Franz von Sales aufgenommen; erst Migne brachte inBand VI (1862) eine französische Übersetzung von Abbé de Baudry. Die Annecy-Ausgabe enthält in Band XXIII (S. 67-241) den lateinischen Text mit einer franzö-sischen Übersetzung.

Antoine Favre (1557-1624), einer der engsten Freunde des hl. Franz von Sales,der seine Missionstätigkeit im Chablais mit großer Anteilnahme verfolgte, hielt ihnfür besonders geeignet, diesen weitgehend theologischen Teil für sein juristischesWerk zu verfassen. Franz hatte ja 1591 in Padua den Doktorgrad utriusque juriserworben, war seit 1592 als Anwalt beim Senat von Chambéry zugelassen, standaber andererseits seit 1594 in der theologischen Auseinandersetzung mit den Calvi-nern. Er nahm den Auftrag seines Freundes an und schrieb ihm am 14. Oktober1595 (OEA XI,164): „Ich werde Ihnen sobald als möglich ein Kapitel meinerKommentare gegen die Häretiker schicken, in dem ich mich zu zeigen bemühenwerde, daß sie, weit entfernt, wirkliche Reformatoren der Kirche zu sein, die altenIrrlehren wieder aufleben lassen.“ In seiner Antwort vom 25. 10. 1595 (OEA XI,408)ersucht ihn Favre unter anderem, nicht zu vergessen, daß sich die Häretiker daraufverlegen, „alles zu leugnen und nichts zu sagen“.

Dem zitierten Brief zufolge begann Franz von Sales die Arbeit während derersten Phase der Chablais-Mission, in der er auch seine ‚Flugblätter‘ verfaßte, unteräußerst schwierigen Bedingungen. Während aber die ‚Flugblätter‘ für die Gläubi-gen bestimmt waren und die wichtigsten Glaubenswahrheiten verteidigten, warendie Adressaten des Codex Juristen, denen es zu zeigen galt, daß die Häretiker imUnrecht waren. Das bedingte außer dem Unterschied im Inhalt auch einen anderenStil; trotzdem gibt es zahlreiche Anklänge an die ‚Kontroversen‘. Im Rechtskom-pendium war es vor allem notwendig, die Häretiker genau zu zitieren. Schon am 14.10. 1595 (OEA XI,165) schrieb er an Possevino, er brauche dringend die Erlaub-nis, ihre Werke zu lesen. „Ich wage es nicht, Calvin und Beza irgendwie anzugreifen,wo sie Lügner und Gotteslästerer sind, ohne daß nicht jeder wissen will, wo dassteht, was ich sage.“ Am 6. 4. 1596 (OEA XI,169) dankt er dem Nuntius Riccardi,daß er ihm die erbetene Erlaubnis verschaffen will.

Der Fortgang der Arbeit wurde außer durch die Beanspruchung des Propstes inder schwierigen Chablais-Mission sicher auch durch die ‚Verteidigung der Kreuzes-

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fahne‘ und die dort angeführten Umstände verzögert. Auch die ersten Bischofsjah-re ließen kaum mehr Muße für die gewiß nicht leichte Aufgabe. Sie schien auchnicht zu drängen, da offenbar Favre ebenfalls noch an seinem Werk arbeitete. Sofindet sich in den überlieferten Briefen der beiden Freunde lange Zeit kein neuerHinweis auf den Codex, was aber nicht ausschließt, daß sie bei ihren engen Kontak-ten darüber gesprochen oder geschrieben haben. Am 10. 10. 1605 (OEA XIII,398)schrieb aber Favre, er brauche den Beitrag seines Freundes innerhalb eines Monats.Franz von Sales schickte ihm das Manuskript termingerecht mit der kirchlichenApprobation vom 1. November 1605, und das Werk erschien im folgenden Jahr.

Codex Fabrianus definitionum forensium et rerum in sacro Sabaudiae Se-natu tractatarum. Ex ordine Codicis Justiniani quantum fieri potuit acco-modate ad usum forensem. In novem libros distributus. Authore et collecto-re Antonio Fabro ... Opus integrum, et omnibus juris studiosis utilissimum,sed Pragmaticis praecipue necessarium. (Lyon 1606).

Der Autor bezeichnet sein Werk im Titel als „für alle Studenten der Rechtswis-senschaft sehr nützlich, für die Praktiker aber besonders notwendig“. Das ersteBuch hatte die Aufgabe, die Rechtslage der Häretiker im Geltungsbereich desCodex Justinianus grundsätzlich zu klären; er verbot, den katholischen Glaubenöffentlich in Frage zu stellen. Daß die Häretiker dagegen offensichtlich verstießen,wird an zehn Kennzeichen aufgezeigt, die ihnen gemeinsam sind, und in ‚Exkursen‘näher ausgeführt: was sie an Glaubenswahrheiten leugnen (I), was sie durch falscheBehauptungen leugnen (II), was sie an häretischen Neuerungen eingeführt haben(III), die Anfänge ihrer Irrlehren (IV) und einige politisch wirksame falsche Lehren.

Der Inhalt dieses ersten Buches dient der Rechtsprechung, ist aber selbst über-wiegend theologischer Natur. Das bestimmt die Art der Darstellung: Die Tatsacheder Irrlehre (d. h. zugleich des Verstoßes gegen das Recht) wird durch wörtlicheZitate aus den Werken der Häretiker (bei Luther aus lateinischen Ausgaben) be-legt; dem wird die katholische Lehre entgegengestellt, belegt aus der Heiligen Schriftund aus den Vätern und Definitionen der Konzile. Folgerungen werden in knapperlogischer Argumentation gezogen. Breiter ausgeführte Erklärungen, affektive An-wendung und Appelle sind selten. Dadurch fügt sich die Arbeit dem Rechtskom-pendium gut ein und gibt einen Überblick über die Häresie bzw. die Kontroversenach dem damaligen Stand.

Das Werk brachte Favre europäischen Ruhm als Rechtsgelehrter. Er nennt sei-nen Freund nicht als Mit-Autor, widmet ihm aber am Schluß des ersten Buchesneben dem Herzog und seinen Vorgängern im Bischofsamt eine ausführliche Wür-digung. In seinem Brief vom 10. Oktober 1605 hatte er geschrieben: „Ich werde dieForm, die Sie der Arbeit geben, stets gut finden und werde keine andere wünschen.“Offenbar hat er aber manche stilistische Änderung vorgenommen und auch einigePassagen eingefügt; vor allem der Schluß stammt zum größten Teil von ihm. DemUrteil der Redaktion der Annecy-Ausgabe folgend werden diese Stellen zwischeneckige Klammern gesetzt. Im Nachweis der Quellen werden in unserer Ausgabesowohl die Schriftstellen als auch die Zitate aus den Werken Luthers und Calvinsim Text angegeben; die Anmerkungen sind auch hier auf das Notwendigste be-schränkt.

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Titel ITitel ITitel ITitel ITitel I

VVVVVon der heiligsten Dreifaltigkon der heiligsten Dreifaltigkon der heiligsten Dreifaltigkon der heiligsten Dreifaltigkon der heiligsten Dreifaltigkeit und vomeit und vomeit und vomeit und vomeit und vomkatholischen Glauben und daß niemand öffentlichkatholischen Glauben und daß niemand öffentlichkatholischen Glauben und daß niemand öffentlichkatholischen Glauben und daß niemand öffentlichkatholischen Glauben und daß niemand öffentlich

darüber streiten dardarüber streiten dardarüber streiten dardarüber streiten dardarüber streiten darfffff

Im vorigen Jahrhundert entstieg der Hölle eine Art von Menschen,von denen ich nicht weiß, ob sie mehr zu fürchten oder zu bedauernsind. Sie sind abgefallen von der Einheit der christlichen Religion undunseres katholischen Glaubens und als notwendige Folge von der Wahr-heit. Sie haben allenthalben neue Dogmen und Irrlehren eingeführt, dieaber aus alten und zum Großteil bereits verurteilten zusammengeflicktund verschmolzen sind. Sie sind in fast ebensoviele Sekten geteilt, alssie Stifter hatten, die lieber Anhänger haben als sein wollten. Man könn-te sie mit den Füchsen Simsons (Ri 15,4f) vergleichen, die zwar jedernach seinem Kopf in eine andere Richtung strebten, mit zusammenge-bundenen Schweifen aber zu einem Ziel vereinigt und zusammenge-schart waren: Brand und Zerstörung in die eine Kirche zu tragen, wennes schon genügte, es zu wollen.

Vor allem sind die wichtigsten und dem Ruf wie der Ruchlosigkeitnach bekanntesten die Lutheraner, Ubiquitarier, Zwinglianer, Wieder-täufer, Schwenckfeldianer, Davidiker, Samosatazenser, Calviner, An-glo-Calvinisten, Puritaner, Adiaphoriten, Osiandriner, Melanchtoniker,um von den zahlreichen, um nicht zu sagen: fast zahllosen, anderen zuschweigen, die niedrigeren Rängen der Dämonen gleichen. Die gröbsteEinteilung aller kann jedoch die sein, daß man gleichsam drei Haupt-stämme von ihnen feststellt, auf die man alle anderen kleineren Sektenals deren Arten zurückführen kann. Die Situation der Wiedertäufer istjedoch so, daß sie zwar nicht an Torheit und Gottlosigkeit aber an Zahlden anderen weit nachstehen, so daß sie fast von allen als unkriegerischeund unbedeutende Feinde verachtet werden und Lutheraner und Calvi-ner sich rühmen, daß ihnen allein fast aller Raum bleibt. Daher werdenwir nur von ihnen zu sprechen haben, da von den übrigen außer durchBücher und Gerüchte fast nur die Namen bis zu uns gedrungen sind.

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Zwar gibt es bei uns zahlreiche Beschlüsse und Dekrete unserer Für-sten und des Senats über die Religion (da sie gedruckt öffentlich vorlie-gen, hielten wir es nicht für zweckmäßig, sie hier abzuschreiben). Sierügen und verurteilen nicht nur die Lutheraner und Calviner, sondernauch alle anderen Häretiker. Dazu gehören ohne Zweifel alle, die vonder heiligen, katholischen, apostolischen römischen Kirche, unter wel-chem Namen auch immer, abgefallen sind und deren Irrtümer das hei-lige Konzil von Trient auf Eingebung des Heiligen Geistes durch höchstgerechtes Anathem verurteilt hat.

Es ist eine vorzügliche und in solchem Unglück sehr glückliche Sachefür den christlichen Staat, daß diese Sekten, die sich so heftig gegen ihnverschworen haben, durch diese Kennzeichen als ehrlos feststehen, andenen auf den ersten Blick niemand zweifeln kann, da ‚Häretiker‘, wiedie heiligen Canones sagen, den Anschein und die Kennzeichen derSchlechtigkeit an sich haben.

[Wir werden nur einige nennen und von den einzelnen einiges, damitwir uns nicht wie die lutherischen und calvinistischen Schuster als Theo-logen aufzuspielen scheinen; wir betreiben nur Rechtswissenschaft, sonstnichts. Das andere überlassen wir den Theologen, die es in so großerZahl und so hervorragend ex professo behandeln.] Wir werden die urei-genen Worte Luthers und Calvins vortragen, damit jene sich nicht übereine Erfindung oder Verfälschung von unserer Seite beschweren kön-nen, die kaum glauben können, was wirklich unglaubwürdig ist: daß soabsurde und offenbar teuflische Gottlosigkeiten und so gottlose Absur-ditäten, deren so viele Anhänger sich rühmen, jemals einem Sterblichenin den Sinn kommen konnten. [Wir bitten aber vor allem die katholi-schen und frommen Leser, uns zuzugestehen und an dieser Tatsachekeinen Anstoß zu nehmen, daß wir Bücher gelesen haben, die durchDekrete der heiligen Kirche verboten sind. Wir können nämlich wahr-heitsgemäß versichern, daß wir dabei nichts getan haben, außer wasjedem frommen Christen erlaubt ist, und daß wir die in einer so wichti-gen Sache notwendige Vorsorge getroffen haben, damit wir nicht denüberaus gerechten Zensuren der Kirche verfallen, die wir fürchten undgebührend achten.]

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I.

Erstes Kennzeichen der Häretiker unserer Zeit:Verneinen.

Das erste und meiner Meinung nach nicht unbedeutende Kennzei-chen ist, daß sie fast alles bestreiten, fast nichts bejahen, außer daß siemeistens durch Leugnen auch bestätigen und bestätigend leugnen. Sowird aus ihrer Zahl sichtbar, daß sie, wie Tertullian von allen Häreti-kern schrieb, „glauben und doch nicht glauben“, darin verschieden vonden Heiden, die „nicht glauben und doch glauben“, wie derselbe sagt.Ich sehe auch nicht, auf wen besser als auf sie passen könnte, was meh-rere große Männer vom großen Antichristen angenommen haben, daßsein Name ‚arnoumai‘ (ich leugne) sei. Die am meisten gebräuchlicheArt aller Antichristen, d. h. der Häretiker, besteht ja darin, daß sie fastihre ganze Lehre auf der Leugnung aufbauen.

Wenn sie das in der Absicht tun, uns die Beweislast aufzubürden undselbst nichts beweisen zu müssen, sind sie nicht nur ganz schlechte Theo-logen, sondern auch schlechte Rechtskundige. Sowohl bei den Urhe-bern wie bei den Auslegern unseres Rechts gibt es ja keinen Zweifel,daß der Kläger, wer er auch sei, seine Auffassung beweisen muß, auchwenn sie in einer Verneinung besteht, besonders aber, wenn einer denangreifen will, der im ungestörten Besitz dessen ist, worüber man strei-tet. Was kann denn andernfalls gewiß sein, ich beschwöre euch, wassicher, wenn es für den Kläger genügt zu leugnen?

Auf sie kann man mit Recht auch anwenden, was der hl. Johannes inder Geheimen Offenbarung (9,3.10f) von den Heuschrecken sagt, dieaus dem Brunnen des Abgrunds hervorkommen; er sagt, sie haben übersich als König den Engel des Abgrunds; sein Name ist hebräisch Abad-don, griechisch Apollyon, lateinisch Exterminans. Damit drückt er aus,daß alle Häretiker fast nichts erbauen, aber alles zerstören, nichts beja-hen, alles verneinen. Das sind schließlich Leute, daß man nicht ge-schmacklos und zu Unrecht behaupten könnte, wenn man sie Christennennen muß, dann muß man sie verneinende, nicht bekennende Chris-ten nennen. Aber ich frage: Was heißt denn, ein verneinender Christsein anderes, als gar kein Christ sein?

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Von der absoluten Macht Gottes

1. Sie bestreiten, daß in Gott irgendeine absolute Macht ist: „DieErklärung von der absoluten Macht Gottes, die die Scholastiker einge-führt haben, ist eine verwerfliche Blasphemie“, sagt Calvin.1 Und ananderer Stelle (Inst. II,7, § 5) nennt er „unmöglich“, was nie war odersein wird. Dieser Leugnung widerspricht die Versicherung Christi (Mt26,53), der sagt, er könnte den Vater bitten, und der würde ihm mehr alszwölf Legionen Engel schicken und (Mt 19,24) ein Kamel durch einNadelöhr hindurchgehen lassen; ebenso die Versicherung Johannes desTäufers (Mt 3,9), Gott könne Abraham aus Steinen Kinder erwecken.

Kein Mensch mit gesundem Verstand wird doch leugnen, daß Gottalles möglich ist, was er zu tun androht, wie z. B. Ninive zu zerstören(Jona 3,4), und unzählige Dinge dieser Art, die Gott jedoch niemalsgetan hat oder tun wollte. Und wie Tertullian gegen Praxeas so treffendschreibt: „Gott hätte (wenn ich so sagen darf) den Menschen mit Flü-geln ausstatten können, was er den Falken auch gewährte; obwohl er eskonnte, hat er es doch nicht zugleich auch getan. Er hätte auch Praxeas(wenn es beliebt, fügen wir Luther und Calvin hinzu) und alle Häretikerin gleicher Weise vernichten können; er hat sie, weil er es konnte, nichtauch wirklich vernichtet.“

Das alles vermochte Gott nicht durch eine gewöhnliche Macht, denndie Dinge wurden nach einer anderen Ordnung festgesetzt und ausge-führt, also mit absoluter Macht, d. h. mit einer Macht, die unabhängig istvon jedem verkündeten Gesetz und von der festgelegten Ordnung derDinge. Absolut aber nicht in dem Sinn, daß sie losgelöst wäre von Bil-ligkeit und Gerechtigkeit, wie Calvin es zu Unrecht auslegt. Denn Bil-ligkeit und Gerechtigkeit ist dem Gesetz Gottes wesentlich, denn es istnichts anderes als Gott selbst. Wie er sich selbst Gesetz ist, so kann ernicht im mindesten vom Gesetz und von der Gerechtigkeit abweichen.

Vom zulassenden Willen Gottes

2. Sie leugnen einen zulassenden Willen in Gott (Inst. I,18,1.2), imGegensatz zu unzähligen Versicherungen der Heiligen Schrift, darunterPsalm 81 (13): Er entließ sie nach dem Verlangen ihrer Herzen; Apostel-geschichte 14 (15): Er ließ alle Völker ihre eigenen Wege gehen; Lukas(8,32): Sie baten ihn, sie in die Schweine fahren zu lassen, und er erlaubtees ihnen. Gott will also vieles, nicht durch einen bewirkenden oder

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begleitenden, sondern nur durch einen zulassenden Willen. Was aller-dings schlecht ist infolge der sogenannten moralischen Schlechtigkeit,kann nie von Gott ausgehen, der gut und die Güte selbst ist.

Vom einfachen Vorherwissen Gottes

3. Sie leugnen das einfache Vorherwissen Gottes (Inst. I,16,4). Denndas sind die Worte Calvins (Inst. II,4,3): „Auch Augustinus ist manch-mal nicht von diesem Glauben frei, so wo er sagt, daß die Verhärtungund Verblendung sich nicht nach dem Wirken Gottes richte, sondernnach dem Vorherwissen; aber solche Spitzfindigkeiten vertragen sichnicht mit zahlreichen Schriftstellen“, etc. Dieser Leugnung widerspricht,daß die Heilige Schrift an verschiedenen Stellen bestätigt, daß Gott denVerrat des Judas (Mt 26,21 u. a.) voraussah, die Verleugnung des Petrus(Mt 26,34 u. a.), die Verblendung der Juden (Mt 13,13; Joh 9,39). Dashat Christus zwar vorhergesagt und vorher gewußt, aber doch nicht ge-wollt oder gewirkt.

Vom Wesen, das der Sohn vom Vater hat

4. Sie bestreiten, daß der Sohn Gottes das Wesen vom Vater hat (Inst.I,13,2.23ff). Dagegen bestätigt die Heilige Schrift und Christus selbst,daß Christus der Sohn des Vaters ist und vom Vater durch Zeugunghervorgeht. Wer könnte auch durch die bloße Vernunft und mit einemeinzigen Gedanken des Geistes begreifen, daß jener, der Sohn ist undgenannt wird, der Sohn dessen wäre, von dem er nicht das Wesen und dieNatur hätte? Was konnte denn der Sohn vom Vater anderes haben als dieGottheit? Was haben der Vater und der Sohn gemeinsam, wenn nichtdas Wesen? Was hat also der Vater dem Sohn mitgeteilt, wenn nicht dasWesen selbst? Warum rufen die Heilige Schrift, die Konzile, die Väterund schließlich der ganze christliche Erdkreis allenthalben, daß derSohn ist „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahrenGott“? Der Vater hat also das wahre göttliche Wesen, das nicht aus sichist, wie Calvin zu unvorsichtig sagt, noch von irgendeinem anderen;vielmehr durchaus von niemand, weil das Wesen weder zeugt noch ge-zeugt wird. Der Sohn dagegen, der dasselbe Wesen besitzt, hat es nichtvon niemand noch aus sich, sondern vom Vater; schließlich ist das We-sen, das in sich betrachtet von niemand stammt, im Sohn vom Vater.

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Vom Tod Christi

5. Sie bestreiten, daß der leibliche Tod Christi, wenn Christus nurdiesen erlitten hätte, uns irgendetwas nützte. „Nichts ist gewonnen“,sagt Calvin (Inst. II,16,10), „wenn Christus nur des leiblichen Todesgestorben wäre.“ Unsterblicher Gott! Alle Buchstaben der HeiligenSchrift führen unser Heil auf das Blut, auf das Kreuz, auf den Tod Chri-sti zurück; alle Christen rufen laut, daß Christus durch seinen Tod unse-ren Tod überwunden hat; alle Heiligen fassen den Hochgesang unsererErlösung (Offb 5,9) in die Worte: In deinem Blut hast du uns erlöst, oGott. [Und diese Kröten wagen in ihren Tümpeln dagegen zu quaken],durch seinen lebenspendenden Tod sei nichts geschehen! Jesaja dagegenverkündet (53,5) ferner, daß wir nur durch die Wunden Christi geheiltwurden. Mit einem Wort, unser Leben ist eine Tochter des Todes Chri-sti; wer anderswo als in diesem Tod das Leben sucht, verliert das Leben.Wie können sie die Stirn haben zu behaupten, durch den Tod Christi seinichts gewonnen, da wegen der Würde dessen, der ihn erlitt, der kleinsteTropfen seines königlichen und göttlichen Blutes genügt hätte, um un-zählige Welten zu erlösen?

Von Christus, dem Gesetzgeber

6. Sie leugnen, daß Christus Gesetzgeber ist und folglich im Evangeli-um irgendein Gesetz vorgelegt wird; so sagt nämlich Luther: „Du mußtwissen, was Christus wirklich ist. Christus ist in Wirklichkeit nicht Ge-setzgeber.“2 Bald nennt er die Lehre von Christus dem Gesetzgeber ‚pe-stilentem‘ (vergiftend); und wenig später sagt er: „Ich gebe mir Mühe,die alteingewurzelte Lehre von Christus dem Gesetzgeber und Richterzu widerlegen, um sie zu verurteilen und zurückzuweisen.“ Aber derBrief des hl. Jakobus (4,12), der Christus ausdrücklich Gesetzgebernennt, bestätigt diese Lehre, und Jesaja (33,22) hatte ihn vorher schonGesetzgeber genannt und gesagt: Der Herr ist unser Gesetzgeber.

Von Christus, dem Richter

7. Sie leugnen, daß Christus Richter ist; so sagt Luther an der gleichenStelle: „Ich war von jenen vergiftenden Auffassungen überzeugt.“ Dieerklärt er dann und nennt unter anderen die, daß Christus Richter ist;und er habe sich bemüht, sie zu widerlegen. Nicht so der hl. Petrus, der

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(Apg 10,42) offen bekennt, daß Christus von Gott zum Richter derLebenden und der Toten bestellt wurde; nicht anders die übrigen Apo-stel, die alle einmütig verkünden, daß Christus die Lebenden und dieToten (2 Tim 4,1) richten wird.

Von der ungeschriebenen Überlieferung

8. Sie leugnen, daß es irgendeine Überlieferung gibt, die nur durchdas Wort weitergegeben wurde, im Widerspruch zur ausdrücklichenVersicherung des hl. Paulus, der im 2. Brief an die Thessalonicher (2,15)sagt: Haltet euch an die Überlieferungen, die ihr entweder durch die Pre-digt oder durch einen Brief empfangen habt. Denn welche Sicherheit undwelche Autorität hätte die Heilige Schrift, wenn du die Überlieferungwegnimmst, da diese Sicherheit und diese Autorität der Heiligen Schriftnur durch die Überlieferung ebenso gewährleistet werden kann? Wa-rum sagen wir eher, daß das Evangelium nach Matthäus und Lukas ka-nonische Bücher sind als das des Thomas und Nikodemus? Oder wennjemand das bestreitet und mit ihnen (den Häretikern) die ungeschriebe-ne Überlieferung verwirft, wie können wir das beweisen?

Außerdem, wo war denn die Kirche oder der Glaube zu all der Zeit, alsman Glaubensfragen nicht schriftlich, sondern nur mündlich behandel-te? Oder gab es die Kirche vor den heiligen Schriften nicht? Oder durchwelches geschriebene Wort der Heiligen Schrift wollen sie belegen, daßwir zu glauben gezwungen seien, man dürfe nur glauben, was geschriebensteht? Was soll man sagen von der Taufe der Kinder, daß der Sonntaganstelle des jüdischen Sabbats zu heiligen ist, von der Erschaffung derEngel und so viele andere Dinge, an die in der Kirche und selbst bei allenHäretikern ganz fest geglaubt wird, obwohl es in der Heiligen Schriftdafür überhaupt keinen Beweis gibt? Ganz anders und hervorragend wiealles sagt Augustinus: „Ich würde nicht an das Evangelium glauben“, wennnicht die Kirche sagte, daß es das Evangelium ist.

Von den kanonischen Büchern

9. Sie bestreiten, daß von den Büchern der Heiligen Schrift die Bü-cher Judit, Baruch, Weisheit, Jesus Sirach, Makkabäer und Tobias kano-nische Autorität besitzen, weil sie im Kanon.der Juden nicht verzeich-net sind; so als ob der jüdischen Synagoge mehr Autorität zuzuschrei-ben wäre als der ganzen katholischen Kirche, die sie in einmütiger Über-

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einstimmung immer für kanonisch gehalten hat. Wer wird sich darüberwundern, daß einige von ihnen im Kanon der Juden nicht verzeichnetsind, da sie erst nach diesem Kanon aufgezeichnet wurden, außer weraus Unkenntnis der zeitlichen Abfolge nicht weiß, daß sie überhauptnicht verzeichnet werden konnten?

Vom Brief des hl. Jakobus

10. Sie bestreiten, daß der Brief des hl. Jakobus kanonisch ist. Wennman ihnen diesen vorhält, bezweifeln sie seine Echtheit und Autorität,die aber wie die der anderen kanonischen Bücher stets ganz sicher undausdrücklich war. In seinem Buch ‚Über die babylonische Gefangen-schaft‘ antwortet Luther im Kapitel ‚Vom Sakrament der letzten Ölung‘(Jena II,284) auf den Beweis, der für die letzte Ölung von der ganzoffenkundigen Autorität des hl. Jakobus abgeleitet wird, und erklärtseine Sentenz mit den Worten: „Ich aber sage, wenn je phantasiert wur-de, dann wurde besonders an dieser Stelle phantasiert. Ich lasse nämlichaußer acht, daß viele sehr überzeugend versichern, dieser Brief stammenicht vom Apostel Jakobus und sei des apostolischen Geistes unwürdig,auch wenn er durch Gewohnheit Autorität erlangte, von wem er auchstammen mag. Aber selbst wenn er vom Apostel Jakobus stammte, wür-de ich sagen, daß es einem Apostel nicht zusteht, aus eigener Vollmachtein Sakrament einzusetzen.“

Seht die Kühnheit und Unverschämtheit des Mannes. Nicht zufriedendamit, die Autorität des apostolischen Briefes herabgesetzt zu haben, so-viel er konnte, bezichtigt er den Apostel auch der Anmaßung, als hätte ersich das Recht angemaßt, ein Sakrament einzusetzen, falls er diesen Briefverfaßt hat! Der rasende Apostat sieht nicht, daß der Apostel das schreibt,nicht um das Sakrament der letzten Ölung einzusetzen, sondern um dieGläubigen zu seinem Empfang zu ermahnen. Das hätte er jedenfalls nichtgetan, wenn nicht Christus selbst es eingesetzt hätte.

Von der Schwierigkeit der Heiligen Schrift

11. Sie bestreiten, daß es in der Heiligen Schrift irgendeine Schwierig-keit gebe, die Gläubige daran hindere, sie leicht zu verstehen, so daß sieklarer und leichter verständlich sei als die Kommentare aller Kirchenvä-ter (Jena II,294). Mit dieser Leugnung zeihen sie den hl. Petrus der Lüge.Obwohl er selbst gläubig und gelehrt war (außer er stünde Luther an

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Glauben und Lehre nach), schrieb er (2 Petr 3,16) dennoch, in den Brie-fen des hl. Paulus sei vieles schwierig, was Ungläubige und zu wenig Un-terrichtete wie die übrigen Schriften zu ihrem Verderben verdrehen. Dochwelchen Nutzen hätten die Lehrer in der Kirche, welcher sichere Bedarfnach ihnen bestünde, wenn sie (die Häretiker) die Wahrheit im Traumfinden? Was würden so viele Kommentare der Väter nützen, die in sovielen Nachtwachen beim Lampenschein erarbeitet wurden und imSchweiß des Angesichts entstanden, wenn sie schwieriger und unverständ-licher wären als die Bücher, die sie erklären wollten?

Von der sichtbaren Kirche

12. Sie bestreiten, daß die wahre Kirche sichtbar ist (Inst. IV,1,3; JenaIII.176; II.144f). Wenn dem so wäre, warum hätte sie dann Christus miteiner Stadt auf dem Berg (Mt 5,14) verglichen, mit einem Haus, das aufden Felsen gebaut ist (Mt 16,18 u. a.)? Warum hätte er uns außerdem andie Kirche verwiesen mit den Worten (Mt 18,17): Sag es der Kirche?Machen sie nicht Christus lächerlich und zum Betrüger, der uns an dieKirche verweist, wenn sie unsichtbar und nicht wahrnehmbar ist?

Vom unfehlbaren Urteil der Kirche

13. Sie bestreiten, daß die Entscheidung der katholischen Kirche inGlaubensfragen auch offensichtlich unfehlbar ist (Inst. IV,8 u. a.; JenaII, 460). Dieser Leugnung steht sicher die Versicherung Christi (Mt16,18) entgegen: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen;auch die des Paulus, der sie (1 Tim 3,15) Säule und Grundfeste derWahrheit nennt. Und wahrlich, wenn es um uns so unheilvoll und un-menschlich stünde, daß die allgemeine Kirche in Entscheidungen überGlaubensfragen und den wahren Sinn des Gotteswortes irren könnte,welcher Sterbliche, ich beschwöre euch, müßte dann nicht glauben, daßer irren kann? Wer aber glaubt, daß er irren kann, wie könnte der sichersein, sich nicht zu irren? Folglich wird es also notwendig sein, daß allezugeben, in Unsicherheit über den Glauben und den Sinn der HeiligenSchrift zu leben. Was wird es daher geben, das uns so sicher und offen-kundig sein muß, daß wir daran selbst dann glauben müssen, wenn einEngel vom Himmel (Gal 1,8) das Gegenteil sagen wollte? Wer müßtedenn nicht eher dem himmlischen Engel als sich selbst glauben, wennnicht auf der anderen Seite die Autorität und die Sicherheit des Glau-

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bens der Kirche über der Autorität irgendeines Engels stünde, wenn esje, das Unmögliche angenommen, eine gegenteilige gäbe?

Von der Autorität der allgemeinen Konzile

14. Sie bestreiten, daß die Konzile, auch die allgemeinen, eine Auto-rität haben, der wir uns fest anschließen müssen. (Sie gehen so weit) zubehaupten, es stehe jedem beliebigen einzelnen, nicht nur dem Volk, zu,die Lehre der Konzile nach der Richtschnur der Heiligen Schrift zuwägen und zu prüfen (Inst. IV,9,8); Luther (Jena II,532) sagt nämlich:„Über die Lehre zu befinden und zu urteilen, steht allen und jedemChristen zu, und steht ihm so zu, daß anathema sei, wer dieses Recht imgeringsten verletzt. Denn Christus sagt (Mt 7,15): Hütet euch vor denfalschen Propheten. Diese Autorität allein genügt“, sagt er, „gegen dieSentenzen aller Päpste, aller Konzile, aller Schulen, die das Recht zuurteilen und zu entscheiden nur den Bischöfen und Geistlichen zuer-kennen und es auf gottlose und sakrilegische Weise dem Volk, d. h. derköniglichen Kirche raubten.“ Und etwas später (Wi II,343) greift erKönig Heinrich an: „Und um hier meinen Heinrich und die Sophistenzu erwähnen, die ihren Glauben von der Länge der Zeit und der Mengeder Leute abhängig machen, so kann er vor allem nicht leugnen, daß dieTyrannei dieser Rechtsanmaßung über tausend Jahre dauerte; dennschon auf dem Konzil von Nicäa, dem besten von allen, begannen sieschon, Gesetze zu machen und sich dieses Recht vorzubehalten.“ Undetwas später sagt er: „Unbestreitbar liegt das Recht, über die Lehre zubefinden und zu entscheiden oder sie anzuerkennen, bei uns, nicht beiden Konzilen, den Vätern und Kirchenlehrern.“

Ich frage dich, Leser, wer du auch sein magst, konnte etwas Anmaßen-deres oder Unverschämteres geschrieben werden? Nicht Konzile, nichtPäpste, nicht Väter, nicht Kirchenlehrer sollen das Recht haben, überdie Lehren zu befinden und zu urteilen, einzig Luther, ja sogar jederBeliebige von der Hefe des Volkes, sofern er Lutheraner ist. (So meineich, denkt Luther, denn anders wäre es um ihn und alle Lutheraner ge-schehen, wenn sie zugäben, man müsse Calvin und den Calvinern be-züglich der Auslegung der Heiligen Schrift glauben.) Wenn sie diesesRecht haben, weil sie Christen sind, sind etwa die Päpste, die Väter undKirchenlehrer nicht auch Christen? Dann also deswegen, weil sie Scha-fe sind, nicht Hirten. Das ist wahrhaftig eine schöne Begründung, diezur Folge hat, daß das Schaf den Hirten führt, regiert und beurteilt.

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Christus hat allerdings (Mt 7,15) alle gemahnt, sich vor falschen Pro-pheten zu hüten. Wer leugnet das? Aber tat er das deswegen, weil er woll-te, daß jeder über ihre Lehre urteile, wie Luther meint? Nichts weniger;vielmehr deswegen, daß jeder sich leicht ein Urteil über ihre Person bil-den kann (was wir zu unserem großen Unglück bei den Lutheranern undCalvinern erkennen) aus ihren Früchten und Werken (Mt 7,16), weil sienämlich kommen und nicht gesandt sind (Mt 7,15; Jer 14,14; 23,21), dieSchafe zerstreuen und die Herde entzweien, so daß leicht zu erkennen ist,daß sie innerlich reißende Wölfe sind (Mt 7,15).

Über die Willensfreiheit

15. Sie bestreiten, daß es im Menschen irgendeine freie Entscheidungdes Willens gebe, und das so unverschämt, daß Calvin (Inst. II,2, § 4)die griechischen Väter der Unverschämtheit, die lateinischen der Falsch-heit bezichtigt, weil diese fast immer den Ausdruck ‚liberum arbitrium‘(freie Entscheidung), jene ‚autexusion‘ (Selbstbestimmung) gebrauch-ten: „Darüber haben sie zu philosophisch gesprochen“, sagt er, „die sichrühmten, Jünger Christi zu sein. Denn bei den Lateinern bedeutete derAusdruck ‚liberum arbitrium‘ immer, als ob der Mensch noch unver-sehrt wäre; die Griechen aber maßten sich noch unverschämter denAusdruck an, denn sie sagten ‚autexusion‘, als ob der Mensch die Machtüber sich selbst behalten hätte“, etc., Luther dagegen gab (Jena III,160)nicht weniger kühn einem Buch den Titel ‚De servo arbitrio‘ (vom un-freien Willen).

Gegen diesen Irrtum hat schon früher der hl. Augustinus viel ex pro-fesso und an vielen Stellen geschrieben, aber immer so, daß er auf diegleiche Sentenz zurückkam, die er einmal als festen und bleibendenSatz in die Worte faßte: „Es gibt eine freie Entscheidung des Willens;wer das leugnet, ist kein Katholik.“

Von der Todsünde

16. Sie bestreiten, daß die Gläubigen Todsünden begehen können,weil „die Sünden der Gläubigen läßlich“ sind, sagt Calvin (Inst. III,4, §28), „denn durch die Barmherzigkeit Gottes gibt es keine Verurteilungfür jene, die in Christus Jesus sind (Röm 8,1), weil sie nicht angerechnetwerden.“ Als ob die Verwünschungen des Petrus und die Verleugnungseines Herrn, der Ehebruch und der Mord Davids und erst recht der

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Ungehorsam Adams und Evas keine Todsünden gewesen wären. Waswollte denn jener ausdrücken, der in der Geheimen Offenbarung (3,1)dem Bischof sagte: Du hast den Namen, daß du lebst, und du bist tot?Was bedeutet es, daß David unter so vielen Tränen schluchzend bat, daßseine Sünde getilgt werde, daß ihm ein neues Herz geschaffen werde (Ps51), wenn auf ihm keine Verurteilung lastete, da er ein Gläubiger war,und ihm keine Sünde angerechnet wurde?

Von den fünf Sakramenten, die die Neuerer leugnen

17. Sie bestreiten, daß es überhaupt ein Sakrament der Firmung, derPriesterweihe, der Ehe, der letzten Ölung und der Sündenvergebunggebe, im Gegensatz dazu, was an so vielen Stellen der Heiligen Schriftbestätigt wird. Doch nichts ist solcher Theologen würdiger, als was Cal-vin (Inst. IV,19, § 4ff) behauptet, daß es gewisse von diesen Sakramen-ten zur Zeit der Apostel gegeben habe, der aber bestreitet, daß es siejetzt gibt. Als ob die Sakramente nur auf Zeit eingesetzt worden wären,nicht so, daß sie so lange bestehen wie die Kirche selbst, d. h. bis zurVollendung der Zeiten.

Von der Wirksamkeit der Taufe

18. Sie lassen zwar die zwei anderen Sakramente zu, Taufe und Eucha-ristie, aber so, daß sie die Wirksamkeit der Taufe zur Nachlassung derSünden leugnen. Denn wenn wir Calvin (Inst. IV,15,2.10) glauben, be-wirkt das Wasser der Taufe nicht „unsere Reinigung und unser Heil oderhat in sich die Kraft der Reinigung, der Wiedergeburt und Erneuerung“.Das versichert aber ganz deutlich der Apostel Paulus im Brief an Titus(3,5), wenn er sagt, Christus hat uns gerettet durch das Bad der Wiederge-burt. Auch das Konzil von Nicäa hat geboten, das zu glauben, ebenso dasvon Konstantinopel, und die ganze Kirche bekennt sich dazu, wenn siefeierlich singt: „Ich bekenne eine Taufe zur Vergebung der Sünden.“

Von den ungetauften Kindern der Gläubigen

19. Sie leugnen, daß die Kinder der Gläubigen als Kinder des Zornes(Eph 2,5) geboren werden oder auch vor der Taufe der Verdammnisunterworfen sind. Calvin (Inst., IV,16,24) sagt nämlich: „Ein Kind, das(einem Gläubigen) geboren wird, ist schon vom Mutterschoß an durch

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die Verheißung des Erbrechts im Bund eingeschlossen. Als ob der Apo-stel (Röm 9,8) nicht ausriefe: Nicht weil sie dem Fleisch nach Kindersind, sind sie Kinder Gottes, sondern weil sie Kinder der Verheißung sind,werden sie als Nachkommen betrachtet. Allerdings ist nirgends denendie Verheißung gegeben, die aus dem Blut, aus dem Wollen, des Mannesoder aus dem Wollen des Fleisches geboren sind, sondern nur denen, diewiedergeboren sind aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, d. h. dieaus Gott geboren sind (Joh 1,13; 3,5). Niemand bezweifelt, daß Paulusebenso wie König David von gläubigen Eltern stammte; und doch zö-gert dieser nicht zu bekennen, er sei in Sünden empfangen (Ps 51,7) undjener, er sei von Natur ein Kind des Zornes.

Zu dieser Frage steht eine wichtige Erklärung beim hl. Augustinus:„Wer sagt, daß auch die Kinder, die ohne den Empfang des Sakramentessterben, in Christus wiedergeboren werden, der widerspricht wahrlichder apostolischen Predigt und verurteilt die ganze Kirche, in der mandeswegen eilig zur Taufe der Kinder schreitet, weil man ohne Zweifelglaubt, daß sie anders keineswegs in Christus wiedergeboren werdenkönnen.“ Nach Tertullian sagt auch Hieronymus: „Sie sind nicht alsChristen geboren, sondern werden es.“

Die günstigste Auffassung bei den Katholiken ist die, daß die unge-tauften Kinder, denen außer der Erbschuld keine Sünde zur Last gelegtwerden kann, nur zur Strafe und nicht auch zur Empfindung des Verlu-stes verurteilt werden, daß sie sich einer natürlichen Glückseligkeit er-freuen, so groß und gut sie nur sein kann, so daß sie auf diese Weise auchGott loben für seine Gerechtigkeit, die nicht nur straft, sondern auchzuteilt.

