Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für...

25
1 Rico Hauswald, M.A. Institut für Philosophie TU-Dresden Tagung „Interpretatio mundi. Wie deuten Wissenschaften ihre Welt?“, Abstract Interpretationen von Interpretationen: Doppelte Hermeneutik und interaktive Semantik in den Humanwissenschaften Für jene Wissenschaften, die den Menschen zu ihrem Gegenstand gemacht haben, erweist sich die Situation als grundlegend und konstitutiv, daß dieser Gegenstand nicht nur Objekt, sondern selbst Subjekt von Interpretationen ist. Die Humanwissenschaften interpretieren daher nicht einfach nur, sondern sie sind immer schon mit Interpretationen (die nicht „ihre eigenen“ sind) konfrontiert, mit gesellschaftlich kommunizierten, mit Selbst-Interpretationen der menschlichen Akteure. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine charakteristische und vielschichtig in Erscheinung tretende hermeneu- tische Verflechtung der Humanwissenschaften mit ihrem Forschungsfeld. Schließlich können umge- kehrt die wissenschaftlichen Interpretationen ihrerseits wieder Gegenstand der gesellschaftlichen Kommunikation werden, so daß ein Prozeß der Iteration ausgelöst wird und die Frage, wie die Wissenschaften „ihre Welt deuten“, im Falle der Humanwissenschaften gar nicht ohne die umgekehrte Fragestellung zu beantworten ist, wie nämlich „die Welt“ (und das ist hier die menschliche Gesell- schaft) „ihre“ Wissenschaft deutet. Zunächst läßt sich jedoch grundsätzlich sagen, daß sich bei der historischen Genese der Humanwissenschaften zwei methodologische Paradigmen herausgebildet haben, die der Kategorie des Sinns jeweils unterschiedlich fundamentale Bedeutung beimessen: einerseits ein „naturalistisch- objektivistisches“, andererseits ein „interpretatives“ Paradigma. Der objektivistische Methodologe könnte dadurch charakterisiert werden, daß er die menschliche Lebenswelt und Gesellschaft nicht anders zu behandeln und zu erforschen versucht als der Naturwissenschaftler die Natur. Zwischen Natur- und Humanwissenschaften bestünde demnach, abgesehen vom Gegenstandsbereich, kein prin- zipieller Unterschied. Das Ideal ist hier das einer an naturwissenschaftlichen Standards orientierten „Einheitswissenschaft“. Demgegenüber bestand die Grundeinsicht des interpretativen Paradigmas – das ich selbst für angemessen halte und verteidigen möchte – spätestens seit Max Weber darin, daß keineswegs nur Texte, sondern daß jede menschliche Handlung, jedes technische (d.i. von Menschen intentional hergestellte) Artefakt, daß alles Soziale, Kulturelle und im eigentlichen Sinne Humane sinnhaft konstituiert, symbolisch repräsentiert und abhängig von Deutungsentwürfen ist, und daher auch nur über einen prinzipiell interpretierenden Zugang wissenschaftlich erschließbar ist. Es kann nicht adäquat beschrieben werden, ohne daß man auf subjektive Interpretationen, den „subjektiv ge- meinten Sinn“ 1 der Akteure selbst Bezug nimmt. Zieht man etwa von einer menschlichen Handlung diesen subjektiven Sinn ab, so kann man sie nicht nur nicht vollständig begreifen, sondern sie hört auf, als das, was sie ist (nämlich Handlung), zu existieren. Das Sein der Gegenstände, die untersucht wer- den, hängt bereits von Interpretationen der Akteure und von kollektiven Intentionalitätsprozessen ab, wie man auch mit dem Sozialontologen John Searle zeigen kann. 2 Dessen Unterscheidung von regula- tiven und konstitutiven Regeln erweist sich hier als zentral: erstere organisieren lediglich etwas auch unabhängig existierendes, letztere bringen die fragliche Entität erst hervor. Soziale Tatsachen, etwa Institutionen wie Ehe oder Staat, zeichnen sich nach Searle grundsätzlich dadurch aus, daß ihnen kon- stitutive Regeln zugrunde liegen. Eine Wissenschaft, die derartige Phänomene beschreiben will, kann dies nun klarerweise nur dadurch, daß sie jene konstitutiven Regeln erschließt – und das geht, wie bei allen Regeln, nur interpretierend. 1 Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1982, S. 542. 2 Vgl. John Searle: The Construction of Social Reality. London 1995.

Transcript of Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für...

Page 1: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

1

Rico Hauswald, M.A. Institut für Philosophie TU-Dresden Tagung „Interpretatio mundi. Wie deuten Wissenschaften ihre Welt?“, Abstract

Interpretationen von Interpretationen: Doppelte Hermeneutik und interaktive Semantik in den Humanwissenschaften

Für jene Wissenschaften, die den Menschen zu ihrem Gegenstand gemacht haben, erweist sich die Situation als grundlegend und konstitutiv, daß dieser Gegenstand nicht nur Objekt, sondern selbst Subjekt von Interpretationen ist. Die Humanwissenschaften interpretieren daher nicht einfach nur, sondern sie sind immer schon mit Interpretationen (die nicht „ihre eigenen“ sind) konfrontiert, mit gesellschaftlich kommunizierten, mit Selbst-Interpretationen der menschlichen Akteure. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine charakteristische und vielschichtig in Erscheinung tretende hermeneu-tische Verflechtung der Humanwissenschaften mit ihrem Forschungsfeld. Schließlich können umge-kehrt die wissenschaftlichen Interpretationen ihrerseits wieder Gegenstand der gesellschaftlichen Kommunikation werden, so daß ein Prozeß der Iteration ausgelöst wird und die Frage, wie die Wissenschaften „ihre Welt deuten“, im Falle der Humanwissenschaften gar nicht ohne die umgekehrte Fragestellung zu beantworten ist, wie nämlich „die Welt“ (und das ist hier die menschliche Gesell-schaft) „ihre“ Wissenschaft deutet.

Zunächst läßt sich jedoch grundsätzlich sagen, daß sich bei der historischen Genese der Humanwissenschaften zwei methodologische Paradigmen herausgebildet haben, die der Kategorie des Sinns jeweils unterschiedlich fundamentale Bedeutung beimessen: einerseits ein „naturalistisch-objektivistisches“, andererseits ein „interpretatives“ Paradigma. Der objektivistische Methodologe könnte dadurch charakterisiert werden, daß er die menschliche Lebenswelt und Gesellschaft nicht anders zu behandeln und zu erforschen versucht als der Naturwissenschaftler die Natur. Zwischen Natur- und Humanwissenschaften bestünde demnach, abgesehen vom Gegenstandsbereich, kein prin-zipieller Unterschied. Das Ideal ist hier das einer an naturwissenschaftlichen Standards orientierten „Einheitswissenschaft“. Demgegenüber bestand die Grundeinsicht des interpretativen Paradigmas – das ich selbst für angemessen halte und verteidigen möchte – spätestens seit Max Weber darin, daß keineswegs nur Texte, sondern daß jede menschliche Handlung, jedes technische (d.i. von Menschen intentional hergestellte) Artefakt, daß alles Soziale, Kulturelle und im eigentlichen Sinne Humane sinnhaft konstituiert, symbolisch repräsentiert und abhängig von Deutungsentwürfen ist, und daher auch nur über einen prinzipiell interpretierenden Zugang wissenschaftlich erschließbar ist. Es kann nicht adäquat beschrieben werden, ohne daß man auf subjektive Interpretationen, den „subjektiv ge-meinten Sinn“1 der Akteure selbst Bezug nimmt. Zieht man etwa von einer menschlichen Handlung diesen subjektiven Sinn ab, so kann man sie nicht nur nicht vollständig begreifen, sondern sie hört auf, als das, was sie ist (nämlich Handlung), zu existieren. Das Sein der Gegenstände, die untersucht wer-den, hängt bereits von Interpretationen der Akteure und von kollektiven Intentionalitätsprozessen ab, wie man auch mit dem Sozialontologen John Searle zeigen kann.2 Dessen Unterscheidung von regula-tiven und konstitutiven Regeln erweist sich hier als zentral: erstere organisieren lediglich etwas auch unabhängig existierendes, letztere bringen die fragliche Entität erst hervor. Soziale Tatsachen, etwa Institutionen wie Ehe oder Staat, zeichnen sich nach Searle grundsätzlich dadurch aus, daß ihnen kon-stitutive Regeln zugrunde liegen. Eine Wissenschaft, die derartige Phänomene beschreiben will, kann dies nun klarerweise nur dadurch, daß sie jene konstitutiven Regeln erschließt – und das geht, wie bei allen Regeln, nur interpretierend.

1 Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1982, S. 542. 2 Vgl. John Searle: The Construction of Social Reality. London 1995.

Page 2: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

2

Alfred Schütz, neben Weber ein zweiter wichtiger Pionier des interpretativen Paradigmas, un-terscheidet vor diesem Hintergrund zwischen begrifflichen Konstruktionen erster und zweiter Stufe. Bei letzteren handelt es sich um die wissenschaftlichen Begriffsbildungen, bei ersteren um Begriffe, die je immer schon im sozialen Raum existieren. Schütz betont damit, daß kein prinzipieller logischer oder semantischer Unterschied besteht zwischen diesen beiden Ebenen; vielmehr will er dafür argu-mentieren, daß dem einzig methodologisch befriedigenden Weg humanwissenschaftlicher Begriffsbil-dung ein „Postulat der Adäquanz“ zugrunde liegt, dem zufolge Konstrukte zweiter Stufe nur in Ab-hängigkeit von solchen erster Stufe entwickelbar sind.3 Während Schütz eher phänomenologisch orientiert ist, finden sich ganz ähnliche Konzeptionen humanwissenschaftlichen Forschens auch bei Vertretern der analytischen Wissenschaftstheorie, namentlich bei Autoren, die an Wittgenstein an-schließen, wie Peter Winch4 und Georg Henrik von Wright5.

Nun ist im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts der Geltungsanspruch von Hermeneutik (im Anschluß an Heidegger und Gadamer) und Interpretationstheorie (im Anschluß an Abel) ausgeweitet worden, so daß es erneut schien, als müsse der alte Gegensatz der Wissenschaftsdisziplinen auf-gehoben werden. Wir hätten dann nicht mehr erklärende Naturwissenschaften auf der einen und deutende, verstehende, interpretierende Geistes-, Kultur-, Humanwissenschaften auf der anderen Seite: Alle Wissenschaften müßten vielmehr als interpretierende beschrieben werden, da das menschliche Grundverhältnis zur Welt, das In-der-Welt-sein überhaupt ursprünglich als verstehendes und inter-pretierendes sich erweist, und auch „Natur“ wäre dem Naturwissenschaftler nicht unabhängig von Interpretationen zugänglich; es ergäbe sich eine Art neuer „Einheitswissenschaft“ – nicht unter positi-vistischem, sondern diesmal unter hermeneutischem Vorzeichen.

Dies nun will ich insofern nicht in Frage stellen, als eine existentielle Bedeutung von Ver-stehen und Interpretieren in der Tat generell vorliegen mag. Jedoch wende ich mich dagegen, hieraus eine vollständige Nivellierung aller wissenschaftlicher Disziplinen abzuleiten. Wenn es eine funda-mentale hermeneutische Situation in allen Fächern, auch den naturwissenschaftlichen, gibt, so gibt es gleichwohl eine besondere Lage in den humanwissenschaftlichen Disziplinen: eine „doppelte Herme-neutik“, wie man mit Anthony Giddens6 sagen könnte. Diese Fächer stehen mit ihrem „Forschungs-feld“ in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung, die sich bei der Erforschung keines natürlichen Gegen-stands sonst ergibt (hier: Objekt-Subjekt). Anders als natürliche Gegenstände – aber wie der Wissen-schaftler seinerseits – haben Menschen ein Bewußtsein ihrer selbst und verwenden Sprache, sie haben, wie man mit Hegel und Adorno sagen könnte, „einen Begriff von sich“.

Schließlich sind humanwissenschaftliche Deutungen selbst wieder möglicher Gegenstand ge-sellschaftlicher Kommunikation; sie erlangen – oftmals über Institutionen (Justiz, Politik, Medizin, Psychiatrie, Pädagogik) vermittelt – reale soziale Wirksamkeit. Sozial-, Kultur-, Humanwissen-schaften sind selbst Teil von Gesellschaft, Kultur und menschlicher Lebenswirklichkeit. Hieraus resul-tiert eine charakteristische Form hermeneutischer Rückkopplung zwischen Gesellschaft und Wissen-schaft: die Self-Fullfilling-Prophecy kann als Paradigma der methodologischen Situation der Human-wissenschaften angesehen werden.7 Besonders auch in der jüngeren poststrukturalistischen Reflexion sind derartige Rückkopplungsprozesse in den Blick geraten. Michel Foucault etwa, und an ihn an-schließend Ian Hacking, beschrieben am Beispiel von Sexualität und psychiatrischen Krankheiten, wie humanwissenschaftliche Deutungen, davon beeinflußte institutionelle Praktiken und soziale Wirklich-

3 Alfred Schütz: Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1. Den Haag 1971, S. 7. Der programmatische Titel des methodologischen Haupt-werkes Schütz’ von 1932 lautet „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“. 4 Peter Winch: The idea of a social science and its relation to philosophy. London 1958. 5 Georg Henrik von Wright: Explanation and Understanding. Ithaca 1971. 6 Anthony Giddens: Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung. Frankfurt/M., New York 1984, S. 179. 7 Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1988, S. 46.