Vom Sakrament der Eucharistie

20. Sie bestreiten, daß in der Eucharistie der wahre und wirklicheLeib Christi wahrhaft und wirklich gegenwärtig und unter den Gestal-ten von Brot und Wein enthalten ist. Das ist nämlich der ausdrücklicheWidersinn Calvins (Inst. IV,17, § 10ff) und aller Calviner, weshalb sieauch als eigentümliche und vorzügliche Bezeichnung von allen ‚Sakra-mentarier‘ genannt werden, weil sie sich nämlich das Sakrament ohneInhalt vorstellen und es so bestimmen. Unter diesem Namen werden sienicht nur von allen Rechtgläubigen verurteilt, sondern auch von denLutheranern als Ungläubige, Rebellen und Häretiker verworfen.

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Dieser Leugnung oder vielmehr diesem Geschwätz widerspricht dia-metral das Wort Christi (Mt 26,26) klarer als die Sonne, unerschütterli-cher als der Himmel: Das ist mein Leib. Luther wurde einst eingeladen,diesem Wort zu widersprechen, als er bereits alle Grenzen der Zurück-haltung weit überschritten hatte. Er scheute sich aber, ihm zu wider-sprechen, und gab zu, daß dieses Wort zu machtvoll ist. Damit es abernicht scheine, er habe von seiner früheren Kühnheit etwas verloren oderstimme mit der römischen Kirche freiwillig oder aus Berechnung über-ein, erklärte er, er hätte zu gern widersprochen, wenn er die geringsteMöglichkeit gesehen hätte, kühn zu bestreiten, was Christus so klar undfest versicherte. So begnügte er sich (Jena II,274) damit, die Transsub-stantiation zu leugnen, um den Seinen Christus als Brot geworden zubieten.

Die Sakramentarier dagegen, die sich um so scharfsinniger dünken,als sie in Wahrheit unverschämter sind, wagten diesen Worten doch zuwidersprechen. Guter Gott, in welche Zersplitterung und Verdrehungder Meinungen und Worte sind sie dabei geraten! Sie muß wahrlichgrößer erscheinen als die Sprachenverwirrung der Erbauer des Turmsvon Babylon, von der wir (Gen 11,9) gelesen haben. Bis zu 84 verschie-dene Erklärungen hat der sehr bekannte Bischof Claudius Sanctesiusvon Evreux aus ihren Büchern in seinem goldenen Werk ‚Über die Eu-charistie‘ zusammengetragen. Wenn du alle dazunimmst, die seit je-ner Zeit hinzugekommen sind, wirst du nicht weniger als 200 finden;und zwar sind sie nicht nur verschieden, sondern, was bei dem großenBetrug unvermeidlich ist, auch fast alle einander widersprechend. Dasgeschah nicht ohne die bewundernswerte und überaus weise Entschei-dung der höchsten Güte Gottes, damit jene von selbst in den Abgrundder Entzweiung stürzen mußten, die es wagten, bei diesem Sakramentder großen Einheit durch die ungeheure Leugnung gegen das Wort Got-tes zu verstoßen und es zu entweihen.

Zwei Erklärungen scheinen jedoch plausibler als viele in dem Wirr-war der Calviner; die eine, die den Worten Christi eine symbolische undsinnbildliche Bedeutung beilegt und das wesentliche Verbum ‚ist‘ als‚bedeutet‘ versteht; die andere will vom Buchstaben der Worte Christiam wenigsten abzuweichen scheinen und räumt ein, daß der wahre LeibChristi im Sakrament der Eucharistie ist, aber durch den Glauben, nichtdurch die wahre leibliche Gegenwart, die dem Essen vorausgeht; er seischließlich so in ihm, daß er es nicht ist; so wirklich, daß es doch nur inder Vorstellung ist.

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Was die erste betrifft, [sie verdiente tatsächlich eher in die Schule derGrammatik verwiesen zu werden als in die der Theologen, damit dieStümper so oft mit der Rute eingebleut bekommen, als sie bestreiten,daß mit dem Wort ‚ist‘ das wahre Wesen bezeichnet wird, nicht dessenSinnbild.] Was würden denn diese Verfechter der bildlichen Redeweisesagen, wenn sie den hebräischen Text des hl. Matthäus gesehen hätten?Er hat das Evangelium in der gleichen Sprache verfaßt, der sich Chris-tus der Herr bediente, als er das Sakrament einsetzte und mit den Men-schen auf Erden verkehrte. So muß man auch glauben, daß er uns dieEinsetzungsworte so überliefert hat, wie sie vor allem und am meistenzu beachten sind; er hat sie folgendermaßen ausgedrückt: Nehmt undeßt diesen meinen Leib, ohne das Wort ‚ist‘ oder ein ähnliches hinzuzu-fügen, an dessen Stelle die Sakramentarier ihr ‚bedeutet‘ setzen und unsaufdrängen könnten.

Wenn man das beherzigt, bleibt auch folgendes sicher offenkundig:daß die anderen Evangelisten (Mk 15,22; Lk 22,19) übereinstimmenddas griechische Verbum ‚esti‘ hinzufügten, ebenso der hl. Paulus (derdasselbe nicht von den Mitaposteln empfangen hat, sondern vom Herrn,der bereits in den Himmel aufgefahren war: 1 Kor 11,23); das geschahnicht in der Absicht, um der erklärenden Auslegung den Weg zu eröff-nen, als hätten sie das Wort ‚ist‘ jemals als ‚bedeutet‘ annehmen wollen.Es geschah vielmehr, um den gleichen Inhalt, den Matthäus in der Mut-tersprache Christi ausdrückte, deutlicher auszudrücken: durch das zumDemonstrativpronomen ‚das‘ hinzugefügte Verbum und das Substantiv‚Leib‘ mit dem zugehörigen Adjektiv ‚mein‘, durch das die Person Chri-sti selbst eindeutig bezeichnet wird. Ebenso fügen sie das Relativprono-men ‚der‘ hinzu, von dem alle Grammatiker wissen, daß es auf das Sub-stantiv bezogen ist, damit durch die Hinzufügung so vieler Worte, dieüberhaupt nichts anderes als das Subjekt und die Wahrheit des Subjektsausdrücken, niemand daran zweifeln kann, daß Christus der Herr beider Einsetzung des Sakramentes seinen wahren und wirklichen Leibgemeint hat, der dann am Kreuz für uns hingegeben und preisgegebenwurde, nicht im Sinnbild und Gleichnis, sondern wahrhaft und wirk-lich, damit nach der Vollendung des Erlösungswerkes alle Vorbilderdes Alten Testamentes ihr Ende finden.

Fügen wir noch die so deutlichen Worte des hl. Paulus (1 Kor 11,29)hinzu: Denn wer unwürdig ißt oder trinkt, der ißt und trinkt sich dasGericht, weil er den Leib des Herrn nicht unterscheidet. Was hätte erdenn Deutlicheres schreiben können, um sowohl das Sinnbild und die

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erfundene ‚Bedeutung‘ auszuschließen als auch die Auslegung zu ver-werfen, die die Wirklichkeit des Leibes Christi auf den Glauben desEmpfangenden gründet, nicht auf die Wahrheit des Sakramentes, diedem Glauben des Empfangenden mehr zuschreibt als der Macht des-sen, der es eingesetzt hat? Wer kann denn unwürdiger essen als jener,der überhaupt nicht glaubt, daß es der Leib Christi ist? Nun ißt undtrinkt sich aber auch jener das Gericht, der unwürdig ißt und trinkt, weiler den Leib des Herrn nicht unterscheidet. Daher ist es der wahre Leibdes Herrn, auch wenn er unwürdig und von Ungläubigen genossen wird.Damit daran niemand zweifeln kann, müssen so viele Wunder gesche-hen, die durch Berichte bezeugt sind: das aus der heiligen Hostie ver-gossene Blut, die bald durch einen perfiden Juden, bald durch einenungläubigen Häretiker verletzt wurde. Die Echtheit dieser Wunder istnoch jetzt bei den Bewohnern von Paris, von Dijon, und an vielen ande-ren Orten des christlichen Erdkreises bekannt.3

Vom heiligen Meßopfer

21. Sie bestreiten, daß es in der Kirche Christi ein echtes Opfer imeigentlichen Sinn gibt. In dieser Leugnung stimmen alle Häretiker un-serer Zeit überein und sie glauben, alles erreicht zu haben, was sie an-streben, wenn sie unserer Religion das Opfer nehmen, ohne das sie eben-sowenig bestehen kann wie ohne Gott. So weichen sie sowohl vom aus-drücklichen Wort Gottes als auch vom Glauben aller alten Väter undChristen völlig ab. Was gibt es denn Klareres als folgende Worte? Dasist mein Blut, das für euch und die vielen vergossen wird (Mt 26,28; Lk22,20) zur Vergebung der Sünden (Mt 26,28). Dieser heilige Leib wirduns nämlich nicht nur als Sakrament hingegeben, sondern auch als Op-fer für uns. Wem aber sollte er für uns hingegeben werden, wenn nichtdem allmächtigen Vater? Damit aber niemand meine, es sei zwar einOpfer, aber kein Sühnopfer, fügt Christus mit klaren Worten hinzu: zurVergebung der Sünden.

Ich übergehe das Wort, das durch den Propheten Maleachi (1,11)ergangen ist, von der reinen Opfergabe, die auf der ganzen Erde darge-bracht werden muß; ich übergehe zahlreiche andere, ganz stichhaltigeArgumente aus der Heiligen Schrift, die die Theologen nicht auslassen.Denn unseren Glauben bestätigt hinreichend, und mehr als das, diesesWort, das der Mund des Herrn gesprochen hat (Jes 58,14), das mit größ-ter Klarheit und Sicherheit bestätigt, daß die Eucharistie uns nicht nur

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als Sakrament übergeben, wurde, sondern auch als Opfer für uns darge-bracht werden mußte.

Was kann es gewesen sein, was diese Armseligen bewog, daß sie denGlanz der Worte Christi durch ihr Geschwätz verdunkeln wollten? Ichwill nur einiges sagen, denn mehr darüber sagen die Theologen ex pro-fesso. Das eine ist, daß die Neuerer, als wäre es für uns neu und unerhört,ausrufen: Es gibt nur ein Opfer für die Sünde, durch das Christus fürimmer jene vollendet hat, die geheiligt sind (Hebr 10,14). Daraus folgernsie, es sei nicht notwendig, daß Christus sich öfter opfere. Also, wirdman sagen, begründen sie die Zerstörung des Opfers des Altares von derStellung des Kreuzesopfer her; doch wer soll das glauben? Du denkstrichtig, wenn du diesen Schluß ziehst; ihre gewöhnliche Art ist es ja, dieWahrheit gerade durch die Wahrheit zu zerstören. So bewahrheitet sich,was Tertullian schrieb: „Der Teufel stellt der Wahrheit auf verschiedeneWeise nach; manchmal trachtet er sie zu erschüttern, indem er sie ver-teidigt.“

Auf gleiche Weise ziehen sie (die Häretiker) ihre Schlüsse: weil derGlaube rechtfertigt (Gal 5,8), folglich rechtfertige die Liebe nicht; weiluns die Gerechtigkeit Christi angerechnet wird (Röm 4,22ff), folglichgebe es in uns keine Gerechtigkeit; weil Christus für uns Verdiensteerworben hat, folglich gebe es in uns keinerlei Verdienste; weil Christusder Hohepriester ist (Hebr 4,14f u. a.), folglich gebe es in der Kirchekeinen Hohepriester als Stellvertreter Christi; weil Christus der einzigeMittler der Erlösung ist (Hebr 9,15), folglich gebe es keinen Mittlerdurch Fürsprache; weil Christus für uns gefastet hat (Mt 4,2), folglichmüßten wir nicht fasten; schließlich, um nicht alles aufzuzählen: weildas Sakrament ein Zeichen ist, folglich gebe es im Sakrament keineWirklichkeit. Doch in den Augen des unerfahrenen Volkes scheint dasetwas Großes und Einleuchtendes zu sein. Wenn du noch hinzufügst:Christus ist für alle Gläubigen und Auserwählten auferstanden und inden Himmel aufgefahren (1 Kor 15,20ff; 2 Kor 5,15), folglich werdekeiner von den Auserwählten und Gläubigen auferstehen und in denHimmel aufgenommen werden. Sie werden es jedenfalls glauben, wennes nur Luther oder Calvin behaupten; denn die gleiche Art zu argumen-tieren setzt diesen Betrug durch.

Doch für jene, die entweder in der Theologie gebildet oder in derLogik besser bewandert sind, ist das alles lächerlich, denn sie wissen,daß wir im Gegenteil folgendermaßen argumentieren müssen: Weil derGlaube rechtfertigt, folglich rechtfertigt die Liebe noch viel mehr, ohne

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die der Glaube tot ist (Jak 2,17); weil uns die Gerechtigkeit Christiangerechnet wird, wird folglich eine wirkliche und wahre Gerechtigkeitin uns bewirkt und hervorgerufen; weil Christus für uns Verdienste er-worben hat, sind folglich Verdienste in uns, die uns durch die Verdien-ste Christi verliehen wurden; weil Christus der Hohepriester ist, muß esunter denen, die einstweilen an seiner Statt stehen, einen Hohepriestergeben; weil Christus der einzige Mittler der Erlösung ist, muß es folg-lich viele Mittler durch Fürbitte geben können, die mit uns von ihmerbitten, daß er uns den Lohn und die Wirkung seiner Erlösung verlei-he; weil Christus für uns gefastet hat, müssen folglich wir nach seinemVorbild und Beispiel um so mehr fasten; weil Christus auferstandenund in den Himmel aufgefahren ist, werden folglich auch wir auferste-hen und in den Himmel aufgenommen, wenn wir, wie Paulus im 1. Briefan die Thessalonicher (4,13-16) argumentiert, nicht nur Gläubige, son-dern auch Auserwählte sind; weil schließlich im Sakrament ein Zei-chen ist, muß folglich in ihm auch sein, was bezeichnet wird.

Ebenso ist es, um zu unserer Frage zu kommen: Daraus, daß Christussich am Kreuz geopfert hat, ziehen wir lieber den Schluß: also hat ersich auch in der Eucharistie geopfert, um nämlich das Opfer durch dasOpfer zu empfehlen und zuzuwenden. Es ist allerdings sehr wahr, daßdurch das Kreuzesopfer alles vollbracht ist und es keiner neuen Opfer-gabe bedarf. Es ist aber deswegen nicht weniger wahr, daß die Eucharis-tie ein Opfer ist. Es sind nämlich nicht zwei Opfer, das des Kreuzes unddas des Altares, sondern ein einziges; in beiden wird ja nur dasselbegeopfert und von einem einzigen Opfernden, zu einem einzigen Zweckund dem einzigen Vater. Es ist ja derselbe Christus, der in beiden so-wohl opfert als auch geopfert wird; der einzige himmlische Vater, demgeopfert wird, und einzig zur Vergebung der Sünden und zur Heiligungdes Namens Gottes. Deswegen besteht ein Unterschied nur in der Form,denn wie wir gesagt haben, ist die Opfergabe derselbe Christus, aller-dings am Kreuz in seiner eigenen Gestalt und Form auf blutige Weise,in der Eucharistie dagegen unter der Gestalt von Brot und Wein nachder Ordnung Melchisedeks (Ps 110,4; Hebr 7,1f). Der Zweck, warum ergeopfert wird, ist in beiden der gleiche, nämlich die Vergebung der Sün-den; er wird aber in beiden nicht auf die gleiche Weise erreicht; dennam Kreuz geschieht die Vergebung durch eine unermeßliche Erlösung,Genugtuung und Wiederherstellung, auf dem Altar dagegen durch dieZuwendung der Früchte der Erlösung, Genugtuung und Wiederherstel-lung. Einzig Christus opfert sich selbst, aber am Kreuz ohne den Dienst

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irgendeines anderen untergeordneten Priesters, auf dem Altar nicht nurdurch sich selbst wie bei der Einsetzung, sondern er wollte durch Mitar-beiter seines Priestertums, das er nach der Ordnung Melchisedeks einge-setzt hat, selbst an allen Orten als reine Opfergabe (Mal 1,11) darge-bracht werden. Es ist der gleiche Gott, dem geopfert wird, aber amKreuz als dem Erzürnten und gegen das ganze Menschengeschlecht Er-bitterten, in der Eucharistie als dem Besänftigten und Gnädigen, derbereit ist, allen Gutes zu erweisen, denen die Früchte des ursprüngli-chen Kreuzesopfers zuteil werden.

Das Opfer der heiligen Messe ist also kein anderes, sondern das glei-che wie das Opfer des Kreuzes, weit davon entfernt, im Gegensatz zuihm zu stehen. Es ist nicht so sehr eine Wiederholung des Opfers, dasam Kreuz geschehen ist, als eine Fortsetzung und dauernde Darbrin-gung, da Christus sich durch einen einzigen, ewigen und beständigenWillensakt als Erlöser dem Vater bis in Ewigkeit darbringt und opfert.So wird von der Seite Christi dieses Opfer nicht öfter und nicht durchwiederholte Akte dargebracht, sondern durch einen einzigen Akt, derdurch kein Aufhören unterbrochen wird, während es von unserer Seitehinsichtlich unseres Dienstes, den wir leisten, und hinsichtlich der äu-ßeren Handlungen nicht so sehr als fortgesetzt denn als wiederholt be-trachtet werden kann, aber immer als das gleiche Opfer. So bietet undspendet die Sonne durch einen einzigen und dauernden Akt ihr Lichtimmer der niedrigen Welt und wird in sich in keiner Weise durch denWechsel von Tag und Nacht berührt, obwohl aus unserer Sicht die Wie-derholung des Wechsels von Tag und Nacht, wenn auch in der gleichenBahn, unterschieden wird. Wer daher sagen wollte, das Meßopfer unddas Kreuzesopfer seien zwei Opfer, der hätte recht wegen der Form undder Art, wie beide dargebracht werden; doch passender und nicht weni-ger, sondern viel mehr der Wahrheit entsprechend spricht, wer sagt, daßes ein Opfer ist, um es so zu sagen, wegen der Identität dessen, der opfertund geopfert wird. Ebenso spricht mehr der Wahrheit entsprechend,wer wegen des ungeteilten Wesens der Sonne sagt, daß die Sonne eineist, als wer wegen des Wechsels der Tage meint, man müsse von mehre-ren Sonnen sprechen. Doch das sei nur nebenbei gesagt.

Doch wer sieht nicht die Täuschung des Teufels? Seine Schüler (dennals solchen bekennt sich Luther bei diesem Argument) heben das Opferder Messe auf und zerstören es, als wollten sie alle heilsame Kraft in dasOpfer des Kreuzes verlegen. Wenn sie aber zum Kreuzesopfer kom-men, nehmen sie ihm alle Kraft und allen Wert, indem sie behaupten,

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dabei sei nichts bewirkt worden, wie wir oben (Nr. 5) gesagt haben;vielmehr schreiben sie das ganze Ergebnis unserer Erlösung, ich weißnicht welchen, Qualen der Hölle zu, von denen in der ganzen HeiligenSchrift kein Wort steht. Daraus ist leicht zu ersehen, daß ihr ganzer Plannichts anderes ist, als das eine zu verachten und das andere nicht zuzu-lassen.

Von der Gewalt der Hirten

22. Sie bestreiten, daß Christus der Herr den Hirten irgendeine Ge-walt gegeben habe, Sünden nachzulassen und zu vergeben (Inst.IV,19,14.16f). Doch seine Worte, durch die er ihnen diese zusichert,stehen sonnenklar im Evangelium des hl. Matthäus (16,19; 18,18) unddes hl. Johannes (20,22f).

Vom Hinabsteigen Christi in das Reich des Todes

23. Sie bestreiten, daß Christus wirklich und im historischen Sinn indas Reich des Todes hinabgestiegen ist; er sei das nur im mystischenSinn und bildlich (Inst. II,16,9f), obwohl es im Glaubensbekenntnisausdrücklich heißt: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. So als obdas Apostolische Glaubensbekenntnis in diese Worte gefaßt worden seiund gefaßt werden mußte, die einen so schwierigen und verborgenenSinn haben, daß ihn bisher außer Calvin niemand herausfinden undahnen konnte; aber nicht eher in solche, die am leichtesten zu verstehensind und eine Bedeutung haben, die jedem Christen zugänglich ist. Derhl. Paulus aber versteht sie ganz anders, wenn er im Epheserbrief (4,9)von Christus erklärt: Daß er auffuhr, was bedeutet das anderes, als daßer zuvor hinabstieg unter die Erde?

Von der Anrufung der Heiligen

24. Sie bestreiten, daß man die Heiligen anrufen muß, und leugnen alsFolge davon, daß Gott uns irgendeine Verbindung mit ihnen oder ihnenmit uns gelassen habe. Damit zerstören sie, soviel sie können, die ‚Ge-meinschaft der Heiligen‘, die alle Apostel einmütig lehrten. Calvin gehtsehr unerfahren und unklug vor, wenn er sie (Inst. III, 20-21.24) einzigauf eine Verbindung des Glaubens beschränken will, da man die Heili-gen als die Seligkeit Besitzenden, nicht mehr als Glaubende sehen muß.

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Der Apostel beteuert ja (1 Kor 13,10), daß für die Seligen der Glaubeaufhört.

Von der Sorge der Heiligen für uns

25. Sie bestreiten, daß die Heiligen irgendwie Sorge für uns tragenund irgendeine Kenntnis von unseren Anliegen haben. „Wer hat geof-fenbart, sie hätten so lange Ohren, daß sie bis zu unseren Stimmen rei-chen?“, sagt Calvin (Inst. III,20, § 24). Mit wieviel mehr Recht könnteich ausrufen: Wer hätte geglaubt, Calvin habe eine so lästerliche Seeleund einen derart unverständigen Geist, daß er das Gehör der seligenGeister nach der Länge der Ohren mißt? Hat denn nicht Christus selbst(Lk 15,10) geoffenbart, daß sich die Engel über die Reue der Sünderfreuen? Doch wie sollten sie sich darüber freuen, wenn sie nichts davonwissen? Wenn sie es wissen, mit welchen Ohren haben sie es denn erfah-ren? Denn mit genau den gleichen Ohren vernehmen die Seelen derHeiligen unsere Stimme; sie haben ja die gleichen Ohren und Augen,Hände und Füße wie sie, da derselbe Christus der Herr (Lk 20,36) ge-sagt hat: Sie werden den Engeln Gottes gleich sein.

Von der Fürsorge für die Verstorbenen

26. Sie bestreiten, daß wir irgendeine Sorge für die Verstorbenen tragenmüssen; sie leugnen, daß den Seelen der Verstorbenen durch die Gebeteder Lebenden geholfen wird, daß für die Toten irgendein Ort bleibt, wosie Nachlaß von Sünden erlangen könnten (Inst. III,5). Dieser Leugnungsteht das ganz offenkundige Zeugnis der Heiligen Schrift im 2. Buch derMakkabäer (12,46) entgegen: Es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke,sagt der Heilige Geist, für die Verstorbenen zu beten, damit sie von ihrenSünden erlöst werden; aber auch das Zeugnis Christi selbst, der im Evan-gelium (Mt 12,32) sagt, es gebe bestimmte Sünden, die in dieser Weltvergeben werden, nicht in der künftigen. Er hätte nicht so gesprochen,wenn es nicht bestimmte Sünden gäbe, die auch in der anderen Welt ver-geben werden. Das wußte sogar der Heide Platon, der nur vom Licht dernatürlichen Vernunft erleuchtet das Fegefeuer zugelassen hat. Was hatdenn der hl. Augustinus anderes getan in dem ganzen Buch, das er verfaßthat unter dem Titel ‚Von der Sorge, die man für die Toten tragen muß‘, alsuns schon durch den Titel des Buches selbst zu belehren, daß den inChristus Verstorbenen durch die Gebete der Lebenden geholfen wird?

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II.

Behauptungen der Neuerer

Dies alles und fast unzählige weitere Hauptpunkte des alten katholi-schen Glaubens bestreiten diese Neinsager. Wenn sie aber darüber hin-aus etwas zu bejahen scheinen, worüber sie mit uns einig sind, danngeschieht das alles einschränkend, verneinend und phantastisch. Sie ge-fallen sich ja so sehr in der Kunst des Verneinens, daß sie sogar durchdie Zustimmung bestreiten und, wie wir oben nach Tertullian gesagthaben, „wenn sie glauben, nicht glauben“. Ich will einiges aufzählen,was mir unterkommt, aber nur teilweise.

Über Gott, der Böses tue und bewirke

1. Sie behaupten, Gott lasse den bösen Willen des Menschen nicht nurzu, sondern verursache, wolle, schaffe und bewirke ihn. Calvin (Inst.II,4,3) scheute sich nicht, den hl. Augustinus des Aberglaubens zu be-zichtigen, weil er „die Verblendung und Verstocktheit des Sünders“ nurauf „das Vorherwissen“ und die Zulassung Gottes zurückführt. An dergleichen Stelle behauptet er ausdrücklich, Gott lenke „durch den Die-ner seines Zorns, den Teufel, die Entschlüsse“ der Gottlosen, „wodurchklar wird, daß er auch den Willen“ anrege „und das Bemühen“ bestärke.Er führt das Beispiel des Königs Sihon der Amoriter an und sagt (II,4, §3): „Deshalb, weil Gott sein Verderben wollte, war die Verhärtung desHerzens die göttliche Vorbereitung des Untergangs.“ Und wenn derSatan die Menschen zum Sündigen verleitet, versichert er (II,4, § 5), seier „mehr ein Werkzeug“, dessen Gott sich bedient, „als aus sich selbstzu handeln“. Er behauptet (III,23, § 4): „Ich gebe zu, daß alle KinderAdams in dieses Unglück (er spricht von der Sünde) gefallen sind, aberdas ist, wie ich am Anfang gesagt habe, schließlich doch immer nur aufdie Entscheidung des göttlichen Willens zurückzuführen.“ Gleich dar-auf (III,23,7) greift er jene an, die „bestreiten, es sei von Gott bestimmtgewesen, daß Adam durch seinen Abfall zugrundegehe“. Anschließend(III,23,8) spricht er von den Verdammten und sagt: „Ihr Verderbenhängt von der Vorherbestimmung Gottes ab“; und weiter: „Der Menschfällt also, weil es die Vorsehung Gottes so angeordnet hat.“ Er sagt aberauch, die Blutschande Abschaloms sei „Gottes Werk“ (I,18,1), ebensodie Grausamkeit der Chaldäer gegen die Juden. An anderer Stelle

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(I,18,3) sagt er: „Ich habe schon deutlich genug gezeigt, daß man Gottden Urheber alles dessen nennen muß, wovon die Zensoren wollen, daßes nur durch seine untätige Zulassung geschehe.“

Durch diese ungeheure Behauptung berauben sie den Willen Gottes,des überaus Guten und Erhabenen, seiner unermeßlichen Güte undleugnen seine Kraft, Wirksamkeit und Beständigkeit, wenn die Sündenicht im Begehen, sondern in der Unfähigkeit besteht und wenn dieSünde wollen Versagen bedeutet, nicht Bewirken. Nun lehrt aber dieganze Heilige Schrift, daß Gott will, daß alle Menschen gerettet werden(1 Tim 2,4), daß keiner verlorengehe (2 Petr 3,9); daß Gott die Sündeund Missetat haßt (Weish 14,9); daß das Verderben der Menschen vonihnen selbst kommt, von Gott aber nur das Gute und ihr Heil (Hos13,9). Treffend sagt der hl. Augustinus: „Behaupten, die göttliche Vor-sehung erstrecke sich nicht bis auf diese Welt, oder alles Böse werdevom Willen Gottes bewirkt, ist beides abscheulich, am meisten aber dasletzte.“ Der hl. Basilius hat eine ganze Predigt darüber gehalten: „DaßGott nicht der Urheber des Bösen ist.“

Über die Vergebung der Sünden

2. Sie behaupten, die Sünden würden nur durch Nichtanrechnung ver-geben (Inst. III,4,18; II,17,10). Das bedeutet nichts anderes, als die wahreVergebung der Sünden zu leugnen. Sie wollen nämlich nicht zugeben,daß die Sünden getilgt, ausgelöscht, von uns genommen, entfernt wer-den, daß das Herz gereinigt, abgewaschen, gebadet, erleuchtet oder dasHerz geläutert, wiederhergestellt, erneuert wird (das alles bestätigt dieHeilige Schrift oftmals). Sie wollen vielmehr, daß die Sünden bleiben,aber nicht angerechnet werden; zugedeckt, nicht abgewaschen; verbor-gen, nicht getilgt. So als ob Christus mit dem Mantel seiner Unschuldund Gerechtigkeit gleichsam unsere Missetaten nur zudeckte, nicht tilgte(vgl. Inst. III,11, § 3; 14, § 12); so wie Rahel (Gen 31,34) das Götzen-bild ihres Vaters nicht wegwarf, sondern sich daraufsetzte, es mit ihremKleid bedeckte und behielt. Wenn aber der Vater die Sünden verab-scheut, dann der Sohn nicht weniger; wenn sie der Vater weder ertragennoch sehen könnte, ohne zu erzürnen, dann kann sie auch der Sohnnicht zudecken oder durch seine Gerechtigkeit begünstigen. Daher bleibtnur, daß er sie verbirgt, indem er sie tilgt und abwäscht, zumal Gottnichts verborgen und seinen Augen nicht offenbar sein kann (vgl. Hebr4,13), außer was überhaupt nicht existiert.

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Über die Rechtfertigung

3. Sie behaupten, der Sünder werde nur durch die Anrechnung derGerechtigkeit Christi gerechtfertigt, so daß in uns keine Gerechtigkeitvon Christus sei, sondern uns nur die angerechnet werde, die in Christusist, nicht in uns (Inst. III,11, § 3ff). Mit dieser Behauptung leugnen siedie Kraft und Wirksamkeit der Gerechtigkeit Christi, die am meistendarin aufleuchtet, daß sie uns nicht nur dadurch nützt, daß sie uns ange-rechnet, sondern förmlich in unsere Herzen übergeleitet und eingegos-sen wird, so daß wir Kinder Gottes nicht nur heißen, sondern auch sind (1Joh 3,1); und was die Folge ist, daß wir nicht nur gerecht genannt unddafür gehalten werden, sondern es wirklich sind und werden. Dafür gibtes in der Heiligen Schrift fast nicht mehr Worte als Zeugnisse: Die Lie-be Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, deruns verliehen wurde (Röm 5,5). Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seidihr Licht im Herrn (Eph 5,8). Und jener zum Hochzeitsmahl Geladene(Mt 22,11ff) wurde ausgestoßen, nicht weil der Bräutigam oder Königs-sohn kein hochzeitliches Gewand hatte, sondern weil er es nicht hatte;und dem verschwenderischen Sohn (Lk 15,22) hat der Vater nicht nursein Gewand verschrieben, sondern hat ihm ein neues geschenkt; unddie Heiligen (Offb 7,13f) gehen in weißen Gewändern nicht so sehr,weil das Lamm weiß ist, sondern weil sie ihre Kleider gewaschen habenim Blut des Lammes.

Über Glauben und Liebe

4. Sie behaupten, wir würden allein durch den Glauben gerechtfertigt.Durch diese Behauptung leugnen sie, daß die Liebe und ihre Werkezugleich mit dem Glauben rechtfertigen (Inst. III,11, § 19; 17, § 10). Esist erstaunlich, wie in dieser Frage die Apostel Paulus und Jakobuseinerseits, aber auch Luther und Calvin andererseits mit gegnerischemUngestüm und gegensätzlichem Bemühen einander widersprechen.Luther (Jena IV,29) sagt: „Durch den Glauben wird der Mensch Gott,durch die Liebe ist er bloßer Mensch.“ Paulus (1 Kor 13,2) dagegensagt: Ohne Liebe bin ich nichts. Luther ergötzt sich zum gleichen The-ma (IV,73), damit du leicht erkennen kannst, welch tüchtiger Logiker erist, an dem schönen Argument: Das Gesetz stammt nicht aus dem Glau-ben (Gal 5,12). Das Gesetz schreibt aber nichts anderes vor als dieLiebe; also stammt die Liebe nicht aus dem Glauben, sondern steht im

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Widerspruch zu ihm. Was sagst du dazu, großer Paulus? Wenn ich sogroßen Glauben hätte, daß ich Berge versetzte, hätte aber die Liebe nicht,nützte es mir nichts (1 Kor 13,2f). Jakobus (2,20) aber sagt: Glaubeohne Werke ist tot. Nun gehören aber die Werke der Liebe; daher ist derGlaube ohne Liebe tot; weit gefehlt, daß die Liebe im Widerspruch zumGlauben stünde.

Der gleiche Luther sagt im gleichen Zusammenhang (Jena IV,34):„Ganz gegensätzlich sind die Wirkungen, Pflichten und Tugenden derLiebe und des Glaubens.“ Und etwas später (IV,44b): „Denn nicht dieLiebe und die aus ihr folgenden Werke bilden und schmücken den Glau-ben, aber mein Glaube gestaltet und schmückt die Liebe.“ Paulus ver-kündet aber im Gegenteil, daß der Glaube ohne Liebe nichts nützt;Jakobus, daß er tot ist. Sie beteuern, wenn man sie vergleichen will, istdie Liebe das Größere (1 Kor 13,13). Daher wundert sich Luther nichtohne Grund selbst, wenn er (IV,44b) in die Worte ausbricht: „Dieseunsere Theologie steht im Widerspruch zur Vernunft, ist sonderbar undungereimt, daß ich nicht nur taub bin gegen das Gesetz und frei vonihm, sondern ihm gänzlich gestorben.“ Und etwas später (IV,38b): „Wirwerden mit Paulus (Gal 2,16) antworten, daß wir nur durch den Glau-ben an Christus gerechtgesprochen werden, nicht durch Werke des Ge-setzes oder die Liebe.“ Wo in aller Welt hat Paulus die drei Worte hinzu-gefügt, die du von dir aus hinzufügst, Luther: „oder die Liebe“?

Über die guten Werke

5. Sie behaupten, jedes gute Werk sei Sünde. Das ist ja die wichtigsteund feierlichste Behauptung Luthers, die er ausdrücklich an mehrerenStellen verficht. Damit aber nicht jemand, der über die Frömmigkeitdes Menschen besser denkt, zufällig annehme, dabei sei vom sittlichguten Charakter die Rede, erläutert er seine Sentenz (Jena II,384b) mitfolgenden noch deutlicheren Worten: „Jedes gute Werk bei heiligenPilgern ist Sünde.“ Und Calvin (Inst. III,14,9f) behauptet im gleichenSinn: „Von Heiligen kommt nicht ein einziges gutes Werk, das nicht insich betrachtet den gerechten Lohn der Schande verdiente.“ Und ananderer Stelle (III,14,11) fügt er hinzu: „Es gibt kein Werk des from-men Menschen, das nicht verdammenswert wäre, wenn es vom strengenUrteil Gottes geprüft wird.“

Was bedeutet aber diese Behauptung anderes, als daß sie mit ihr leug-nen, daß es überhaupt ein gutes Werk gebe? Denn wie kann es gut sein,

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wenn es Sünde ist? Wenn das Gute Sünde ist, dann ist folglich die Sündeetwas Gutes. Wenn die Sünde gut ist, dann verbietet Gott, Gutes zu tun,wenn er verbietet, die Sünde zu begehen. Wenn die Sünde etwas Gutesist, befiehlt also Gott zu sündigen, da er Gutes zu tun befiehlt. Und derjedem nach seinen Werken vergelten wird (Mt 16,27; Röm 2,6), wirdallen Frommen und Sündern den gleichen Lohn geben: denn er mußüber die Frommen wegen des guten Werkes eine Strafe verhängen, weilsie gesündigt haben, indem sie das gute Werk taten; ebenso muß er denSündern die Herrlichkeit verleihen, weil ihre Werke nicht mehr Sündesind wie die der Frommen und Rechtschaffenen.

Was werden sie also antworten, wenn ich sie frage, nicht, was ichglauben, sondern was ich tun muß, um das ewige Leben zu besitzen?Etwa, was Christus (Lk 10,25ff) dem Gesetzeslehrer antwortete: Dusollst den Herrn, deinen Gott lieben ... Tu das, und du wirst leben? Siemüßten lieber sagen: Tu nichts, und du wirst nicht sündigen. Dennwenn es besser ist, „müßig zu sein, als zu handeln“, wie Plinius sagt, istes dann nicht sicherer, nichts zu tun, als schlecht zu handeln und zusündigen? Wer sieht denn da bei diesem Menschenschlag nicht einesonderbare und ständige Begierde zu widersprechen? Das Gute istböse, sagen sie; das Licht ist Finsternis, das Warme kalt. Mit Paulus (2Kor 6,15) sagen wir ihnen: Welche Übereinstimmung hat das Licht mitBeliar?

Über die Beobachtung der Gebote Gottes

6. Sie behaupten, die Gebote Gottes seien etwas Unmögliches. Dem-gemäß leugnen sie dadurch, daß wir an irgendein Gesetz gehalten undvon ihm gebunden seien; denn nach der Regel unseres Gesetzes4 „gibtes keine Verpflichtung zu Unmöglichem“ und niemand kann zu Rechtvon uns etwas verlangen, was wir nicht zu leisten vermögen, außer erwäre ein überaus harter despotischer Bedrücker. Aber es ist so weitgefehlt, daß die Gebote Gottes etwas Unmögliches wären, daß Christusselbst mit seinem Mund erklärte, daß sie im Gegenteil leicht und lieb-lich sind, denn er sagt (Mt 11,30): Mein Joch ist mild und meine Bürdeleicht. So haben David, Abraham, Ijob, Zacharias, Elisabet, Johannesder Täufer die Gebote Gottes beobachtet, wie der Heilige Geist in derHeiligen Schrift ausdrücklich verkündet.

Doch hören wir, wie Luther es bestreitet, denn durch seine Ausdrucks-weise verrät er hinreichend, daß er lügt. Er schreibt (Jena IV,38) folgen-

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des: „Der Christ ist seinem Wesen nach frei von allen Gesetzen undüberhaupt keinem, weder innerlich noch äußerlich, unterworfen.“ Eben-so sagt er: „Der Diener der Sünde ist nichts anderes als der Gesetzgeberoder Vollstrecker des Gesetzes, der gute Werke und Liebe lehrt, dersagt, man müsse Kreuz und Leiden ertragen, das Beispiel Christi undder Heiligen nachahmen. Wer das verkündet und verlangt, ist Dienerdes Gesetzes, der Sünde, des Zorns und des Todes; denn für die mensch-liche Natur ist es unmöglich, das Gesetz zu erfüllen, besonders in denGerechtfertigten, die den Heiligen Geist haben.“ Und etwas später(IV,41b): „Wer daher sagt, daß der Glaube an Christus nicht rechtferti-ge, wenn nicht gleichzeitig das Gesetz gehalten wird, der macht Chris-tus zum Diener der Sünde und zu einem grausamen Tyrannen, der Un-mögliches verlangt, wie Mose, was niemand zu tun vermag.“ Dasselbelehrte Calvin (Inst. II,7,5ff), in diesem Fall wie in vielen anderen einbesserer Theologe als Luther.

Über den Unglauben, angeblich die einzige Sünde

7. Sie behaupten, nur der Unglaube sei Sünde. „Christus hat angeord-net“, sagt Luther (Jena II,373), „daß es keine Sünde gibt außer dem Un-glauben, keine Gerechtigkeit außer dem Glauben.“ Und an anderer Stel-le (II,271) hält er verbissen diese Behauptung aufrecht: „Der Getauftekann sein Heil, auch wenn er es wollte, durch noch so viele Sünden nichtverlieren, denn“, sagt er, „der Glaube nimmt alle Sünden weg und läßtden nicht sündigen, der es will.“ Mit dieser Behauptung leugnen sie ganzoffensichtlich, daß Hurerei, Mord, Meineid und Gotteslästerung Sündesind. Wenn es einen gibt, der nicht sieht, wie absurd das ist, wovon wirdder je zugeben, daß es absurd ist? Und wie großartig hängen andererseitsdiese Sätze Luthers zusammen: „Jedes gute Werk, auch des Gläubigen,auch des Gerechten, ist Sünde“ (Jena II,384b u. a.); und: wenn jedes guteWerk Sünde ist, wieso ist dann keine böse Tat Sünde?