Page 3: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

3

keiten sich unter wechselseitigem Einfluß entwickelten. Die humanwissenschaftlichen Deutungen etwa von Sexualität(en) oder die psychiatrischen Diagnosen können nicht einfach als Abbildungen bereits bestehender Wirklichkeiten interpretiert werden; sie sind vielmehr selbst Teil der Wirklich-keitskonstruktion.

Ich möchte, um diese methodologische Situation auf grammatischer Ebene zu beschreiben, den Begriff „interaktive Semantik“ einführen, die für die humanwissenschaftliche Sprache typisch ist. Damit schließe ich an Ian Hackings Konzept der „interaktiven Arten“ an, mit dem er Klassifikationen im sozialen Raum charakterisieren will und zugleich auf die in der gegenwärtigen analytischen Philo-sophie geführte Debatte um die sogenannten „natürlichen Arten“ (um Saul Kripke und Hilary Putnam) reagiert. Den dabei häufig vertretenen „neuen Essentialismus“ lehnt er aber ab und spricht sich statt dessen für einen „dynamischen Nominalismus“ aus, der Teil einer „historischen Ontologie“ ist, in der es darum geht, „wie unsere Verfahren des Benennens mit den benannten Dingen interagieren.“8 „Die Semantik fasziniert den Logiker, aber die Dynamik der Klassifikation ist der Ort, wo es spannend wird.“9

8 Ian Hacking: Historische Ontologie. Zürich 2006, S. 9. 9 Ian Hacking: Was heißt „soziale Konstruktion“? Frankfurt/M. 1999, S. 194.

Page 4: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Die Sprachwissenschaft und das doppelte Problem der Interpretation

Tilo Weber (Halle)

„Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“ Diese seit der Antike immer wieder variierte und von Nietzsche so prägnant formulierte Provokation hat in der westlichen Wissenschaftstradition Reaktionen hervorgehoben, die sich zwei Grundtypen zuordnen lassen: Auf der einen Seite setzen Realisten wissenschaftliche Energie daran zu beweisen, dass die These falsch ist; oder zumindest verlassen sie sich darauf, dass dies ohne weiters möglich ist. Auf der anderen Seite lassen es Skeptiker nicht dabei bewenden, ihr zuzustimmen, sondern sie bemühen sich zu zeigen, wie wissenschaftliches Denken auf dieser Basis überhaupt noch möglich ist. Der Gegensatz zwischen den hier skizzierten Grundpositionen bildet einen Graben, der in den so genannten Geisteswissenschaften nicht nur über Fachrichtungen hinweg, sondern gerade auch innerhalb einzelner Disziplinen inkommensurable Paradigmen definiert, zwischen denen sich eine theoretische Verständigung als kaum möglich erweist. Dies gilt auch für die Sprachwissenschaft.

In meinem Beitrag möchte ich zeigen, dass die skeptische These für die Sprachwissenschaft eine doppelte Relevanz besitzt – auf der Objektebene der Gegenstandsbeschreibung und -analyse und auf der Metaebene der Objektkonstitution – und dass diese Relevanz im Zeichencharakter von Sprache begründet liegt.

In einem ersten Abschnitt werden Shannon & Weavers (1949) Kommunikationsmodell und Bühlers (1934) Organonmodell des sprachlichen Zeichens einander gegenübergestellt, um den konstruktiven Charakter sprachlicher Zeichen herauszuarbeiten. Im zweiten Teil werden die Konsequenzen daraus für die linguistische Theorie aufgezeigt, und es wird an einem Beispiel verdeutlicht, welche praktischen Folgerungen dies mit sich bringt. Im dritten Teil wird die Frage aufgeworfen, ob die bis dahin vorgestellten Überlegungen auch für andere hermeneutische Disziplinen Gültigkeit besitzen kann.

Bühler, Karl 1999 Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz [1934]. Stuttgart: Lucius & Lucius.

Shannon, Claude Elwood and Warren Weaver 1949 The Mathematical Theory of Communication. Urbana: University of Illinois Press.

Weber, Tilo 2003, May There is no objective subjectivity in the study of social interaction. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal] 4 (53 paragraphs). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-03/2-03weber-e.htm (last access: January 19, 2008).

Page 5: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Literatur, Realität, Mathematik – gibt es ein Verhältnis zueinander?

Literatur- und Kulturwissenschaften

Interpretation als ‚Deutung’ ist das Herzstück der Literatur- und Kulturwissenschaften. Dabei interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…), solange es als Zeichen angesehen wird, das etwas nicht direkt Ausgesagtes, das ‚dahinter’ steht, sichtbar macht. Mit anderen Worten: Die Interpretation interessiert sich nicht dafür, ob ihr Interpretationsgegenstand die Realität repräsentiert, sondern wie er sie bearbeitet (also performativ ist). Literarische Texte als Interpretationsgegenstand haben z.B. die Besonderheit, dass sie Möglichkeitswelten entwerfen, die sich jenseits von Wahrheit und Lüge sprachlicher Aussagen ansiedeln.

Literatur- und Kulturwissenschaften suchen Regelmechanismen (‚Programme’), die hinter dem Sichtbaren liegen und diesem seine Charakteristik verleihen. Interpretation in den Literatur- und Kulturwissenschaften heißt also: zu analysieren, wie der Mensch mit seiner Umwelt umgeht, oder systemtheoretisch ausgedrückt, die Beobachtung erster Ordnung wieder zu beobachten. Ohne Interpretation würden – so die Auffassung der Literatur- und Kulturwissenschaften – die verschiedenen Dimensionen von literarischen Texten oder kulturellen Handlungen und Artefak-ten unsichtbar bleiben. Grundlegende Methodenlehre ist die Hermeneutik, das gegenseitige Ab-stimmen von Eigen- und Fremdverständnis, von Teiltext- und Gesamtverständnis. Adäquat ist eine Interpretation, wenn sie im Hinblick auf ihre Fragestellung argumentativ überzeugend etwas am Objekt sichtbar machen kann, was ohne sie nicht sichtbar gewesen wäre; brauchbar ist sie, wenn ihre Fragen und Antworten in weiteren Kontexten verwendet werden können, also an-schlussfähig sind.

Literatur- und Kulturwissenschaften sind nicht durch ein (handlungsrelevantes) Vorab-Ziel festgelegt (wie z.B. die psychologische Interpretation, die Heilung anstrebt, die juristische Interpretation, die Rechtsprechung anstrebt, physikalische Interpretationen, die ein Funktionieren in der Umwelt anstreben etc.).1 Sie ist eher so etwas wie Grundlagenforschung, die handlungsorientierten Disziplinen Instrumente wie ‚Umgang mit Texten’/’Umgang mit Diskursen’/’Umgang mit Erkenntnisgrenzen’ an die Hand gibt.

Literatur- und Kulturwissenschaften reflektieren neben ihren Ergebnissen immer auch ihre Methoden. Interpretation macht also verschiedene Typen von Aussagen: über die Bedeutung eines Textes, über die mögliche Wirkung eines Textes, über die Mehrdeutigkeit eines Textes, über die Erfahrungsmöglichkeiten eines Textes usw.

Bei der Bearbeitung der Grenzen der Interpretation gibt die formale Sprache der Mathematik mir entscheidende Impulse auf der Suche nach neuartigen Beschreibungsmöglichkeiten. Die Herausforderung, der ich mich durch meine Orientierung an mathematischen Modellen und Formeln stelle, ist die Frage danach, inwieweit sich formalisierte Interpretationen auf nicht-formalisierbare Phänomene wie literarische Texte übertragen lassen; kann ich als Literaturwissenschaftlerin im Gegenzug den Teil der Mathematik beschreiben, der der hermeneutischen Interpretation ähnelt?

1 Zumindest kann man dies nach dem Wegfall der normativen (an einer Poetik oder einer ‚Autorintention’ orientierten) Interpretation im 20./21. Jahrhundert behaupten.

1

Page 6: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Mathematik

Mathematik interpretiert grundlegende Strukturen der Naturwissenschaften. Dass der Erfolg der Mathematik als Sprache der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, an ein Wunder grenzt, beschreibt der ungarische Mathematiker, Physiker und Nobelpreisträger Eugene Paul Wigner (1902 –1995) mit den folgenden Worten:

„The enormous usefulness of mathematics in the natural sciences is something bordering on the mysterious and that there is no rational explanation for it. […] It is not at all natural that laws of nature exist, much less that man is able to discover them. […] The miracle of the language of mathematics for the formulation of the laws of physics is a wonderful gift which we neither understand nor deserve“2.

Interpretationsbegriff ist also die Mathematik selbst und Interpretationskriterien sind die strengen Grundlagen der Logik mit einem axiomatischen Aufbau basierend auf Definitionen, Theoremen und Beweisen. Sosehr sich die Mathematik auf die Fundamente der Logik stützt, sosehr ist sie aber gleichzeitig auch von der Kreativität der Mathematikerinnen und Mathematiker durchdrungen, die diese Mathematik entwickeln. Mathematiker bewundern innerhalb ihrer Community geniale Konzepte, schöne Theoreme und elegante Beweise. Für Genialität, Schönheit und Eleganz selbst wurde bisher keine mathematische Beschreibung gefunden und daher liegen diese Empfindungen außerhalb der Grenzen der Interpretierbarkeit unserer Realität durch die zeitgenössische Mathematik.

Der Stellenwert der Interpretation ist absolut und nicht von naturwissenschaftlicher Beobachtbarkeit abhängig. Nimmt man z.B. das mathematische Theorem von Euklid, dass sich die Winkel in einem Dreieck zu 180 Grad aufsummieren, so wird man dieses Theorem nie 100-prozentig experimentell nachprüfen können. Zeichnet man ein Dreieck und mißt nach, erhält man unvermeidlich Meßfehler. Man kann sich auch Situationen vorstellen in denen die Summe der Winkel in einem Dreieck bei weitem nicht 180 Grad ergibt. In einem solchen Fall würde ein Mathematiker das Theorem von Euklid weder verwerfen noch korrigieren, sondern darauf hinweisen, dass das Theorem nur für Dreiecke in der Ebene gilt und es Ihre Schuld ist, dass die Zeichenfläche nicht eben ist (Sie hätten das Dreieck z.B. auf einen Fußball zeichnen können). Diese empirische Unüberprüfbarkeit nach den strengen Regeln der Mathematik gilt auch für den Satz von Pythagoras a2 + b2 = c2 über die Beziehung der Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks. Niemand kann das mit absoluter Genauigkeit nachmessen. Diese empirische Unüberprüfbarkeit führt die Mathematiker aber in keiner Weise zu Zweifeln an der Richtigkeit des Theorems. Das Theorem wird als korrekt betrachtet unter der Annahme von gewissen Bedingungen (Hypothesen), die gedanklich idealisiert sind, in der von uns wahrgenommenen Natur aber exakt so nicht vorkommen.

Die Grenzen der Interpretation unserer Realität durch die Mathematik auszuweiten, z.B. auf die Literaturwissenschaft, ist ein Abenteuer, weil bei der Interpretation von Strukturen außerhalb der formalisierten Mathematik durch die Mathematik die Strenge der Logik als essentielles Arbeitsmittel nicht mehr zur Verfügung steht. Eine Vorreiterrolle hierbei wird von dem Begründer der Synergetik, dem Laserexperten Hermann Haken3 eingenommen, der am Prinzip der „Selbstorganisation von Nichtgleichgewichtssystemen“ aus der Laserphysik u.a. das Ordnungsparameter-Konzept und Versklavungsprinzip entwickelte, das inzwischen neben der

2 Eugene Wigner, "The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences," in Communications in Pure and Applied Mathematics, vol. 13, No. I, 19603 Herman Haken: Synergetik. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1982.

2

Page 7: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Chemie und Biologie auch in der Psychologie, Soziologie und Literaturwissenschaft4

Verwendung findet.

In diesem Vortrag werden wir – in diesem interdisziplinären Sinne – am Beispiel der Bedeutungsfindung bei der Rezeption von moderner Prosa, das Zusammenspiel von Fragestellungen aus der Literaturwissenschaft und mathematischen Konzepten vorführen.

4 Susanne Hartwig: Chaos und System. Interferenzen als Zugang zum spanischen Gegenwartstheater. Frankfurt a. M.: Vervuert 2005.