Über den Nachteil der guten Werke für das Heil

8. Sie behaupten, die guten Werke seien schädlich oder mindestenserschwerend für das Heil. In einer Predigt beruft sich nämlich Lutherauf Christus, der (Joh 10,9) sagte: Ich bin die einzige Tür, die zum Him-mel führt. Der Weg ist schmal (Mt 7,14). „Du mußt allein sein, wenn duihn gehen und durch den Felsen dringen willst. Die mit Werken rundum

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behangen sind, wie die Pilger des hl. Jakobus mit Muscheln, könnennicht durchkommen. Wenn du mit den Steinen der Werke beschwertankommst, kannst du nur hindurchgehen, wenn du vorher die Last ab-legst.“ Und an anderer Stelle (II,389b) sagt er: „Die Gerechtigkeit desGesetzes, auch des Dekalogs, ist durch Christus unrein und abgeschafft.“Wer hat dir diese Worte Christi geoffenbart, Luther? Du hast sie näm-lich nicht im Evangelium gefunden, in dem Christus nichts so sehr emp-fiehlt, als die Gebote zu halten, wenn wir zum Leben eingehen wollen(Mt 19,17), der den Arbeitern den Lohn zu geben verspricht, nicht denZuversichtlichen (Mt 20,1ff).

Daß man die Umstände der Sünden vernachlässigen müsse und daß alleSünden gleich schwer seien

9. Sie behaupten, daß keinerlei Umstände die Sünden schwerer ma-chen. Diesen Satz verteidigt nämlich Luther (Jena II,417b) mit ande-ren, die er für ganz sicher hält: „Die Umstände der Sünden sind gleichund ganz unerheblich, ob es sich um Mütter, Töchter, Schwestern, Ver-wandte, irgendeinen Tag oder Ort und irgendwelche Personen handelt.“Doch mit welch trefflicher Begründung? „Weil Christus solches in sei-nen Gesetzen nicht geboten hat“, sagt er. Und an anderer Stelle: „Beiden Christen zählt nur ein Umstand, nämlich gegen den Bruder gesün-digt zu haben.“ Durch diese Behauptung leugnen sie die Ungleichheitder Sünden, mindestens in der gleichen Art der Sünde. Wer aber kanndas ertragen, daß die Schwere der Sünde die gleiche sein soll, ob einerdas Ehebett des Nächsten oder das seines Vaters verletzt? Also sündigtnicht schwerer, wer seinen Vater tötet, als jener, der den Diener tötet?Der die Tauben im Tempel verkauft (Mt 21,12; Joh 2,14.16), nicht schwe-rer als jener, der sie auf der Straße verkauft? Was hat es also zu bedeu-ten, daß Paulus (1 Kor 5,1-7) solches Aufheben von der Unzucht desKorinthers macht, die so schwer war, daß sie nicht einmal bei den Hei-den vorkommt, daß nämlich einer wagt, die Frau seines Vaters zu ha-ben?

Über die Notwendigkeit der copula carnalis

10. Sie behaupten, die copula carnalis sei für jeden, ob Mann oderFrau, notwendig, so daß niemand ohne sie leben könne. Ob es wohlerlaubt ist, daß ich die Worte Luthers wiedergebe? Ich schäme mich, an

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diesen üblen Schmutz zu rühren, doch wenn ich die Worte nicht anfüh-re, wird es niemand glauben, meine ich. Ich werde aber nicht alles auf-zählen (denn wer könnte das tun?), sondern nur einiges von dem, wasden Löwen an den Krallen erkennen läßt. Er sagt:5 „Das Wort: Wachsetund vermehrt euch (Gen 1,28) ist kein Gebot, sondern mehr als eingöttliches Gebot. Halte es für so notwendig, daß es nicht in unsererMacht liegt, es zu verhindern oder zu unterlassen, sondern für so not-wendig wie, daß ich männlich bin, und für notwendiger als zu essen, zutrinken, sich zu purgieren, zu schneuzen, auf Schlafen und Wachen zuachten. Die Natur und die Anlage ist ebenso angeboren wie die Glieder,die sich darauf beziehen.“ Und etwas später (S. 123): „Man findet manch-mal starrsinnige Frauen; obwohl ihr Mann hundertmal der Lust verfällt,erhören sie ihn in ihrer Härte nicht. Das begünstigt, daß der Mann sagt:‚Wenn du nicht willst, wird eine andere wollen; wenn die Herrin nichtwill, soll die Magd kommen‘; das allerdings, wenn der Mann sie vorherzwei- oder dreimal gemahnt hat.“ Ich beschwöre euch, was kann teufli-sche Schamlosigkeit noch Schamloseres erfinden? Hier ist er aber nochbesonnen und gemäßigt, wenn man es damit vergleicht, was er an ande-rer Stelle (S. 124) geschrieben hat. Denn er wiederholt nicht nur dassel-be, sondern er fügt noch so Obszönes über das geile Fleisch beiderGeschlechter, besonders des weiblichen, hinzu, daß niemand, ohneschamhaft zu erröten, solche Schamlosigkeit sehen oder hören und erstrecht nicht wiedergeben kann.

Mit dieser Behauptung, die eines Satyrs würdiger ist als eines Men-schen, leugnen sie die Ratschläge Christi (Mt 19,9-12; 5,27-3 2) und deshl. Paulus (1 Kor 7,1-17.25ff), die beweisen, daß es möglich und zuhalten ist, die Jungfräulichkeit zu bewahren, eine zweite Ehe nicht an-zustreben, eine Frau nicht zu berühren; sie tun sehr unrecht den er-wachsenen Mädchen, die noch nicht verheiratet sind, den Witwen undanderen, die mit keinem Mann verkehren. Wenn sie sich nämlich derSinnlichkeit nicht mehr enthalten können als des Essens und Trinkens,wären sie Dirnen und Heuchlerinnen. Wahrhaftig, wie kann Luther vonder menschlichen Natur Enthaltsamkeit verlangen, die von ihr nur durchChristus und in Christus erlangt werden kann? Doch Christus öffnetdem, der anklopft, und gewährt dem, der bittet (Mt 7,7f), damit alle mitPaulus (Phil 4, 13) sagen können: Ich vermag alles in dem, der michstärkt: in Christus, dessen Kraft in der Schwachheit vollendet wird (2Kor 12,9).

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Über die Gleichheit aller Hirten

11. Sie behaupten, alle Hirten der Kirche seien untereinander gleich,keiner habe einen Vorrang vor einem anderen, unter ihnen gebe es kei-nerlei Unterschied und keine Rangordnung (Inst. IV.3-5). Aber auf die-se Weise leugnen sie die Einheit der kirchlichen Hierarchie, in der Chris-tus durch den Heiligen Geist Bischöfe eingesetzt hat, die Kirche Gotteszu regieren (Apg 20,28). Das widerspricht dem übereinstimmenden Zeug-nis von Cyprian, Augustinus, Chrysostomus. Dionysius, ebenso allerKonzile, auf denen du siehst, daß man den Bischöfen besondere Ehreund Sorge erwies; unter ihnen aber besonders dem Bischof von Rom,„damit ein Oberhaupt bestellt und dadurch der Anlaß zur Spaltung ver-mieden wird“, und der Leib der Kirche durch die geordnete Verbindungder Glieder zu einem einzigen werde unter dem einzigen höchsten HauptChristus Jesus (vgl. Eph 1,22 u. a.).

Über die Gewißheit der Gnade und der Sündenvergebung

12. Sie behaupten, alle Gläubigen müßten ganz fest glauben, daß ih-nen die Sünden vergeben und daß sie in der Gnade sind (Jena II,302; IV,102b.104b; Inst. IX,2,16-18). Mit dieser Behauptung leugnen sie, wasdie ganze Heilige Schrift bestätigt und lehrt, daß wir unser Heil mitFurcht und Zittern wirken und darauf bedacht sein müssen, durch guteWerke unsere Berufung zu sichern, und daß wir auch nach der Verge-bung der Sünde nicht ohne Furcht sein dürfen (Phil 2,12; 2 Petr 1,10;Sir 5,5).

Über die Gerechtigkeit der Auserwählten

13. Sie behaupten, den Auserwählten sei die Gerechtigkeit so zu eigen,daß sie diese, einmal erlangt, nie mehr verlieren können (Inst. III,2, § 11).Durch diese Behauptung treiben sie abermals den Gläubigen alle Furchtaus, um an die Stelle von Hoffnung und Vertrauen, die dem Christenanstehen, Anmaßung und Unverschämtheit zu setzen. Sie leugnen undstoßen auch um, was die Heilige Schrift über die Güte und GerechtigkeitSauls und Salomos verkündet, obwohl wir der Verwerfung des ersten ganzsicher und der Auserwählung des zweiten ganz unsicher sind. Doch waswerden sie zu Ezechiel (18,24) sagen? Wenn sich der Gerechte von seinerGerechtigkeit abwendet und sündigt, wird seiner Gerechtigkeit nicht mehr

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gedacht. Was sagen sie dazu, was Christus (Offb 3,11) dem Bischof vonPhiladelphia schreiben läßt? Halte fest, was du hast, damit nicht ein ande-rer deine Krone empfängt. Doch was tut nicht der Apostel Paulus alles,obwohl gläubig, ja sehr gläubig, um nicht selbst verworfen zu werden, wäh-rend ich anderen predige (1 Kor 9,27)?

Doch ich bitte euch, hören wir den schönen und passenden Vergleich,mit dem Calvin (Inst. IV,17,2) seine Lehre erläutert: „Daraus folgt“,sagt er, „wir müssen fest darauf bauen, daß das ewige Leben unser ist,dessen Erbe Christus ist, und daß uns das Himmelreich, in das er bereitsgelangt ist, ebensowenig verlorengehen kann wie ihm. Umgekehrt kön-nen wir durch unsere Sünden nicht verdammt werden, da er gewollt hat,daß sie ihm angerechnet werden, als wären sie die seinen gewesen.“ Zudieser Stelle ist jedoch zu bemerken, daß in früheren, vor allem franzö-sischen Ausgaben die Sache unbeholfener ausgedrückt wird als in derletzten von 1602; denn dort wird nur versichert, „das Himmelreich könneuns ebensowenig verlorengehen“ wie Christus, was auch in der letztenAusgabe ausdrücklich geschrieben steht, aber auch, daß wir durch unse-re Sünden ebensowenig verdammt werden können wie Christus. Seinefranzösischen Worte lauten nämlich: „Dadurch wagen wir uns sicher zuversprechen, daß das ewige Leben unser ist und wir es ebensowenigverfehlen können wie Christus Jesus selbst; daß wir andererseits durchunsere Sünden ebensowenig wie er verdammt werden können.“ Ich zi-tiere es mit Schaudern! Und wer wird nicht erschaudern, wenn er esliest oder hört?

Über die Gewißheit der göttlichen Erwählung

14. Sie behaupten, die Auserwählten seien ihrer Erwählung ganz si-cher (Inst. 2,11f; 24,7ff). „Ganz schlecht und schädlich sagt Gregor inder Homilie 38, wir seien uns nur der Berufung bewußt, aber der Auser-wählung ungewiß“, behauptet Calvin; „daher fordert er alle zu Furchtund Zittern auf.“ Mit dieser Behauptung bestreiten sie, daß in den Vor-herbestimmten Furcht und Hoffnung sein kann. Denn wer sollte denVerlust des Gutes fürchten, von dem er sicher wüßte, daß er es nichtverlieren kann? Und wenn der große und nie genug gerühmte Gregoruns zu Furcht und Zittern auffordert, was heißt das anderes, als was unsalle Buchstaben der Heiligen Schrift raten? Warum, glauben wir, wirdSimeon im Evangelium (Lk 2,25) gelobt, daß er nicht nur gerecht war,sondern auch gottesfürchtig? Doch deswegen, damit wir erkennen, daß

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die ständige Begleiterin der Gerechtigkeit jene heilige Furcht sein muß,die nicht knechtisch, sondern kindlich ist. Daher mögen jene lügen,soviel sie wollen; wenn sie sich als Gerechte bezeichnen, genügt es, umsie als Lügner erscheinen zu lassen, da sie sich nicht als gottesfürchtigbezeichnen wollen, nicht einmal durch eine Lüge. Nicht weil sie es nichtwagen (viel kühner, als wer sich verteidigt, gerecht zu sein, ist nämlich,wer bekennt, daß er gottesfürchtig ist), sondern weil sie sich zwar nichtzu lügen schämen, sondern so zu sprechen, daß sie in dieser Frage durchdie Lüge die Wahrheit zu sagen scheinen.

Schön ist es aber, die Anhänger und Schüler Calvins über diese Fragesprechen zu hören, wobei jeder von ihnen sich rühmt, seiner Vorherbe-stimmung so sicher zu sein wie des Todes Christi. Wenn du sie fragst,woher sie diese große Gewißheit haben, antworten sie sogleich, sie hät-ten die – ich weiß nicht welche – Antwort innerlich vom Heiligen Geistempfangen, gleichsam als ein Echo, wodurch sie an ihrer Vorherbestim-mung nicht zweifeln können. Wenn aber einer von denen, die mit sogroßer und so unfehlbarer Gewißheit glaubten, sie seien Gläubige undAuserwählte, sich zum Schafstall Christi und zum katholischen Glau-ben bekehrt, schreien die anderen sogleich, er habe gelogen, als er sagte,er sei seines Heiles gewiß. Und doch hat er sich über die Gewißheitseines Heiles und jene vermeintliche innere Antwort des Heiligen Geis-tes so kühn gerühmt wie jene, die im Calvinismus verharrten. Wie kannes also geschehen, daß andere gewisser sind als er, der einst am gewisse-sten war? Wenn ihn sein Echo täuschte, das ihm das Geschwätz Calvinsstatt der Stimme des Heiligen Geistes wiedergab, warum sollte die an-deren ihr Echo nicht auch täuschen?

Über die Heilsunsicherheit Christi

15. Im Gegensatz dazu behaupten sie, Christus, das Haupt aller Vor-herbestimmten, sei seines Heiles ungewiß gewesen. Calvin (Inst. II,16,10-12) behauptet nämlich offen. Christus habe um das Heil seiner Seelegefürchtet. Das sagen sie nicht etwa beiläufig, sondern verteidigen es exprofesso. Daraus folgt unzweifelhaft, Christus sei des Heiles seiner See-le ungewiß gewesen; denn damit jemand sich mit der Furcht der Angstfürchtet, von der Calvin spricht, ist es notwendig, daß er das Übel, das erfürchtet, voraussieht und wenigstens als wahrscheinlich bevorstehendannimmt. Denn wie könnte jemand Angst und Furcht vor einem Übelhaben, vor dem er sich ganz sicher weiß? Diese Behauptung ist wahrlich

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des scharfsinnigen Geistes Calvins würdig. Er, der jedem Beliebigenseiner Schüler befiehlt, seines Heiles ganz sicher zu sein, behauptetdurch eine bisher unerhörte Gotteslästerung, Christus sei des Heilesseiner Seele ungewiß gewesen. Doch die Gottlosigkeit schreitet fort,um, nachdem sie den Gipfel erreicht hat, schließlich bis in die Tiefehinabzusinken. Calvin fügt (II,16, § 12) hinzu, Christus habe „grausa-me und schreckliche Qualen“ gelitten (denn, sagt er, man könne „sichkeinen schrecklicheren Abgrund vorstellen, als zu fühlen, daß man vonGott verlassen und verworfen ist“), „als er erkannte, daß er durch unse-re Schuld vor dem Richterstuhl Gottes stand.“

Über die Verzweiflung Christi

16. Sie behaupten, Christus sei ein Wort der Verzweiflung entschlüpft,das aus dem Empfinden des Fleisches entsprang; so sagt Calvin.6 Mitdieser schrecklichen Behauptung leugnen sie, daß Christus alle Leiden-schaften seiner Seele in der Gewalt hatte, so daß sie offenbar ihm unbe-wußt und ungewollt sich regten und ausbrachen. Daß das so falsch istwie nur etwas, abgesehen davon, daß es von selbst ganz klar ist, erhelltauch daraus, daß der hl. Johannes der Evangelist (11,33) im Berichtüber die Auferweckung des Lazarus betont, daß Christus sich selbsterschütterte: denn es geziemte sich ohne Zweifel, daß er, der ebensowahrer Gott wie wahrer Mensch war, freiwillig in sich Befürchtungen,Ängste und ähnliche Regungen der Seele erweckte, ehe er von ihnenbewegt wurde. Daher betonen wir nach dem hl. Hieronymus, daß es inChristus keine Leidenschaften, sondern ,propassiones‘ gab.

Über die Unwissenheit Christi

17. Sie behaupten, Christus sei eine Zeitlang der Unwissenheit unter-worfen gewesen. Calvin sagt (Am III,51): „Christus mußte eine Zeit-lang den einfachen Kindern gleichen, damit der Verstand der menschli-chen Natur angepaßt werde.“ Mit dieser Behauptung leugnen sie, daß inChristus alle Schätze des Wissens und der Weisheit (Kol 2,3) verborgenwaren; das bestätigt jedoch die Heilige Schrift ganz ausdrücklich. Wirgeben allerdings zu, daß Christus als Knabe, was die Übung und dasäußere Handeln betrifft, zunahm an Weisheit und Gnade (Lk 2,40); aberwir betonen ebenfalls, daß auch damals in ihm die Schätze der Weisheitverborgen waren, als er von ihnen noch keinen Gebrauch machte, son-

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dern sie in sich bewahrte, um sie zu ihrer Zeit vor dem Volk Gottes zuenthüllen. Er hörte ja nicht auf, das Wort zu sein, auch als er kein Wortsagte, oder die Weisheit zu sein, auch als er noch nicht voll Weisheitredete. Unser Glaube hält daran fest, daß er vom ersten Augenblick anebenso ein Verständiger wie ein Erdenpilger war.

Über den aktuellen Glauben der ungetauften Kinder

18. Sie behaupten, daß die Kinder vor der Taufe glaubten und den Glau-ben hätten (Jena II,569), und zwar nicht nur den Habitus des Glaubens,oder daß sie im Glauben der Kirche glaubten, sondern daß sie den Aktdes Glaubens und einen eigenen Glauben hätten. Indem sie das behaup-ten, leugnen sie gleichzeitig, daß die Kinder durch den Glauben gerecht-fertigt werden. Denn wenn sie vor der Taufe den Glauben haben und derGlaube allein rechtfertigt, wie sie behaupten, dann folgt daraus, daß dieKinder vor der Taufe gerechtfertigt sind. Doch wer weiß nicht, daß derGlaube vom Hören, das Hören aber durch das Wort Gottes (Röm 10,17)kommt? Wie erreicht aber das Wort Gottes die Seele des Kindes ohneVerkünder? Denn wer predigte den Kindern? Außerdem kann es Aktedes Glaubens nicht geben ohne den Gebrauch der Vernunft, wie alle zu-geben und es dem natürlichen Verständnis entspricht; wer aber soll glau-ben, daß die Kinder des Gebrauchs der Vernunft fähig seien?

Damit sei genug gesagt über dieses erste Kennzeichen des Antichristen-tums, als das sich die Häretiker unserer Zeit selbst hinreichend erweisen,indem sie alles leugnen, nichts bejahen, und wenn sie etwas behaupten,dann negativ, so daß es, wie die Rechtsgelehrten sagen, einfach vernei-nend und nichtssagend ist. Wir wollen noch andere Kennzeichen kurzbetrachten, durch die du erkennst, daß den Lehrsystemen unserer Zeitdas schreckliche Wort ‚Häresie‘ auf der Stirn geschrieben steht.

Zweites Kennzeichen der Häretiker:Das Fehlen der Berufung

§1.

Das zweite Kennzeichen wird also das sein, das aus dem Fehlen derBerufung folgt. Es ist nämlich die Eigenart aller Häretiker, daß ihnen

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die Berufung zum heiligen Dienst fehlt. Sie eilten, sagt Gott durch Jere-mia (Jer 23,21) von den falschen Propheten, und ich habe sie nicht ge-sandt. Sie kommen in Schafskleidern, sagt Christus (Mt 7,15). Paulussagt (Röm 10,15): Wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?Und an anderer Stelle (Hebr 5,4) sagt er: Niemand nimmt sich die Ehre,wenn er nicht wie Aaron von Gott berufen wird.

Aus verschiedenen Gründen wird nun offenkundig, daß Luther, Zwing-li, Calvin und allen anderen Häresiarchen des vorigen Jahrhundertsjede Berufung fehlte. Der erste und wichtigste Grund ist, daß sie auf dieFrage, auf welche Art sie berufen wurden, keine übereinstimmendeAntwort haben. Calvin beteuert nämlich, Luther und die anderen Neue-rer, die diese Sekten hervorgerufen haben, hätten ihr Amt nicht durchdie ordentliche, sondern durch eine außerordentliche Berufung emp-fangen; daher seien sie als Apostel und Evangelisten zu betrachten. „In-dessen leugne ich nicht“, sagt er (Inst. IV.3, § 4), „daß Gott auch spätermanchmal Apostel oder doch an ihrer Stelle Evangelisten erweckt hat,wie es in neuerer Zeit geschehen ist. Es bedurfte nämlich solcher, diedie Kirche vom Abfall des Antichristen zurückführten. Ich nenne je-doch dieses Amt außerordentlich, weil es in den rechtlich gegründetenKirchen keinen Platz hat.“

Luther dagegen bekennt (Jena VI,7) offen, er sei nicht durch eineaußerordentliche Berufung, sondern durch die ordentliche und übertra-gene berufen. „Auch wir sind durch die göttliche Autorität berufen“,sagt er, „zwar nicht unmittelbar von Christus wie die Apostel, sonderndurch einen Menschen.“ Wenn er aber erklärt, auf welche Weise er durcheinen Menschen berufen wurde, sagt er: „Wenn mich aber der Fürstoder eine andere Obrigkeit beruft, kann ich mich zu Recht und zuver-sichtlich rühmen, daß ich im Auftrag Gottes durch die Stimme einesMenschen berufen bin. Hier ist ja der Auftrag Gottes durch den Munddes Fürsten, der mir die Gewißheit gibt, daß meine Berufung echt undvon Gott ist.“ Und an anderer Stelle (Jena IV,248b) sagt er, daß „dieBerufung ehedem durch die Apostel erfolgte, die ihre Nachfolger berie-fen, wie sie jetzt auch von fleischlichen Gewalten und Obrigkeiten oderGemeinwesen berufen werden.“ Du siehst also, daß Luther seine Beru-fung nicht als eine außerordentliche wie die der Apostel und Evangeli-sten bezeichnet, sondern versichert, sie sei eine ordentliche und über-tragene, sie sei aber nicht von Bischöfen oder kirchlichen Personenausgegangen und abgeleitet, sondern von „fleischlichen Gewalten“ (dasist nämlich sein eigener Ausdruck).

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Philippe de Plessis-Mornay dagegen betont in seiner französischenAbhandlung ‚Über die Kirche‘, an der die Calviner so viel Gefallenfinden, die Berufung Luthers, Zwinglis und der übrigen ersten Häreti-ker stamme nicht unmittelbar und auf außerordentliche Weise von Gott,wie Calvin behauptet, sei auch nicht von „fleischlichen Gewalten“ über-tragen, wie Luther sagt, sondern mittelbar von den katholischen Bischö-fen herzuleiten. Sie wurden ja von Bischöfen zu Priestern geweiht, sagter; als Priester aber mußten sie das Wort Gottes verkünden. Daher ver-kündeten sie es, nicht wie es die Bischöfe machten, die ihnen ihre Beru-fung gaben, sondern viel richtiger und reiner.

Wer soll da nicht lachen über die Torheit dieser Menschen, die nichteinmal darüber einig sind, auf welche Weise sie berufen wurden? Werwird sich denn nicht wundern über den Scharfsinn von Plessis, der bes-ser als Calvin zu wissen glaubt, auf welche Weise Calvin berufen wurde?Der auch besser als Luther selbst wisse, auf welche Weise Luther, undvon wem er seine Berufung und Autorität empfing? Daniel (13,51ff)sagte über die falschen Zeugen: Trennt sie voneinander, und ich will sieverhören. Zu dem einen sagte er: Unter welchem Baum hast du sie gese-hen? Der sagte: unter einem Mastixbaum. Er fragte auch den anderen;der sagte: Unter einer Eiche. Und so wurde die Falschheit der Aussagenoffenbar. Wenn du auf diese Weise Calvin fragst: Wer hat dich berufen?,antwortet er: Gott auf außerordentliche Weise. Plessis dagegen, als wäreer zum Schiedsrichter über so viele Streitende vom Himmel gefallenund bei der Berufung der anderen dabei gewesen, verkündet kühn: Lu-ther hat schlecht geantwortet, Calvin noch schlechter; sie sind nämlichvon unseren Bischöfen berufen worden. Wer wird also nicht schon ausihrer Aussage erkennen, daß sie etwas Falsches sagen, wenn sie sichihrer Berufung rühmen?

§ 2.Von der rechtmäßigen Berufung unserer Bischöfe

Tatsächlich sind sie nicht nur uneinig über ihre Berufung, sondern wasmehr ist, sie sind einig über die rechtmäßige Berufung unserer Bischöfe.Denn Luther (Jena IV,7) sagt: „Die Apostel beriefen ihre Nachfolger, soPaulus den Timotheus und Titus. Diese beriefen dann als Bischöfe wie-der Bischöfe zu ihren Nachfolgern. Diese Berufung dauerte bis in unsereZeit und wird bis zum Ende der Welt dauern. Sie ist eine übertragene,

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weil sie durch einen Menschen geschieht, und doch ist sie eine göttliche.“Calvin aber (Inst. IV,5.11) sagt: „Es bleiben Bischöfe und Leiter von Pfar-reien; mögen sie darum kämpfen, daß sie ihr Amt behalten; wir gestehenihnen ja gern zu, daß sie ein frommes und ausgezeichnetes Amt haben,wenn sie es nur verwalten.“ Und an anderer Stelle (Am. IV,108) sagt er:„Wir sehen heute, wie Papisten sich den Namen der Kirche anmaßenunter dem Vorwand der ununterbrochenen Nachfolge, die sie vorschüt-zen. Und um die Wahrheit zu sagen, wir sind tatsächlich gezwungen anzu-erkennen, daß von ihrer Seite das Amt rechtmäßig besteht; weil sie aberihre Vollmacht mißbraucht haben, können wir über ihre Prahlerei la-chen.“ Wenn aber Mornay die Sendung Luthers und seines Gefolges vonunseren Bischöfen herleitet, anerkennt er dann nicht am offenkundigstenvon allen die Berufung unserer Bischöfe? Richtig und besser, als er glaubt,sagt daher Calvin, daß „in den rechtlich gegründeten Kirchen“ kein Platzfür seine Berufung und für die der Seinen ist.

Wenn man das gelten läßt, wird es uns erlaubt sein, folgendermaßenzu argumentieren: Die Kirche Christi wurde einmal rechtmäßig gegrün-det, so daß die Pforten der Hölle sie nie überwältigen können (Mt 16, 18);folglich kann in ihr eine außerordentliche Berufung keinen Platz ha-ben, außer soweit sie von der ordentlichen anerkannt wird; denn Chris-tus ist nicht geteilt (1 Kor 1,13). Sie bestätigen aber die ordentlicheBerufung, die „bis zum Ende der Welt“ dauern wird, wie Luther sagt;folglich müssen wir der ordentlichen Berufung Gehorsam leisten. Wenneine außerordentliche Berufung im Widerspruch zu ihr stünde, würdeja Christus einander widersprechende Berufungen fördern und wäre derUrheber der Spaltung. So darf man mit Recht diesen abtrünnigen Re-formatoren die Worte Tertullians vorhalten: „Wer seid ihr oder woherseid ihr gekommen?“ Wer hat euch die Sendung zu predigen gegeben?„Sie sollen die Anfänge ihrer Kirchen vorweisen, sie sollen die Abfolgeihrer Bischöfe aufzeigen.“ Ja sogar Luthers eigene Worte, der (Jena IV,7b) von der Berufung spricht, die von den Aposteln eingesetzt wurde,und sagt: „Man darf daher die Berufung nicht verachten, denn es genügtnicht, das Wort und die reine Lehre zu haben; auch die Berufung mußsichtbar sein. Wer ohne sie eintritt, kommt, um zu töten und zu verder-ben (Joh 10,10). Nie segnet Gott die Arbeit derjenigen, die nicht beru-fen sind. So führen heute unsere fanatischen Geister Worte des Glau-bens im Mund, bringen aber keine Frucht.“ Und an der gleichen Stelle:„Der Teufel pflegt seine Diener anzuspornen, daß sie als Unberufenehingehen und Eifer vorschützen.“

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Drittes Kennzeichen der Häretiker:Verachtung der Kirche

Das dritte Merkmal aller Häretiker ist, daß sie die Kirche mißachten.Wenn einer auf die Kirche nicht hört, sei er dir wie ein Heide und einZöllner, sagt Christus (Mt 18,17). Dazu sagt der hl. Augustinus konse-quent und deutlich, daß es eine überhebliche Torheit ist, zu leugnen undabzulehnen, woran die ganze Kirche festhält. Darüber hinaus sagt der-selbe an anderer Stelle, er würde dem Engel nicht glauben, wenn ihnnicht die Kirche dazu bewöge. Und wiederum an anderer Stelle, wo erdarüber spricht, daß die Häretiker nicht noch einmal getauft werdenmüssen, schreibt er folgende Worte: „Obwohl in dieser Frage von denkanonischen Schriften kein Beispiel angeführt wird, folgen wir auch indieser Sache doch der Wahrheit dieser Schriften, wenn wir tun, wasschon die ganze Kirche für gut fand, die die Autorität der Schriftenselbst empfiehlt.“ Diese Autorität konnte ja der Apostel Paulus nichtoffenkundiger empfehlen, als die Kirche (1 Tim 3,15) Säule und Grund-feste der Wahrheit zu nennen. Wenn nun Christus wollte, daß die Kirche,seine vielgeliebte Braut, die Mutter aller Christen sei, wie kann dannjemand sie mißachten, ohne dadurch auch Christus zu verachten? „Chris-tus legt für die Kirche Zeugnis ab“, sagt Augustinus. „Wenn du das nichtwillst, leistest du nicht mir oder irgendeinem Menschen Widerstand,sondern zum größten Nachteil für dein Heil dem Erlöser selbst. Duwillst nicht glauben, daß er dich so annehmen wird, wie dich die Kircheannimmt, die jener durch sein Zeugnis empfiehlt, dem nicht zu glaubennach deinem Eingeständnis ein Unrecht wäre.“

Diese Autorität treten aber alle unsere Neuerer unverschämt mit Fü-ßen. Das wird schon allein daraus ganz deutlich sichtbar, daß sie wie auseinem Mund erklären, sie habe geirrt, sei verfallen und abtrünnig ge-worden, so daß sie sich unleugbar Reformatoren und Wiederherstellerder Kirche nennen könnten und es zu tun wagten. Daher kommt es, daßLuther (Jena IV,20.22 u. a.) sich laufend rühmt, er werde sich nichtdarum kümmern, was die Kirche meint. Und in jenem großartigen Dis-put, dem lieblichsten von allen, die er mit dem Teufel gehabt zu habensich rühmt (Wi. VII,28), sei er von den Argumenten des Teufels über-zeugt worden, von der Lehre der Kirche abzugehen. Dann verhöhnt ertriumphierend die Katholiken und sagt: „Wenn ihr die Schläge des Teu-fels auszuhalten hättet, würdet ihr nicht lange die von der Kirche und in

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alter Weise überkommene Leier singen.“ Und an einer anderen Stelle(Jena I, Vorwort) rühmt er sich, er habe von Anfang an allein gegen dieKirche gekämpft. Wie oft aber und wie ausdrücklich verficht Calvin,die Kirche könne irren (vgl. Inst. IV,4 u. a.).

Viertes Kennzeichen der Häretiker:Mißachtung der Konzile

Das vierte Merkmal der Häretiker ist die Mißachtung der allgemei-nen Konzile. Ihre Autorität war aber immer so groß, daß der hl. Gregorvon Nazianz ohne Zögern versicherte, sie seien keine Häretiker, wennsie von einem katholischen Konzil anerkannt wurden; sie seien aberHäretiker, wenn sie nicht angenommen wurden. Und der hl. Basiliuserklärt, die beste und sicherste Methode, Häretiker zu unterscheiden,sei die Annahme oder Mißachtung des Konzils von Nicäa.

Calvin dagegen erklärt offen ganz im Gegenteil, die Konzile könntenirren und hätten geirrt. Luther aber, wie gewöhnlich freimütig und un-verschämt, sagt: „Der Papst lügt gemeinsam mit den Konzilen.“7 Undspäter: „Es ist töricht, daß die Konzile beschließen und bestimmenwollen, was man glauben muß, da doch oft niemand dabei ist, der imgeringsten den Geist Gottes empfangen hätte. So ist es auf dem Konzilvon Nicäa vorgekommen, als sie Gesetze über den geistlichen Stand zuerlassen versuchten, damit diesem Stand die Ehe untersagt werden soll-te, wobei gewiß alle auf dem Konzil von der Wahrheit abirrten.“

Fünftes Kennzeichen der Häretiker:Mißachtung des Apostolischen Stuhles

Die Häretiker haben ein fünftes Merkmal, die Mißachtung des Apo-stolischen Stuhles. Darin zeichnet sich allerdings Luther vor den übri-gen aus. Denn nachdem er an einer Stelle (Jena II,561b) behauptet hat,alles, was gegen die römische Kirche geschehe, gereiche zur Ehre Got-tes, alles, sagt er: „Da aber auch ich einer der Papstgegner bin, durchgöttliche Offenbarung dazu berufen, dieses Reich des Fluches zu ver-nichten, zu zerstreuen und niederzureißen, walte ich dieses Amtes be-gierig und gern, wie ich es bisher getan habe.“ Doch an anderer Stelle(Jena II,310), wo er seine Behauptung verteidigt, der Krieg gegen dieTürken sei unerlaubt, sagt er: „Wieviel gerechter handelten wir, wenn

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der Kaiser und die Fürsten dem römischen Idol Einhalt geböten, ... dieSeelen zu verderben! Denn um einmal zu prophezeien, auch wenn ichnicht gehört werde, wie ich weiß: wenn der römische Papst nicht zurOrdnung gebracht wird, ist es um die ganze Christenheit geschehen ...Das Papsttum kann nichts als Sünde und Verderben bewirken ... WerOhren hat zu hören, der höre (Mt 11,15), der lasse vom Türkenkrieg ab,solange der Name des Papstes unter dem Himmel mächtig ist. Ich habees gesagt.“ Und an anderer Stelle (II,307b) sagt er: „Ob also der Papstoder die Väter oder die Konzile so oder so lehren, darf für niemandmaßgebend sein, sondern jeder sei in seinem Inneren überzeugt (Röm14,5).“ Doch was halte ich mich dabei auf? Wenn du aus den BüchernLuthers und Calvins die Beleidigungen und Verleumdungen entfernst,mit denen sie den Apostolischen Stuhl angreifen, wird in ihnen kaumdie eine oder andere Seite übrig bleiben.

Wenn aber einer noch zweifeln sollte, ob die Mißachtung des römi-schen Bischofsstuhls wirklich ein Merkmal der Häresie ist, so höre erChristus. Als er den Apostel Petrus zum Oberhaupt der Kirche einsetz-te (Mt 16,18), sprach er: Und auf diesen Felsen will ich meine Kirchebauen. Denn daraus folgt, daß der nicht zur Kirche gehört, der sichnicht auf diesen Felsen stützt, der durch den Mund Christi so hervorge-hoben wird. Da aber derselbe Christus (Joh 21,15-17) dem gleichenPetrus seine Schafe zu weiden anvertraute, kann der keineswegs einSchaf Christi sein, der nicht von Petrus geweidet werden will.

Es ist auch nicht so, wie die Häretiker faseln, daß der römische Papstnicht Petri Nachfolger wäre oder daß dem römischen Papst nicht dieVollmacht übertragen worden sei, die Petrus verliehen wurde; denn dadiese Vollmacht dem Petrus zum allgemeinen Wohl der Kirche verlie-hen wurde, durfte sie nicht mit Petrus enden, der nach einigen Jahrenvergehen und sterben mußte, sondern erst mit der streitenden Kirche,die bis zum Ende der Welt dauern wird: folglich muß die Kirche auchjemand als Nachfolger Petri in dieser Vollmacht haben. Ferner wurdevon der Kirche nie jemand als Nachfolger Petri in diesem Sinn bezeich-net, außer der römische Papst. Geben wir also die Wahrheit zu, daß derSitz des römischen Papstes jener Fels ist, auf den die Kirche gegründetwurde, auf dem die Herde des Herrn geweidet wird.

Daher sagt Cyprian sehr richtig: „Nirgends sind Häresien aufgekom-men und nirgends sonst Spaltungen entstanden als daher, daß man demHohepriester Gottes nicht gehorcht und man nicht einen in der Kirchean Christi statt auf Zeit als Hohepriester und auf Zeit als Richter be-

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trachtet. Wenn ihm die Gesamtheit der Brüder entsprechend den göttli-chen Weisungen gehorchte, würde niemand gegen die Gemeinschaftder Priester irgendetwas in Bewegung setzen. Niemand würde nach demEntscheid Gottes, nach dem Urteil des Volkes, nach der Übereinstim-mung der Bischöfe sich selbst nicht nur zum Richter des Bischofs, son-dern Gottes machen. Keiner würde durch die Zerreißung der Einheitdie Kirche Christi spalten. Keiner würde aus Selbstgefälligkeit und Auf-geblasenheit öffentlich eine neue Häresie begründen.“ Fast die gleichenWorte desselben Lehrers finden wir an anderer Stelle. Nicht andersschreibt Hieronymus an Damasus, den römischen Papst: „Ich folge nurChristus als dem Ersten und verbinde mich mit Eurer Heiligkeit, d. h.mit der Cathedra Petri, zur Gemeinschaft; ich weiß, daß auf ihr dieKirche erbaut ist. Wer außerhalb dieses Hauses das Lamm ißt, ist einGottloser; wenn jemand nicht in der Arche Noachs ist, wird er durchdie Sintflut umkommen ... Wer nicht mit dir sammelt, der zerstreut; d.h. wer nicht zu Christus gehört, der gehört zum Antichristen.“

Schließlich kann man nicht sagen, wie bewunderswert und wie großdie Einmütigkeit der alten Väter ist, den römischen Bischofssitz zurühmen, und wie sehr sie sich darin gefallen, Namen und Titel zu fin-den, durch die sie ihn ehren. Cyprian nennt die Cathedra Petri „dieHauptkirche, den Ursprung der priesterlichen Einheit, das Band derEinheit, Wurzel und Stamm der Kirche“. Irenäus nennt sie die Kirchemit dem größten Vorrang; Prosper das Haupt der Hirtenehre und denSitz Petri; Augustinus den Vorrang des apostolischen Lehrstuhls; Vic-tor Mirensis und unser Justinian das Haupt aller Kirchen; Leo und Pros-per das Haupt des Erdkreises und der Religion der Welt; Ignatius dieKirche, die den Vorsitz hat; Hieronymus den sichersten Hafen der ka-tholischen Gemeinschaft.

Doch guter Gott, mit welch ausgezeichneten und würdigen Namenehren sie erst den römischen Papst! Bischof der heiligen katholischenKirche nennt ihn Cyprian, andere den ganz heiligen und seligen Patriar-chen, den universalen Patriarchen, das Haupt der Konzile, das Hauptder universalen Kirche, so auf dem Konzil von Chalzedon; den seligstenHerrn, auf den apostolischen Gipfel erhoben, Vater der Väter, den höch-sten Bischof der Bischöfe, wie bei Bischof Stephanus von Karthago; denobersten Priester, wie bei Hieronymus; den Fürsten der Priester, wiebei Valentinian; den Hüter des Weinbergs des Herrn, wie das Konzilvon Chalzedon; den Lenker des Hauses des Herrn, Ambrosius; denStellvertreter Christi, Cyprian.

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Es sei erlaubt, den Stimmen so vieler altehrwürdiger Väter noch denBeifall des hl. Bernhard hinzuzufügen; nicht weil ich nicht wüßte, daßer viel jünger ist, sondern weil sich die Calviner nicht schämen, unterder persönlichen Führung Calvins diesen Lehrer in einer Weise zu lo-ben, als wäre er ein Verächter des Apostolischen Stuhles gewesen. Erbezeichnet nun den römischen Papst mit folgenden Namen: Bestärkerder Brüder, Hohepriester, höchster Bischof, Fürst der Bischöfe, Erbeder Apostel, Abel an Vorrang, Noach an Führung, Patriarch wie Abra-ham, der Ordnung nach Melchisedek, Aaron an Würde, Mose an Auto-rität, Salomo an Urteil, Petrus an Macht, Hirt der Herde des Herrn,Inhaber der Schlüsselgewalt des Hauses des Herrn, Hirt aller Hirten.

Aber selbst Calvin kann sich nicht enthalten, daß er zu gestehen undanzuerkennen gezwungen ist, daß schon zur Zeit des Athanasius des Gro-ßen alle Frommen der römischen Kirche gern die größte Autorität ein-räumten. „Aber“, sagt er (Inst.IV,7, § 5), „das Ganze war nichts anderes,als daß man die Gemeinschaft mit ihr sehr schätzte und es für schimpf-lich gehalten wurde, von ihr ausgeschlossen zu werden.“ Hättest nichtauch du, Calvin, und alle die Deinen, aus dem gleichen Grund dasselbetun müssen, wenn ein Funke der alten Gottesfurcht in euch war?