3

Page 8: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Walter Schmitz

Exposée zur Tagung „Interpretatio mundi“

Erkenntnis und Methaper Zur Wissensproduktion in den Philologien

I. Metapher und Sprache

Daß die Sprache die Wirklichkeit benennen könne, ist eine Utopie, die um 1800 bei Herder Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel noch einmal neu formuliert wird. Hier setzt eine kritische Dekonstruktion an, die in Nietzsches Gegenposition gipfelt. Für Nietzsche ist die Sprache nichts anderes als eine kontingente Ansammlung von Methapern, denen zudem ein unterschiedlicher Status eignet, von kaum noch kenntlichen usuell gewordenen bis zu aktuell geschaffenen metaphorischen Bildungen. Das ‚Eigentliche’ aber bleibt unbenennbar. Das Organon der sprachlichen Welterfahrung ist angemessen nur als Sprachkritik anzuvisieren.

Diese Linie soll nun nicht weiter verfolgt, sondern nur zur Markierung zweier thesenhafter Prämissen genutzt werden:

- der Produktivität von Sprache- der Prozessualität von Sprache als symbolische Ordnung der Welt

II. Sprachlichkeit der Philologien

Die Philologien stehen hier in vielerlei Hinsicht doch exemplarisch für die Geisteswissenschaft insgesamt. Auch wenn sich die naive Antithetik der ‚zwei Kulturen’ nicht halten lässt, so lassen sich doch einige Spezifika aus früheren Debatten zur Bestimmung des ‚Wesens’ von Geistes- und Naturwissenschaften unter dem Aspekt der Sprachlichkeit neu ordnen und, wie ich meine, auch schlüssiger interpretieren.

Der Erkenntnis in den Philologien ist die Sprache vorgängig. Das hat verschiedene Konsequenzen: Zum einen eine Dehierarchisierung der Erkenntnis, die sich eben nicht aus der Stringenz einer eigenständigen Methodik aufbaut; komplementär dazu jedoch auch eine Entmächtigung der Hermeneutik als Erkenntnismodell subjektiver Teilhaber an geistigen Ordnungen. Die Interpretation der Welt durch Sprache ist jeder Hermeneutik vorgängig und lässt sich nur in transsubjektiven Verfahren, etwa einer interkulturellen Diskursanalyse beschreiben. - Es soll hier jedoch nicht um Plädoyer für eine Methodik gehen, sondern um eine Beschreibung der etablierten wissenschaftlichen Praxis.

III. Die Potenzierung der Interpretation

Die Philologien interpretieren Interpretationen von Interpretationen in einer rekursiven Schleife. Damit unterliegen alle ihre Ergebnisse einer radikalen Prozessualität. Einerseits lässt sich ein ‚Gegenstand’ nicht fest stellen. Die Zeugnisse in ihrer jeweiligen Materialität ‚verrutschen’ gleichsam in ihrer Bedeutung in eine nicht mehr rekonstruierbare Vergangenheit. Man hat dies in jüngerer Zeit als einen ständigen Übersetzungsvorgang, den

Page 9: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

die Geisteswissenschaften angesichts dieses Entschwindens von Sinnkonstruktionen ins nicht mehr erschließbare Historische zu leisten hätten, beschrieben. Des weiteren ist die Sprache der Wissenschaften selbst dieser Historisierung konsequent unterworfen. Die Termini bilden gleichsam eine historische Reihe je nach Anwendungsfeld. Daraus resultiert die These, dass dieses ständige Verschieben von Bedeutungen in einer Metaphorizität der Beschreibungssprache selbst.

Darauf reagiert die Prozesssteuerung der Erkenntnis als Steuerung eines Kommunikationsprozesses. Die Erkenntnisform der Philologien ist eben nicht das Experiment, sondern die Kommunikation deren Regeln durch einen institutionellen Rahmen definiert werden. Für die Philologien ist hingegen die Zugänglichkeit relativ offen; sie ist nicht streng durch bestimmte Patente geregelt, so daß der akademische Diskurs nicht exklusiv ist. Die Richtung der Forschung wird nicht durch langfristige Strategien gelenkt, sondern projiziert die allgemeinen Regeln öffentlicher Kommunikation auf jene Ebene, die nach allgemeinem Konsens als erste Ebene der professionalisierten Interpretation von Internationen akzeptiert ist. Deren Medien sind nicht nur Fachzeitschriften, sondern sie partizipieren immer wieder an einer größeren kulturellen Öffentlichkeit (Feuilletons der Qualitätspresse u. ä.). - Der Übergang von einer akademischen zu einer Expertenkultur stellt noch ein weiteres Problem dar, das freilich hier weniger virulent ist, als in etwa in den Gesellschaftswissenschaften oder in der Rechtswissenschaft.

Die kommunikative Themensetzung differenziert sich in den Philologien aus, in eine relativ ‚langsame’, auf Kontinuität bedachte Linie (u.a. die sog. Autorenphilologien) und eine ‚heiße’ Strategie der Theorieerzeugung. Hier ordnen sog. ‚Konzeptschlagworte’ das Feld der Aufmerksamkeit und wirkt themensetzend. ‚Konzeptschlagworte’ (genauer zu bestimmen in einem Feld, das auch die jüngst präsentierten ‚Titelmetaphern’ und die ‚contested concepts’ aus der angelsächsischen ‚historyof ideas’) umfaßt, leisten die ‚Übersetzung’ zwischen kultureller und wissenschaftlicher Öffentlichkeit; sie bündeln, damit im Verfahren jedenfalls der Metapher ähnlich, heterogene Bedeutungen – oder vielmehr, sie werden als ‚offene’ Signifikanten in einem Prozeß der Bedeutungsprojektion damit gefüllt. Sobald ihr Potential erschöpft ist, wendet sich das Interesse anderen Feldern zu – ohne daß man von einem gesicherten Wissenskonsens sprechen könnten. Aufmerksamkeit, Interesse, Metaphorisierung benennen die Stadien der Wissensproduktion in den Philologien. Jene beiden Ebenen sind nicht gegeneinander abgeschottet, aber die Kommunikation zwischen ihnen ist noch kaum beschrieben; Kontinuität wäre also nochmals zu beschreiben.

Um diese generellen Thesen anschaulich zu machen, wird der geplante Vortrag ein zentrales Konzeptschlagwort der 90er Jahre - und zwar ‚Gedächtnis’ - mustern und die Etablierung und langsame Abarbeitung dieses ‚Konzeptschlagwortes’ nachzeichnen

Page 10: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Henrik Hilbig, Abstract für „Interpretatio Mundi“ 1

Henrik Hilbig

Zwischen der Interpretation von Welt und dem Schaffen von Tatsachen –

Architektur als „praktische Wissenschaft“

Obwohl das Fach Architektur an Universitäten gelehrt wird und mit dem Appendix

Architekturtheorie sogar über ein mehr oder weniger gut genutztes Mittel zur Reflexion des

eigenen Tuns besitzt, fällt die Baukunst gewöhnlich nicht unter den Begriff der

Wissenschaften. Vielleicht auch aus diesem Grund steht anders als bei den Natur- und

Geisteswissenschaften in dieser „praktischen Wissenschaft“1 nicht die bewusste Interpretation

eines Artefaktes oder die Erklärung für ein Naturphänomen im Zentrum der Aufmerksamkeit,

sondern das Schaffen von handfesten Tatsachen: Wohnhäusern, Museen, Firmenzentralen.

Gerne deutet man das eigene Schaffen auch selbst. „Das hat natürlich große Tradition, ist

teilweise ganz spannend, kommt aber heute oft sowohl als Pseudophilosophie daher, von der

man meint, dass ihre Tiefe in der Unverstehbarkeit liege, als auch als Legitimations- und

Marketinggeschwätz, bei dem jeder Mist durch eine Reihe beliebiger, aber sprachgewichtiger

Satzmodule übertüncht wird.“2 Interpretationen der Bauwerke durch Unbefugte (z. B.

Kunstgeschichtler oder Bewohner, die ihre eigenen Nutzungsvorstellungen samt notwendiger

Umbauten in das Gebäude bringen) werden von Architekten meist abgelehnt, es sei denn, als

Ergebnis findet sich ihr Werk auf dem Titelblatt der „Bauwelt“ wieder.

Neben dieser deutlichen Verbindung zwischen den Begriffen „Architektur“ und

„Interpretation“, die z. B. bereits durch Bontas Studie über das „Auf und Ab der Formen und

die Rolle der Kritik“3 im Licht der Aufmerksamkeit stand, gibt es noch eine weitere

Verknüpfung, die ihre Wurzel in jenem komplexen Prozess hat, in dem eine bauliche

Tatsache entsteht – einem Prozess, dessen Beschreibung meines Erachtens nicht nur für die

Architektur, sondern auch für die anderen Wissenschaften eine Rolle spielt. Insofern soll die

Darstellung dieses Prozesses an einem Beispiel aus der Architektur-Praxis im Zentrum des

Vortrags stehen.

Ausgangspunkt ist dabei zum einen die („archäologische“) These des britischen Philosophen

Robin G. Collingwood, dass jedes Ergebnis menschlichen Tuns als ganz konkrete Antwort

auf eine ganz konkrete Frage (die meist wieder ein Bündel Unterfragen beinhalten) zu sehen

1 Achim Hahn, Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln besonderer Art, in: AUSDRUCK UND GEBRAUCH, 5. Heft, II/2004, S. 49-60.2 Eduard Führ, Zur Theorie der Architektur als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis, in: Wolkenkuckucksheim 9. Jg., Heft 2/20043 Juan Pablo Bonta, Über Interpretation von Architektur, Vom Auf und Ab der Formen und die Rolle der Kritik, Berlin 1982.

Page 11: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Henrik Hilbig, Abstract für „Interpretatio Mundi“ 2

ist4, zum anderen Ludwik Flecks „Theorie von Denkstil und Denkkollektiv“5. Flecks Begriffe,

entstanden aus einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung, beschreiben, wie sich die

Fragen und Antworten Collingwoods eben nicht aus „reinem, voraussetzungslosen Denken“

entwickeln, sondern der oder die Beteiligten am Entstehen eines Bauwerks mit vielen anderen

Menschen in „Austausch und gedanklicher Wechselwirkung“6 stehen, z. B. dem

„Denkkollektiv“ der Architekten, das ihren „Denkstil“, ihre Art und Weise die Welt zu sehen,

entscheidend mit prägt. Das heisst, sie besitzen „gerichtete Wahrnehmung, mit

entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“7, bevor

der erste Strich eines Plan gezogen ist. Und doch ist dieser Denkstil keineswegs starr, sondern

stetiger Veränderung unterworfen.

Das Beispiel des Vortrags soll zeigen, wie im konkreten Beantworten von konkreten Fragen

durch Skizzen und Modelle „Tatsachen“ geschaffen werden, die im weiteren Verlauf zum

Teil eine deutliche Eigendynamik erhalten, wie zum anderen aber im kollegialen Austausch,

in den Kontroversen innerhalb des Architektenteams (des „Denkkollektivs“) ausgehend von

den unterschiedlichen biographischen Hintergründen, den unterschiedlichen Sichtweisen der

Beteiligten ein gemeinsamer Be-Deutungsrahmen, ein gemeinsamer Fundus an Begriffen und

Bildern, ein „Denkstil“ entsteht, der immer wieder auch auf die „Tatsachen“ verändernd

einwirkt. Damit entsteht das Bild eines „Aushandlungs“-Prozesses, der im ständigen

Fluktuieren zwischen „Interpretation“ und „Tatsache“ zur stetigen Veränderung von beidem

führt und am Ende – manchmal überraschend – eine ganz neue „bauliche Tatsache“ steht,

bereit zur Interpretation durch den Nutzer wie die Architekturkritik.

4 Robin G. Collingwood, Denken, Stuttgart 1955, S. 30-43.5 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980.6 A.a.O., S. 547 A.a.O., S. 130

Page 12: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Wie interpretieren Wissenschaften ihre Welt(en)? Paradigmen, Paradigmenwandel und die Rolle externer Einflüsse am Beispiel der Forstwissenschaften

Dr. Melanie Morisse-Schilbach, TU Dresden, Lehrstuhl für Internationale Politik Stefan Werland, M.A. TU Dresden, Lehrstuhl für Internationale Politik Prof. Dr. Michael Suda, TU München, Wissenschaftszentrum Weihenstephan, Institut für Wald- und Umweltpolitik

Der Beitrag untersucht am Beispiel der Forstwissenschaft die Rolle und den Wandel von

Interpretationssystemen in Wissenschaftsdisziplinen, die auf einem naturwissenschaftlichen,

d.h. „objektivistischen“ Weltbild basieren. Er basiert auf ersten Ergebnissen eines BMBF-

Forschungsprojekts zur Internationalisierung des „deutschen Waldes“ und deren

Konsequenzen für die Forstwissenschaft.

Naturwissenschaften gehen gemeinhin von einer direkten Zugänglichkeit von Realität aus.