Luther aber hat in all den Schriften, die er am Beginn seines Abfallsverfaßte, so ehrenvoll vom Papst gesprochen, daß er in späteren Schriften,als er schon kühner und unverschämter geworden war, sich entschuldigte,daß er in den früheren dem Papst so viel Großes zugestanden habe (JenaI,1). Auf alle diese Verächter des apostolischen römischen Stuhles kannman gut die Worte anwenden, die einst Augustinus gegen Petilianusgebrauchte, und Luther und Calvin folgendermaßen anreden, wenn eseinen gäbe, der in ihrem Namen antworten wollte: „Was hat euch dieCathedra der römischen Kirche getan, auf der Petrus saß und heuteAnastasius sitzt? Warum nennt ihr die apostolische Cathedra einen ‚Lehr-stuhl der Pestilenz‘? Falls der Menschen wegen, von denen ihr meint,daß sie das Gesetz verkünden aber nicht befolgen, hat etwa Christus, der(Mt 23,3) von den Pharisäern sagte, daß sie vom Gesetz reden abernicht danach handeln, ihretwegen im geringsten den Lehrstuhl ge-schmäht, auf dem sie saßen? Hat er nicht den Lehrstuhl des Mose hoch-geschätzt und sie unter Wahrung der Ehre des Lehrstuhls gerügt? Wennihr das überlegtet, würdet ihr nicht der Menschen wegen, die ihr ver-dächtigt, gegen den apostolischen Lehrstuhl lästern, mit dem ihr keineGemeinschaft habt. Was heißt denn das anderes, als nichts zu sagen zuwissen und sich doch nicht der Verleumdung enthalten zu können?“

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Sechstes Kennzeichen der Häretiker:Verachtung der Väter

Das sechste Merkmal der Häretiker ist die Mißachtung der alten Kir-chenväter, die sie verehren und hochschätzen müßten, wenn sie auf Jere-mia (6,16) hörten oder vielmehr auf den Heiligen Geist, der durch Jere-mia spricht: So spricht der Herr: Steht an den Wegen und schaut; fragtnach den alten Pfaden, welcher Weg gut ist, und wandelt auf ihm, und ihrwerdet Erquickung für eure Seelen finden. An anderer Stelle (Sir 8,9) sagtdie Heilige Schrift: Verschmähe die Rede der Greise nicht; sie haben sievon ihren Vätern gelernt. Ausgezeichnet ist daher der Rat des Sisinnius,den Theodosius der Ältere befolgte, daß man die Lehre der Häretiker ander Auffassung und Norm der alten Väter prüfe, und wenn sie ihr wider-spricht, soll sie sogleich auf dem ganzen Erdkreis verworfen werden.

Am schönsten von allen sagt jedoch Vinzenz von Lerin, wo er von derAutorität der alten Väter spricht: „Wer sie verachtet, die von Gott in derKirche auf die Zeiten und Orte verteilt wurden und im Sinn des katho-lischen Dogmas über etwas dasselbe in Christus lehrten, der verachtetnicht einen Menschen, sondern Gott. Wenn einer von der Gemeinsam-keit ihrer Lehre abweicht, der höre das Wort das Apostels (1 Kor 14,33):Er ist kein Gott der Uneinigkeit, sondern des Friedens.“ Und etwas spä-ter: „Daher müssen ferner alle Katholiken, die sich als rechtmäßigeKinder der Kirche erweisen wollen, dem heiligen Glauben der heiligenVäter anhangen, an ihm festhalten, in ihm sterben.“

Unheiliges Geschwätz (1 Tim 6,20) der Gottlosen verurteilt der hl.Augustinus mit der Autorität der alten Väter; er sagt: „Ich will nurwenig von Wenigem anführen, wodurch aber unsere Widersacher errö-ten und aufgeben müssen, wenn in ihnen noch irgendeine Gottesfurchtoder ein Schamgefühl vor den Menschen ist.“ Was er mit „wenig vonWenigem“ meinte, das er den Häretikern entgegenhalten wollte, das tater, weil diese Wenigen mit den anderen in offenkundiger Gemeinschaftverbunden waren. Und an anderer Stelle, wo er von Cyprian, Basilius,Hilarius und ähnlichen spricht, sagt ebenfalls Augustinus: „So vieleund so große Männer versichern, daß nach dem katholischen Glauben,der überall auf der ganzen Welt verkündet wird, dies und das wahr ist, sodaß eure fragwürdige und vergleichsweise winzige Neuerung allein durchihre Autorität zermalmt wird; abgesehen davon, daß das, was sie lehren,so ist, daß die Wahrheit selbst bezeugt, durch sie zu sprechen.“ Und

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wieder etwas später sagt er: „Was sie in der Kirche gefunden haben,daran hielten sie fest; was sie gelernt haben, lehrten sie; was sie von denVätern empfangen haben, gaben sie weiter.“ Dasselbe sagen wir heutevon dir, großer Augustinus, und von deinen Zeitgenossen gegen dieseSchwätzer; wir können aber doch nicht erreichen, daß sie sich ihrerTorheit und Unverschämtheit schämen.

III.Neuerungen unserer Häretiker

Wie sehr Luther und Calvin die Autorität der alten Väter mißachten,wird jeder auf den ersten Blick sehen, der ihre Schriften noch so schläf-rig liest. Luther schreibt ja an einer bestimmten Stelle (Jena II,293):„Vor allem will ich, sie sollen wissen und zu Zeugen angerufen sein, daßich mich durch die Autorität eines noch so großen heiligen Vaters über-haupt nicht bezwingen lassen will.“ Als ob er sich mit allen Väterneinlassen wollte, wendet er sie hin und her, um sie zu stürzen. „Wie vieleIrrtümer“, sagt er (294), „sind in den Schriften aller Väter schon gefun-den worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst, wie oft widerstreitensie sich gegenseitig! Wo ist einer, der nicht öfter die Heilige Schriftverdreht hätte? Wie oft erörtert Augustinus nur, definiert nichts; Hiero-nymus in seinen Kommentaren behauptet fast nichts.“ Dann folgert erschließlich: „Niemand halte mir die Autorität des Papstes oder irgend-eines Heiligen entgegen, wenn sie nicht von der Heiligen Schrift unter-mauert ist.“ Und in dem Buch, das er gegen den König von Englandveröffentlichte, sagt er (Jena II,531) so hochmütig: „Das Wort Gottesist über allem. Die göttliche Majestät macht mit mir, daß ich mir umnichts Sorgen mache, ob tausend Augustinus, tausend Cyprian ... gegenmich stehen ... Augustinus und Cyprian konnten wie alle Auserwähltenirren.“ Und am Schluß (533b) sagt er: „Ich frage nämlich nicht, wasAmbrosius, Augustinus, die Konzile und die Übung der Jahrhundertesagen; ich brauche auch nicht König Heinrich als Lehrer, der mich lehr-te, der ich so gut wußte, daß ich auch bekämpft werde, daß die Dumm-heit Satans erstaunlich ist, die mich damit bekämpft, was ich von miraus bekämpfe, und ständig den Grundsatz verlangt.“

Calvin aber, der ein Mann voll Trug und List war und den Geist eineswahrhaft schlauen Fuchses hatte, verrät (Inst. Vorwort), daß sich derbessere Teil des Sieges ihm zuneigen werde, „wenn der gegen die Katho-

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liken angestrengte Streit durch die Autorität der Väter“ entschiedenwerden muß. Weil er aber als verschlagener Mann, der mit zwei Herzenredet, befürchtete, er könnte sich durch sein Wort binden, fügte er soforthinzu: „Wir gehen aber mit ihren Schriften so um, immer eingedenk,daß alles für uns sei, daß sie uns dienen, nicht beherrschen. Wer dieseAuswahl nicht trifft, wird in der Religion nichts Feststehendes haben,weil diese heiligen Männer vieles nicht wußten, oft einander widerstrei-ten, sich manchmal auch selbst widersprechen.“

Was er so im allgemeinen und insgesamt daherschwätzt, das hat erdann in seinem ganzen Werk gegen die Autorität der Väter im einzelnenund Stück für Stück eingehalten und nicht verhehlt, daß er von denVätern auch da abweiche, wo die Väter in einmütiger Auffassung über-einstimmen. Und das nicht in irgendeiner geringfügigen Frage, sondernin den schwerwiegendsten Artikeln unseres Glaubens; z. B. in der Frageder Willensfreiheit, in der er (Inst. II,2.4) sagt, die Lateiner hätten an-maßend, „die Griechen noch anmaßender“ gesprochen; über die Per-son des Mittlers, wobei er (II,14,3) den angeblichen Irrtum der Väterentschuldbar nennt; über die Begierlichkeit, wo er (III,3,10) behauptet,in dem einen Zeugnis des Augustinus sei die ganze Auffassung enthal-ten, von der er sogleich bekennt, daß er sie nicht teile. Er erklärt (III,4,38),in der Frage der Genugtuung „haben alle Alten gefehlt oder doch derbund hart gesprochen“; in der Frage der Gebete für die Verstorbenen(III, 5,10) seien alle Alten „zum Irrtum“ hingerissen worden; in derFrage der Verdienste (III,15,2) hätten die alten Lehrer am schlimmstendie Einfalt des Glaubens zu Rate gezogen; ebenso habe das Altertumgesündigt „durch maßlose Strenge, weil es vom Bischof den Zölibat“(IV,410) verlangte. In der Frage der Buße (IV,12,8) könne „die maßloseStrenge der Alten in keiner Weise entschuldigt werden“; in der Frageder Fastenzeit (IV,12,20) hätten die alten Väter den Samen eines gewis-sen Aberglaubens gesät und seien einer bloßen ,kakozelia‘ (falschenNachahmung) und vollendetem Aberglauben verfallen. An anderer Stelle(IV,15,20) mißbilligt er, daß sie Laien erlauben, „jemand in Todesge-fahr zu taufen“, obwohl er zugibt, daß diese Übung von der Kirche selbstfast von ihrem Ursprung an angenommen war. In der Frage der Anbe-tung (I, 12,2) anerkennt er zwar, daß die Alten die Unterscheidung derzweifachen Verehrung der ‚dulia‘ und ‚latria‘ gebrauchten, er verachtetsie aber trotzdem so sehr, daß er ausruft: „Was soll’s? Wenn alle sieprüfen, wird sie nicht nur unpassend sondern geradezu abgeschmackt“empfunden.

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Wenn er aber (IV,6,16) von der römischen Kirche spricht, sagt er:„Ich will zunächst vorausschicken, daß ich nicht leugne, daß die Altender römischen Kirche große Ehre erwiesen und sehr ehrfurchtsvoll vonihr sprachen.“ Und etwas später: „Denn jene Auffassung, sie sei durchdas Amt des Petrus gegründet und errichtet worden, hat am meistendazu beigetragen, ihr Ansehen und Autorität zu verschaffen; deshalbwurde sie im Abendland ehrenhalber Apostolischer Stuhl genannt.“ Unddoch schmäht er an der gleichen Stelle die römische Kirche, soviel erkann, und bestreitet, daß sie von Petrus gegründet wurde. Also wider-spricht er offenkundig allen Alten.

Ebenso anerkennt er (IV, 13, § 9), daß in der frühen Kirche die Mön-che sehr in Ehren gehalten wurden, besonders zur Zeit des Augustinus;von ihm betont er, daß er „in seinem Buch ‚Von den Sitten der katholi-schen Kirche‘ den Manichäern am meisten die ‚Heiligkeit des Lebens-wandels‘ der Mönche vorgehalten habe. Und doch verachtet er (IV,13. §10f) gleichzeitig die Mönche nicht weniger; und nicht nur die Möncheunserer Zeit, sondern auch jene früheren, die Augustinus so sehr lobt; erbehauptet nämlich, in jener früheren Form der Mönche gebe es einiges,was ihm mißfalle, nämlich ein übertriebener Eifer und eine ‚kakozelia‘(falsche Nachahmung), und daß sie in der Kirche ein unnützes und ge-fährliches Beispiel eingeführt hätten (IV,13, § 16).

In der Frage der Zeremonien der Taufe (IV,15, § 19) gibt er zwar zu,daß sie ältesten Ursprungs sind, aber er fügt sofort hinzu: „Dennoch istes mir und allen Frommen erlaubt, es zurückzuweisen, daß die Men-schen es gewagt haben, sie auf die Einsetzung durch Christus zurückzu-führen.“ In der Frage des Altarssakramentes, das als Wegzehrung fürdie Kranken aufbewahrt wird (IV,17,39), eine Frage von höchster Be-deutung für die Bestätigung des Glaubens an die wirkliche Gegenwartdes Leibes des Herrn, macht er sich selbst den Einwand: „Die das tun,haben nämlich dafür das Beispiel der frühen Kirche.“ Dann antworteter: „Ich gestehe aber, in einer so wichtigen Frage, in der ein Irrtum nichtohne große Gefahr ist, ist nichts sicherer, als der Wahrheit selbst zufolgen.“ Als ob die frühe Kirche einem Irrtum gefolgt wäre! An andererStelle spricht er von den Zeremonien der Messe (IV,17,43) und sagt:„Wenn jemand solche Erfindungen mit ihrem Alter rechtfertigen will,so weiß ich wohl, daß nicht lange nach der Zeit der Apostel das Abend-mahl des Herrn bei dem gedeckten Rost gehalten wurde; aber das istnatürlich eine Forderung des menschlichen Selbstvertrauens.“ Aber ananderer Stelle (IV,18, § 8) gibt er zu, die alten Kirchenlehrer hätten das

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Wort Messe „fast nur in der Mehrzahl“ gebraucht; und anderswo (IV,18,11) sagt er: „Ich sehe auch, daß die Alten dieses Gedächtnis in einemanderen Sinn verdreht haben, als es der Einsetzung durch den Herrnentsprach.“ Und kurz darauf: „Ich halte dafür, sie sind nicht zu ent-schuldigen, daß sie in der Handlungsweise gesündigt haben.“ Und wie-derum: „Mit Recht kann sie jemand widerlegen, daß sie zu sehr in denSchatten des Alten Testaments abgebogen sind.“ Um schließlich nichtalles im einzelnen durchzugehen, was er in dieser Art geschrieben hat,was fast endlos wäre, derselbe Calvin gibt zu, daß die Übung der Beichtesehr alt ist, und trotzdem verachtet er sie.

Wenn die Mißachtung der Kirche und des Altertums das geeignetsteund sicherste Kennzeichen der Häresie ist, kann demnach niemand mehrdaran zweifeln, daß Luther und Calvin, so viele auch ihrer Anhängersind, am meisten von allen Häretiker sind; wie sehr haben sie, mehr alsalle übrigen früheren Häretiker, sowohl die Kirche als auch das ganzeAltertum verachtet.

Siebentes Kennzeichen der Häretiker:die Neuerungssucht

§ 1.

Das siebente Merkmal der Häretiker ist, daß sie nicht nur das ganzeAltertum nicht ehren und achten, sondern auch mit größtem Eifer nachVeränderung streben und trachten, soviel sie können. Auf sie trifft gutder Satz des Vinzenz von Lerin zu: „Meide, sagt Paulus, unheiliges Ge-schwätz von Neuerungen (1 Tim 6,20); sie anzunehmen und ihnen zufolgen, war nie Sache der Katholiken, immer aber der Häretiker ... Dasgilt fast bei allen Häresien als üblich und rechtmäßig, daß sie stets un-heilige Neuerungen lieben, das Altehrwürdige mißachten und durchStreitfragen unter dem falschen Namen der Erkenntnis im Glauben Schiff-bruch erleiden. Dagegen ist es den Katholiken allgemein eigen, die vonden heiligen Vätern überkommene Überlieferung zu bewahren undunheilige Neuerungen zu verwerfen.“

Bei unseren Neuerern sehen wir aber, daß sie alles daransetzen, Neue-rungen einzuführen und festzusetzen. Im Glauben sagen sie gegen dieKatholiken nichts, was neu ist oder wenigstens nur aus alten und über-holten Irrlehren erneuert. Das geht offenkundig aus dem hervor, was

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wir bisher gesagt haben, und genauer aus dem, was der berühmte und niegenug gewürdigte Kardinal Bellarmin über diese Frage geschrieben hat.Und was bedeutet es in der Tat, daß sie behaupten, die Kirche habe soviele Jahrhunderte hindurch geirrt, anderes, als daß sie eine neue, deralten Kirche völlig entgegengesetzte Lehre vortragen? Daher ist es ge-kommen, daß die ganze Kirche vor Schreck zusammenfuhr, wie es dieSchafe und Lämmer zu tun pflegen, wenn sie den rasenden Wolf auf sichzukommen sehen.

„Zuerst war ich allein“, sagt Luther (Jena I,1), „und der Ungeeignet-ste und Ungelehrteste, um so große Dinge zu behandeln.“ Und kurzdarauf: „Alle Deutschen erwarteten gespannt den Ausgang einer so gro-ßen Sache, an die vorher niemand, nicht einmal ein Bischof und Theo-loge zu rühren gewagt hatte.“ Doch derselbe Luther sagt (VII,381) kurznach dem Anfang der ‚Verteidigung der Worte des Abendmahls‘, wo ervon den Sakramentariern spricht: „Nichts fördert diese Irrlehre mehrals die Neuerung; denn wir Deutsche sind Menschen, die das, was neuist, lieben und begierig aufgreifen.“ Und in der ‚Antwort auf die Schmäh-schrift des Königs von England‘ sagt er über die gleichen Sakramentari-er (Wi II,492): „Bisher habe ich keine tödlicheren Feinde kennenge-lernt als diese reizenden Brüder, Genossen und Freunde, die wir alsLehrer der neuen Lehren wie Söhne genährt haben. Ich spreche von denSakramentariern und anderen Fanatikern. Sieh, welchen Dank sie unsabstatten.“ Und etwas später: „Wir haben zunächst begonnen, die Frei-heit und die Ehre Christi zu beanspruchen und zu wahren und gegen diepäpstliche Gewaltherrschaft vorzugehen. In diesem Kampf haben wirvieles zur Heiligen Schrift entworfen. Hätten wir ihnen nicht den Weggewiesen, würden sie anscheinend noch nichts vom Evangelium begrei-fen. Es hätte weit gefehlt, schätze ich, daß sie durch eigene Anstrengungdas päpstliche Joch hätten abschütteln können; oder wenn es etwa nichtan Eifer fehlte, hätte es doch an Seelenstärke gefehlt. Denn damals, alsich allein in der Schlacht stand, als ich mich allein den Pfeilen undBlitzen des Kaisers und der Päpste entgegenstellen wollte, da waren sie,sage ich, aus übergroßer Hochherzigkeit und Festigkeit stumm wie dieFrösche von Seriphos.8 Inzwischen war Luther, von allen verlassen, ge-gen alle kämpfend, von niemand unterstützt, allein der Gefahr ausge-setzt.“ Und etwas später: „So werde ich ebenso den Sakramentariern alsPapst wie den Papisten als Sakramentarier vorgeführt, während indes-sen jene den Kirchen das Sakrament des Abendmahls des Herrn zuentreißen versuchen wie diese Christus. Diese rühmen sich zwar, sie

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würden allein Christus predigen, dessen Sakramente sie aber in der Kir-che zu bloßen Zeichen und gleichsam zu Erkennungsmarken9 mach-ten.“ Und einige Sätze weiter sagt er (Wi. II,493): „Das ist die Dankbar-keit von Schweinen und Hunden; wenn ihnen jemand das Heilige undPerlen hinwirft, wenden sie sich sogleich gegen den Wohltäter, überfal-len und zerreißen ihn.“

Soweit Luther, der in der ‚Verteidigung der Worte des Abendmahls‘(Wi. III,380) fast das gleiche sagt. Und an anderer Stelle (Wi. VII,502)beklagt er sich, daß an vielen Orten falsche und neue Propheten auftra-ten. Von einigen Straßburgern sei ihm angezeigt worden, daß von Karl-stadt große Gerüchte und Aufregung über das Sakrament, über die Zer-störung von Bildern und über die Taufe hervorgerufen wurde. In der‚Verteidigung der Worte des Abendmahls‘ spricht er von neuem (Wi.VII,387) von den Sakramentariern und sagt: „Diese einzige Sekte hat soviele Meinungen wie Köpfe, die in der Hauptsache alle übereinstimmenund jeder den Heiligen Geist im Mund führen. Dieser Heilige Geistwird aber, wenn es darum geht, die Echtheit zu erweisen und die Funda-mente zu legen, nicht nur als vielgestaltig gefunden, sondern auch als insich selbst widersprüchlich und unbeständig. Aus diesem Grund bin ichüberzeugt, der Heilige Geist wird offen zeigen, daß jeder von ihnenirrt.“ Dann zählt er sieben verschiedene Ansichten der Sakramentarierauf.

Aus all diesen Zeugnissen Luthers selbst wird schließlich doch deut-lich, daß er selbst die Neuerung der Lehre in die Welt gesetzt hat. Errühmt sich ja voll Stolz, daß er am Anfang allein war und gegen allekämpfte. Er bestätigt auch, daß die Sakramentarier neue Lehren gesäthaben und daß sie aus ihm hervorgegangen sind, daß sie nicht bei ihmstehen blieben, so daß er zwar ein Neuerer war, die anderen aber größe-re Neuerer.

Wenn aber etwa jemandem das Zeugnis Luthers über die Sakramenta-rier verdächtig scheinen könnte, hören wir, was sie selbst über sich sa-gen. Theodor Beza preist in seinem französischen Vorwort10 die Lehreseines Calvin über die Sakramente so hoch, daß er ihn sogar den Apo-steln vorzuziehen scheint; dort schreibt er wörtlich: „Eines ist festzu-stellen, wie klug sich besagter Calvin bei der Behandlung dieses Gegen-standes verhalten hat, sowohl in seiner ‚Institution‘ wie in dem genann-ten kleinen Büchlein; denn als er sah, daß der unselige Streit, der überdie Frage des Abendmahls ausgebrochen war, einen Brand entfachte,der eine Spaltung unter den Kirchen zu bewirken drohte, da war sein

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einziger Wunsch, ihn durch eine klare Darstellung des Gegenstandes zulöschen, ohne sich an eine Person zu halten. Das hat er so gut und sogeschickt gemacht, daß nach Gott ihm die Ehre für die Lösung gebührt,der dann alle Menschen mit gutem Urteil gefolgt sind.“ Also, Beza, hatCalvin als einziger die Regel erkannt, richtig über die Eucharistie zudenken? Alle bis Calvin haben die Kraft und Wirksamkeit dieses gro-ßen Sakramentes nicht erkannt?

Du siehst also, mein Leser, wer du auch seist, wie sehr sich dieseNeuerer in ihren Neuerungen gefallen: Luther, weil er gewagt habe, wasnie irgendein Theologe oder Bischof gewagt hatte; Beza dagegen, weilCalvin gefühlt und gelehrt habe, was nie ein anderer wußte. Wenn duaber den Antrieb und die Kraft für die Neuerung in diesen Neuererndeutlicher erkennen willst, wirst du sie leicht in ihren Schriften undTaten finden. Sie haben gewiß einen neuen Kanon der Heiligen Schriftherausgegeben, der entweder mehr oder weniger Bücher enthält, als imKanon irgendeines Konzils oder bei den alten Vätern zu finden ist; siehaben die Heilige Schrift durch zahllose neue Versionen verdreht, wo-bei niemand mit der Version des anderen zufrieden ist; sie haben dieZahl der Sakramente auf eine neue Zahl, nämlich auf zwei beschränkt;sie haben neue Riten der Spendung der Sakramente eingeführt; sie ha-ben die kirchliche Hierarchie durch eine vollkommene Anarchie um-geworfen; sie haben die Minister, d. h. Diakone neuer Art, über diePriester und Bischöfe gestellt; die Bischöfe, die die Kirche immer undvor allem in besonderen Ehren hielt, haben sie auf den letzten Platzverwiesen. Doch nicht zufrieden mit so vielen Neuerungen, haben sieauch den alten Namen schärfsten Kampf angesagt; davon wurden allediese: Kleriker, Bischöfe, Priester, vor allem verworfen. Messe undEucharistie haben sie in Abendmahl verändert, ein Name, der ganz welt-lich ist; Altar in Tisch. Calvin hat sogar den Ausdruck ‚Verdienst‘ ganzoffen verworfen, der sehr alt ist, sehr heilig und von den frühesten Chris-ten viel verwendet wurde. Luther hat den alten Ausdruck ‚freie Ent-scheidung‘ in ‚knechtische Entscheidung‘ verwandelt; Calvin hat sie so-gar mit der Bezeichnung der Anmaßung gebrandmarkt.

Doch wer wird nicht die ausgeprägteste Neuerungssucht bei Calvin deut-licher erkennen, wenn er bei der Behandlung der Trinität und der Aus-drücke ‚Person, Wesen, Wesensgleichheit‘ (Inst. I,12,5) sagt: „Sollen siedoch begraben sein! Soll doch nur bei allen der Glaube feststehen: derVater, der Sohn und der (Heilige) Geist sind Gott.“ Und an anderer Stelle(I,12,6) ändert er den Ausdruck ‚Person‘ in ‚Residenz‘, wenn wir den

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älteren, vor allem den französischen Ausgaben seiner ‚Institutiones‘ fol-gen, besonders der 1504 von Thomas Courteau besorgten. Das muß hin-zugefügt werden, weil du in der letzten lateinischen Ausgabe von 1602‚subsistentiam‘ statt ‚Person‘ finden wirst, nicht ‚residentiam‘. Wie ichmeine, geschah das deswegen, weil sich die Schüler Calvins, von den Un-seren aufmerksam gemacht, dieser neuen Theologie schämten und es fürnotwendig hielten, ihren Lehrer in dieser Weise zu korrigieren. Außer-dem, während die alten Väter und die ganze Kirche immer verkünden,daß die göttliche Wesenheit in den Personen besteht, sagte Calvin, sei esaus sträflicher Unkenntnis, die man bei ihm hinlänglich gewohnt ist, oderaus unglaublicher Neuerungssucht, von der er am meisten beherrscht war,die Personen bestünden in der Wesenheit.

Schließlich sagt Luther (Jena II,407) über den Ausdruck ‚homo-usi-on‘ (wesensgleich): „Es hilft nichts, daß du mir dieses ‚homo-usion‘vorhältst, gegen die Arianer angenommen, von vielen, uzw. von denBedeutendsten nicht angenommen.“ Und etwas später sagt er, man müsseden Vätern verzeihen, daß sie einmal einen profanen Ausdruck außer-halb der Heiligen Schrift prägten, nämlich den, über den wir sprechen,‚homo-usion‘. Und dann nach einigen weiteren Sätzen: „Wenn meineSeele das Wort ‚homo-usion‘ haßt und ich nichts damit anfangen kann,bin ich deswegen noch kein Häretiker; denn wer will mich zwingen, eszu gebrauchen, wenn ich nur an der Sache festhalte, die vom Konzilnach der Heiligen Schrift definiert wurde? Mögen die Arianer auch imGlauben geirrt haben, so haben sie doch, in guter oder böser Absicht,mit Recht gefordert, daß man in die Regeln des Glaubens keinen profa-nen Ausdruck aufnehmen darf.“

Ich beschwöre dich, kannst du dir etwas Unverschämteres als diesenWindbeutel vorstellen? Die katholischen Väter des Altertums kämpf-ten fast 300 Jahre, um diesen Ausdruck ‚homo-usion‘ heilig zu halten,durch dessen Verkündigung sich die Katholiken von den Häretikernunterscheiden, und siehe, dieser Neuerer und Schwätzer erklärt ihn fürneu und profan! Deswegen ist es nicht verwunderlich, daß sich unterseinen Schülern und Anhängern welche fanden, die äußerst ketzerisch‚homo-usion‘ durch ‚homoiousion‘ (wesensähnlich) ersetzten. Das sindwahrhaft würdige Schüler dieses Apostaten und Fahnenflüchtigen, derdas Konzil von Nicäa, das ehrwürdigste von allen, die je gehalten wur-den, nach 1300 Jahren der Profanierung beschuldigt, den Arianern aberfrommen Eifer bescheinigt. Wie ganz anders sagte einst Hieronymus zuPapst Damasus: „Ich beschwöre Eure Heiligkeit beim gekreuzigten Heil

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der Welt, bei der ‚wesensgleichen‘ Dreifaltigkeit ...“ Von den heiligstenVätern war dieses ‚homo-usion‘ mit solcher Verehrung angenommenworden, daß sie sich dessen beim Schwören bedienten. Es ist aber weni-ger erstaunlich, daß die häretische Seele Luthers sich an diesem Aus-druck stieß, denn wie Ambrosius treffend sagt, „haben die Väter diesesWort in die Abhandlung des Glaubens aufgenommen“, weil sie sahen,daß es „den Gegnern ein Graus“ ist.

Von der äußeren Gestalt der Kirche,die unsere Häretiker verändern.

§ 2.

Schließlich haben diese Neuerer auch in der äußeren Gestalt der Kir-che Neuerungen vorgenommen. Ich rufe euch an, ihr Väter, hier nichtals Lehrer und bedeutendste Interpreten der Heiligen Schrift, sondernals zuverlässigste Zeugen der Verhältnisse in der Kirche zu der Zeit, alsihr sie geleitet habt. Wenn sich die Gegner schon nicht scheuen, euchunwissende und schwachsinnige Lehrer zu nennen (Inst. I,155f), dannsollen sie wenigstens eure Worte und Schriften als die von treuen undgediegenen Zeugen annehmen. Wie sollten sie dazu auch nicht verpflich-tet sein, da sie zugeben, daß ihr gläubig und heilig gewesen seid? Außer-dem werde ich, damit keine Möglichkeit für Ausflüchte bleibt, nur an-führen, wovon feststeht, daß es in den erst 500 Jahren üblich war, zumalCalvin (Inst. I,11,13), darin Luther folgend, uns auffordert: „Erinnernwir uns an die ungefähr 500 Jahre, in denen die Religion noch mehr inBlüte stand und die Lehre reiner war.“ Und von der Zeit des Augustinussagt er (IV,2,3) an anderer Stelle: „Es ist unbestritten, daß in der Lehrevom Anfang bis zu dieser Zeit nichts geändert worden ist.“

Um also nicht endlos schreiben zu müssen, wenn wir nacheinanderbei den Vätern etwas unseren Gegenstand Betreffendes finden und esaufzählen, wollen wir nur Augustinus hören, den Luther den besten Leh-rer nach den Aposteln nennt, den Calvin als treuen Interpreten der Früh-zeit anerkennt. Außerdem wollen wir von Augustinus nicht alles erör-tern, sondern ein einziges Kapitel; das wird das 8. Kapitel im 22. Buchvom ‚Gottesstaat‘ sein. Am Anfang dieses Kapitels wirst du sogleichsehen, daß Augustinus selbst Zeuge war, wie in Mailand der große Am-

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brosius im Traum dazu aufgefordert wurde, die Leiber der heiligenMärtyrer Gervasius und Protasius auszugraben und aufzustellen, wiedas Volk zu diesem heiligen Unterpfand der Märtyrer zusammenström-te, darunter ein Blinder, der nach der Berührung ihrer Reliquien wiedersehen konnte.

Du wirst sehen, daß Augustinus selbst und Alypius damals noch nichtKleriker waren (das wird von Augustinus angegeben, weil die Klerikerdamals von den Laien unterschieden wurden); du wirst da auch den hl.Saturninus, Bischof von Uzalum, finden, den Priester Gelosus und dieDiakone von Karthago; daß alle vom Bischof als dem Höheren denSegen empfingen, weil damals ein Unterschied war zwischen dem Bi-schof und den Priestern, zwischen dem Priester und den Diakonen, undweil der Bischof als hoch über dem Priester stehend betrachtet wurde.Deshalb wurde selbst zur Zeit des gleichen Augustinus Aerius von derKirche als Häretiker verurteilt, weil er behauptete, daß zwischen demBischof und dem Priester kein Unterschied sei. „Das Recht, die Taufezu spenden, hat der höchste Priester, das ist der Bischof, dann die Pries-ter und Diakone, aber nicht ohne Bevollmächtigung durch den Bischof.“Das sind Worte Tertullians.

Du wirst Innocentia finden, eine fromme Frau in Karthago, die durchdas Zeichen des Kreuzes Christi Heilung von einem unheilbaren Krebs-geschwür erlangte. Du wirst sehen, daß Hesperius von Fussale die Pries-ter rief, damit sie sein Haus von den Angriffen der bösen Geister befrei-ten. Du wirst auch sehen, daß einer von jenen Priestern, „der dort dasOpfer des Leibes Christi darbrachte“ (das sind genau die Worte desAugustinus selbst), „nach Kräften betete, daß diese Plage aufhöre, unddurch Gottes Erbarmen hörte sie sogleich auf.“ Also wurde damals, alsdie Kirche ganz rein war, wenn wir Augustinus glauben, das Opfer desLeibes Christi von Priestern dargebracht.

Du wirst sehen, daß der gleiche Hesperius heilige Erde von Jerusa-lem, wo Christus am dritten Tag auferstand, die ihm ein Freund brachte,in seinem Zimmer aufbewahrte, damit auch ihm nichts Böses widerfah-re. Als aber sein Haus von dieser Plage befreit war, wollte er die heiligeErde nicht länger in seinem Zimmer behalten, und zwar aus keinemanderen Grund als aus Ehrfurcht. Du wirst sehen, wie er die Bischöfebat, daß diese heilige Erde anderswo vergraben und dort eine Kircheerrichtet werde; und so geschah es. Du wirst auch sehen, daß der ge-lähmte Rusticus in diese Kirche gebracht wurde und von dort sogleichgesund auf seinen eigenen Füßen fortging.

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Du wirst finden, daß ein vom Teufel besessener junger Mann zumGrabmal der Märtyrer Gervasius und Protasius gebracht wurde, damiter geheilt werde. Du wirst dort auch Nonnen die abendlichen Hymnenund Gebete singen sehen. Du wirst auch sehen, wie ein Junge dort denAltar umfaßte und auf die Fürbitte der Heiligen sein Auge geheilt wur-de. Du wirst sehen, wie ein Mädchen, das unser Augustinus sehr gutkannte, alsbald vom Dämon befreit wurde, als es sich mit Öl salbte, indas die Tränen des Priesters tropften, der für sie betete (so sagt nämlichAugustinus); ebenso ein anderer junger Mann auf die Gebete des Bi-schofs hin. Also wurde schon damals Öl durch Gebete des Priestersgesegnet, um die Dämonen zu bändigen und zu vertreiben.

Du wirst die erfreuliche Geschichte des greisen Schneiders Florenti-us von Hippo lesen, der durch die Fürbitte der zwanzig Märtyrer Gottum das Notwendige bat, sich zu nähren und zu kleiden. Als er vomGebet aufstand, sah er einen großen Fisch zappeln, den er dem KochCarchisus, einem Christen, für 300 Kreuzer verkaufte. Als aber der Kochim Bauch des Fisches einen goldenen Ring fand, gab er von Mitleidgerührt und vom Gewissen erschreckt den Fisch dem Florentius zurückund sagte: „Schau, wie dich die zwanzig Märtyrer kleiden.“ Du wirstauch junge Männer sehen, die sich über die Frömmigkeit des Florentiuslustig machen; man könnte meinen, es hätte schon damals Calviner oderLutheraner gegeben.

Du wirst sehen, wie der Bischof in Tiblis Reliquien des heiligen Mär-tyrers Stephanus trug und eine große Menge ihm begegnete und folgte;du wirst auch sehen, wie dort eine blinde Frau durch die Berührung derReliquien sehend wurde. Du wirst sehen, wie der Bischof Lucillus eben-falls inmitten des Volkes Reliquien des hl. Stephanus als fromme Lasttrug und von einer sehr lästigen Fistel befreit wurde, als er die heiligenReliquien berührte. Du wirst sehen, daß der Priester Hispanus bei denReliquien des gleichen Heiligen von einem alten Steinleiden geheiltwurde; daß derselbe Priester, als er halbtot mit einer anderen Krankheitdarniederlag, wieder hergestellt wurde, als man eine Tunika von derGedenkstätte des Märtyrers brachte und ihm auflegte. Du wirst Martialsehen, einen vornehmen Mann in vorgerücktem Alter, der aber eineAbneigung gegen die christliche Religion hatte. Auf die Fürbitte des hl.Stephanus und durch die Berührung mit Blumen vom Altar bekehrte ersich, tat zur Verwunderung aller Buße und wurde von den Priesterngetauft. Solange er noch lebte, betete er oft mit den Worten des hl. Ste-phanus (Apg 7,58): Christus, nimm meinen Geist auf.

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Du wirst auch drei Gichtkranke finden, die durch den gleichen Märty-rer geheilt wurden. Ebenso einen Knaben, der von einem Wagenradgetroffen fast am Sterben war. Seine Mutter riß ihn an sich und trug ihnsogleich zur selben Gedenkstätte, wo er nicht nur wieder auflebte, son-dern sogar unverletzt schien. Du wirst auch eine Nonne sehen, die untereinem sehr schweren Kummer litt; als sie verzweifelte, wurde ihr Kleidzur gleichen Gedenkstätte gebracht. Die Leidende starb inzwischen,aber als man ihren Leichnam mit dem zurückgebrachten Kleid bedeck-te, kehrte sie ins Leben zurück. Ebenso und auf gleiche Weise erging esder Tochter des Syrers Bassus. Du wirst sehen, daß der Sohn des Irenäusnach dem Tod mit dem Öl des Märtyrers gesalbt und wiederbelebt wur-de; daß das entseelte Knäblein Eleusinus auf den Gedenkstein des Mär-tyrers gelegt wurde und nach einem Gebet lebendig aufstand. Du wirstsehen, wie Paulus und Pauladia, ein armseliges Paar, die durch denFluch der Mutter von einem Zittern der Glieder geschüttelt wurden, ander Gedenkstätte des gleichen Märtyrers geheilt wurden. Und Augusti-nus selbst, der von höherer Warte aus predigt und die ihm anvertrautenSchafe zum Lob Gottes und zur Danksagung auffordert. Er schließtdieses bedeutende Kapitel mit den Worten: „Was erfüllte die Herzender Frohlockenden anderes als der Glaube an Christus, für den das Blutdes Stephanus vergossen wurde?“

Wer kann daher schon fragen oder zweifeln, ob die Kirche jener Zei-ten die gleiche ist wie die römisch-katholische dieses Jahrhunderts?Oder ist sie heute nicht dieselbe, wie wir sagen und fühlen? Schau aufdie Gestalt und beachte die Züge, die Augustinus so sorgfältig schon indiesem einzigen Kapitel gezeichnet hat. Bemerkst du nicht das Opferdes Leibes Christi, den Altar, die Weihe der Kirche, Nonnen, die Weihedes Öls, ebenso den bischöflichen Segen, daß man die Leiber der Heili-gen, die durch so viele Wunder berühmt sind, schätzte, und ihre Grab-mäler in den Kirchen? Hast du nicht gehört, daß eine Frau durch dasKreuzzeichen geheilt wurde, daß der Arme durch die Anrufung derHeiligen gekleidet wurde, daß man die heilige Erde in Ehren hielt, daßReliquien unter Ehrungen herumgetragen wurden, und das von Bischö-fen, daß die Nonnen Hymnen und Gebete sangen?

Was gibt es, frage ich, in den Synagogen Calvins und Luthers Ähnli-ches, die das alles verspotten, als hätte es sich durch Mißbrauch undAberglauben in den letzten Jahrhunderten in die Kirche Gottes einge-schlichen? Die Kirche war doch damals rein, war heilig und sogar nachdem Geständnis dieser Schwätzer noch durch keinerlei verkehrte Lehre

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entstellt. Daher muß man sich wundern, daß nicht alle Lutheraner undCalviner durch dieses einzige Kapitel besiegt und überzeugt sind, wennsie weder Luther und Calvin für Lügner halten, die zugeben, daß dieKirche zur Zeit des Augustinus rein war, noch Augustinus für einenLügner, der das oben Gesagte alles als ganz wahr und sicher berichtet.