Interpretationsvorgängen wird damit kein expliziter Platz in ihrer Forschungsagenda

beigemessen. Interpretationen finden sich vielmehr implizit, im Wissenschaftsverständnis der

jeweiligen Disziplin (Paradigmen). Solche nicht hinterfragten Vorstellungen betreffen

beispielsweise die Beschaffenheit ihres Forschungsobjekts oder Vorstellungen über das

Mensch-Natur-Verhältnis. Damit befasst sich der Beitrag mit einem Grenzfall von

Interpretation in den Wissenschaften. Er untersucht aus einer Außenperspektive die impliziten

Interpretationsvorgänge, die einer Wissenschaftsdisziplin zugrunde liegen und fragt nach

Faktoren, die einen Wandel des Verständnissystems induzieren können.

Am Beispiel der Forstwissenschaft als einer anwendungsorientierten Grundlagenforschung

wird aufgezeigt, dass sich implizite, wissenschaftsinterne Interpretationssysteme nicht nur

aufgrund neuer, auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen Erkenntnisse aus sich heraus

ändern (Kuhn). Auch externe Anforderungen bzw. Erwartungen, die von außen an die

Wissenschaft gestellt werden, können zu einem Wandel der grundlegenden Welt-

Interpretationen beitragen. Einer dieser externen Faktoren ist – nach Weingart und anderen

Wissenschaftssoziologen – neuerdings die Politik. Hier leiten sich externe Anforderungen aus

einer zunehmenden, auch institutionalisierten Nähe von Wissenschaft einerseits sowie

Politikpraxis andererseits ab. Zu den veränderten externen Rahmenbedingungen von

Wissenschaft zählt im Hinblick auf die Forstwissenschaft z.B. eine zunehmende

Internationalisierung des auf sie unmittelbar rückführbaren Politikfeldes, nämlich das des

Waldes.

Page 13: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Am Beispiel der Forstwissenschaft lässt sich demonstrieren, dass die Internationalisierung der

Waldpolitik im Sinne der Verlagerung waldrelevanter politischer Prozesse von der nationalen

auf die internationale Politikebene einen Anpassungsdruck für die betroffene

„Wissenschaftswelt“ nach sich zieht. Die These des Papiers lautet, dass es nicht alleine

wissenschaftsinterne Aspekte sind, sondern auch externe, d.h. institutionelle und politische

Veränderungen, die einen Paradigmenwechsel Paradigmenwandel in einer Wissenschaft

induzieren können. Dies ist vermutlich insbesondere in anwendungsorientierten

Wissenschaften der Fall.

Die Thematisierung von Wald in internationalen und transnationalen Prozessen (bspw. im

Rahmen der VN-Klimarahmenkonvention, der VN-Biodiversitätskonvention oder durch

nicht-staatliche Zertifizierungsagenturen) basiert auf einem alternativen Interpretation von

Wald und setzt dieses zunehmend durch: Wald wird vermehrt als Teil eines globalen

Ökosystems verstanden und weniger im Sinne des traditionellen forstlichen Paradigmas als

standortspezifische, lokale Ressource, die durch zielgerichtete menschliche Eingriffe zu

steuern ist. Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag zunächst die der Forstwissenschaft

zugrunde liegenden Interpretationssysteme und deren Wandel über Zeit

(„Interpretationswelten“) und fragt anschließend, inwieweit es zu einem extern induzierten

Paradigmenwandel durch die Internationalisierung des Politikfeldes „Wald“ kommt und

schließlich ob und inwiefern hier eine aktive Re-Interpretation ihres Forschungsobjekts durch

die Forstwissenschaft geleistet wird.

Page 14: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Vorschlag für den CfA zur interdisziplinären Tagung Interpretatio mundi - Wie deuten die Wissenschaften ihre Welt? (26.-28. Juni 2008, Juristische Fakultät der TU Dresden) Alexander Brand, M.A. - Wissenschaftlicher Mitarbeiter - Technische Universität Dresden Philosophische Fakultät Institut für Politikwissenschaft Lehrstuhl für Internationale Politik [email protected] Die Suche nach Weltordnung als Suche nach Wahrheit. Weltbilder und Welterklärer in den Internationalen Beziehungen Auch im politikwissenschaftlichen Teilfach der Internationalen Beziehungen hat mit einiger Verzögerung gegenüber anderen Disziplinen wie etwa der Philosophie oder der Soziologie eine ‚konstruktivistische Wende’ stattgefunden. Nicht derart, dass nun etwa außer konstruktivistischen Standpunkten nichts Anderes Geltung fände in der fachlichen Diskussion (Ignoranz und Ablehnung konstruktivistischen Denkens sind nach wie vor wenigstens gleichauf), aber doch mit der Konsequenz, dass diverse Konstruktivismen wie auch manch vulgär-konstruktivistische Binsenweisheit den Horizont der Debatten mitbestimmen. Damit einher gehend haben sowohl interpretativ-hermeneutische Verfahren – in methodologischer Hinsicht – wie die Frage nach dem Stellenwert von ‚Interpretation(en)’ für eine Wissenschaft von den internationalen Beziehungen allgemein wieder an Bedeutung gewonnen. Auch wenn sich mitnichten eine homogene Interpretationskultur in den IB herausgebildet hat, so ist doch augenfällig, dass die behauptete Nichthintergehbarkeit der Welterschließung qua Interpretation seit den 1990ern einen Brennpunkt der wissenschaftstheoretischen Debatte im Fach bildet, ja eine solche Debatte in den IB eigentlich erst wieder zum Leben erweckt hat. Dennoch hat sich in den letzten Jahren unterhalb des Zugeständnisses, dass ‚Weltbilder’ in den IB zweifelsohne eine Rolle spielen (weil sie als Gedankengebäude sowohl praktisch-politisches wie wissenschaftliches Tun vorstrukturieren, indem sie einen spezifischen interpretativen Rahmen herstellen), nichts Wesentliches getan. Dies ließe sich auch als eine ‚interpretative Wende’ auf niedrigem Niveau bezeichnen. Mit anderen Worten: dass Weltbilder das Handeln exponierter politischer Akteure anleiten, dass deren Interpretationshorizonte maßgeblich für politische Prozesse sind, wird etwa zugestanden. Weitaus weniger explizit, vor allem mit Blick auf die Mitte der Disziplin, wird über die Bedeutung von Weltbildern für die Wissenschaft der internationalen Beziehungen nachgedacht; lediglich an den Rändern, abseits des mainstreams der fachlichen Debatte, wird über Normativität und Reflexivität wissenschaftlichen Tuns – und wenigstens mittelbar auch über die Problematik der ‚Interpretation’ und deren Konsequenz für Weltverständnis und politisches Handeln – intensiv und systematisch diskutiert. Angeleitet wird dies durch die Feststellung, dass eine Trennung der ‚Welt der internationalen Politik’ von einer ‚Welt der Wissenschaft der