Seid ihr nicht zu aufrichtig gewesen, Luther und Calvin, als ihr unszugestanden habt, daß die Kirche Gottes in den ersten 500 Jahren durchkeine Irrtümer oder Mißbräuche entstellt war? Was ist denn für uns leich-ter, als nachzuweisen, daß die Väter jener Jahrhunderte alles geglaubthaben, was wir heute glauben und worüber wir mit euch diskutieren? Dashaben die erlauchten Kardinäle nachgewiesen, die großen Leuchten undZierden unseres Jahrhunderts, Baronius in den ‚Kirchlichen Annalen‘und Bellarmin in den ‚Kontroversen‘, so daß ihr nicht länger zweifelnkönnt. Ihr hättet es ja bezweifeln können, wenn auch fälschlich und un-verschämt wie alles übrige; denn wer nicht nur einmal sondern so oft dieGrenzen der Zurückhaltung überschritten hat, der mußte redlich undmännlich unverschämt sein. Betrachtet euch also durch euer Bekenntnisals besiegt. Denn was sind das für Reformatoren, guter Gott, die alle dieseÜbungen, Ausstattungen und Handlungen der reinen und heiligen Kir-che als unheilig verachteten und verwarfen! Muß man sie nicht wahrheits-gemäßer als Deformatoren bezeichnen? Müssen nicht alle sie als taktloseund unverschämte Neuerer betrachten, auspfeifen und mißbilligen? Tref-fend sagte schon einst Tertullian: „Wir pflegen vor den Häretikern derKürze wegen als vor Neuankömmlingen zu warnen.“ Warum sollten wirdaher nicht auch vor den unseren warnen?

Achtes Kennzeichen der Häretiker:der Geist der Uneinigkeit

§ 1.

Das achte Merkmal aller Häresien ist der Geist der Uneinigkeit; dennwie der Apostel (1 Kor 14,33) sagt, ist Gott nicht der Gott der Uneinig-keit, sondern des Friedens. Daher pflegen wir zu sagen, den Häretikernist es eigen, zu zerstreuen, wie es den Katholiken eigen ist, zu sammeln.Christus ist ja gekommen, um die verstreuten Schafe in eins zu sammeln(Joh 11,52). Ebenso beschreibt der Apostel Judas (19) die Häretikermit den Worten: Das sind jene, die untereinander gespalten sind.

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Wer sieht denn schon nicht, welche Uneinigkeit unter den Häretikernunserer Zeit herrscht? Luther nennt die Sakramentarier offen Häretiker;die Sakramentarier tun dasselbe mit den Lutheranern und Wiedertäu-fern; die Wiedertäufer mit den Trinitariern, die Trinitarier mit den An-glo-Calvinern, die Anglo-Calviner mit den Puritanern, und umgekehrt.Doch als ein Beispiel für alle soll Luther genügen, der in seinem Buchgegen die Sakramentarier (Wi. VII,379) nicht obenhin, sondern ex pro-fesso nachweist, daß in den zwei vorhergehenden Jahren sieben grundver-schiedene und häretische Auslegungen aufgetaucht waren von den Wor-ten (Mt 26,26): Nehmt und eßt, das ist mein Leib. Nachdem er sechsaufgezählt hat, fügt er hinzu: „Außer diesen kommen andere dazu, damitdie Zahl sieben voll wird; sie behaupten, das sei kein Glaubensartikel,daher sei jeder frei, hier zu denken, was er will. Sie treten alles mit Füßenund zerstören es. Gleichwohl ist der Heilige Geist in jedem von ihnenund keiner will des Irrtums bezichtigt werden bei diesen so verschiede-nen und gegensätzlichen Prüfungen und Anordnungen des Textes, wäh-rend doch notwendiger Weise nur eine Auffassung richtig sein kann. Sokrass und offenkundig rümpft der Teufel die Nase über uns.“ Sieh doch,wie fein und deutlich der erzürnte Mann sich selbst und die Seinen be-schreibt, während er die anderen zu beschreiben und zu rupfen glaubt!

Und in der Antwort auf die ‚Schmähschrift des Königs von England‘(Wi. II,492) schreibt er: „Ich bitte, beachtet doch die harten Bedingun-gen, unter denen ich diese Kämpfe führe. Ich habe den Krieg nach außengeführt, habe offen mit den Papisten gekämpft. Inzwischen überfallendie verbündeten Soldaten, unsere Brüder, daheim das Vaterland, verwü-sten alles mit Eisen und Feuer, halten eine grausame und fürchterlicheSchlägerei unter den eigenen Bürgern.“ Und etwas später sagt er überKarlstadt oder Zwingli: „Mein Abschalom, der seinen Vater seines Rei-ches und der Ehre beraubt und ihn verstößt; mein Judas, der sowohlseinen Herrn verraten als auch die Schar der ergebenen Jünger zerstreuthat; sie haben dasselbe noch nicht auch gegen mich geplant.“

Aber die schönste Stelle von allen ist jene, wo Luther nach einigenWorten (493) alle seine Gegner zum Kampf gegen ihn auffordert: „Sokommt denn alle, ihr sektiererischen Papisten, ihr Helfershelfer undAnhänger Satans, die ganze Heerschar des teuflischen Haufens, verei-nigt einmütig eure Kräfte. Führt eure Scharen herbei; in gedrängterSchlachtreihe werdet ihr Luther allein gegenüberstehen. Papisten, ord-net die Schlachtreihe; die Sakramentarier, die Wiedertäufer werdenangreifen“, etc. Sehr treffend stellt er die Sakramentarier und Wieder-

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täufer hinter seinem Rücken auf, nicht nur weil sie seine Anhängerwaren, sondern auch vom gleichen Ausgangspunkt und auf dem glei-chen Weg kamen. Sie stehen zwar alle gegen die katholische Kirche,aber untereinander streitend und kämpfend: Ich will Ägypter gegen Ägyp-ter anrennen lassen, spricht der Herr (Jes 19,2). Wie Luther selbst ananderer Stelle (Wi. II,291) von den Midianitern sagt, hat Gott es soeingerichtet, daß sich die Gottlosen stets selbst bekämpfen und daß dieLügen nicht übereinstimmen, sondern sich immer selbst verraten. Sosagte der hl. Hilarius einst zu Recht und zutreffend: „Der Krieg zwi-schen den Häretikern bedeutet Frieden für die Kirche.“

Die Häretiker unserer Zeit sind vom Geistder Uneinigkeit beherrscht

§ 2.

Die Häretiker unserer Zeit sind aber nicht nur unter sich uneins, son-dern auch vom Geist der Uneinigkeit beherrscht, wie wir schon gesagthaben. Sie haben ja alles weggenommen, was die Köpfe der Vielen zurEinigung oder zur Einheit des Geistes und des Glaubens zurückführenkönnte. Bei ihnen gibt es keinen übergeordneten Lehrstuhl, an den sichdie ganze Kirche wenden kann, wie Irenäus sagte; jeder maßt sich denRichterstab an; sie verachten die Autorität der Konzile, die vor allemden Nutzen hat, daß sie die auseinanderstrebenden Meinungen durchden gegenseitigen Beitrag der Katholiken zur Übereinstimmung brin-gen. Wie können sie also übereinstimmen, wenn sie alle Wege zur Über-einstimmung versperrt haben?

Nun ist aber, sagen sie, die Heilige Schrift der einzige Weg, recht zudenken und übereinzustimmen. Wenn wir alle auf ihn bedacht sind,werden wir leicht übereinstimmen; so schreien sie nämlich. Doch wersieht nicht die krummen Windungen der alten Schlange? Denn um fastnichts anderes als um die Heilige Schrift geht der Streit. Und welchervon den Häretikern, wenn du den einen oder anderen ausnimmst, hat jeanders als unter dem Vorwand der Schrift den Krieg geführt und dieMassen gegen die Kirche Gottes aufgestachelt? Alle Häretiker sind ge-wohnt zu schreien: Wort des Herrn! Wort des Herrn! und dabei dieSchrift durch die Schrift zu untergraben, d. h. den lebendigmachendenGeist durch den toten Buchstaben auszulöschen (vgl. 2 Kor 3,6; 1 Thess

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5,19). Weil die Heilige Schrift allerdings einen mehrfachen Sinn hat,sucht sich jeder seinen eigenen heraus und verficht ihn, bildet seineeigene Häresie und Sekte.

Insofern sagt Augustinus: „Die gute Heilige Schrift wird nicht gut ver-standen“; und Hilarius: „Im Verständnis liegt die Häresie; und den Sinn,nicht das Wort trifft die Anklage“; und Hieronymus: „Die Heilige Schriftbesteht nicht im Lesen, sondern im Verstehen“; und an anderer Stelle:„Der Teufel spricht Schriftworte; und nach Ezechiel (13,18) nähen sichalle Häresien aus ihnen ‚Kissen‘ zusammen, die sie jedem Alter zum Schla-fen unterlegen.“ Doch am offensten und passendsten sagt es Vinzenz vonLerin, von dem man meinen kann, er wollte die Sitten und Geister derHäretiker unserer Zeit beschreiben: „Lies die Schriften des Paulus vonSamosata, des Priscillianus, Eunomius, Jovianian und der anderen Seu-chen“ (weder die Lutheraner noch die Calviner selbst leugnen jedoch,daß sie alle Häretiker waren): „du wirst einen endlosen Haufen von Bei-spielen sehen und fast keine Seite ausgelassen, die nicht mit Sentenzendes Alten oder Neuen Testaments geschmückt und gefärbt wäre.“ Undetwas später: „Was ist das Kleid der Schafe anderes als die Aussprücheder Propheten und Apostel? Und was sind die reißenden Wölfe anderesals die wilden und rasenden Auslegungen der Häretiker?“

Folglich ist die Heilige Schrift allein nicht geeignet für die Überein-stimmung und Einheit der Gläubigen, sondern bedarf eines Interpreten,der ihren Sinn im gleichen Geist erschließt, in dem sie geschrieben undgeoffenbart wurde. Ein solcher Interpret kann niemand anders sein alsdie Kirche, die Säule und Grundfeste der Wahrheit (1 Tim 3,15), derenAutorität es immer zukam, die Irrlehren und die Irrlehrer zu beurteilenund zu verurteilen. Wer daher behauptet, die Kirche könne irren, trägtnotwendig den Geist der Uneinigkeit in die Geister und hebt geradezudie Gewißheit des Glaubens auf. Gerade das aber tun alle Häretiker undhaben es immer getan, nie aber durch ein einleuchtenderes Beispiel, alsdie Häretiker unserer Zeit geliefert haben, die diese vier Worte des Evan-geliums: Das ist mein Leib in so verschiedenem und widersprüchlichemSinn verstanden haben, daß Luther schon zu seiner Zeit sieben ganz ver-schiedene Auslegungen beobachtete, wie wir weiter oben sagten.

Als er sah, daß die Sakramentarier unverschämt mit der HeiligenSchrift prahlten, sagt er (Wi. VII,380b): „ Das Schlimmste dabei ist: derTeufel ist uns mit seiner Schlauheit und Macht weit überlegen; überallkämpft er und leistet Widerstand. Wenn wir unsere Zuflucht zur Heili-gen Schrift nehmen, ist er sogar da und entfacht in ihr solchen Streit und

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solche Uneinigkeit, daß wir ihrer demnächst überdrüssig werden, derHeiligen Schrift lässiger zustimmen und vertrauen. Und gerade da mußman immer gegen ihn kämpfen.“ Und etwas später sagt er vom Satan:„Er wird in der Heiligen Schrift so viel und so große Verwirrung undParteien schaffen, daß du nicht weißt, wo die Heilige Schrift, der Glau-be, Christus ist, wo du selbst stehst.“ Und dann sagt er zur selben Fragean der gleichen Stelle: „Obwohl der Teufel von uns ablassen muß, hat erdoch seine Künste nicht vergessen: denn ganz heimlich hat er in unsereReihen Unkraut gesät, d. h. falsche Brüder. Sie haben unsere Lehrenund Worte angenommen, nicht in der Absicht, uns in der Verbreitungder Heiligen Schrift zu unterstützen, sondern während wir in vordersterFront kämpfen, unser Heer vom Rücken her anzugreifen, die Massenaufzustacheln und wütend gegen uns zu kämpfen.“ Und etwas später:„Er wird nicht ablassen; je weiter die Entwicklung fortschreitet, um somehr Glaubensartikel wird er auch angreifen. Schon jetzt flackern seineAugen von Irrtümern über die Taufe, die Erbsünde und die MenschheitChristi; darüber gibt es so viel Streit in der Heiligen Schrift, entsteht soviel Uneinigkeit, erheben sich so viele Sekten, daß wir wahrhaftig mitPaulus (2 Thess 2,7) behaupten können, daß jetzt das Geheimnis derBosheit am Werk ist.“

So hat er auch selbst vorausgesehen, daß nach ihm viele Sekten entste-hen würden: „Wenn diese Weltordnung noch einige Jahre dauert, wirdman nach der Art der Väter wieder nach menschlichen Mitteln suchen,um die Streitigkeiten zu beenden; man wird Gesetze und Dekrete erlas-sen, um die Einigkeit in der Religion wiederherzustellen und zu wah-ren. Das wird allerdings auf einen ähnlichen Erfolg hinauskommen wieder frühere.“ Und etwas später erklärt er, was diese menschlichen Mit-tel sind, um Streitigkeiten zu beenden, und sagt, das seien Konzile. Undkurz vorher, wo er von den Sakramentariern und ihrer Häresie spricht,sagt er (S. 380b): „Auf dieser Seite hat er (Satan) ungefähr zehn Löchergemacht und sich Ausflüchte geschaffen, so daß ich kaum von einerentstellteren Irrlehre gelesen habe. Sie hatte von allem Anfang an soviele ungleiche Sekten und uneinige Meinungen wie Köpfe, die den-noch auf das gleiche Ziel ausgerichtet sind, nämlich Christus zu verfol-gen.“ Soweit Luther.

Daraus siehst du: 1. daß er die Sakramentarier als Häretiker und alsdie abscheulichsten von allen Häretikern betrachtete; 2. daß sie alleunverschämt die Heilige Schrift vorschützen; 3. daß die Heilige Schriftallein eine solche Menge von Streitigkeiten nicht schlichten kann; 4.

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daß Konzile der einzige Weg zur Übereinstimmung sind; 5. daß es beiden Vätern üblich war, Konzile zu halten: daß das alles sehr wahr ist,obwohl von einem Lügner vorgebracht, der zu lügen gewohnt ist. Damiter sich jedoch auch darin als Häretiker erweise, lügt er kräftig, wenn erdie Konzile ein „menschliches“ Mittel nennt. Sie sind doch ein göttli-ches, nicht ein menschliches Mittel; sie leiten ihre Dekrete ein mit denWorten: Es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen (Apg 15,28). Oderwenn sie lediglich ein menschliches Mittel wären, ich bitte euch, wogibt es dann ein göttliches? Und wenn es irgendein anderes göttlichesgibt, warum bemüht sich Luther so sehr, daß er nicht gezwungen sei,menschliche Mittel zu suchen, wenn er andere, göttliche haben kann?Und das, obwohl er selbst nicht zweifelt, daß sie besser und sicherersind als menschliche? Kann denn einer wirklich meinen, der allgütigeund erhabene Gott hätte keines geschaffen, das folglich ganz göttlich ist,um die Einheit und den Frieden seiner ganzen Kirche zu bewahren?

Neuntes Kennzeichen der Häretiker:der Geist der Rechthaberei

§ 1.

Das neunte Merkmal der Häretiker ist der Geist der Streitsucht, desStolzes, der Anmaßung und des Starrsinns; denn so beschreibt der hl.Judas im kanonischen Brief (11f) ihre Haltung: Wehe ihnen; sie wan-deln auf dem Weg Kains; sie geben sich aus Gewinnsucht dem IrrtumBileams hin und kommen in der Empörung Korachs um. Sie sind Wolkenohne Wasser, die vom Wind dahingetrieben werden, wilde Meereswogen,die ihren Unrat ausspeien, Irrsterne. Sie sind unzufriedene Nörgler, dienach ihren Wünschen vorgehen, und ihr Mund führt freche Reden. Undder hl. Paulus (1 Kor 11,16) sagt: Will einer durchaus recht behalten, wirhaben diese Gewohnheit nicht, auch die Kirche Gottes nicht. Daher defi-niert der hl. Augustinus den Häretiker zu Recht als einen, der „die Hei-lige Schrift nicht richtig versteht und gegen ihren wahren Sinn auf sei-nen falschen Auffassungen besteht.“ Und an anderer Stelle sagt er: „Irr-lehren entstehen nur, wenn die gute Heilige Schrift nicht recht verstan-den wird und das, was in ihr falsch verstanden wurde, auch noch unbe-sonnen und frech behauptet wird.“ Und wieder an anderer Stelle: „Jene,

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die in der Kirche etwas Ungesundes und Verkehrtes denken und, wenn siezurechtgewiesen werden, damit sie gesund und recht denken, hartnäckigWiderstand leisten und ihre vergiftenden Ansichten nicht verbessernwollen, sondern sie weiter verteidigen, die werden Häretiker.“

Wie groß nun die Anmaßung und der Stolz der Häretiker unserer Zeitsind, das wird durch ihren Vater Luther deutlich, wenn wir seine eige-nen Worte hören. In der Antwort auf die ‚Schmähschrift des Königs vonEngland‘ (Wi. II,493) schreibt er wörtlich: „Daher möchte ich ohneAnmaßung freimütig sagen, daß von mir die Heilige Schrift wieder sogereinigt, so erläutert wurde, daß sie während tausend Jahren wederklarer noch vielen verständlicher war.“ Und etwas später: „Mir ist esgleichgültig, ob mir nun auch die ganze Welt anhängt, ob sie mich wie-der in Stich läßt; beides will ich mit Gleichmut hinnehmen, denn werhat mich am Anfang unterstützt, als ich allein war?“ Und an andererStelle (Jena II, 520) rühmt er sich und den Geist der Hartnäckigkeit inerstaunlicher Weise: „Das sind die Waffen“, sagt er, „mit denen dieHäretiker heute siegen: Feuer und Wut der abgeschmacktesten Eselund thomistischen Schweine. Doch sollen diese Schweine nur fortfah-ren und mich verbrennen, wenn sie es wagen! Hier bin ich und erwartesie. Allein durch die Asche, auch wenn sie in tausend Meere gestreutwird, werde ich nach dem Tod fortfahren und dieses abscheuliche Packverabscheuen. Mit einem Wort: lebendig bin ich der Feind des Papst-tums, verbrannt werde ich doppelt sein Feind sein. Tut, was ihr könnt,ihr thomistischen Schweine: Luther wird euch wie ein Bär und eineLöwin im Weg sein; überall wird er euch entgegentreten und keinenFrieden lassen, bis er euren eisernen Nacken und eure eherne Stirnzermalmt hat, sei es zum Heil oder zum Verderben. Nun reicht es, daßich bisher so viel Geduld verschwendet habe. Wenn ihr weiterhin ver-härtet und verblendet die Hörner aufstellt und aus eigenem Willen un-verbesserlich und unbezähmbar seid, soll künftig niemand von mir er-warten, daß ich das Ungeheuer beweine und etwas Freundliches undSchmeichelhaftes über euch sage. Ich will nämlich, daß ihr mehr undmehr gereizt werdet, bis ihr alle Kraft und allen Zorn verspritzt habtund in euch selbst zusammensinkt. Wer als erster den anderen bezähmt,sei selbst der Sieger. Wie ihr wollt, soll es geschehen.“ Und im gleichenBuch (Jena II,523): „Wir gehören nicht dem Papst, sondern der Papstgehört uns. Es steht uns zu, nicht von ihm gerichtet zu werden, sondernihn zu richten, denn der Geisterfüllte wird von niemandem gerichtet under richtet selbst (1 Kor 2,15) alle.“

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Und wieder an anderer Stelle (Jena I,1) sagt er: „Andererseits kammir die Volksgunst zugute und die Deutschen erwarteten schwanken-den Geistes den Ausgang einer so bedeutenden Sache, an die vorherniemand, nicht einmal ein Bischof noch ein Theologe, zu rühren gewagthatte.“ Du wirst schließlich auf Schritt und Tritt sehen, wie dieses Unge-heuer sich mit erstaunlichen Lobsprüchen überhebt und nur Anma-ßung und Unverschämtheit daherschwätzt. Das leugnet er selbst nicht,denn einem Freund antwortete er (Wi. III,356) in einem Brief: „MitRecht ermahnst du mich zur Bescheidenheit; ich fühle es selbst, aberich bin meiner nicht mächtig, ich werde fortgerissen, ich weiß nicht, vonwelchem Geist. Obwohl ich mir nicht bewußt bin, jemand übel zu wol-len, bedrängen sie mich wahrhaftig ganz wütend, so daß ich den Gegnernicht genügend achte.“

Wir wollen aber vorzüglich an zwei von unzähligen Beispielen, dieman anführen könnte, zeigen, wie groß der Geist der Rechthaberei unddes Starrsinns in Luther ist. Das erste stammt aus dem Brief, den er andie Straßburger schrieb, in dem er (Wi. VII,502) von den Sakramentari-ern sagt: „Ich kann und will nicht in Abrede stellen, wenn mir Karlstadtoder irgendein anderer vor fünf Jahren hätte beweisen können, daß imSakrament der Eucharistie außer Brot und Wein nichts sei, hätte ermich zu großem Dienst gegen ihn verpflichtet. Mit großer Sorgfalt undunter Anspannung aller Nerven habe ich mich nämlich ängstlich sehrbemüht, diesen Gegenstand zu untersuchen, und habe versucht, michloszumachen und herauszuwinden, da ich mir ganz klar darüber war,daß ich vor allem damit dem Papsttum sehr zusetzen konnte. Ich binwahrhaftig gebunden, es bleibt kein Ausweg.“ Und etwas später (S. 502b):„Wenn selbst heute jemand mich durch ein sicheres Zeugnis der Heili-gen Schrift glauben machen könnte, im Sakrament sei nichts außer Brotund Wein, wäre es doch nicht nötig, mich so heftigen Geistes anzugrei-fen; denn o Schmerz, ich neige mehr als billig nach dieser Seite, als ichnach meiner Adamsnatur wahrnehmen kann.“ Ich beschwöre euch, wasgibt es Streitsüchtigeres als solche Sinnesart, die nicht sucht, was wahrist oder falsch, sondern wie er selbst sagt, was dem Papsttum oder derKirche zusetzen kann, die nicht aus Liebe zur Wahrheit forscht, son-dern aus Haß gegen das Papsttum?

Das andere, noch deutlichere Beispiel kann einer anderen Stelle (JenaII,269) entnommen werden, wo er von der Messe spricht und sagt: „Wassollen wir also zum Kanon und zur Autorität der Väter sagen? Ich ant-worte erstens: Wenn man nichts zu sagen hat, ist es sicherer, alles zu

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leugnen, als die Messe zuzugeben ...“ Was heißt denn das anderes, alsum jeden Preis und ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht seine Mei-nung behaupten zu wollen und das Wort des Dichters (Horaz) zu be-wahrheiten: ‚Handle gut, wenn du kannst; wenn nicht, tu etwas auf ir-gendeine Weise.‘

Über Zwingli, Karlstadt, Ökolampadius, Calvin, die Väter der Sakra-mentarier und Söhne Luthers, können wir doch kein würdigeres und si-chereres und weniger verdächtiges Zeugnis beibringen als das Luthersselbst. Er bestätigt (Wi. II,492), daß sie wie Abschalom nach dem Reichund Ruhm des Vaters begierig ihre Irrlehren aufstellten. Er spricht zwarnicht ausdrücklich von Calvin, der zu Lebzeiten Luthers nicht so berüch-tigt war und keinen großen Namen hatte; aber paßt nicht auch auf Calvinsehr gut, was er von den anderen Häuptern der Sakramentarier sagte? Erwar ja um so anmaßender, als er der Zeit nach später als sie war. Wennalso Karlstadt anmaßend war und Zwingli, die dem Vater Luther wider-sprachen, so war gewiß jener noch anmaßender, der auch Luther undZwingli und allen Christen aller Zeiten widersprach. Doch was kannst dudir Unverschämteres vorstellen, als daß Calvin zu verkünden gewagt hat,alle Väter seien dem Irrtum verfallen oder hätten anmaßend gesprochen?Und ebenso was Anmaßenderes als Beza, der nur Calvin die Ehre derrechten Auffassung und der Entdeckung der Wahrheit über das Geheim-nis der Eucharistie zuschreibt, so als hätte überhaupt kein Sterblicher vorCalvins Zeiten richtig über das Sakrament gedacht? Doch ich bitte dich,wenn Beza am Schluß der Lebensbeschreibung Calvins, die er geschrie-ben hat, die Worte des Elischa anführt, der Elija hinweggerafft und in denHimmel erhoben sah: Mein Vater, mein Vater, Israels Wagen und Lenker(2 Kön 2,11f), was will er damit in Anspruch nehmen, als daß man Calvinfür Elija und ihn für Elischa halte?

§ 2.

Von der Auslegung der Heiligen Schrift

Dieser Geist der Anmaßung und des Starrsinns kann aber noch deut-licher enthüllt werden, wenn wir diese Neuerer disputieren hören. Sosoll z. B. gefragt werden, ob die Werke der Liebe rechtfertigen. Sie wer-den es bestreiten. Was werden sie antworten, wenn du ihnen die Worte

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aus dem Brief des hl. Jakobus (2,14-26) entgegenhältst? Luther (JenaII,14f) wird ausrufen: „Wenn irgendetwas wahnwitzig ist, dann ist daswahnwitzig“, und man müsse eher den Brief des Apostels verwerfen, alszuzugeben, daß die Rechtfertigung aus der Liebe hervorgehe. Was sprichtdenn aus dieser Antwort, wenn nicht Frechheit und Hartnäckigkeit?

Calvin dagegen wird antworten, die Worte des Jakobus bezögen sichnicht auf die Rechtfertigung, sondern auf die Offenbarung der Recht-fertigung. Wenn du erwiderst, die Worte des Jakobus könnten diese Aus-legung nicht zulassen, weil er versichert, daß die Rechtfertigung sowohlaus dem Glauben als auch aus den Werken stammt, dann wird er den-noch auf seiner Meinung beharren und alle Katholiken für besiegt undder schlechten Auslegung überführt erklären (Inst. III,17, § 8ff). Aberwer soll Richter sein? Die Heilige Schrift, sagt er. Nun betrifft aberunsere Meinungsverschiedenheit gerade die Heilige Schrift, die offen-kundig auf unserer Seite steht; der Apostel schreibt ja: die Rechtferti-gung, nicht die Offenbarung der Rechtfertigung. Wenn du also daraufbestehst, gehen wir zu den Vätern, den Konzilen, zur Kirche. Das ist gut,sagt er, wenn sie nach der Regel der Heiligen Schrift sprechen.

Siehst du den Starrsinn nicht? Er fordert Schriftstellen; wir geben sie;er verdreht sie durch eine schiefe Auslegung, wir halten dawider diewahre und wirkliche, die aus der eigenen Kraft und Bedeutung der Wor-te selbst hervorgeht; er läßt sie nicht zu. Die Frage ist, wer sie richtigervorlegt; es geht ja nicht an, daß jemand in seinem Verfahren Zeuge undRichter ist. Er beruft sich auf die Heilige Schrift, um nicht besiegt zuerscheinen und bei den Alten und bei der Masse Eindruck zu machen.Wer sieht hier nicht die Kreise der Frechheit und des Starrsinns? Miteinem Wort, er will, daß man auf ihn hört und ihm allein Glaubenschenkt. Wenn du fragst, ob er auf die alten Väter und die Konzile hörenwill, sagt er: „Ich werde auf sie hören, wenn sie nach der Regel derHeiligen Schrift sprechen.“ Sie werden entscheiden, sage ich; wirst dudich an ihren Spruch halten? Ich werde mich daran halten, sagt er, dochnur, wenn ich sie vorher geprüft habe (Inst. IV,9, § 8.12). Wer aber hatdich zu ihrem Richter bestellt? Gerade danach fragen wir ja: Warumsollte es dir mehr zustehen, ihre Entscheidung und Auslegung zu unter-suchen, als ihnen und uns, die deine; und wer soll bei gleichem Rechtfür alle Richter sein? Denn wenn sie sich bei der Auslegung irrten, weilsie Menschen waren, wie du einwendest, wieso sollst nicht auch du dichirren? Bist etwa du nicht auch ein Mensch [oder gar ein Tier]? Ich glau-be nämlich nicht, daß du ein Engel bist oder ein Gott oder irgendetwas

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Unbeseeltes. Davon hängt die Schlußfolgerung ab. Und sogleich wen-det die Schlange den Kopf sich selbst zu: weil ich nach der HeiligenSchrift auslegen werde, sagt er. Guter Gott, gerade danach fragen wirdoch, wer die Heilige Schrift richtiger auslegt.

Was willst du machen mit den Gottlosen, die stets im Kreis gehen (Ps12,9) und immer wieder dahin zurückkehren, von wo du sie so oft ver-jagt hast? Gibt es einen unverschämteren Starrsinn, als sich nicht an dieEntscheidung der Kirche, der Väter, der Konzile halten zu wollen? Waswird denn das Ende eines so wichtigen Streites sein, wenn es keinengibt, der den Streit schlichten kann, und der nicht die Autorität besitzt,ihn schließlich zu beenden? Dann wird die Streitsucht ohne Zweifelunsterblich sein. Jeder wohlbestellte Staat hat seine Gesetze, und siesind gut und unverletzlich. Wenn sie jedoch dem Gutdünken der Strei-tenden ausgeliefert würden, wäre des Streitens nie ein Ende, währendjeder sich auf seine Klugheit verläßt und in seinem Sinnen nicht nurüberreich ist (Röm 14,5), sondern auch darin schwelgt. Daher kommtdie Notwendigkeit von Richtern in weltlichen Dingen, aber viel mehrvon Konzilen in der Kirche Gottes. Denn wenn es keinen Richter gäbe,gegen den es keinen Einspruch mehr gibt, würde die Verkehrtheit undSucht der Streitenden dazu führen, daß weder ein Ende des Streitensnoch des Einspruchs gefunden wird.

Als Beispiel diene Luther selbst. Zuerst legte er gegen den Legatendes Apostolischen Stuhles Berufung beim Apostolischen Stuhl ein (JenaI,65); als er dann vom Apostolischen Stuhl verurteilt wurde, hat er sichda still verhalten und beruhigt? Keines von beiden, sondern kühnergeworden legte er wieder Berufung an das Konzil ein. Doch würdest duzustimmen, Luther, wenn das Konzil einen Spruch gegen dich fällte?Ich unterscheide, sagt er: wenn es nach der Schrift entscheidet, werdeich zustimmen; wenn nicht, werde ich alles bestreiten (I,86,143). Weraber, erwidere ich, wird beurteilen, ob das Konzil den Spruch gemäßder Schrift gefällt hat? Ich, sagt er, denn der geisterfüllte Mensch beurteiltalles (1 Kor 2,15). Du wirst also vom Konzil und von der Übereinstim-mung des ganzen Erdkreises an dich selbst und an dich als einzelnenBerufung einlegen? So wird der wahnwitzige Kopf Luthers zum höch-sten Richter göttlichen und menschlichen Rechts eingesetzt, um feinoder unfein über Böses das Urteil zu sprechen.

Und was wir von Luther gesagt haben, scheint in gleicher Weise vonallen übrigen Häretikern zu gelten. Daher haben sie ja den Namen Hä-retiker bekommen, weil sie die Auslegung der Heiligen Schrift für sich

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aussuchen. Wenn sie finden, daß sie mit den Konzilen und der Kircheübereinstimmt, verteidigen sie diese nicht mit der Autorität der Kircheoder Konzile, sondern mit ihrer eigenen Meinung; wenn sie sehen, daßsie im Widerspruch (zur Kirche) steht, halten sie an ihr trotzdem gegendie Autorität der Kirche und der Konzile fest.

§ 3.

Von der Anrufung der Heiligen nach dem hl. Augustinus

Ähnlich wird der Ausgang sein, wenn es sich um die Autorität irgend-eines Kirchenvaters handelt. Stelle dir vor, daß gefragt wird, ob der hl.Augustinus der Auffassung ist, daß man die Heiligen anrufen soll. Wirführen die Stelle aus seinen Kommentaren zum Buch Exodus an, wo eroffen sagt, daß „auf das Gebet der Märtyrer hin Gott die Sünden seinesVolkes vergibt.“ Wir führen auch die oben zitierte Stelle an, wo er aus-drücklich bezeugt, daß auf die Fürbitte des hl. Stephanus mehrere ge-heilt oder ihnen geholfen wurde. Und wir führen an, was ebenfalls Au-gustinus an anderer Stelle schreibt, daß „die Seelen der Verstorbenendem Gebet der Märtyrer empfohlen werden an ihren Orten, d. h. anOrten, die durch den Namen und das Andenken der Märtyrer ehrwür-dig sind, wo ihr Leib begraben ist.“ Was haben dazu diese Schwätzer zusagen, um davonzukommen? Nichts anderes als, das sei nicht mit Ab-sicht gesagt, sondern in der Eile und ohne Aufmerksamkeit. Doch füh-ren wir noch eine weitere, deutlichere Stelle an, wo er selbst den hl.Cyprian anruft mit folgender Beteuerung seines Begehrens: „Er kommeuns mit seinen Gebeten zu Hilfe, damit der Herr uns verleihe, das Gutean ihm nachzuahmen, soviel wir können.“ Das ist zu wenig, sagen sie,weil er sich nicht lange bei solchen Bitten aufhält. Was kann denn selbstder geduldigste Mensch mit ihnen noch anfangen?

Führen wir indessen noch eine andere Stelle an, um ihnen zu genügen.Dort ruft Augustinus nicht nur nebenbei, sondern in einem langen undwiederholten Gebet einen Heiligen an, der im Himmel herrscht; sie stehtin der zweiten Predigt über die Verkündigung: „Heilige Maria“, sagt er,„erwirke uns durch dein Gebet Vergebung unserer Schuld, trag unsereGebete in das Heiligtum der Erhörung und bring uns die Gegengabe derVersöhnung. Durch dich werde der Vergebung würdig, was wir durchdich vortragen; es werde erreichbar, was wir gläubigen Sinnes erbitten.

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Nimm an, was wir darbringen, erwirke uns, was wir erbitten, entschuldi-ge, was wir befürchten, weil du die einzige Hoffnung der Sünder bist.Durch dich hoffen wir auf Nachlaß der Sünden und auf dir, Allerseligste,beruht die Erwartung unseres Lohnes. Heilige Maria, komm den Elendenzu Hilfe, hilf den Kleinmütigen, ermuntere die Klagenden; bitte für dasVolk, tritt für den Klerus ein, leg Fürsprache ein für die gottgeweihtenFrauen. Mögen alle deinen Beistand erfahren, die dein heiliges Gedächt-nis feiern. Steh bereitwillig den Wünschen der Bittenden bei und verhilfallen zur erwünschten Wirkung. Laß es dir angelegen sein, unablässig fürdas Volk Gottes zu beten, Gebenedeite, die gewürdigt wurde, den Erlöserder Welt zu tragen, der lebt und herrscht in alle Ewigkeit.“

Erwartet oder verlangt ihr etwa noch, soweit ihr Lutheraner und Cal-viner seid, daß wir noch etwas Deutlicheres anführen? Wir gestehenfreimütig, daß wir es nicht haben und es uns nicht vorstellen können,auch wenn ihr uns das Recht und die Erlaubnis geben wolltet, die wirnicht verlangen, es uns nach freiem Ermessen vorzustellen. Aber waswerdet ihr antworten? Die Predigt ist nicht von Augustinus, sagen sie.Wenn du fragst, warum, dann sagen sie: weil sie nicht nach dem Geistdes Augustinus schmeckt. Doch wem schmeckt sie nicht, dir oder mir?Was wird es denn noch geben, was man nicht einfach bestreiten kann,wenn diese Art, die Autorität der Väter zu verwerfen, zugelassen wird?Denn wenn sie nach dem Belieben der Streitenden untersucht würden,können auch die deutlichsten Stellen für die Widersprechenden nie-mals schmackhaft genug sein. Das ist allerdings etwas, was wir nichtungern denen verzeihen, die so töricht über die Schriften der Väterspotten, da sie es mit der Heiligen Schrift selbst ebenso machen und sienur nach ihrem Geschmack annehmen und zurückweisen. Denn waskonnte Luther dazu bewegen, den Jakobusbrief zu verdammen? „Weiler nicht nach apostolischem Geist schmeckt“, sagt er. Warum verurteiltCalvin die Makkabäerbücher? Weil sie nicht nach göttlichem Geistschmecken (Inst. I,6f; III,5, § 8), sagt er. Soll also das Manna, weil esden Aufrührern und Frechen nicht nach Brot vom Himmel schmeckt(Ex 16,20), deswegen nicht mehr Manna und Brot vom Himmel sein?Wird die Sonne für uns nicht scheinen, weil sie für die Nachteule nichtscheint? Wenn dem so wäre, dann wäre es um die ganze Heilige Schriftgeschehen, wie unser gelehrter Augustinus einst gegen Faustus argu-mentierte, der in der gewohnten Überheblichkeit der Häretiker die Stel-len der Heiligen Schrift, durch die er in die Enge getrieben wurde, alsnicht echt, sondern als gefälscht bezeichnete.

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Ich habe einen der ersten Prädikanten von Genf getroffen, der auffal-lend gegen die Fürsprache der Heiligen tobte, obwohl sie nicht nurdurch die Autorität der Heiligen Schrift, sondern auch durch die derVäter erwiesen ist. Er sagte schließlich, er sei bereit zuzustimmen, wennnachgewiesen werde, daß Augustinus an irgendeiner Stelle die seligsteJungfrau angerufen hat. Da führte der Katholik die oben zitierte Stellean und fragte den Prädikanten: „Was sagst du dazu, großer Lehrer?“ Derschien zunächst unschlüssig und erstaunt, faßte sich aber schnell, alshabe er etwas Großes und Erlesenes zu sagen, damit du in seinem Ge-sicht leicht den größten Reformator der Kirche erkennen kannst, undsagte: „Das ist ein Muttermal an einem schönen Leib.“ Was sollte derbedauernswerte Katholik mit diesem Windbeutel anderes machen, alsden Herrn bitten, daß er ihm das nicht als Sünde anrechne, weil er nichtwußte, was er sagte und was er tat? [Geh du nur ins Verderben mitdiesen deinen Muttermalen und Possen!] Hättest du nicht richtiger sa-gen können, das sei ein Muttermal an der Auffassung deines Calvin, derohne Grund die Fürsprache der seligsten Jungfrau und aller Heiligenverwirft? Nichts spricht ja dagegen, daß ein Muttermal an einem verun-stalteten Leib sei, um ihn um so häßlicher zu machen, als es einen Leiblieblicher macht, der schön ist.

Unsere Häretiker gefallen sich ferner in ihrem Starrsinn sehr darin,wenn sie in den Büchern der Väter irgendeine Sentenz entdecken, dieauf den ersten Blick und dem Anschein nach für sie günstig zu seinscheint. Das ist und war immer allen Häretikern gemeinsam, wie schonfrüher unser Vinzenz von Lerin bemerkte: „Wenn sie eine Irrlehre un-ter fremdem Namen aufzustellen beabsichtigen“, sagt er, „suchen siemeistens die Schriften irgendeines früheren Mannes zu übernehmen,die etwas unverständlicher abgefaßt sind, die wegen der eigenen Dun-kelheit mit ihrer Lehre irgendwie übereinstimmen, damit sie scheinbarnicht als erste und nicht als einzige denken, was immer sie verkünden,was es auch sei.“ An diese Handlungsweise hat sich auch unser braverPrädikant gehalten, von dem ich eben gesprochen habe. Er hat so vielenüberaus klaren Stellen des Augustinus, die wir schon zitiert haben, eineStelle entgegengesetzt, an der Augustinus von Christus spricht und sagt:„Er ist selbst der Priester, der in das Innere des Zeltes eingetreten ist, alseinziger von denen, die im Fleisch lebten, und bittet für uns (vgl. Hebr9,12; 7,25).“ So wollte also der scharfsinnige Lehrer Augustinus mitAugustinus streitend auftreten lassen und hat nicht gesehen, daß Augu-stinus an dieser Stelle von keiner anderen Fürbitte spricht als der, die

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durch die Erlösung geschieht, was die vorausgehenden und nachfolgen-den Sätze dieser Stelle ganz offenkundig zeigen. Wenn auch diese Kunstder Fälschung in den Schriften der Väter allen Häretikern gemeinsamist, haben sie doch die Calviner beinahe zu ihrer eigenen gemacht; siezeichnen sich darin so sehr aus, wie aus der Zusammenkunft des er-lauchten Kardinals und Bischofs von Evreux mit jenem Armseligendeutlich wird,11 den zu nennen man sich schämt [oder er selbst, daß ersich nicht schämt, nach so vielen und so großen Irrlehren und sogarFälschungen noch zu leben], die in Gegenwart des erlauchtesten christ-lichen Königs selbst und vor einer überaus glänzenden Zuhörerschaftaus ganz Frankreich aufgedeckt und widerlegt wurden.

§ 4.

Von der Fürsprache der Heiligen

Doch fügen wir diesen Merkmalen des Starrsinns ein anderes hinzu,das mit dem obigen verwandt, aber doch von ihm verschieden ist: daßunsere Neuerer ‚Nörgler‘ sind, wie der heilige Apostel Judas (16) sagte,und rechthaberisch, wie Paulus (1 Kor 11,16) sagt; soviel du auch aufihre Argumente antwortest, du wirst sie doch nie zufriedenstellen. Sowahr ist, was Augustinus schon damals sagte, daß sie überführt, abernicht besiegt werden können.12 Als Beispiel in dieser Frage diene, waswir kurz vorher (§ 3) über die Fürsprache der Heiligen gesagt haben.

Sie wenden ein: wenn wir die Heiligen anrufen, stellen wir ChristusGefährten und Helfer an die Seite (Inst. III,20, § 21.27). Wir antwortenjedoch ganz eindeutig, daß wir weder Gott, zu dem wir beten, Helfer andie Seite stellen, von dem wir ja hinreichend wissen, daß er keine Helferbraucht, um Barmherzigkeit zu üben, noch Christus, durch den wir be-ten, weil wir seine Fürsprache beim Vater anerkennen; wohl aber unsselbst, die wir beten, deren Gebete und Bitten durch die Bitten unsererBrüder unterstützt werden, am meisten aber durch die frommer undheiliger Männer, damit sie von Gott durch Christus allein erhört wer-den. Daher anerkennen wir die Heiligen nicht eigentlich als Mittler indem Sinn, als ob sie zwischen Gott und uns stünden wie Christus, derwirklich die Mitte ist, da er nämlich beide Naturen, die Gottes und dieder Menschen besitzt, weil er sowohl der Sohn Gottes als auch der Sohneines Menschen ist. Wir rufen aber die Heiligen an, damit sie uns Mit-

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Beter seien durch den einen Herrn Jesus Christus. Begreifen wir doch,daß sie Christus wohlgefälliger sind als wir und ihm gewissermaßennäher, da sie ja schon in der Herrlichkeit sind; deshalb haben die meis-ten der Alten sie Mittler genannt, nicht aus dem Grund, warum ChristusMittler genannt wird, der wirklich in der mathematischen Mitte steht,wenn ich so sagen darf; vielleicht wie einer, der dem anderen nähersteht, wenn auch mit sehr kleinem Abstand, Mitte genannt wird zwi-schen ihm und jenem, von dem er weiter entfernt ist. So sagen wir ja, daßmitten zwischen uns und der Sonne unsere Sonnenschirme und Zeltesind, obwohl sie nicht nur nicht in der Mitte sind, sondern auch mit unsin großer Entfernung (von der Sonne). Wenn sich einer durch dieseAntwort nicht zufriedengestellt glaubt, ich bitte euch, für welches Geis-tes kann der gehalten werden, außer eines dreisten und streitsüchtigen?

Es soll genügen, statt vieler Beispiele dieses eine angeführt zu haben,denn das Ziel unseres Plans erlaubt nicht, bei mehreren zu verweilen.Dennoch kann ich einen bezeichnenden Ausspruch Luthers nicht aus-lassen. Die katholische Kirche lehrt und hat immer gelehrt, jeder from-me und christliche Mann muß sich vor der Exkommunikation hüten,selbst wenn sie ungerecht ist, als ob sie, wenn sie auch nicht unmittelbarden Verlust des ewigen Heiles bedeutet, so doch ganz offenkundig dieGefahr enthält, ihn herbeizuführen. Um der Kirche zu widersprechen,schrieb er (Jena II,305), die Christen lehrten, daß sie die Exkommuni-kation eher liebten als fürchteten. Wozu sollte aber diese ruchlose Be-hauptung dienen, wenn nicht dazu, dem Verlangen nach dem Wider-sprechen zu genügen, von dem der unglückselige Mann überströmte?

Zehntes Kennzeichen:Vom Geist der Lästerung, der Frechheit,

der Verhöhnung und Verleumdung

Das zehnte Kennzeichen der Häresie ist Lästerung und Frechheit, derGeist des Spottes und der Verleumdung. ‚Spötter‘ nennt sie der hl. Judasin seinem Brief (18); und der hl. Bernhard sagte von den Häretikernseiner Zeit: „ Seht die Verleumder, seht die Hunde. Sie verspotten uns,weil wir Kinder taufen, weil wir für die Verstorbenen beten, weil wir umdie Fürsprache der Heiligen bitten.“

Es bedarf keiner großen Untersuchung, um zu beweisen, daß die Lu-

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theraner und unsere Calviner in diesem Geist handeln. Denn was Lu-ther betrifft, hat er seine Sache so mutwillig und schmähsüchtig ver-folgt, daß Beza sich nicht scheute, ihm deswegen zu grollen. Doch wasbrauchen wir das Zeugnis Bezas? Wir haben das Geständnis des Schul-digen selbst, daß er zügellos schreibe und handle und in einer Weise, dieeinem Menschen ziemt, der seiner nicht mächtig ist, wie er selbst (Wi.III,456) sagt. Aber, guter Gott, wie zügellos geht er mit dem Papst um,mit dem König von England, mit dem ganzen Stand der Bischöfe, mitden Universitäten von Paris und Löwen! Fast die geringste Schmähung,mit der er um sich wirft, ist die, daß er sie Schweine, Esel, tölpelhafteAnhänger Satans und anderes dieser Art nennt; und das so oft und soscharf. Wenn du aus seinen Werken alle Schmähungen entfernst, wirstdu die acht Bände seiner Schriften leicht auf einen reduzieren.

Wenn aber jemand an ihren Lästerungen und an ihrem Geist des Spot-tes zweifelt, so lese er doch, wenn es erlaubt ist, welches Spiel Luthermit den Theologen von Paris trieb, ebenso Beza mit Passavantius. Erwird sich wahrlich wundern über den Unverstand und die Armseligkeitjener, die solche Menschen für Reformatoren der Kirche, für Wieder-hersteller der Frömmigkeit und Religion hielten und noch halten. Ichfühle mich dennoch gedrängt, eine Stelle aus Calvin (Inst. IV,7,27) vor-zulegen, an der er mit sich selbst kämpft, damit er nicht unverschämteroder unvernünftiger werde beim Ersinnen von Verdrehungen und Schmä-hungen: „Wenn wir auf Menschen zu sprechen kommen“, sagt er, „isthinreichend bekannt, welche Stellvertreter Christi wir vorfinden wer-den. Julius und Leo, Clemens und Paulus werden natürlich die Säulendes christlichen Glaubens und die hauptsächlichen Interpreten der Re-ligion sein, die von Christus nichts anderes hielten, als was sie in derSchule des Lucianus gelernt haben. Doch wozu zähle ich drei oder vierPäpste auf? Als ob es einen Zweifel daran gäbe, zu welcher Religionsich die Päpste schon seit langem mit dem ganzen Kardinalskollegiumbekannt haben und heute bekennen? Denn das erste Kapitel jener gehei-men Theologie, die unter ihnen vorherrscht, heißt, daß es keinen Gottgebe; das zweite, was über Christus geschrieben wurde und gelehrt wird,sei alles Lüge und Fabeln. Obwohl das allen sehr bekannt ist, die Romkennen, hören dennoch die römischen Theologen nicht auf“, etc. Ichbitte euch, wer schämte sich nicht über diesen giftigen Lügner und Be-trüger? Doch um seine Unverschämtheit unerträglich zu machen, versi-chert er an der gleichen Stelle (§ 29), er spreche nicht von Menschen,sondern von der römischen Cathedra. So können wir ihm mit Recht

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jene Worte des Augustinus vorhalten, die wir oben zitiert haben: „Washat dir die Cathedra Petri getan?“

Sie sind aber nicht damit zufrieden, die streitende Kirche Gottes mitso vielen Schmähungen zu überhäufen; das schien ihnen zu wenig, wennsie die Pfeile ihrer Lästerungen nicht gleichzeitig auch auf die Bürgerder triumphierenden Kirche abschossen. Höre Calvin (Inst. III,20,27):„Wir folgern, daß die Papisten Christus nichts überlassen; sie haltenseine Fürsprache für nichtig, wenn nicht Georg, Hippolyth oder ähnli-che Gespenster hinzukommen.“ Und anderswo (III,20,21) lügt er ganzunverschämt und unterstellt den Katholiken, „in allen ihren Litaneien,Hymnen und Sequenzen, in denen den toten Heiligen nur Ehre darge-bracht wird, erwähnen sie Christus überhaupt nicht“. Luther greift aberan einer bestimmten Stelle (Jena II,410b) Thomas von Aquin außeror-dentlich an, so daß er sich nicht schämt zu behaupten, er sei wahrschein-lich verdammt. Mit einem Wort, sie lassen nichts im Himmel und aufErden unangetastet; es wäre auch nicht gerecht, wenn sie den Doctorangelicus geschont hätten, die weder die Engel noch Gott verschonten.

IV.

Die Anfänge der Häresien unserer Zeit

§ 1.

Ferner haben alle Häresien das gemeinsam, daß sie einen niedrigen undabscheulichen Ursprung haben. (Von da her kommt das berühmte Wortdes hl. Hieronymus: Die Irrlehren auf ihren Ursprung zurückführen be-deutet, sie verachten). Sehen wir deshalb nun, im Sinn eines Nachtrags,welch vornehmen Ursprungs sich die Häresien unserer Zeit rühmen.

Alle führen ihn auf Luther zurück; er war der erste von allen undüberhaupt ihr Urheber. Das bestätigt in der Tat Luther selbst (Jena I,1):„Am Anfang war ich allein“, sagt er, „und gewiß der Ungeschicktesteund Ungeeignetste, so große Dinge zu behandeln.“ Und Beza sagt in den‚Icones‘13 von Luther, er sei erweckt worden, damit er das Licht desEvangeliums aus der dichtesten Finsternis hervorhole. Und wenn auchweder Luther noch Beza es bestätigten, wäre doch jener tiefste Friedehinreichend bezeugt, dessen die Kirche sich erfreute, als Luther ihr den

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Krieg erklärte und plötzlich alle Stände zu ihm aufgerufen wurden,sobald er auftrat. Luther rechnet es sich ja zur Ehre an, daß er der ersteund der einzige war, der die Massen aufgerufen hat; denn er beglück-wünscht sich selbst, daß „die Deutschen schwankenden Geistes abwar-teten“, welchen Ausgang der Streit nehmen würde, den er selbst ent-fachte und, sagt er, „an den vorher keiner, weder ein Bischof noch einTheologe, zu rühren gewagt hatte“. Und er schätzt diesen häretischenRuhm so hoch, daß er es als Beleidigung betrachtet hätte, wenn jemalsgesagt würde, er habe seine Auffassung von anderen gelernt. Als vielemeinten, er sei Hussit, verwahrte er sich selbst dagegen (Jena II,308)und rief aus: „Die mich einen Hussiten nennen, tun das zu Unrecht,denn er stimmt nicht mit mir überein. Wenn er ein Häretiker war, binich zehnmal mehr ein Häretiker, weil er viel Unwichtigeres und vielweniger gesagt hat als ich.“

Doch sehen wir, auf welchen Wegen und durch welchen Genius er zudieser Neuerung der Lehre gekommen ist. Das eine steht sicher fest, daßer das Ganze nicht auf göttliche Anregung unternommen hat (obwohler an anderer Stelle – Wi. II,305 – sagt, er sei von Gott berufen, wie alleHäretiker sich zu brüsten pflegen), sondern auf menschlichen und gera-dezu fleischlichen Antrieb: „Zufällig“, sagt er (Jena I,1), „nicht gewolltund absichtlich bin ich in diese Streitigkeiten geraten; ich rufe Gottzum Zeugen an.“ Was gibt es denn so Widersprüchliches wie das, daß ermeint, auf göttliche Anregung sei geschehen, was zufällig geschah? Oderwas ist offenkundiger, als daß sich dieser Apostat den oben zitiertenWorten zufolge nicht in die friedliche Predigt des Evangeliums, son-dern in Streitereien gestürzt hat? Das bestätigt in der Tat nicht nur erselbst, sondern auch Philipp Melanchton, ein vorzüglicher Lutheraner:„Das waren die Anfänge dieser Kontroverse“, sagt er (Wi. II,6), „indenen Luther noch nichts ahnte oder träumte von der künftigen Ände-rung der Riten, ja nicht einmal die Ablässe ganz und gar verwarf, son-dern nur dringend Mäßigung forderte. Daher“, sagt er, beschuldigen„ihn jene zu Unrecht, die behaupten, er hätte sie aus einem stichhaltigenGrund angezettelt, um nachher den Staat zu verändern und für sich oderandere die Macht zu ergreifen.“

Ferner waren die ersten Anstöße und Eingebungen, die Luther dazuführten, die katholische Lehre zu verlassen, reine und gröbste Blasphe-mien; er schreibt ja (Jena I,2) selbst von sich: „Ich haßte das Wort ‚Ge-rechtigkeit Gottes‘; nach dem Brauch und der Gewohnheit aller Dokto-ren war ich gelehrt worden, sie philosophisch als formelle und tätige

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Gerechtigkeit Gottes aufzufassen, durch die Gott gerecht ist und dieSünder und Ungerechten bestraft.“ Und etwas später sagt er: „Ich liebteden gerechten Gott nicht, der die Sünder bestraft, ja haßte ihn sogar; instummer, wenn nicht blasphemischer, so gewiß ungeheurer Auflehnungwar ich über Gott empört.“ Und an anderer Stelle (Wi. VI,412) sagt erin der Auslegung der Stelle bei Paulus (Röm 1,16f): Die GerechtigkeitGottes wird enthüllt im Evangelium, alle Kirchenlehrer außer Augusti-nus hätten sie von der strafenden Gerechtigkeit Gottes verstanden; dannfügt er hinzu: „Sooft ich diese Stelle las, wünschte ich immer, Gott hättedas Evangelium nie geoffenbart. Wer könnte denn einen zürnenden,richtenden, verdammenden Gott lieben?“ Und wieder an anderer Stelle(Wi. VI,632b) sagt er: „Früher, als ich das Psalmwort (Ps 31,2) lesenund beten mußte: In deiner Gerechtigkeit mache mich frei, war ich ganzentsetzt und haßte dieses Wort von ganzem Herzen.“ Und etwas später:„Hier haben wahrlich alle Väter, Augustinus, Ambrosius etc., gefaseltund ihm gewissermaßen ein Ärgernis aufgedrängt.“ Von diesem Haßgegen den zürnenden und gerechten Gott kam er zur Überlegung, durchdie er seinen rechtfertigenden Glauben gefunden zu haben behauptet:„Dann fühlte ich mich wie neu geboren“, sagt er (Jena I,2), „und durchoffene Tore in das Paradies selbst eingetreten. Hier zeigte sich mir so-gleich ein anderes Gesicht der Heiligen Schrift.“

In all dem habe ich stets folgendes vor allem für bemerkenswert ge-halten: Erstens daß Luthers Neuerung ihren Ursprung im Gotteshaßgenommen hat, der schwersten aller Sünden. Das war eine wahrhaftwürdige Quelle, die so viele Bäche der Irrlehren sich ergießen ließ.

Das zweite ist, daß Luther nicht zur Besinnung kam, als er die Irrlehrehervorgerufen hatte, sondern in diesem furchtbaren Haß verharrte:„Denn wer könnte einen zürnenden, richtenden, verdammenden Gottlieben?“ sagt er. Mit diesen Worten bekennt er nicht nur, daß er Gottgehaßt hat, sondern auch, daß er ihn nicht hatte lieben können und nichtkönne. So denkt jedoch nicht jener, der (Ps 11) freudig singt: Der Herr istgerecht, er liebt die Gerechtigkeit; sein Gesicht sah die Redlichkeit; undan anderer Stelle (Ps 72,1): Gott, gib dein Gericht dem König und deineGerechtigkeit dem Königssohn. Und dann ruft er von jedem Gerechten(Ps 58,11) aus: Der Gerechte freut sich, wenn er die Vergeltung sieht; erwird seine Hände im Blut des Sünders waschen.

Das dritte ist, daß Luther seine überaus grobe Unwissenheit verrät,wenn er behauptet, alle Kirchenlehrer außer Augustinus hätten die Pau-lusstelle im Römerbrief von der strafenden Gerechtigkeit Gottes ver-

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standen; denn wenn ich Chrysostomus und Theodoret übergehe, der hl.Thomas und Nikolaus von Lyra, der allen zugänglich ist, haben jeden-falls die Stelle offenkundig interpretiert von der Gerechtigkeit, durchdie Gott uns rechtfertigt; gleichwohl ist auch die gegenteilige Ausle-gung nicht völlig zu verwerfen.

Das vierte ist, daß Luther seine Unverschämtheit zeigt, wenn er be-hauptet, die zitierte Psalmstelle sei von keinem der Katholiken undVäter verstanden worden von der Gerechtigkeit, durch die Gott unsrechtfertigt; denn Augustinus selbst, Nikolaus von Lyra und die Glossaordinaria interpretieren sie ausdrücklich so: In deiner Gerechtigkeitmache mich frei, das heißt: weil ich durch meine Gerechtigkeit, diekeine ist, nicht befreit werden kann, verlange ich sehr, durch die deinebefreit zu werden, guter Gott. Gleichwohl bemerkt die Glossa ordina-ria klug, was diese Stelle betrifft, diese Auslegung sei eher moralisch,während dem Buchstaben nach der Psalmist von der richtenden Ge-rechtigkeit Gottes spricht, als wollte er sagen: Da du gerecht bist, Herr,entreiß mich und befreie mich aus den Händen meiner Verfolger, diemich ungerecht bedrängen und verfolgen. Doch zur Sache.

Nachdem Luther diesen Anfang seiner Lehre gemacht hatte, hat er,was folgerichtig war, vieles durch Heuchelei und Lüge unternommen,um seine Irrlehre aufrecht zu erhalten. Er hat ja selbst dem römischenPapst lange Zeit geschmeichelt, und als er ungerecht gegen den Königvon England geschrieben hatte, schickte er ihm nachher einen Brief(Wi. II,488), in dem er den Geist des Königs durch Schmeicheleien undBeschönigungen zu besänftigen versuchte, indem er folgendermaßenschrieb: „Ich bin mir bewußt, daß Eure Majestät zutiefst gekränkt seinmuß durch mein Büchlein, das ich töricht und übereilt verfaßt habe.“Und etwas später schreibt er: „Mit tiefer Scham erfüllt fürchte ich jetzt,meine Augen vor Eurer Majestät zu erheben, der ich mich aus Leicht-sinn gegen einen so guten und großen König aufbringen ließ, zumal ichnur Bodensatz und ein Wurm bin, der nur mit Verachtung bestraft undübergangen zu werden verdiente.“ Dann bittet er zu Füßen des Königshingestreckt um Vergebung und verspricht einen Widerruf, wenn derKönig das wünsche. Doch kurze Zeit später, als der König von Englandihm von neuem geschrieben hatte, griff er (Wi. II,489f) den König mitviel grimmigeren Schmähungen erneut an, bedauerte, den Brief geschrie-ben zu haben, tat nicht das geringste, um seine Heuchelei zu entschuldi-gen, durch die er einen Widerruf versprochen hatte, und erklärte, erhabe jenen Brief geschrieben, um den König zur Annahme seiner Häre-

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sie zu verlocken. „Ganz trunken von dieser Überzeugung habe ich dieseAbbitte ausgesprochen und jenen unglückseligen Bittbrief geschrieben,den diese Schweine schmählich behandeln und zerreißen.“ Und kurzdarauf (490b) sagt er, er habe den gleichen Kunstgriff angewendet beimHerzog Georg von Sachsen; und nach einigen Worten verkündet er, esreue ihn nicht, diese List angewandt zu haben, als hätte er alles getan,um das Evangelium zu verbreiten, und er schämt sich nicht, solche Täu-schung und Heuchelei einen frommen und ehrenhaften Eifer zu nen-nen. Wahrhaftig ein frommer Mann, der glaubt, der Fromme diene auchdurch die Lüge der Wahrheit!

Wem wird jemals glaubwürdig sein, daß diese trügerischen LippenLuthers, die aus einem geteilten Herzen (Ps 12,3) sprechen, von Gotterwählt worden seien, um der Welt wieder das Licht des Evangeliums zuentzünden? Oder wer hat je etwas Niederträchtigeres und Abscheuli-cheres gesehen oder gelesen über die Anfänge irgendeiner Irrlehre, diezufällig, nicht ernsthaft und überlegt, entstanden ist, aus Haß gegen Gott,nicht aus Liebe, aus Lügen und Heuchelei, nicht aus der Wahrheit? IhrUrheber war ja selbst ein unruhiger Mensch und so unbändig, daß nachdem Zeugnis Philipp Melanchtons (Wi. II,4) nicht nur Erasmus beiihm Milde und Mäßigung gewünscht hätte, sondern auch Herzog Fried-rich, unter dessen Protektion und Herrschaft Luther seine ganze Tragö-die aufführte. Er leugnete ja selbst nicht, daß sie ihm mangelte, als erzugab, seiner selbst nicht mächtig zu sein.

§ 2.

Schauderhafter Beginn der Häresie Luthers

Doch von allem, was wir bisher angeführt haben, bleibt noch der ab-scheuliche und überaus schreckliche Beginn der Häresie Luthers. Wirhaben weiter oben den bezeichnenden Ausspruch Luthers (Jena II,269)wiedergegeben, wo er bestätigt, daß ihm die Messe so sehr mißfalle, daßer lieber alles leugnen wollte, als die Messe anzunehmen. Aber ich bitte,was kann die Ursache solchen Hasses gewesen sein? Ob etwa Lutherdurch himmlische Eingebung irgendeines Engels oder Gottes selbst dazugebracht wurde, die Messe mit solchem Haß zu verwünschen? Nein,vielmehr war naturgemäß der Teufel der ausgezeichnete und würdigeLehrer und Urheber solcher Erbitterung Luthers gegen die Messe; auf

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sein Wort schwor er. Wer wird das glauben? Niemand, wahrhaftig nie-mand, wenn es nicht Luther selbst gesagt hätte. Daher soll Luther selbstberichten und sich nicht zu sagen schämen, welchen Lehrer er von An-fang an hatte, daß er die Messe zerstören wollte. Denn auch in unseremRecht ist sichergestellt, daß der Ursprung und Anfang jeder Sache un-tersucht werden muß.

Im Buch ‚Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe‘ (Wi. VII,207) ver-sichert er nicht nebenbei, sondern ex professo und berichtet ausführ-lich, Satan sei ihm um Mitternacht erschienen und habe durch fünf Ar-gumente, die er durch verschiedene Bilder ausschmückte, bewirkt, daßer von da an die Messe und die Priesterweihe völlig verachtete undverwarf. Auch der Einwand, den er sich selbst machte, der Teufel sei einLügner, dem man deshalb nicht glauben dürfe, habe ihn doch nicht über-zeugen können, daß er sich durch die Argumente des Teufels nicht ge-schlagen geben müsse, dessen Kraft und Elan im Disputieren er großar-tig hervorhob. Dann wendet er sich an die Katholiken und sagt: „Hättetihr die Schläge des Teufels aushalten und seine Beweisführungen anhö-ren müssen, ihr hättet nicht länger die alte und überkommene Leier derKirche gesungen. Satan hat nämlich in einem Augenblick plötzlich denganzen Geist mit Schrecken und Finsternis überschattet.“ Damit er an-stelle des Teufels seinem Einwand gerecht werde und antworte, versuchter dann durch verschiedene Dinge zu zeigen, daß der Teufel manchmalauch die Wahrheit lehre und so lüge, daß er die Lüge durch die Wahrheitüberdecke. „Ich bekannte, vom Gesetz Gottes überführt, vor dem Teu-fel“, sagt Luther, „daß ich gesündigt habe, daß ich verdammt sei wieJudas; aber ich wende mich mit Petrus an Christus und blicke auf seineunermeßliche Wohltat und sein Verdienst. Er wird alle schrecklicheVerdammnis verdammen. Mit einem Wort (und das ist die FolgerungLuthers), wir sind von ihren Winkelmessen und von der Salbung derBischöfe befreit.“

Vortrefflich, vortrefflich, ihr Männer mit Herz; unsere Ohren haben esgehört, unsere Augen haben es gesehen! Ei, das ist jene herrliche undevangelische Freiheit, die Luther und nach seinem Beispiel die übrigenHäretiker unserer Zeit eingeführt haben! „Wir sind befreit“, sagt Luther,aber nicht durch die Freiheit, die Christus uns durch sein kostbares Bluterworben hat (Gal 5,1; Apg 20,28), sondern durch die Freiheit, die SatanLuther von der Hölle gebracht hat. Guter Gott, wer hat je so etwas gehört?Wer aber kann es jetzt ohne Schaudern hören? Wer kann sich schließlichder Tränen erwehren, wenn er es ausspricht? Und dennoch gibt es, ach, so

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viele Menschen, die sich so grauenhafter, abscheulicher und widerwärti-ger Auffassungen rühmen, die aus der Hölle stammen, und ihrem Urhe-ber, dem Teufel folgen. Doch wir Katholiken hangen Christus an undwidersagen dem Satan und seiner Lehre. Möge sich also Luther mit sei-nen Anhängern rühmen, soviel er will, daß er seine Lehre gegen die Messevom Satan erhalten habe; wir werden immer auf den Apostel hören, dervom gleichen Geheimnis, aber ganz anders als Luther spricht: Ich habenämlich vom Herrn empfangen, was ich euch auch überliefert habe, sagt er(1 Kor 11,23). Schließlich werden wir allen, die Luther folgen, stets jenesganz wahre und überaus schimpfliche Kennzeichen einbrennen, das vonLuthers eigenem Geständnis abgeleitet ist, das auch niemand verhöhnenkann: Ihr habt den Teufel zum Vater (Joh 8,44).

V.

Einige politische Irrlehren der Neuerer

[Es wäre längst Zeit, diese Untersuchung zu beenden, die mich längeraufgehalten hat, als ich glaubte, oder aus Überdruß über einen so schau-derhaften Bericht, wenn ich mich nicht aus Rücksicht auf das öffentli-che Wohl verpflichtet fühlte, so kurz ich kann, darzulegen, welcher Scha-den auch dem Staatswesen der Christen durch die Einfälle unserer Neue-rer droht und zugefügt wird. Niemand kann daran zweifeln, daß sie impolitischen Bereich nicht weniger Irrlehrer sind als im kirchlichen. Daswird leicht zu machen sein, wenn wir einige ihrer Behauptungen vorle-gen, die sie ebenso verbissen vertreten, als wären sie Glaubensartikel.]

Erste politische und häretische Behauptung:

Von der besten Staatsführung

Die erste Behauptung stammt von Calvin, der sie in klaren Wortenausdrückt: Die beste Art der Staatsführung sei die aristokratische, jasogar demokratische; und was darauf folgt: die schlechteste von allendie Monarchie (Inst. IV,208). Obwohl er nun denjenigen, die Monar-chen unterstehen, erklärt, sie müßten weiter nichts unternehmen, zeigter selbst, der unter einem so hervorragenden Monarchen14 geboren und

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erzogen wurde, hinreichend seine Gesinnung gegen seinen Fürsten, in-dem er die Monarchie verachtet und erklärt, sie sei eher zu dulden, umein größeres Übel zu vermeiden, als wegen ihrer Vorzüglichkeit zu lie-ben. Diesem Mann, der für einen ganz großen Politiker gehalten werdenwollte, war auch nicht unbekannt, daß nichts gefährlicher ist, als dasVolk und die Vornehmen durch die Hoffnung auf eine bessere Regie-rung zu reizen, an die Herrschaft zu denken und sie zu wünschen, damitsie diese nicht auch an sich zu reißen versuchen, nachdem sie darangedacht und sie gewünscht haben. Diese Gefahr zu fürchten, bestehtnicht die gleiche Ursache, wenn wir in Ehren, auch unter Demokratenoder aristokratischen Amtsträgern, über die Monarchie sprechen. Dar-aus entsteht ja kein Anlaß zur Unruhe, weil der Wunsch, zu herrschenoder zu regieren, viele von denen, die die Geister beherrschen, daranhindert, die Monarchie herbeizuwünschen.

Wie völlig falsch ist, was er behauptet, die Herrschaft vieler sei derHerrschaft eines einzigen vorzuziehen, steht nach all denen fest, dieüber den Staat geschrieben haben,15 die man für erfahrener sowohl inkirchlichen als auch in politischen Fragen halten muß. So regierte Gott,der überaus Gute und Erhabene, sein Volk Israel durch Führer, Richterund Könige, die Kirche durch Päpste, die himmlischen Scharen durchden Erzengel Michael, dem die anderen Engel unterstellt genannt wer-den. Ja sogar bei den Tieren, die in Herden leben, scheint eines immerüber den anderen zu stehen: so die Elefanten, Hirsche, Schafe, Krani-che, Bienen, Perlmuscheln etc. Naturgemäß ist die Regierungsform diebeste von allen, die der Leitung Gottes, des überaus Guten und Erhabe-nen, am nächsten kommt, so daß sie wünschenswerter und liebenswer-ter ist als die übrigen, so daß das Verlangen nach ihr von Gott der Naturselbst eingepflanzt zu sein scheint.

Zweite politische und häretische Behauptung:

Von der Gleichheit aller Sünden

Die zweite ist die Behauptung Luthers (Jena II,417b), die von unsschon früher angeführt wurde: „Es ist überhaupt kein Unterschied zwi-schen allen Umständen, die nach allgemeiner Meinung und Auffassungaller Menschen die Sünden schwerwiegender machen sollen.“ So sündi-ge jener nicht schwerer, der Blutschande mit der Tochter oder Schwe-

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ster begeht, als einer, der mit einer fremden Witwe oder einer Dirneverkehrt; ebenso nicht jener, der den Vater oder die Mutter oder einenFürsten ermordet, als wer einen Feind tötet. [Wenn jemand nicht sieht,wie gefährlich das für den Staat ist, so verdient er wahrhaftig beschuldigtzu werden, er habe Blutschande mit der Tochter oder Mutter begangenoder er habe das Leben des Fürsten angetastet; und er soll glaubhaftmachen, daß er zu erfahren versucht, ob er auch die Fürsten und Obrig-keiten davon überzeugen kann, wozu er sich so töricht von Luther über-reden ließ.]

Dritte politische und häretische Behauptung:

Daß man nicht gegen die Türken kämpfen dürfe

Die dritte Behauptung, ebenfalls von Luther (Jena II,310), heißt: „Ge-gen die Türken kämpfen, heißt Gott widerstehen, der durch sie unsereMissetaten bestraft.“ Was kann Dümmeres als diese Behauptung gesagtwerden, ich beschwöre euch; was ist ungerechter und geeigneter, denganzen christlichen Staat zu zerstören? Demnach dürfte kein Fürst ge-gen Wegelagerer vorgehen, gegen Verwüster der Felder, Brandstifter,schließlich gegen Feinde, die von innen und von außen angreifen? Es istja sicher, daß verruchte Menschen, die die Guten bedrücken, mit GottesZulassung so handeln, damit die Guten durch ihre Mißhandlung vonGott heimgesucht und gebessert werden. Dürfen also die Ärzte nichtgegen eine Seuche kämpfen, darf man keine Vorsorge für Getreide undNahrungsmittel gegen den Hunger treffen, so daß also Gott uns durchsolche Betrübnisse nicht nur heimsucht und züchtigt, sondern sie auchbilligt, gutheißt und bewirkt? Warum trägt also der Fürst das Schwert,warum tragen die Soldaten Waffen, wenn nicht dazu, um eindringendeFeinde zurückzuschlagen und Angriffe auf den Staat abzuwehren?

Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Soldaten auch im Evangelium(Mt 8,10; Lk 7,4f.9) gelobt werden, weil sie auch gerecht sein können, wiejener vornehme Hauptmann Kornelius, von dem in der Apostelgeschich-te (10,1f) berichtet wird; daß sie ferner auch von Johannes dem Täuferanerkannt werden, nicht wenn sie den Kriegsdienst aufgeben, sondernwenn sie niemand bedrücken, kein Unrecht verüben und mit ihrem Soldzufrieden sind (Lk 3,14). Der König, sagt Paulus (Röm 13,4), trägt dasSchwert nicht umsonst, er ist ja Diener Gottes, um rächend zu strafen.

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Zu dieser ganzen Frage gibt es eine goldene Predigt des hl. Bernhardfür die Templer: „Geht ohne Furcht vor, ihr Soldaten, und vertreibtunerschrockenen Geistes die Feinde des Kreuzes Christi. Seid über-zeugt, weder Tod noch Leben kann euch von der Liebe Christi scheiden(Röm 8,38f). Wie ruhmvoll kehren die Sieger aus dem Krieg heim! Wieselig sterben die Märtyrer im Kampf! Das Leben ist gewiß nützlich undder Sieg ruhmvoll, doch beiden wird ein heiliger Tod vorgezogen.“ Undspäter: „Die Soldaten Christi führen zuversichtlich die Kriege ihresHerrn und fürchten keineswegs eine Sünde, wenn sie den Feind töten,noch die Gefahr von ihrem eigenen Tod. Der Soldat Christi, sage ich,tötet unbesorgt und ist noch furchtloser, wenn er getötet wird. Er stehtfür sich ein, wenn er getötet wird, für Christus, wenn er tötet. Wenn erden Übeltäter tötet, wird er gewiß nicht als Mörder betrachtet, sondernals Rächer des Bösen, wenn ich so sagen darf.“

Vierte politische und häretische Behauptung:

Daß Gesetze der Fürsten die Untertanennicht im Gewissen binden

Die vierte Behauptung stammt von Calvin, der (Inst. IV,10,5) bestrei-tet, daß die Gesetze des Fürsten im Gewissen verpflichten. Warum denn?Weil es „unser Gewissen nicht mit Menschen zu tun hat, sondern mitGott“, sagt er.

„At non ille, satum quo te mentiris,Achilles Talis in hoste fuit Priamo.“

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Paulus lebte zu der Zeit, da die Fürsten und Kaiser Christus nicht nurnicht folgten, sondern ihn sogar verfolgten und sich zusammentaten ge-gen den Herrn und gegen seinen Gesalbten (Ps 2,2); und doch rief er(Röm 13,1f) aus: Jeder sei der obrigkeitlichen Gewalt untertan; es gibt jakeine Gewalt außer von Gott. Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der wider-steht der Anordnung Gottes. Die sich aber widersetzen, ziehen sich selbstdas Strafgericht zu. Ihr müßt euch daher unterwerfen, nicht nur der Strafewegen, sondern auch des Gewissens wegen, denn sie sind Diener Gottes.

Was hast du dazu zu sagen, Calvin? Siehst du nicht, daß es unser Ge-wissen auch mit Menschen zu tun hat, nämlich mit jenen, die an Gottesstatt das Gemeinwesen leiten, sei es das kirchliche oder das politische?Jeder kann sehen, wie nach dieser Lehre Calvins die Autorität der Für-

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sten und der Gesetze geschwächt wird; und auch die Fürsten selbst wer-den es fühlen und erfahren, wenn sie dulden, daß diese verderblichenund aufrührerischen Stimmen in ihrem Staat überhandnehmen.

Fünfte politische und häretische Behauptung:

Daß die Untertanen die Macht ihrer Fürsten nichtwünschen müssen

Von der fünften Behauptung weiß ich nicht, ob sie anziehender odergefährlicher ist; sie stammt ebenfalls von Calvin:17 die Untertanen müß-ten die Macht ihrer Fürsten nicht wünschen. Dann spricht er von denFranzosen und Spaniern im einzelnen, damit du nicht etwa meinst, eshandle sich um die Türken oder Inder, und sagt: Daran erkennen wir,wie groß die Dummheit der Völker ist, die nach einem mächtigen Kö-nig verlangen, der mit großen Vollmachten herrscht, und welchen Preissie dafür bezahlen. Frankreich und Spanien rühmen sich heute, daß sievon großen Fürsten regiert werden; doch wie wertlos das ist, was sieunter dem Vorwand einer trügerischen Ehre betört, das spüren sie durchden eigenen Schaden. Wenn wir dir glauben, Calvin, ist es also für dieUntertanen gut und ehrenhaft, ja sogar nützlich, wenn sie die Erniedri-gung ihrer Fürsten anstreben.

[Ihr Könige, ihr Fürsten, erlaubt mir, ob eurer und eures Volkes Si-cherheit auszurufen: Was macht ihr denn? Was erwartet ihr denn, dieihr die Urheber und Anhänger einer so gefährlichen und schädlichenLehre in eurem Machtbereich begünstigt, sie liebt und gleich großenPropheten Gottes aufnehmt? Denn nur euch mahne ich und wunderemich über euch, nicht über jene, die beinahe wider Willen auch diedulden, die sie hassen, um nicht durch Kriege und Aufstände alles inAufruhr zu bringen.] Wann leben denn die Königreiche und Völkerbesser und glücklicher, als wenn ihre Fürsten, sofern sie es gerecht undbillig tun, über möglichst große Gebiete herrschen? Wann stand es umdie Gallier besser, als zur Zeit, da Karl der Große regierte, der mächtig-ste König und Kaiser? Wann stand es besser um die Israeliten als unterder Herrschaft des großen Salomo?

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Sechste politische und häretische Behauptung:Daß kein Staat durch Gesetze glücklich regiert werde

Die sechste Behauptung (Wi. II,38) stammt von Luther (wir sprechenja von Luther und Calvin gemeinschaftlich, weil wir der Auffassungsind, daß zwischen ihnen kein großer Unterschied besteht): „Kein Staatwird durch Gesetze glücklich regiert.“ Als unsere Theologen das ausseinen Äußerungen folgerten und es ihm als widersinnigsten Irrtumvorhielten, leugnete er das nicht nur nicht, sondern bestätigte es undbegründete seine Behauptung (Jena II,418b) mit den Worten: „Das lehrtja die Erfahrung.“ Welche Erfahrung denn, Luther? Hast du etwa einenStaat gesehen, von ihm gehört oder gelesen, sei er monarchisch, aristo-kratisch oder demokratisch, der nicht durch Gesetze regiert und gelei-tet wird? Oder bist du etwa ein besserer Staatsmann und klüger als Gott,der überaus Gute, oder erfahrener in der Kunst, den Staat glücklich zulenken?

Indessen hat Gott seinem Volk Israel aufgetragen und geboten, dieGesetze zu befolgen, uzw. nicht nur sittliche und religiöse, sondern auchpolitische und rechtliche. Von da her stammt die göttliche Weisheit(Spr 8,15): Durch mich herrschen die Könige; und die Gesetzgeber ent-scheiden gerecht. Die Könige, die durch Gott herrschen, erlassen daherdurch Gott auch Gesetze, um gerecht zu entscheiden. Wir sollten auchnicht diese Behauptung des Aristoteles und anderer profaner Autorenweiter verfolgen. [Lieber möchte ich diese ganze Frage mit den Grün-den gebührend erörtern, die den Rechtsgelehrten ziemen und die unse-re Jurisprudenz hinreichend bietet, wenn wir die Muße hätten, die derUmfang und die Fülle des Gegenstandes erfordern.] Es soll genügen,daß bei den Christen nie ein Staat ohne Gesetze gelenkt wurde.

Siebente politische und häretische Behauptung:Daß irdische Gerechtigkeit nichts mit dem

Gewissen zu tun habe

Die siebente Behauptung, die die letzte sein soll, stammt ebenfallsvon Luther, wo er (Wi. V,304; Jena NV,33) den Unterschied zwischendem Gesetz und dem Evangelium behandelt und sagt: „Das Gewissenhat nichts zu tun mit dem Gesetz, den Werken und der irdischen Ge-rechtigkeit. Im Gegenteil, im staatlichen Bereich wird aufs strengste

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Gehorsam gegen das Gesetz gefordert; hier weiß man nichts vom Evan-gelium, von Gewissen, Gnade, Vergebung der Sünden, himmlischerGerechtigkeit, ... von Christus, sondern nur von Mose, von Gesetz undWerken.“ So weit Luther. Im Gegensatz zu ihm ermahnt König David(Ps 2,10-12) die Völker ausdrücklich, dem Herrn zu dienen in Furchtund Zittern. Und nun, ihr Könige, bedenkt es wohl, sagt er: Lernt es, dieihr die Erde richtet. Dient dem Herrn in Furcht und huldigt ihm mit Zit-tern. Lernt Gehorsam, oder wie eine andere Version lautet: küßt denSohn. Nach diesen Worten gibt es keinen Zweifel, daß die Alten allegehorchten und die Könige eingeladen werden, Christus zu huldigen.

Wurde denn das christliche Staatswesen jemals glücklicher gelenktals unter Konstantin, Theodosius dem Älteren, Honorius, Theodosiusdem Jüngeren, Justinian, Karl dem Großen, Ludwig und unseren Für-sten mit dem Namen Amadeus?

18 Sie waren die gottesfürchtigsten Kai-

ser, Könige und Fürsten. Daher sagt Jesaja (9,12) zu Recht und in Wahr-heit, wie es einem so großen Propheten Gottes zustand, über Christusund die Kirche: Ein Volk und ein Reich, das dir nicht dient, wird unterge-hen. Und ferner, aus keinem anderen Grund trägt Christus auf der Hüf-te geschrieben: König der Könige und Herr der Herrschenden (Offb19,16), als deswegen, damit die Könige wissen, daß sie niemals besserund glücklicher herrschen können, als wenn sie von ganzem HerzenChristus, dem Evangelium und der Frömmigkeit dienen, da Christusdie Weisheit ist, die im Buch der Sprichwörter (8,15) sagt: Durch michherrschen die Könige.

Luthers lästerliche und unverschämte Lügegegen alle christlichen Fürsten

Luther hat also den Fürsten einen sehr schlechten Dienst erwiesen;nach der Meinung, die er von ihnen hatte, dennoch einen guten.

Er scheut sich ja nicht, alle Könige und Fürsten (Wi. VI,126.129;Jena II,309b) „gewaltige Jäger“ zu nennen, wie die Heilige Schrift (Gen10,9) von Nimrod sagt: Es sei zu viel der Ehre und des Ruhmes, sagt er,zu behaupten, „das Papsttum sei die gewaltige Jagd des römischen Bi-schofs; denn nach dem Vorbild Nimrods kommt sie zwar allen weltli-chen Herrschaften zu; Gott will dennoch, daß wir ihnen untertan sind,sie ehren, segnen und für sie beten.“ Was für ein Mensch aber Nimrodwar und wie gewaltig seine Jagd, das erklärt der hl. Hieronymus: weil er

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nämlich als erster im Volk die Gewaltherrschaft an sich gerissen hat.Dasselbe bestätigt Josephus, wo er von ihm spricht. Aber vielleicht sagtjemand, das habe Luther nicht gemeint, als er sagte, alle Fürsten glichenNimrod; auch ich würde das gern glauben, wenn ich nicht sähe, wieLuther selbst das in seinen Kommentaren zur Genesis (Wi. VI.125b) soauslegt. Dort fordert er nämlich alle Herrscher und Fürsten auf, gewal-tige Jäger zu sein, nicht um Wild zu jagen, sondern Menschen, und fügthinzu: „Das war später der allgemeine Titel aller Gewaltherrscher undFürsten.“

Wenn aber irgendwo auf Erden ein Fürst so sehr Lutheraner ist, daß ermit dir, Luther, bekennen wollte, so zu sein, dann wirst du ihm gut ratenund dich als würdiger Berater eines so unwürdigen Fürsten erweisen; duwillst ja, daß die Fürsten nach dem Vorbild Nimrods ihre Sorge nichtdem Christentum, sondern der Gottlosigkeit angedeihen lassen. Du wirstaber zu denen, die dem zustimmen oder danach handeln, nicht all diechristlichen und katholischen Könige, Herzöge und Fürsten zählen kön-nen; wie sie die übrigen deiner gottlosen Lehren verurteilen, werden sieauch diese törichte und schmachvolle Lästerung deiner Unbesonnen-heit und Unverschämtheit zuschreiben und sich wenig darum kümmern,was du von ihnen denkst, während sie Dem einen wohlgefälligen Dienstleisten, „dem zu dienen herrschen heißt“.

– – –

Lob sei dem Herrn, Ruhm. Ehre und Lobpreis unserem Gott (Offb5,13; 7,12). Wir sehen, daß es durch sein göttliches Erbarmen dazugekommen ist, daß alle diese Häresien schon abzunehmen und zuletztdoch zu verfallen beginnen. Denn fast niemand wird heute irgendwo aufder Welt Häretiker, wenn du von jenen absiehst, die unter Häretikerngeboren werden und von den Häretikern über unsere katholische Reli-gion immer nur die Stimmen der Verleumder gehört haben; oder sol-che, die mehr den Wunsch haben, vom Ordens- oder Priesterstand alsvon der Religion abzufallen, um bei den Häretikern für sich Straffrei-heit von Vergehen zu suchen, deretwegen sie bei uns ehrlos sind; oderum größere und leichtere Freiheit für Zügellosigkeit und Unzucht zuerlangen, die sie Freiheit des Gewissens nennen; oder schließlich sol-che, die durch Erwägungen irgendeines Nutzens oder auch der Scham-losigkeit mehr als durch irgendwelche Gründe der Wissenschaft oderdes Gewissens davon abgehalten werden, zu uns zurückzukehren. Alle

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Häresien haben mit Dirnen gemeinsam, daß sie an der bloßen NeuheitGefallen finden, darin aufwachsen und beharrren, daß sie ebenso durchdas bloße Alter mißfallen, abnehmen und verfallen.19

Ich beklage wahrhaft, beklage es von ganzem Herzen und schreibe esbeinahe unter Tränen, daß noch so viele übrig bleiben, die von Kindheitan all dieses Geschwätz gewöhnt sind und so hartnäckig darin beharren;übrigens auch sehr große Männer, ganz berühmt durch Gelehrsamkeitund Begabung; ja unter ihnen, was mich besonders quält, auch nichtwenige Rechtsgelehrte und mir sehr vertraute Freunde, die ich, abgese-hen von der Frage der Religion, verehre und stets mit tiefem Respektverehren werde. Für sie möchte ich, wenn es erlaubt wäre, verworfensein (Röm 3,9), damit sie doch wieder zu sich kommen und nicht zulas-sen, daß sie aus dem Buch der Lebenden getilgt werden.

Euch aber, ihr großen Männer, wie viele und wo immer ihr seid, vorallem aber euch, die ihr mich liebt, bitte ich inständig um des herzli-chen Erbarmens (Lk 1,78) Christi des Herrn willen, prüft eine Sachevon solcher Bedeutung endlich ernsthaften und ruhigen Sinnes, wie essich geziemt, aber im Geist der Demut, nicht des Stolzes, wie es bishergeschehen ist. Genug und schon übergenug habt ihr Luther, Calvin unddem Genius gegeben. Ihr habt bis jetzt die Neuerungen dieser Schwät-zer den Vätern des Altertums, dem Konzil von Trient und der ganzenKirche vorgezogen. Wer wird glauben, ihr wäret so große Rechtsgelehr-te gewesen, daß ihr in den dunkelsten und verborgensten Sinn der Wer-ke Papinians eindringen konntet und trotzdem die törichten und kindi-schen Albernheiten dieser Leute nicht zu unterscheiden vermochtet,die gegen jedermanns gesundes Urteil verstoßen; ihr, die ihr auch durchso viele Bücher unserer Theologen belehrt wurdet?

Ich bitte euch, kehrt zurück zur Kirche Gottes, die euch bei der Ge-burt durch das Bad der Wiedergeburt liebevoll aufgenommen hat; umeuch von neuem aufzunehmen, sieht sie verehrungswürdig mit zahllo-sen Seufzern und Tränen eurer Umkehr entgegen. Die Reue wird nie zuspät sein, wenn sie nur echt ist; aber glaubt mir, sie wird lobenswerterund sicherer sein, wenn sie weniger spät kommt. Wie viele Vorbilderhabt ihr schon von solchen, die einst zu euch gehörten und sehr berühmtbei euch waren; nachdem sie in die Kirche Gottes zurückgekehrt waren,schämen sie sich, daß sie erst später getan haben, was sie früher hättentun müssen.

Ihr bestreitet nicht, daß unsere und die römische Kirche diejenige ist,deren Reformatoren ihr euch nennt; gebt also zu, daß sie die wahre ist;

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sonst müßtet ihr ja den Islam und den Koran zu reformieren unterneh-men, nicht die römische Kirche, wenn ihr nur die Menge der Mißständeund die Reformation einer falschen Kirche gesucht hättet. Wenn aberunsere Kirche die wahre ist, warum sucht ihr dann eine andere? Warumgründet ihr eine neue? Die Mißstände, die nach eurer irrigen Meinungin großer Zahl in ihr herrschten, mußten abgeschafft werden, wenn eswelche gab, aber nicht von euch, sondern vom Hirten und Lenker derKirche. Die Kirche selbst aber mußte immer als die gleiche bewahrtwerden; sie konnte nicht eine neue werden, ohne dadurch von selbsteine falsche zu werden. Wenn ihr daher eine neue gründet, gebt ihr zu,daß sie falsch ist. Wenn ihr an der unseren festhaltet, ist also unserediejenige, die der hl. Paulus (1 Tim 3,15) die Säule der Wahrheit nennt;mit ihr könnt ihr folglich nicht mehr irren, als gegen sie recht denken.

Schließlich bitte ich euch in der Liebe Gottes und mit dem Respekt,den ich euch zolle: wenn ihr meint, ich habe etwas zu Hartes gegen dieHäresien und die Urheber der Häresien gesagt, dann glaubt, daß es ge-sagt und geschrieben wurde, nicht um euch als Feinde herauszufordern,sondern um euch als Freunde aus dem Schlaf der Lethargie aufzuwek-ken.

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F F F F F. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schriftententententen

I. TI. TI. TI. TI. Texte über die Prädestinationexte über die Prädestinationexte über die Prädestinationexte über die Prädestinationexte über die Prädestination

Die Frage der Vorherbestimmung war zur Zeit des hl. Franz von Sales ein vieldiskutiertes theologisches Thema, besonders seit Calvins rigoros pessimistischenThesen. Franz von Sales wurde von der Frage zunächst ganz persönlich betroffen inder schweren inneren Krise während seiner Studienzeit in Paris, als er sich 1586/87zur Verdammnis vorherbestimmt glaubte. Später hat er sich bei seinen theologi-schen Studien in Padua mit dieser Frage mehrfach befaßt und in der Auseinander-setzung mit dem Calvinismus seinen optimistischen katholischen Standpunkt inden ‚Kontroversen‘ und im ‚Codex Fabrianus‘ vertreten. Darüber hinaus gibt eseinige Schriftstücke, die sich mit der Vorherbestimmung befassen:

1. In der Zeit seiner inneren Krise in Paris hat er außer einer Sammlung vonStoßgebeten aus den Psalmen (OEA XXII,14-18) Anrufungen und Gebete (XXII,18f)niedergeschrieben, die seine innere Not, aber auch sein Vertrauen verraten.

2. Auf dem Höhepunkt der Krise verfaßte er einen Akt heroischer Hingabe(XXII,19f). Kurz darauf wurde er auf die Fürbitte der Gottesmutter plötzlich vonder inneren Not befreit. Diese beiden Schriftstücke sind den Akten des Seligspre-chungsprozesses entnommen.

Während des Prozesses ‚de non cultu‘ 1648 wurden der Kommission neun Heftedes hl. Franz von Sales mit seinen Aufzeichnungen über Theologie (6) und dasbürgerliche Recht (3) vorgelegt. Wegen des großen Umfangs übernahm die Kom-mission nur einige Auszüge in die Akten des Prozesses; die Hefte gingen späterverloren. Aus den Prozeßakten stammen die nächsten Texte, die zugleich den Standder theologischen Bildung des Heiligen vor dem Abschluß seines Jura-Studiumszeigen.

3. Erklärung vom 15. Dezember 1590 (XXII,46f) über seine Treue zum Glaubender Kirche (aus dem 2. Heft, über die Gnade).

4. Vorbehalt gegen einen Irrtum (XXII,48-50) aus der ersten Hälfte 1591 (ausdem 4. Heft, über die Prädestination).

5. Fragment über die Prädestination (XXII,51-63) aus der ersten Hälfte 1591(nach einem Manuskript im Oratorium von Neapel).

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6. Erklärung über die Verdammung der Sünder (XXII,63-67) aus dem Jahr 1591(aus dem 5. Heft).

7. Fragment über die Prädestination (XXIII,1-7) erstmals von der Annecy-Aus-gabe nach einem Manuskript veröffentlicht, das klar zeigt, daß dieser Text aus derZeit der Chablais-Mission stammt und sich gegen die Häretiker wendet.

1. Anrufungen und Gebete

– – – Ich Elender, ach, ich soll also der Gnade dessen beraubt sein, dermir seine Güte so köstlich zu verkosten gab. O Liebe, o Güte, o Schön-heit, der ich alle meine Affekte geweiht habe, ach, soll ich also deineWonnen nicht mehr kosten? Soll ich nicht mehr trunken sein vom Über-fluß deines Hauses? Wirst du mich nicht mehr berauschen mit demStrom deiner Wonne (Ps 36,9)? Vielgeliebte Zelte des Gottes der Heer-scharen (Ps 84,2), ich werde also nie an den Ort des wunderbaren Zeltesgelangen, bis zum Haus Gottes (Ps 42,5)?

O Jungfrau, wohlgefällig unter allen Töchtern Jerusalems, deren Won-nen sich die Hölle nicht erfreuen kann, ach, ich werde dich also nie imReich deines Sohnes sehen, schön wie der Mond, strahlend wie die Sonne(Hld 6,9)?

Und niemals soll ich also der unermeßlichen Wohltat der Erlösungteilhaft werden? ... Ist denn mein gütiger Jesus nicht ebenso für michwie für die anderen gestorben? ... Wie dem auch sei, Herr, möge ich dichwenigstens in diesem Leben lieben, wenn ich dich im ewigen nicht lie-ben kann, weil dich in der Unterwelt niemand liebt (Ps 6,6; Jes 38,18)?

2. Akt heroischer Hingabe

Was auch kommen mag, Herr, in dessen Hand alles gelegt ist unddessen Wege alle Gerechtigkeit und Wahrheit (Ps 25,10) sind; was im-mer durch den ewigen Ratschluß der Vorherbestimmung und Verwer-fung, dessen Urteile ein tiefer Abgrund sind, über mich beschlossensein mag, der du stets ein gerechter Richter und barmherziger Vaterbist: ich will dich wenigstens in diesem Leben lieben, mein Gott; ichwerde immer auf deine Barmherzigkeit hoffen und werde stets dein Lobvermehren (Ps 71,14), was immer der Engel Satans (2 Kor 12,7) mirunablässig Gegenteiliges einflüstern mag. Herr Jesus, du wirst immer

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meine Hoffnung und mein Heil im Land der Lebenden (Ps 142,6) sein.Wenn ich verdientermaßen ein Verdammter unter Verdammten seinmuß, die dein überaus gütiges Angesicht nicht schauen werden, danngewähre mir wenigstens, daß ich nicht einer von denen sei, die deinemheiligen Namen fluchen.

3. Erklärung vom 15. Dezember 1590

– – – Das habe ich mit Furcht und Zittern am 15. Dezember 1590festgehalten, damit, falls später, wenn ich durch Alter und Gelehrsam-keit erfahrener bin, die Ansicht, die ich mir in meiner Jugend gebildethabe, nicht wahrer als das Urteil und die Entscheidung der Kirche zubleiben scheine, wie sie mir einst in der Kindheit erschien. Daher habeich zu ihrer Befestigung erwogen, was die Frage zu betreffen scheint undwas mir vielleicht verloren geht. In der Spekulation ereignet sich jamanchmal in einem Augenblick, was in einem Jahr nicht geschieht.

Das habe ich also in aller Demut geschrieben, um zu bezeugen, daßich sehr bereit bin, zugunsten der Auffassung, die die katholische, apos-tolische römische Kirche, meine Mutter und die Säule der Wahrheit (2Tim 3,15) angenommen hat oder in der Folge annehmen wird, auchwenn sich mein Verstand völlig dagegen sträubt, nicht nur alle Schluß-folgerungen zu verwerfen, die ich habe oder haben werde, sondern auchden Kopf selbst, aus dem sie entspringen, und daß ich, solange mir Gottden Verstand gibt, nie irgendetwas sagen will, außer was offenbar mitdem katholischen Glauben übereinstimmt. Denn ich habe geglaubt, unddeshalb habe ich gesprochen (Ps 116,1). Das heißt, der Glaube muß dieRegel des Glaubens sein, aber die Demut beschließt alles: Ich habemich aber sehr gedemütigt. Amen, amen.

Im ersten Monat des Pontifikates unseres Heiligen Vaters Gregor XIV.

4. Vorbehalt gegen einen Irrtum

– – – Das gilt, wenn es mit dem Glauben der heiligen römischenKirche übereinstimmt; wenn es aber anders wäre, sollen diese Schrift-stücke vernichtet und nicht mit den übrigen aufbewahrt werden. Dassage ich zur größeren Sicherheit, denn die Auffassung scheint so sehrmit der Heiligen Schrift, mit den Vätern, mit der Lehrweise der Kirche

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und den Theologen unseres Jahrhunderts übereinzustimmen, daß ichsie ohne Angst und ohne irgendeine Befürchtung annehmen kann.

Weil ich mich aber derart täuschen könnte, daß es nicht so ist, wie esscheint, vertraue ich in allem dem Heiligen Geist, dem Paraclet, derdurch unsere Kirche die Geister lenkt. Er verleiht Weisheit den Kleinen(Ps 19,8; 119,130), nicht den Stolzen. Er ist „das Licht der Herzen, derVater der Armen, der Spender“ der Erleuchtungen; in seinem Lichtwerden wir das Licht schauen (Ps 36,10); ihm sei Lob von Ewigkeit zuEwigkeit mit dem Vater und dem Sohn. Fiat, fiat. Ich empfehle michauch unserer heiligen Herrin, der Gottesmutter Maria; da sie die Mut-ter des Wortes ist, möge sie durch ihre Fürbitte unsere Worte nach demWort, ihrem Sohn, lenken; ebenso den Heiligen Petrus und Paulus,Augustinus, Thomas und dem ruhmvollen Lehrer Bonaventura, ebensodem hl. Josef. Fiat, fiat.

Das alles habe ich zur Ehre Gottes und zum Trost der Seelen nieder-geschrieben. Doch Gott ist selbst der Vater allen Trostes (2 Kor 1,3);daher dürfen wir uns nicht rühmen, so als käme etwas von uns, gleich-sam als von uns stammend, denn wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,stammt all unser Genügen von Gott (2 Kor 3,5). Die Lehre von derVorherbestimmung besagt ja nicht, daß die vorhergesehenen Werke dieGabe der freien Willensentscheidung ausschließen, sondern es bedarfimmer der vorhergesehenen Gnade des Herrn, durch dessen Erbarmenwir zu seinem Haus gehen, wenn in diesem Leben unsere Füße in deinenHallen, Jerusalem, stehen (Ps 122,1); denn ohne Christus vermögen wirnichts zu tun (Joh 15,5).

„Du König der Herrlichkeit, Christus; du bist des Vaters ewiger Sohn;du hast den Schoß der Jungfrau nicht gescheut, um den Menschen zubefreien“ (Te Deum). Jesus, Sohn Davids, hosanna, hosanna (Mt 21,9).Amen.

Was zwischen Anführungszeichen steht, habe ich von Pater Gesualdigehört, das übrige habe ich meditiert und meine Hoffnung auf den Herrn(Ps 73,28) gesetzt, stets bereit, das Gegenteil zu denken, wenn die Kir-che das Gegenteil als wahr bezeichnet: das könnte vielleicht geschehen.Selig der Mann, den du unterweisen wirst, Herr, und den du über deinGesetz belehrst (Ps 94,12). Wunderbar sind deine Zeugnisse, Herr; des-halb hat meine Seele sie erforscht (Ps 119,129). Erleuchte meine Augen,damit ich nicht sterbe oder der Feind sage: ich habe über ihn gesiegt (Ps13,4f). Sende deinen Geist, und sie werden geschaffen, und du wirst dasAngesicht der Erde erneuern (Ps 104,30). Amen.

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5. Fragment über die Prädestination (1591)

Was wir aus vielen Autoren auf den Seiten XV, LXII und LXX überdie Vorherbestimmung auf Grund der vorhergesehenen Verdienste fest-gestellt haben, kann bekräftigt werden durch die Autorität des PetrusEmotte, Professor der Theologie in Paris, in seinem vorzüglichen ‚Be-kenntnis des Glaubens‘ unter dieser Überschrift, wo er ausdrücklichdasselbe behauptet wie wir: daß nämlich nicht nur die Verwerfung aufGrund der vorhergesehenen Mißverdienste erfolgt, sondern auch dieAuserwählung auf Grund der vorhergesehenen Verdienste, und er be-weist das unabänderlich. Dann zitiert Tartaretus zur gleichen TheseHeinrich (de Gand), ebenso auch Occam, und versichert selbst, daß sieannehmbar ist und nicht im Widerspruch zu Scotus steht. Im übrigen istunter der Voraussetzung der sicher wahren These, daß die Verwerfungauf Grund der vorhergesehenen Mißverdienste erfolgt, die obige Theseleicht zu erhärten. Diese Voraussetzung kann evident bewiesen werden.

Erstens: Wem es zukommt, das Ziel zu bestimmen, dem kommt esauch zu, die Mittel anzuordnen. Bestimmt Gott das Ziel, nämlich dieVerdammnis, dann ordnet er folglich die Mittel zum Ziel an, nämlichdie Sünden. Die Folgerung ist ganz absurd, daher muß die Vorausset-zung erklärt werden. Denn nach der gegenteiligen Auffassung ist dieVerdammnis nicht das Ziel und nicht absolut ihrer selbst wegen ge-wollt, sondern sie ist das Mittel zur Bestrafung der Bösen und unter derVoraussetzung gewollt, daß es Böse gibt. Als Beispiel diene: Ich willabsolut die Medizin; wenn feststeht, daß niemand die Medizin nimmt,ohne krank zu sein, müßte ich die Krankheit als Mittel wollen, oderaber ich will die Medizin nicht auf wirksame Weise. Ähnlich: ich willals Richter jemand verurteilen; weil ich ihn nicht verurteilen könnte,wenn er nicht vorgeladen wird, muß ich die Vorladung machen. Wennaber jemand die Medizin nicht absolut will, sondern sie nur will zurWiedererlangung der Gesundheit, dann ist es nicht notwendig, daß erdie Krankheit der Medizin wegen will, da er vielmehr die Medizin derKranken wegen will. So ist es in ähnlichen Fällen.

Zweitens wird bewiesen: Gott hat kein Gefallen an der Verdammungoder Verwerfung, insofern sie Verwerfung ist, vor allem insofern sieeinen Verlust bedeutet, sondern nur insofern sie gerecht ist. Gerechtaber kann sie nur in Bezug auf die Schuld sein, wie von selbst klar ist:Gott verwirft keinen ohne Rücksicht auf die Schuld; nicht auf eine un-

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vorhergesehene Schuld, weil wir Unvorhergesehenes nicht ordnen kön-nen; folglich auf die vorhergesehene Schuld. Der Obersatz ist offenkun-dig: Da Gott seinem Wesen nach mitteilsam ist, kann ihm von sich ausund seinem Wesen nach nicht angenehm sein, was ihn jemandem ent-zieht. Es widerspricht auch der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift,die allenthalben verkündet, daß Gott Verlangen nach unserer Verherrli-chung hat, daß er Mitleid mit unserem Verderben hat und es abzuwen-den bereit ist, wenn die Sünden abgewendet werden. Der Psalmist (Ps113,17) sagt ferner: Nicht die Toten loben dich, Herr, und keiner vondenen, die hinabsteigen in die Unterwelt.

Drittens: Dein Verderben, Israel, kommt von dir (Hos 13,9). Ich habeeinen Weinberg gepflanzt in der Erwartung, daß er Trauben trage, und erhat Härlinge getragen (Jer 2,21; Jes 5,3). Er ließ alle zum Mahl einladen(Lk 14,16). Er will, daß alle gerettet werden (1 Tim 2,4). Kommt alle zumir (Mt 11,28). Diese Ausdrücke können gewiß nicht richtig und zu-treffend verstanden werden, wenn er im voraus beschlossen hätte, be-stimmten die Glorie nicht zu verleihen; es hieße sich doch über einenlustig machen, wenn du ihn zur Hochzeit einlädst und ohne sein Ver-dienst ihn auszuschließen beschlossen hättest. Das sind jedoch geläufi-ge Redewendungen der Kirche; wer sie in derart dunklem und irrefüh-rendem Sinn auslegte, der machte die Kirche zur Betrügerin der einfa-chen Leute, wenn die Kirche sie ständig in Predigten, Gottesdienstenund Gebeten allen in gleicher Weise vorträgt.

Was bedeutet denn das Wort: „Gott ist dir nicht fern, wenn du dirnicht selbst fern bist“?1 Wenn diese Meinung, härter als jedes Eisen,wahr wäre, dann war er mir von Grund auf fern, als ich mir weder anwe-send noch abwesend war. Hat Gott nicht schließlich den Menschen er-schaffen, damit er ihn schaue? Warum also hat er ihn, ohne daß einanderer Grund vorlag, dazu bestimmt, ihn nicht zu schauen? Sooft fer-ner zwei Ursachen sich so verhalten, daß eine ohne die andere keineWirkung erzielen kann, sagt man nicht, daß einer die Wirkung erzielenkann, wenn er eine Ursache nicht hat; wer eine Ursache ausschaltet,hebt die Wirkung auf. Aber ohne den Willen Gottes vermögen wir nichts;wenn er also aufgehoben wird, können wir nicht gerettet werden undwenn er von Gott verneinend aufgehoben und zurückgenommen wird,dann scheint die Wirkung verweigert zu werden, nämlich die Herrlich-keit; das ist aber ganz absurd. Das ist aber in unserer Auffassung nichtwichtig, da sie den Willen vor den vorhergesehenen Sünden nicht be-streitet.

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Doch beweisen wir dasselbe klar durch ein anderes Argument. WennGott welche zur Strafe bestimmt hat vor der Vorhersehung der Schuld,warum heißt es dann (2 Kor 5,10): damit jeder empfange, was er im Leibgetan hat, sei es Gutes oder Böses? Wie kann es denn geschehen, daß derStrafe, die Gott ohne jede Rücksicht auf die Schuld bestimmt hat, dieSchuld nach unserem freien Willen so genau entspricht? Gott mußtegewiß die Schuld anordnen, damit sie der bereits bestimmten Strafeentspreche, oder es unserem freien Willen überlassen, daß wir ohneSchuld verdammt werden, wie sich klar ergibt. Doch das alles sind Blas-phemien; folglich verwirft Gott nicht ohne vorhergesehene Sünden. Wennz. B. der König Titius töten möchte, ihn aber nicht ungerecht töten will,dann muß er seine Schuld voraussehen oder sich bemühen, daß er dieSchuld zugibt, sonst setzt er sich tatsächlich der Gefahr aus, Titius nichtgerechterweise zu töten, wie er beschlossen hat. Hier nehme ich ‚gerech-terweise‘ dem Anschein nach.

Zu dieser These2 ist zu bemerken: Erstens, die These, daß die Vorher-bestimmung ohne vorhergesehene Werke erfolge, nicht aber die Ver-werfung, kann vielleicht in der Weise erklärt werden, daß Gott zuerstallen Menschen hinreichenden Beistand gibt; wenn er dann sieht, daßviele ihn nicht nützen, verwirft er sie; andere dagegen, sowohl solche,die ihn nützen, als auch solche, die ihn nicht nützen, rettet er durchwirksame Mittel: so daß er von denen, die keinen Gebrauch machen,bestimmte verdammt, andere vom abschüssigen Weg zur Verdammniswirksam zurückhält. Anders kann man diese These wirklich nicht ver-stehen. So aber ist sie verständlich genug, und der Herr tut keinem un-recht: denn die er verdammen wird, die wird er wegen ihrer Mißver-dienste verdammen; die er retten wird, rettet er aus Barmherzigkeit,und wer sich beschwert, dem wird er sagen: Freund, nimm, was dein ist;wenn ich aber auch ihnen geben will, was hat das mit dir zu tun? (Mt20,13f).

Es ist aber zweitens zu bemerken, daß diese These nicht dem Aus-spruch des Herrn (Gen 4,7) entspricht: Wirst du nicht, wenn du rechthandelst, Lohn empfangen? Müßte es nicht eher heißen: Wirst du nichtrecht handeln, wenn du empfängst?

Drittens ist zu bemerken, daß diese These durch keinerlei Zeugnisder Heiligen Schrift gesichert ist; da sie nämlich der Autorität des Pau-lus im Römerbrief (11. Kapitel) entsprechen muß, und diese Autoritätdas eine nicht mehr beweist als das andere, muß man sagen, daß siekeines von beiden beweist.

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Viertens ist zu bemerken, daß auf diese Weise eine solche Entschei-dung oder These zu denen gehört, von denen die Rechtsgelehrten sagen,daß das Gesetz weder dagegen noch dafür spricht (es spricht jedochauch irgendwie dagegen, und stark, so daß dann die unsere bestätigtwerden könnte).

Fünftens ist zu bemerken: Wenn Gott solche rettet, die sonst ver-dammt werden müßten, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wie wird erjedem nach seinen Werken vergelten (Sir 11,28), wenn man eher sagenmüßte, daß jeder handeln wird entsprechend seiner Vergeltung? Dann,warum sah Gott voraus, daß jene sündigen, die verdammt werden sol-len, während er die anderen nicht sah? Warum sah er eher voraus, daßbestimmte recht handeln als andere? Und wenn er es vorhersah, warumsagen wir nicht lieber, daß er die Strafe nach den Sünden vorherbe-stimmt hat, als den Lohn nach den Verdiensten?

Sechstens ist zu bemerken: Wie soll es den Preis und Lohn, den Kampf-preis und Sieg geben ohne Rücksicht auf die Anstrengung? Das wärezwar Freigebigkeit aber keine Belohnung, und unsere Werke wären einAusgleich für die Großzügigkeit Gottes, aber nicht verdienstlich imeigentlichen Sinn.

Siebentens ist zu bemerken: Es ist wahrscheinlich, daß Gott in seinergroßen Güte viele zur Glorie bestimmt hat, indem er ihnen stärker alsdas Mittelmaß gab, die nicht entsprechend gehandelt hätten, hätte erihnen schwächer und das Gewöhnliche gegeben. Denn das richtet sichnach der Güte Gottes (obwohl es nicht die Gerechtigkeit Gottes be-trifft, jemand zu verdammen, indem er ihm das Mittelmaß versagt, dasfür ihn, ich sage: für ihn notwendig ist; denn was hat es zu bedeuten,wenn es für andere ausreichend ist, nicht für sie? Es betrifft auch nichtdie Macht, da doch die Macht Gottes um so viel mehr im Retten als imVerdammen erstrahlt). Man muß aber annehmen, daß nicht alle aufdiese Weise berufen sind.

Achtens ist zu bemerken: Da es sich nicht nach der GerechtigkeitGottes richtet noch nach seiner Macht (mehr noch als die Rettung),jemand ohne Mißverdienste zu verdammen, ist die Art der Verwerfung,die einige behaupten, ganz und gar unvernünftig.

Neuntens ist zu bemerken, daß alles, was bisher gesagt wurde,3 wun-derbar für die Auffassung spricht, die behauptet, daß die Menschen undauch die Engel nach dem Vorhersehen der Verdienste und Mißverdien-ste verdammt und gerettet werden. Denn wenn es wahr ist, daß die Men-schen nicht ohne Vorhersehen verdammt werden, wie man auf den Rö-

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merbrief antworten muß, dann bleibt die aufgestellte These unange-fochten bestehen. Und es ist sehr zwingend, wenn die eine wahr ist, mußauch die andere wahr sein, was ich an fünfter Stelle angemerkt habe undwofür zahllose Argumente beigebracht werden könnten. Daß niemandohne vorhergesehene Sünden verdammt wird, daran hielt aber PaterGesualdi vom Orden der Konventualen fest, ein sehr gelehrter und from-mer Mann.4 Außerdem erinnere ich mich, daß Alfons Carillo aus derGesellschaft Jesu, ein sehr großer Theologe, den Thomisten sehr erge-ben und ebenfalls sehr fromm, die gleiche These vertrat. In der Folgenehmen das fast alle in unserer Zeit an und viele von den Alten. – – –

6. Erklärung über die Verdammung der Sünder (1591)

– – – Es gibt eine Stelle irgendwo im Alten Testament, an der derProphet die künftige Erlösung durch Christus vorhersagt und sagt, zujener Zeit dürfe man nicht mehr sagen, die Väter hätten saure Traubengegessen und den Kindern seien die Zähne stumpf geworden; denn wennChristus kommt, sagt er, wird der Sohn nicht die Schuld des Vaters tra-gen, sondern der Mensch, der gesündigt hat, wird selbst sterben (Jer 31,29;Jes 18,20). – – – Das alles kann sein.

Zu Füßen der Heiligen Augustinus und Thomas bin ich bereit, alleszu vergessen, um jenen zu kennen, der das Wissen des Vaters ist, Chris-tus den Gekreuzigten (1 Kor 2,2), obwohl ich nicht an der Wahrheitdessen zweifle, was ich geschrieben habe, weil ich nichts sehe, was einenZweifel an dessen gediegener Wahrheit wecken könnte. Da ich jedochnicht alles sehe und das überaus tiefe Geheimnis zu hell ist, als daß iches mit meinen eulenartigen Augen fest ansehen könnte, wenn später dasGegenteil offenbar würde (wovon ich glaube, daß es nie geschehen wird);ja, wenn ich mich verdammt wüßte (das sei fern, Herr Jesus!) durchjenen Willen, den die Thomisten5 in Gott annehmen, damit Gott seineGerechtigkeit zeige (Röm 9,22), dann würde ich ganz betäubt meineAugen zum höchsten Richter erheben und mit dem Propheten (Ps 62,2)sagen: Sollte meine Seele sich nicht Gott unterwerfen? Amen, weil es dirso gefallen hat, Vater (Mt 11,26), geschehe dein Wille (Mt 6,10; Lk 22,42).

Und das würde ich in der Bitterkeit meines Herzens so oft sagen, bisGott mein Leben und sein Urteil änderte und mir antwortete: Hab’Vertrauen, mein Sohn (Mt 9,2); ich will nicht den Tod des Sünders, son-dern mehr, daß er sich bekehre und lebe (Ez 33,11). Nicht die Toten

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werden mich loben und keiner, der hinabsteigt in die Unterwelt (Ps 114,17).Ich habe dich wie alles andere meiner selbst wegen erschaffen, ja selbstdie Frevler, die durch ihre Schuld für den Tag des Schreckens (Spr 16,4)bestimmt sind, habe ich meiner selbst wegen erschaffen. Mein Wille istnichts anderes als deine Heiligung (1 Thess 4,3), und meine Seele haßtnichts von dem, was sie geschaffen hat (Weish 11,25). Warum ist deineSeele traurig und warum wird sie verwirrt? Hoffe auf Gott, denn solangedu auf ihn vertraust, ist er das Heil deines Angesichts und dein Gott (Ps43,5). Du wirst nicht hinabfahren, sondern hinaufsteigen zum Berg desHerrn, zum Zelt des Gottes Jakobs (Jes 2,3). Du bist nicht tot, sondernschläfst (Mt 9,24); deine Krankheit führt nicht zum Tod, sondern dientdazu, daß du dich bekehrst und Gott verherrlichst (Joh 11,4).

Wohlan, kleiner Knecht, unwürdig zwar aber getreu, weil du auf michgehofft und auf meine Barmherzigkeit vertraut hast, und weil du in we-nigem getreu gewesen bist (nämlich mich auch durch das Erdulden derVerdammnis zu verherrlichen, wenn es mir so gefiele), will ich dich übervieles setzen (Mt 25,21.23). Und weil du meinen Namen, wenn es not-wendig wäre, auch durch Leiden verherrlichen wolltest, wenn es not-wendig wäre (obwohl darin ein geringer Lobpreis und eine kleine Ver-herrlichung meines Namens liegt, der nicht Verdammer heißt, sondernJesus), deshalb will ich dich über vieles setzen, damit du mich in ewigerGlückseligkeit lobst, in der mein Name sehr verherrlicht wird. Bei mirselbst habe ich geschworen: weil du das getan hast, nämlich dein Herzzur Folgsamkeit gegen meine Gerechtigkeit bereitet, und deiner nichtgeschont und dich meinem Willen auch bis zur Verdammnis gefügthast meinetwegen, will ich dich segnen (Gen 22,16f) mit ewigem Segen,und du wirst eingehen in die Freude deines Herrn (Mt 25,21.23).

Auch dann werde ich nichts anderes als vorher zu antworten wissen:Amen, denn so war es wohlgefällig vor dir (Ps 42,2). Gott, mein Herz istbereit deinetwegen zur Strafe; bereit ist mein Herz (Ps 57,8; 108,2) zurGlorie um deines Namens willen, Jesus. Vor dir bin ich gleichsam zumLasttier geworden, und du selbst wirst immer bei mir sein, Herr (Ps 73,23). Soll meine Seele dir nicht unterworfen sein, denn von dir kommtmein Heil (Ps 62,2)? Weil ich dein Knecht bin, Herr (Ps 116,6), gesche-he mir nach deinem Wort (Lk 1,38). Ich will nicht den Tod des Sünders,sondern vielmehr, daß er sich bekehre und lebe (Ez 33,11). In deinemNamen will ich daher meine Hände zum Heiligtum erheben (Ps 63,5;134,2). Amen. Jesus, Maria.

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7. Fragment über die Prädestination

– – – Was soll ich vom hl. Thomas sagen: Wenn ihr alle Väter außeracht laßt, könnt ihr von seiner Autorität eine gewisse, wenn auch nichtrechtmäßige, so doch weniger verwegene Rechtfertigung für euch ablei-ten. In Wirklichkeit ist er so weit entfernt, die vorhergesehene und zuge-teilte hinreichende Gnade annehmen zu wollen, die in eurer Auffassungvorausgesetzt wird, daß er mit seiner These ein Hauptargument gegeneuch liefert. Der Wirkende, sagt er,6 will das Ziel vor den Mitteln zumZweck; nun ist die Glorie das Ziel, die Bereitstellung der Gnade ist dasMittel: folglich will er den Auserwählten die Glorie verleihen, ehe erdie Gnade schenken will. Nach seiner Auffassung besteht daher die Vor-herbestimmung nicht zuerst im Wollen und im Erwählen zur Gnade,wie ihr euch das vorstellt; vielmehr will sie dem einen eher als anderendie Glorie verleihen, anderen vorenthalten; dann folgerichtig diesenwirksame Mittel vorenthalten, jenen gewähren.

Somit beweist die Schlußfolgerung des hl. Thomas den Willen über-haupt im allgemeinen, abgesehen vom absoluten und bedingten, vomvorausgehenden und nachfolgenden; das spricht gegen euch. Denn wiees zum Wollen der hinreichenden Mittel genügt, daß ihm das Wollendes Zieles vorausgeht sowie das unwirksame Wollen oder der bedingteWille, ebenso setzt das Wollen der hinreichenden Mittel durchaus dasWollen und Beabsichtigen des Zieles voraus. Dieses Beabsichtigen desZieles muß also vom Wollen der Mittel verschieden sein und ihm natur-gemäß vorausgehen. Daher beweist die Argumentation des hl. Thomasdurchaus, daß Gott einem zuerst vorausgehend die Glorie verleihenwill und daß dann folgerichtig die notwendigen Mittel folgen; das sprichtgegen euch. Es beweist nämlich nicht, daß das wirksame Wollen desZieles dem wirksamen Wollen der nicht wirksamen aber hinreichendenMittel vorausgehe, was gegen uns spräche. Es bleibt also dabei: die ge-nannte These wird durch keine gewichtige Autorität gestützt; und da esin einer so wichtigen und bedeutsamen Frage äußerst gefährlich ist,allein mit ihr dazustehen, kann diese Auffassung schwerlich sicher sein.

Damit wir nun zu den einzelnen ihrer Behauptungen etwas im einzel-nen sagen, sei festgestellt, daß die erste durch die Argumentation des hl.Thomas widerlegt ist. Weil nämlich das Wollen des Zieles der Berei-tung der Mittel vorausgeht, muß die Vorbereitung des Zieles der Berei-tung der Mittel vorausgehen, da doch die Mittel des Zieles wegen berei-tet werden. Daher ist dieses Wollen des Zieles die erste Wurzel aller

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übernatürlichen Güter. Unter Prädestination verstehen aber alle dieseerste Wurzel; folglich ist oder umfaßt die Prädestination vor allem dieVorbereitung des Zieles, nicht nur der Gnade, wie sie wollen. Außer-dem wird durch dieses Argument des hl. Thomas deutlich, daß der hl.Thomas anders dachte, daß nämlich die Prädestination in der Vorberei-tung der Mittel und des Zieles besteht, uzw. zuerst des Zieles, dann derMittel. 3. So verstehen sie fast alle Scholastiker, wie aus dem ‚Lexicontheologicum‘ zu ersehen ist. 4. Diese erste Behauptung steht im Wider-spruch zur vierten, denn es gibt fast niemand, der in der ganzen Abfolgeoder Ordnung der Gnade keine mehr als hinreichende Gnade empfin-ge, durch die er gerechtfertigt wird und (vor allem bei den Christen)gute Wünsche faßt; aber in der vierten heißt es, den Verworfenen würdenur die hinreichende Gnade gegeben. Das muß falsch sein, weil sehrviele Verworfene zu den Christen gehören, die mehr als die hinreichen-de haben.

Zur zweiten zeige ich aber die gleiche Folgerung; denn wenn es heißt,„bevor sie etwas getan haben“, wird das nach ihrer Meinung ohne Zwei-fel so aufgefaßt: bevor sie es im Geist Gottes getan haben. Somit habensie nach eurer Meinung keinen Gebrauch von der hinreichenden Gnadegemacht, die für sie vorhergesehen war. Also nicht, „bevor sie etwasgetan haben“; tun wird nämlich hier nicht nur als positiv handeln ver-standen, sondern im entziehenden Sinn.

Drittens: Hätten sie von der hinreichenden Gnade Gebrauch gemacht,wie sie konnten, dann hätte er alle geliebt. Folglich hat er sie deswegengehaßt (Röm 9,13), d. h. nicht geliebt (so wird es nämlich erklärt), weilsie keinen Gebrauch gemacht haben. Wenn er sie nämlich im Fall derZustimmung liebt und die Zustimmung die Ursache ist, daß er sie liebt,dann wird er sie im Fall der Ablehnung nicht lieben, und die Ablehnungwird die Ursache sein, daß er sie nicht liebt. Folglich nach den Werken,denn die Werke umfassen den Ausschluß von Werken mit der Ordnungzur Verpflichtung. Daher steht fest, daß diese Auffassung vor allem durchdie Autorität des Paulus unhaltbar ist.

Daß sie aber die Autorität des hl. Augustinus mißachten, wird da-durch bewiesen, daß sie mit ihm nur in Worten übereinstimmen, sichaber dem Sinn nach sehr weit von ihm entfernen. Sie folgen ihm näm-lich nur darin, daß sie das Vorhersehen (von Verdiensten und Mißver-diensten) leugnen; sie kümmern sich aber nicht darum, was er mit die-ser Ablehnung meint und sagen will. Während Augustinus sagen will,daß nur den Auserwählten die hinreichende Gnade verliehen wird, wol-

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len sie diese für alle. Augustinus will sagen, daß der Grund für die Ver-werfung die Erbsünde ist, sie nehmen keinen an. Augustinus will, daßdie Vorherbestimmung nach dem Vorhersehen der Sünden geschah, siesagen: nachher. Augustinus bestreitet nicht, daß Gott will, daß alle ge-rettet werden, sie leugnen es. Tatsächlich stimmen sie mit ihm nur darinüberein, daß Augustinus bestreitet, daß irgendein Grund für die Vor-herbestimmung in uns liege; in der Auslegung weichen sie aber völligvon ihm ab. Das heißt, sie stimmen mit ihm in den Worten überein,nicht in der Sache. Sie behaupten nämlich, daß der Nichtgebrauch derGnade vorhergesehen sei, Augustinus nur die Erbsünde. Augustinus istviel weniger streng als sie, da er nicht annimmt, daß jemand ohne seineSchuld verworfen werde, gerechterweise aber wegen der Erbschuld; siewollen, daß Unzählige ohne Rücksicht auf Schuld verworfen werden,keiner der Sünde wegen, und daß nur wenige gerettet werden. Wahrhaf-tig, wenn man so hart sprechen mußte, dann mußte man es mit Augusti-nus tun; denn es wäre unerträglich, sich ohne Augustinus mit der gan-zen ehrwürdigen Schar der Väter anzulegen.

Sie sagen aber: wir stimmen mit Augustinus in der Hauptsache über-ein, nämlich zu bestreiten, daß die Prädestination einen Grund habe;das genügt. Aber auch wir behaupten, mit ihm übereinzustimmen; wirwissen nämlich, daß Augustinus vor allem Pelagius zu bekämpfenwünschte. Während dieser behauptete, wir verdienten das Heil nur durchdie Entscheidung des freien Willens, bestritt Augustinus, um ihm här-ter zuzusetzen, daß von unserer Seite ein Grund für die Vorherbestim-mung gegeben werde. Wenn wir bestreiten, daß von unserer Seite einGrund gegeben wird, soweit es an uns liegt, muß man zu Recht sagen,daß wir wie Augustinus denken. Da es das Hauptziel des Augustinuswar, Pelagius zu bekämpfen, können wir, wenn wir das richtig tun, mitAugustinus nicht mehr uneins sein als ihr. Wenn wir nämlich behaup-ten, daß wir alle umsonst und durch die Barmherzigkeit Gottes vorher-bestimmt sind, so drückt das Augustinus auf seine Art aus, ihr auf dieeure, wir auf die unsere; und wir entfernen uns von Augustinus mit umso größerer Sicherheit, als wir den Spuren aller anderen Väter folgen;ihr aber entfernt euch von Augustinus um so gefährlicher, je weiter ihrals Einzelgänger von allen übrigen flieht und abirrt. – – –

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II. Notizen und Entwür II. Notizen und Entwür II. Notizen und Entwür II. Notizen und Entwür II. Notizen und Entwürfefefefefe

Es gibt einige kleine Schriftstücke, die einen Einblick in die Arbeitsmethode deshl. Franz von Sales geben, darunter solche, die seine Auseinandersetzung mit demCalvinismus betreffen; sie seien abschließend angeführt.

Die Umstände, unter denen Franz von Sales seine Mission im Chablais begann,waren recht ungünstig. Solange er auf der Festung Les Allinges wohnen mußte,hatte er nicht einmal ein geeignetes Zimmer zum Arbeiten, verlor außerdem vielZeit für den täglichen Weg nach Thonon und zurück. Auch als er in Thononwohnte, fehlte ihm für die Vorbereitung seiner Predigten und für die schriftlicheKontroverse eine ausreichende Bibliothek (und die Erlaubnis, häretische Bücherzu lesen). So entstanden oft nur kurze (lateinische) Notizen; ein solches Beispiel isterhalten:

1. Theologische Notizen (OEA XXIII,8-12), wahrscheinlich aus der Zeit 1594-1596, nach einem Manuskript im Archiv der Heimsuchung von Annecy. Die Vertei-digung des katholischen Glaubens beschäftigte Franz von Sales auch in der Zeitnach den apologetischen Werken, die in diesen beiden Bänden enthalten sind, inseinem späteren Wirken bis an sein Lebensende immer wieder; davon zeugen diebeiden folgenden Notizen und Entwürfe:

2. Über die Verehrung der Heiligen (XXIII,242f), vermutlich aus der Zeit 1608-1613, geschrieben auf der Rückseite eines Predigtentwurfs (im Besitz der Salesia-ner Don Boscos in Turin).

3. Über die heiligste Dreifaltigkeit (XXIII,243f), ein Entwurf, nach einem Manu-skript in der Heimsuchung von Turin; von der Redaktion datiert zwischen 1600 und1616. Bei seinem letzten Aufenthalt in Paris 1619 bekehrten sich durch seinenEinfluß zahlreiche Calvinisten; der folgende Entwurf ist möglicherweise für einenvon ihnen bestimmt:

4. Über die wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie (XXIII,244-246),nach einem Manuskript in der Heimsuchung von Annecy.

Bei diesem Aufenthalt in Paris traf er am Sterbebett der Marschallin de Fervas-ques den Prädikanten Dumoulin, mit dem er anschließend ein improvisiertes Reli-gionsgespräch u. a. über die Eucharistie führte. Dabei fand Franz von Sales in der‚Vulgata‘ nicht die von ihm als Beweis angeführte Stelle. Ein Teilnehmer an diesemGespräch hat die folgende Erklärung niedergeschrieben:

5. Erklärung zum Gespräch mit M. Dumoulin (XXIII,246-249), nach einemManuskript im Besitz der Missionare des hl. Franz von Sales in Annecy.

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1. Theologische Notizen

Kann der Mensch kraft der Natur die natürlichen Wahrheiten erkennen?

Unter natürlichen versteht man jene, die aus sinnlich wahrnehmbarenGegenständen gewonnen werden können.

Erster Satz: Er kann bald eine spekulative, bald eine praktische (Wahr-heit) getrennt voneinander (erkennen), weil es nicht außerhalb des na-türlichen Verhältnisses zur natürlichen Fähigkeit liegt; weil es so gehal-ten wird, Röm 1,20, Ps 4,7, Weish 13,1; weil die anderen natürlichenDinge Tätigkeiten ausüben, die mit ihrer Form übereinstimmen.

Zweiter Satz: Er kann nicht miteinander eine spekulative und prakti-sche (erkennen), weil alle Philosophen irrten; so sagt Justin in ‚Parene-tica‘, Theodoret in ‚De curandis Graecorum affect‘, Lactanz in ,Divin.Instit.‘

3. Augustinus in ‚De Civitate Dei‘ 8. Weil der Irrtum eine Strafe derUrsünde ist; Clemens von Alexandrien in ‚Stromata‘ 5 glaubte, daß demso ist wegen der äußeren Hindernisse, nämlich wegen der Kürze des Le-bens etc. Ansonsten wären sie kein unangemessener Gegenstand für denmenschlichen Verstand, aber dazu wäre ein unbegrenztes Leben und Ge-dächtnis erforderlich. Tatsächlich liegen diese Hindernisse, mögen sieauch außerhalb des menschlichen Verstandes liegen, nicht außerhalb desMenschen, sondern in ihm, weil er von sich aus sterblich ist.

Kann er auch ein moralisch gutes Werk verrichten?

Erster Satz: Er kann es, auch eines, das zum ewigen Heil führt (2.Konzil von Orange, c. 23, 22, 25; Trident., sessio 6, c. 7, 21), weil esgegen die Natur zu sein scheint, wenn der Mensch nicht gut handelnkönnte. Dann, weil ein solcher Mensch nicht sündigen könnte, obwohler das Naturgesetz hat. Was aber vom Heil gesagt wird, zu dem es führt,heißt das, daß ein größeres Hindernis überwunden wird, denn er wirdweniger behindert, weil er moralisch gut handelt. Mt 5,47: Tun das nichtauch die Heiden?

Wenn er also Gott erkennt und das Werk auf Gott bezieht, wird es gut,wenn auch nicht vollkommen; wenn er ihn nicht erkennt und es tut, weiles ehrenhaft und vernunftgemäß ist, dann wird dieser Akt seiner Naturnach auf Gott bezogen.

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Einwand: Gott wirkt mehr zum moralisch guten Werk mit als zumbösen; zum bösen aber wirkt er durch allgemeine Mitwirkung mit: folg-lich zum guten durch besondere.

Antwort: Was das Materielle des Guten und des Bösen betrifft, wirkter physisch in gleicher Weise mit; zum Formalen des Bösen wirkt eraber nicht mit, weil es ein Mangel ist. Zum Formalen des Guten wirkt ermit; zwischen beiden ist ja ein realer Unterschied: also zum ganzenGuten, nicht zum ganzen Bösen. Ebenso, Gott läßt das Böse nur zu, dasGute will er, rät dazu, fordert dazu auf. Ebenso, zum Materiellen derSünde wirkt Gott mit, da er von der Voraussetzung her die natürlicheund notwendige Ursache ist; zum Guten aber kann er auch mitwirken,insofern er die freie Ursache ist.

Bemerkung: Die Auffassung des Gregor von Rimini, Gott wirke zubösen Handlungen durch seinen Einfluß auf den Willen mit, der sichentscheidet, zu guten, indem er den Willen im voraus bestimmt undentscheidet, die überzeugt mich nicht, weil sie die Freiheit bei gutenHandlungen fast aufhebt; darüber unten mehr. Dann ist ganz unmög-lich, was er sagt; denn wenn Gott den Willen zu bösen Handlungennicht bestimmt, läßt er folglich zu, daß er eine gute Handlung voll-bringt, wenn er will, während er eine böse tut.

Ich erkläre es auf andere Weise: entweder ist diese Bestimmung unbe-dingt notwendig, damit wir eine gute Handlung vollbringen, oder nicht.Wenn das zweite zutrifft, muß sie folglich nicht immer geschehen; wenndas erste, dann müssen wir folglich das Böse tun, wenn sie fehlt, ammeisten, wenn wir handeln. Folglich wird nicht nur zugelassen, daß wirdas Böse tun, denn die Zulassung ist indifferent gegen beide Gegensät-ze, und sooft es in unserer Macht liegt, uns zur bösen Tat zu entscheiden,ist sie es auch, uns zur guten Tat zu entscheiden.

2. Über die Verehrung der Heiligen

1. Ein Beispiel für Wallfahrten zu heiligen Orten enthält 2 Sam 15,7f;ebenso für Gebete für die Verstorbenen; denn Abschalom will offenbarden Anschein erwecken, daß er aus Frömmigkeit zu den Stätten derVäter gehen wolle.

Brot nennen die Hebräer jede Speise: 1 Sam 14,27.2. Die Anrufung der Heiligen findet sich in der Äthiopischen Messe,

bei Genebrard, im 7. Kapitel der ‚Liturgie des Dionysius‘: „Ende des

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Kanons unserer Väter, der Apostel, deren Gebet und Segen mit uns sei.Amen.“

3. Ein hervorragendes Beispiel für fromme Wünsche zum Gedenkenund für die Grabmäler der Märtyrer: 2 Sam 15,8.

3. Über die heiligste Dreifaltigkeit

Einheit in der Dreifaltigkeit, Dreifaltigkeit in der Einheit; ‚Dreifaltig-keit‘ bezeichnet die Vielfalt.

Dreifaltigkeit: Einheit der Drei; und umgekehrt: drei Personen desEinen.

Dreifaltigkeit, nicht Dreifachheit; dreifaltig, nicht dreifach; der Einevom Anderen unterschieden, nicht verschieden.

Arius, Sabellius: Jener nahm drei Substanzen an, dieser eine Person.Unterscheidung, nicht Verschiedenheit oder Unterschied.

Zu meiden ist der Ausdruck der ‚Trennung‘ und ‚Teilung‘; weil es dieAuflösung des Ganzen in Teile bedeutet. Ebenso der Ausdruck ‚Un-gleichheit‘, damit nicht die Gleichheit aufgehoben wird; der Ausdruck‚fremd‘ und ‚abweichend‘.

Zu vermeiden ist der Ausdruck ‚Einzigkeit‘, damit nicht die Mitteil-samkeit aufgehoben wird; der Ausdruck ‚einzig‘, damit nicht die Drei-zahl der Personen aufgehoben wird; der Ausdruck ‚vermischt‘, damitnicht die Ordnung der Natur aufgehoben wird.

Für sich stehend.

4. Über die wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie

Das Konzil von Trient erklärt in der 13. Sitzung, Kapitel 1: „Das hei-lige Konzil lehrt und bekennt offen und einfach, daß im erhabenstenSakrament der heiligen Eucharistie nach der Konsekration von Brotund Wein unser Herr Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch,unter der Gestalt der wahrnehmbaren Dinge wahrhaft, wirklich undwesentlich enthalten ist.“

Wenn es heißt, daß „Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch“,hier gegenwärtig ist, dann ist damit folglich gesagt, daß hier der wahreLeib Jesu Christi gegenwärtig ist, denn ein wahrer Mensch kann nichtohne Leib gegenwärtig sein.

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Um aber die Gegenwart dieses heiligen Leibes im allerheiligsten Sa-krament so zu erklären, daß niemand mehr zweifeln kann, wie die Ka-tholiken an sie glauben, sage und versichere ich: Es ist der wahre, wirk-liche, wesentliche natürliche Leib Jesu Christi, d. h. der gleiche Leib,der im Schoß der Jungfrau und aus ihrem reinsten Blut gebildet wurde;der gleiche Leib, der ans Kreuz geheftet und ins Grab gelegt wurde; dergleiche Leib, der auferweckt wurde, den der hl. Thomas berührte (Joh20,27), der in den Himmel erhöht wurde (Mk 16,19; Lk 25,51) und jetztdort ist, den der hl. Stephanus (Apg 7,55) gesehen hat; dieser gleicheLeib, sage ich, ist wahrhaft, wirklich und wesentlich in diesem göttli-chen Sakrament der Eucharistie gegenwärtig.

Dessen versichert uns das heilige Wort Jesu Christi beim hl. Johannes(6,52ff), beim hl. Matthäus (26,26), beim hl. Markus (14,22), beim hl.Lukas (22,19) und im 1. Korintherbrief (11,24); an diesen Stellen sinddie Worte, die diese Wahrheit lehren, klarer als die Sonne am hellenMittag.

Dazu aber, daß ein Leib, ein wahrhaft natürlicher Leib, auf natürlicheoder übernatürliche Weise, an irgendeinem Ort gegenwärtig sein kann,erkläre ich, daß der natürliche, wirkliche und wesentliche heilige Leibunseres Herrn Jesus Christus durch die Allmacht Gottes im göttlichenSakrament nicht auf natürliche, sondern auf übernatürliche Weise ge-genwärtig ist. So wurde der wahre natürliche Leib des Erlösers im Schoßder allerseligsten Jungfrau nicht auf natürliche Weise gebildet, sondernauf übernatürliche Weise durch das Wirken des Heiligen Geistes (Mt1,18; Lk 1,35); so wurde dieser selbe natürliche Leib von der allerselig-sten Jungfrau geboren, die Jungfrau blieb nicht auf natürliche Weise,sondern durch ein Wunder auf übernatürliche Weise; so wurde diesergleiche natürliche Leib auf dem Berg Tabor (Mt 17,1f; Mk 9,1f) nichtauf natürliche, sondern auf übernatürliche Weise verklärt; so wurde ernicht auf natürliche, sondern auf übernatürliche Weise auferweckt.

5. Erklärung zum Gespräch mit M. Dumoulin

Der Bischof von Genf hat mir gesagt, er wollte um keinen Preis dieTatsache seiner Mängel leugnen; es ist also wahr, daß ihm bei der Begeg-nung im Haus der Frau Marschallin Fervasque ein Gedächtnisfehlerunterlaufen ist, als er in der alten lateinischen Überlieferung der Bibelein Wort nicht an der Stelle fand, wo er sie zu finden glaubte, obwohl es

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in der gleichen Übersetzung zum selben Gegenstand an anderen Stellenmehrmals vorkommt.7 Und obwohl das nur ein einfacher Fehler desGedächtnisses war, tut es ihm leid, daß er ihm unterlaufen ist, denn erfürchtet, daß dadurch schwache Geister verwirrt werden könnten; erkann jedoch nicht glauben, daß Herr Dumoulin sich dieser Begegnungrühmen werde, die ohne Ordnung und Regel stattfand.

Dies deswegen, weil jener der Frage im Wesentlichen zustimmte. Mei-nes Wissens ging es darum, ob Unser Herr den Aposteln aufgetragenhat, in der Eucharistie zu opfern; er gab es schließlich zu, daß er es getanhat und daß die Eucharistie ein Opfer ist, das das Opfer des Kreuzesdarstellt: das war alles, was man zu dieser Frage verlangen konnte.

Der Bischof von Genf sagte, er wolle sich dessen in keiner Weiserühmen, obwohl er sich sehr freuen würde, wenn der besagte Herr Du-moulin dabei bliebe, freimütig die Wahrheit dieses heiligen Opfers zubekennen.

III. Fragment eines Katechismus-DialogsIII. Fragment eines Katechismus-DialogsIII. Fragment eines Katechismus-DialogsIII. Fragment eines Katechismus-DialogsIII. Fragment eines Katechismus-Dialogs

Nach einem alten Manuskript des ‚Année Sainte de la Visitation‘ kamen im Juli1596 die jüngeren Brüder des hl. Franz von Sales, von der Mutter geschickt, nachThonon, um ihren großen Bruder zu besuchen. Diese Gelegenheit ergriff der Mis-sionar zu einem originellen Versuch, das Interesse der Jugend zu gewinnen: mitseinem jüngsten Bruder Bernhard, der damals 13 Jahre alt war, hielt er am 16. Juliöffentlich einen Katechismus-Dialog (OEA XXIII,12-15), der im folgenden wie-dergegeben wird, soweit das Manuskript erhalten ist. Nach Aussage von Zeugenhielt er diese Katechese in der Folge oft öffentlich oder im Haus Blonay oderMarin.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes undder gebenedeiten Jungfrau Maria.

Franz spricht als erster und sagt: Mein Bruder, bist du Christ?Bernhard, der Franz gegenüber Platz genommen hat, antwortet: Ja,

mein Bruder, ich bin es durch die Gnade Gottes.Franz: Wann hat man dich zum Christen gemacht?Bernhard: Im heiligen Sakrament der Taufe.

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Franz: Wie viele Dinge hast du damals versprochen?Bernhard: Drei: Ich widersage dem Teufel und allen seinen Werken,

die alle die Wurzeln der Sünde sind.Franz: Was ist das zweite?Bernhard: Ich verspreche, mich an die zwölf Artikel unseres heiligen

Glaubens zu halten.Franz: Nenne das dritte.Bernhard: Ich verspreche, die zehn Gebote Gottes und die Gebote der

heiligen Kirche, unserer Mutter, zu halten.Franz: Wie viele Arten von Christen gibt es?Bernhard: Es gibt drei Arten. Die ersten sind jene, die es nur dem

Namen nach sind; die zweiten jene, die es dem Namen und dem Glau-ben nach sind; und die dritten jene, die es dem Namen, dem Glaubenund den Werken nach sind.

Franz: Wer sind die ersten?Bernhard: Das sind die Häretiker, die nichts als den Namen haben, auf

Grund der Taufe, die sie empfangen haben.Franz: Werden sie gerettet werden, wenn sie in dieser Verfassung ster-

ben?Bernhard: Nein, denn sie haben weder den Glauben noch Werke, die

zum Heil notwendig sind, da sie außerhalb der katholischen, apostoli-schen römischen Kirche stehen.

Franz: Wer sind die Christen der zweiten Art?Bernhard: Das sind die schlechten Christen, die den Glauben und den

Namen haben, die aber nicht tun, was sie glauben.Franz: Werden sie gerettet, wenn sie so sterben?Bernhard: Dazu gibt es keine Möglichkeit, wenn sie nicht vollkomme-

ne Buße tun.Franz: Die dritte Art von Christen, wer sind die?Bernhard: Das sind jene, die mit ihrem Namen und ihrem Glauben

alle Arten guter Werke verbinden.Franz: Werden sie gerettet werden?Bernhard: Ja, ohne Zweifel, und ihre guten Werke werden sie nach

ihrem Tod begleiten (vgl. Offb 14,13).Franz: Was bedeutet das Wort ‚Christ‘?Bernhard: Es bedeutet, mit Öl gesalbt sein.Franz: Woher kommt der Name des Christen?Bernhard: Von unserem Herrn Jesus, der ‚Christus‘ heißt.Franz: Warum hat er gewollt, daß wir so genannt werden?

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Bernhard: Damit wir uns dieses Namens rühmen, und um uns dazu zuführen, ihm nachzufolgen und sein heiliges Leben nachzuahmen.

Franz: Was bedeutet die Salbung, die dieser Name enthält?Bernhard: Sie bezeichnet die Gnade, die wir in diesem heiligen Sakra-

ment empfangen.Franz: Was bedeutet die äußere Salbung, die die Kirche für die Chris-

ten anordnet?Bernhard: Sie zeigt die Wirkung an, die die göttliche Gnade im Inne-

ren unserer Seele vollzieht.Franz: Bist du gesalbt worden?Bernhard: Ja, durch die Gnade Gottes, an vier Stellen meines Körpers

bei der Taufe und bei der Firmung.Franz: Wie oft hat man dich bei der Taufe gesalbt?Bernhard: Dreimal: das erste Mal auf der Brust, das zweite Mal an den

Schultern, das dritte Mal auf der Stirn.Franz: Warum das? Sag es.Bernhard: Die Salbung auf der Brust geschieht, um uns die Liebe Got-

tes einzuprägen; die an den Schultern ist dazu bestimmt, um uns zustärken, die Last der göttlichen Gebote und Anordnungen zu tragen; dieauf der Stirn, damit wir ohne Scheu und Furcht öffentlich den Glaubenan unseren Herrn Jesus Christus bekennen.

Franz: Und warum geschieht die Salbung auf der Stirn bei der Fir-mung?

Bernhard: Zur Vermehrung der Gnaden der Stärke und der Erleuch-tung, um alles zu begreifen und zu erfüllen, was wir zu unserem Heilwissen und tun müssen.

Franz: Da du also Christ bist, was muß dein erstes Verlangen sein?Bernhard: Gott zu lieben, ihm zu dienen und ewig mit ihm im Him-

mel zu sein.Franz: Deine Antwort ist gut; aber wie viele Dinge mußt du wissen,

um gerettet zu werden?Bernhard: So viele, wie ich Finger an der Hand habe: erstens den

Glauben, zweitens die Hoffnung, drittens die Liebe, viertens die Sakra-mente, fünftens die guten Werke.

Franz: Wo findest du den Glauben, die Hoffnung und die Liebe derChristen?

Bernhard: Im Glaubensbekenntnis, im Vaterunser und in den Gebo-ten Gottes und der Kirche.

Franz: Wie viele Sakramente gibt es?

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Bernhard: Es gibt sieben.Franz: Wie viele gute Werke gibt es?Bernhard: Drei, die die Quelle aller anderen sind; Gebet, Fasten und

Almosen.Franz: Was glaubst du, warum du in diese Welt gekommen bist?Bernhard: Um meinen Schöpfer zu erkennen, zu lieben und zu ver-

herrlichen und mich immer der Erlösung durch meinen Heiland zuerfreuen.

Franz: Was ist das häufigste Zeichen, das du gibst, um zu beweisen,daß du ein Christ bist?

Bernhard: Das ist das heilige Kreuzzeichen. Es ist das wahre Zeichendes Christen. Die Kirche bedient sich seiner bei allen heiligen Zeremo-nien und Sakramenten; und der Christ muß sich seiner bedienen beiallen seinen Gebeten und wichtigen Handlungen. – – –

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AnmerkungenAnmerkungenAnmerkungenAnmerkungenAnmerkungen

D. VD. VD. VD. VD. Verererererteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahneteidigung der Kreuzesfahne

1 (Antoine de la Faye:) Brief Traitté de la vertu de la Croix et de la maniere del’honorer. MDXCVII. (Kurze Abhandlung über die Kraft des Kreuzes und dieArt, es zu verehren). – Im folgenden wird das Werk zitiert: B.T. mit der Seiten-zahl.

2 Da der Verfasser des Brief Traitté nicht genannt war, nennt ihn Franz von Sales‚traitteur‘ (Verfasser des Traitté). Um in der Übersetzung einen kurzen Aus-druck zu gebrauchen, wird das Wort mit ‚Traktant‘ wiedergegeben.

3 Das Flugblatt über die Kreuzesverehrung, das anläßlich der Feier in Annemasseverteilt wurde und La Faye zu seiner ‚Abhandlung‘ veranlaßte.

4 Eine Anspielung auf den Titel ‚ministre‘ (Diener) für die reformierten Geistli-chen.

5 Cuius Episcopi tantum munere de eadem Cruce, haec minuta sacri ligni admagna fidei et benedictionis gratiam haberi datur. Quae quidem Crux in mate-ria insensata vim vivam tenens, ita ex illo tempore innumeris pene quotidiehominum votis lignum suum commodat, ut detrimentum non sentiat, et quasiintacta permaneat, quotidie dividuam sumentibus et semper totam veneranti-bus. Sed istam imputribilem virtutem et indetribilem soliditatem de illius pro-fecto carnis sanguine bibit, quae passa mortem non vidit corruptionem.

6 Franz von Sales zitiert den Originaltext lateinisch, übersetzt ihn teilweise etwasfrei und leitet die französische Fassung ein: „So als wollte er sagen.“ Im folgen-den wird der lateinische Text in den Anmerkungen geboten:

„De Crucis aeternae sumptum mihi fragmine lignumPromo, tenensque manu adversus procul ingero flammis ...Profuit, et nostram cognovit flamma salutem.Nec mea vox aut dextra illum, sed vis Crucis ignemTerruit, inque loco de quo surrexerat ipso,ut circumseptam praescripto limine flammamSidere et extingui fremitu moriente coegit,Et cinere exortam cineri remeare procellam.Quanta Cruxis virtus, ut se natura delinquat,Omnia ligna vorans ligno Crucis uritur ignis ...Vicerat ignis aquam; nos ligno extinximus ignem.“

7 Hic pietas, hic alma fides, hic gloria Christi,Hic est martyribus Crux sociata suis.

Nam Crucis e ligno magnum brevis hastula pignus,Totaque in exiguo segmine vis Crucis est.

Hoc Melanae sanctae delatum munere Nolam,Summum Hierosolymae venit ab urbe bonum.

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Sancta Deo geminum velant altaria honorem,Cum Cruce apostolicos quae sociant cineres.

Quam bene junguntur ligno Crucis ossa piorum,Pro Cruce ut occisis in Cruce sit requies.

8 O lignum felix in quo Deus ipse pependit.Nec te terra capit, sed coeli tecta videbis,Cum renovata Dei facies ignita micabit.

9 Im Griechischen entspricht der Buchstabe P dem lateinischen R, der Buchsta-be X dem lateinischen CH.

10 Cerne coronatam Domini super atria ChristiStare Crucem, duro spondentem celsa laboriPraemia: tolle Crucem qui vis auferre coronam.

11 Ardua floriferae Crux cingitur orbe coronae,Et Domini fuso tincta cruore rubet:

Quaeque super signum resident coeleste columbaeSimplicibus produnt regna patere Dei.

12 Hac Cruce nos mundo et nobis interfice mundum,Interitu culpae vivificans animam:Nos quoque perficies placitas tibi, Christe, columbasSic vigeat puris pax tua pectoribus.

13 Gemeint ist Bellarmin. Er hat die leichte Verschiebung der Umstände im Be-richt des Sozomenes als Widerspruch zu Eusebius aufgefaßt.

14 Diese Verse, von ihm selbst verfaßt, hatte Franz von Sales auf einer Tafel amKreuz von Annemasse anbringen lassen.

15 Quisquis ades mediique subis in limine templi,Siste parum, insontemque tuo pro crimine passumRespice me, me conde animo, me in pectore serva.Ille ego qui passus hominum miseratus acerbos,Huc veni, pacis promissae interpres, et amplaCommunis culpae venia, hic clarissima ab altoReddita lux terris, hic alma salutis imago:Hic tibi sum requies, via recta, redemptio vera,Vexillumque Dei signum et memorabile fani.

16 Pax Crucis ipse fuit, violentaque robora membrisIllustrans propriis poenam vestivit honore,Suppliciumque dedit signum magis esse salutis,Ipsaque sanctificans in se tormenta beavit.Neve quis ignoret speciem Crucis esse colendam,Quae Dominum portavit ovans ratione potenti,Quatuor inde plagas quadrati colligit orbis.

17 Ipsa suis Christum capitolia Romula moerentPrincipibus lucere Deum: Jam purpura supplexSternitur Aeneadae rectoris ad atria Christi,Vexillumque Crucis summus dominator adorat.

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18 Mitis depone colla, Sicamber,Incende quod adorasti,Et adora quod incendisti.

19 Franz von Sales bemerkt in der Fußnote, daß der Brief Traitté den lateinischenText und die Übersetzung der folgenden Gebete bietet; er selbst zitiert nur denfranzösischen Text.

20 So stützt sich entweder die natürliche Vernunft auf das Zeichen des Kreuzesoder wird (von ihm) eure Religion gestaltet.

21 Vergil, Aeneis I. Zeile 93: Beide Hände ausstreckend zu den Gestirnen; III. Zl.176f: Ich erhebe mich vom Lager, strecke die erhobenen Hände zum Himmelaus zugleich mit der Stimme und bringe die Gaben dar.

22 Hieronymus. Vita S. Pauli.

23 Dieser Text steht nicht im Kolosserbrief, wie La Faye angibt, sondern im Phil-ipperbrief (3,3): darauf weist Franz von Sales in seiner Widerlegung unter 6)hin.

24 Ps 9,7: Sein Andenken schwand mit Schall.

25 Diesem Gedankengang liegt die Gegenüberstellung der französischen Ausdrücke‚front‘ (Stirn) und ‚effronté‘ (unverschämt, schamlos, unverfroren) zugrunde.

26 Jean Calvin: Institution de la Religion Chréstienne. L. IV, cap. 16.

27 Chrysostomus spricht vom hl. Paulus.

28 Die theologischen Fachausdrücke für die verschiedenen Arten der Verehrungwerden im Verlauf des vierten Buches ausführlich behandelt. Hier wird diesprachliche Form des hl. Franz von Sales beibehalten: Latrie für cultus latriae(Anbetung), Dulie für cultus duliae (Verehrung), Hyperdulie für cultus hyper-duliae (außergewöhnliche Verehrung).

29 Ehrenhaftigkeit ist gewissermaßen der Zustand der Ehre.

30 Das französische Wort ‚adorer‘ bedeutet sowohl anbeten als auch verehren. Daslateinische Wort ‚adorare‘ der Vulgata wird in deutschen Ausgaben mit ‚vernei-gen‘ und ähnlichen Ausdrücken übersetzt. Das ist für die folgenden Schriftzita-te zu beachten.

3 1 Der Hymnus ‚Vexilla Regis‘, der hier in der Übertragung des Neuen Stunden-buchs folgt, wurde vom hl. Venantius Fortunatus verfaßt, nicht von Theodulph,von dem der Text ‚Gloria, laus et honor‘ stammt, der ebenfalls bei der Palmpro-zession gesungen wird.

32 Vergil, Aeneis, III. Zl. 321: „O Theta, viel unheilvoller als andere Buchstaben.“Als Anfangsbuchstabe des griechischen Wortes ‚thanatos‘ (Tod) wurde das The-ta als Zeichen für das Todesurteil gebraucht.

3 3 Anspielung auf den Ausdruck ‚Endormie‘ (B.T. 53f), den I.a Faye als Erwide-rung auf die Inschrift am Kreuz von Annemasse gebrauchte.

3 4 Diese ‚These‘ hat Franz von Sales nach verschiedenen Zeugenaussagen währenddes Vierzigstündigen Gebetes in Annemasse selbst verfaßt und am Haus Sagetsanschlagen lassen. Nach anderen Aussagen wurde sie auch gedruckt, in Thononangeschlagen und an die ‚Herren von Genf‘ gesandt.

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E. Codex FE. Codex FE. Codex FE. Codex FE. Codex Fabrianusabrianusabrianusabrianusabrianus

1 Zu Jes 23,9. – Das am häufigsten zitierte Werk Calvins ist die Institution de laReligion chrétienne (1541); sie wird im Text zitiert: Inst. II (Buch). 7 (Kapitel).§ 5 (oder section).

2 Zu Gal 2,16. – Franz von Sales zitiert Luther nach der lateinischen Ausgabeseiner Werke. 1558 in Wittenberg in 7 Foliobänden erschienen; zitiert: Wi. mitrömischer Band- und arabischer Seitenzahl. – Wegen der Seltenheit dieserAusgabe hat die Redaktion der Annecy-Ausgabe die vierbändige Ausgabe vonJena (1600-1602) verwendet; sie wird zitiert: Jena IV.37 (Band und Seite).

3 Der Hinweis bezieht sich auf eine Begebenheit 1290 in Paris und 1433 inDijon.

4 Vgl. Codex Fabrianus, 8. Buch. Titel XXV. Definition 10. Nr. 4.

5 Predigt anläßlich einer Hochzeit in Wittenberg 1522: Wi. V.119. – Die Anne-cy-Ausgabe, die zum lateinischen Text eine französische Übersetzung bietet,hat von diesem Abschnitt nur die Überschrift übersetzt: „Von der Notwendig-keit sinnlicher Beziehungen.“

6 In Harmonia ad Mt 27,46: Opera omnia, Amsterdam 1667, Band VI. Seite321; zitiert Am. VI.321.

7 Ausgabe Weimar X/I.2. S. 334; künftig zitiert Weim.

8 Nach einem römischen Sprichwort, das Menschen bezeichnete, die zu nichtstaugten. Man glaubte, die Frösche der Insel Seriphos (Verbannungsort für Ver-brecher) seien stumm.

9 Tessera militares waren kleine Holztäfelchen der römischen Soldaten mit einemKennwort.

10 Zum Kommentar Calvins zum Buch Josua. Genf 1563.

11 Anspielung auf die Konferenz von Fontainebleau, die auf Anordnung HeinrichsIV. am 20. März 1600 stattfand, bei der Kardinal Perron Philippe de Mornay inden Schatten stellte.

12 Franz von Sales dürfte diese Sentenz einer Quelle entnommen haben, die sieirrtümlich Augustinus zuschreibt. Ein ähnlicher Ausspruch des hl. Hieronymuslautet: „Sie können leichter besiegt als überzeugt werden.“

13 Icones, id est verae imagines virorum doctrina et pietate illustrium. TheodoreBeza auctore. Genf 1580.

14 Calvin ist am 10. Juli 1509 unter König Ludwig XII. geboren, auf den 1515Franz I. folgte.

15 Franz von Sales gibt hier als Autoren an: Platon, Aristoteles, Seneca, Plutarch,Philo, Cyprian, Hieronymus, Lipsius.

16 Vergil, Aeneis, II.540f: Nicht einmal Achilles, als dessen Sohn du dich fälsch-lich bezeichnest, hat so gegen seinen Feind Priamos gehandelt.

17 Zu Jesaja 19,4: Editio 1667. III.118.

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18 Die bekanntesten Fürsten aus dem Haus Savoyen dieses Namens waren: Amé-dee V., der Große (1249-1323). Amédee VI., der ‚grüne Graf‘ (1334-1383).Amédee VIII. (1383-1451), der ‚Salomo seines Jahrhunderts‘, der erste Herzogvon Savoyen, als Gegenpapst (1440-1449) Felix V., und der selige Amedée IX.(1455-1472).

19 Das Folgende glaubt die Redaktion der Annecy-Ausgabe mindestens zum Groß-teil dem Präsidenten Favre zuschreiben zu müssen.

FFFFF. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schrif. Kleine Schriftententententen

1 Conc. Trident., Sessio VI, c. 11: Deus tibi non deest nisi tibi desis.

2 Anmerkung bei Franz von Sales: Füge hinzu, was Toletus im Kommentar zu Joh12 über das Vorherwissen anführt. Er sagt nämlich, nach Auffassung der Väterbringe das rationale Vorherwissen keinerlei Notwendigkeit, da sich die Sachenicht so verhält, weil sie vorhergesehen wurde, sondern so vorhergesehen wird,weil sie so sein wird. Doch wenn man die These der Gegner voraussetzt, verhältsich die Sache so, weil sie vorherbestimmt ist, etc. Folglich müssen wir nachdem Sinn und den Folgerungen der Väter, die er hier anführt, notwendig dastun, etc. Das ist absurd. Füge hinzu, daß die Verworfenen gewöhnlich Vorher-gewußte genannt werden; das scheint anzunehmen, daß sie ihr Unglück aus demVorherwissen erleiden. – Merke an, was Toletus am angegebenen Ort sagt, waszur Lösung der Gegensätze geschehen kann.

3 Randbemerkung: Füge zu dessen Gunsten Röm 11,2 hinzu: Der Herr hat seinVolk nicht verstoßen, das er vorherwußte.

4 Eine offenbar später (1594-1596) hinzugefügte Anmerkung gibt eine Stellevon Toletus zu Joh 10 wieder: Sie kommen nicht deswegen nicht, „weil sie nichtvorherbestimmt sind, sondern“ durch ihre Schuld, „ohne die sie durch die ewigeVorherbestimmung nicht verworfen werden“. Er spricht ja nicht von der Schuld,die auf die Verwerfung folgt, sowohl weil man dasselbe sagen könnte von derVorherbestimmung, die nicht geschieht ohne Werke, obwohl sie nachfolgen, alsauch, weil sie in der Tat nicht kommen, weil sie nicht vorherbestimmt sind, undweil zu Recht folgt: Niemand kommt, außer der Vater zieht ihn (Joh 6,44).Dasselbe lehrte ausdrücklich der Jesuit P. Johannes Chastelier in Paris.

5 Ia quaestio XXIII, art. 3 ad 3.

6 Ia quaestio XXIII, art. 4 De veritate, quaest. 6, art. 1.

7 Bei dem unvorbereiteten Gespräch ist Franz von Sales offenbar ein Irrtum überdie lateinische Übersetzung von 1 Kor 11,24: der für euch hingegeben wirdunterlaufen. Er glaubte dafür in der Vulgata frangitur statt tradetur gelesen zuhaben. Diesen Ausdruck in der Itala kannte er wohl aus Kommentaren ältererVäter. An ‚anderen Stellen‘ der Vulgata ist von Brot brechen (panem frangere)die Rede.