Page 15: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

internationalen Politik’ (für die dann privilegierte Zugänge zu Tatsachen reklamiert werden) äußerst willkürlich erscheint; beide vielmehr soziale und damit notwendigerweise auf Interpretation angewiesene und durch interpretative Spielräume ausgezeichnete Zusammenhänge bilden. Kurzum: Die politikwissenschaftliche Forschung in den IB beginnt gerade erst, sich (erneut) mit dem Stellenwert von Interpretationen und daraus resultierenden Konsequenzen für ihr eigenes Selbstverständnis, das in der Breite einem lose positivistischen-szientistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet ist, auseinanderzusetzen. Dass sie sich bisweilen sehr schwer damit tut, hier konsequenter konstruktivistisch zu denken (nicht: in Voluntarismus und Beliebigkeit auszuarten!, wie bisweilen fälschlicherweise unterstellt), hat unbestritten mit der Anspruchshaltung an die Wissenschaft IB zu tun. Disziplingeschichtlich lässt sich herleiten, dass die IB zu einem Gutteil Politik und allgemein politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche usw. Eliten beratend angelegt sind, weniger als reflexive Wissenschaft, die Grenzen und eingeschränkte Gültigkeit von Welterkenntnis thematisiert. Mit anderen Worten: Nicht der relativierende, skeptische, zurückhaltende Welterklärer wird gesucht, sondern ein forscher, sich im Besitz der ‚Wahrheit’ wähnender. Bisher auf der Strecke bleibt dabei weitestgehend die Einsicht, derzufolge die konstruktivistische Wende gerade für die IB eminent wichtige Einsichten liefert, etwa ein Gefühl für Multiperspektivität, gesteigerte Empathiefähigkeit und Kenntnis verschiedener Interpretationskulturen. Das von mir vorgeschlagene Papier thematisiert diesen Zustand zwischen sich ausbreitender (grundsätzlicher) Anerkenntnis der Unhintergehbarkeit von Interpretation und im großen und ganzen ausbleibenden Konsequenzen für das eigene wissenschaftliche Tun in den IB. Das Argumentationsgerüst bilden die folgenden drei Hypothesen, welche ich im Folgenden bearbeiten werde:

1) Über die ‚Weltbilder’-Diskussion ist die ‚interpretative Wende’ in den IB angekommen, ohne bislang sichtbare Konsequenzen zu zeitigen.

2) Dies hat nicht zuletzt mit dem Selbstverständnis der Disziplin und den Nachfragestrukturen nach IB-Wissen zu tun: Letzteres ist auf ‚wahre’ bzw. objektive Aussagen, die unmittelbar verwertbar sind gerichtet, nicht Reflexion über die Grenzen von Welterkenntnis und ‚interpretative Spielräume’.

3) Offenbar wird diese Kluft in der Abnabelung der Politik beratenden Forschung von der theoretischen Debatte um Konstruktivismen im Fach.

Page 16: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Exposé: Interpretative Verfahren in der pädagogischen Forschung

I.

Zu Beginn des Vortrags möchte ich kurz und teilweise anhand von kleinen Beispielen zeigen, in welchen Forschungskontexten in der pädagogischen Forschung interpretative Prozesse stattfinden. Zu nennen wären: • Die hermeneutische Kunstlehre der Textauslegung in Hinblick auf ihren pädagogischen Gehalt, • Die Interpretation von quantitativen Daten in Hinblick auf das, was sie über die

Erziehungswirklichkeit aussagen, • Die Verfahren der Interpretation qualitativer Daten - seien sie sprachlicher oder bildlicher Art - in

Hinblick auf das, was sie über die Erziehungswirklichkeit aussagen. Die hermeneutische Textauslegung war lange Zeit, insbesondere in der Hochphase der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in der Nachkriegszeit, das dominierende Verfahren der Erkenntnisgewinnung in der Pädagogik. Dagegen gab es bereits in den 20er Jahren eine Richtung der pädagogischen Tatsachenforschung, die im Zuge der „realistischen Wende“ der Erziehungswissenschaft hin zu einer empirischen Sozialwissenschaft mehr Gewicht bekam. Auslegungsprobleme gibt es auch hier, wie anhand der Interpretation einer Tabelle leicht zu sehen ist.

Sogenannte, qualitative bzw. interpretative Verfahren haben im Zuge der „Alltagswende“ in der Erziehungswissenschaft, ihrer Hinwendung zur Biographieforschung und der empirischen Untersuchung von Unterricht mit Hilfe von Unterrichtstranskripten an Gewicht gewonnen. Man kann hier drei Richtungen unterscheiden, die methodisch schulbildend waren: Objektive Hermeneutik (Oevermann), Dokumentarische Methode (Bohnsack), Konversationsanalyse und Erzählforschung (Schütze).

II.

Die Frage ist nun, ob die erwähnten Verfahren der empirischen Erkenntnisgewinnung bei aller Verschiedenheit Gemeinsamkeiten aufweisen. Hierzu ein paar Beobachtungen und Thesen: • Die Erziehungswissenschaft besitzt keine eigenen Verfahren, für die sie die exklusive oder

vorrangige Urheberschaft beanspruchen könnte. Vielmehr speist sich ihr Repertoire aus den Nachbardisziplinen, die in ihr besonders einflussreich geworden sind: einst die historiographische Forschung, dann die quantitative und qualitative Sozialforschung und heute die Psychometrie. Man kann daher von einer methodischen Dependenz der Erziehungswissenschaft sprechen. These: Ein möglicher Kandidat für eine eigenständige Forschungsrichtung wäre das „pädagogische Experiment“, das theoriegeleitete Herstellen pädagogischer Tatsachen im Zuge pädagogischen Handelns, das zugleich im Lichte der handlungsleitenden Theorie beobachtet wird.

• Methodologische Diskussionen sind (ähnlich wie die früheren Theoriedebatten) nach ihrer Hochphase vom Ende der 60er Jahre bis vielleicht Ende der 80er Jahren ein Nebenschauplatz. Es gibt methodische Schulen, für die mit Standardargumenten geworben wird, aber keine methodologische Diskussion mehr. These: Dies hängt damit zusammen, dass die Lehrstuhlinhaber mit methodologischen Interessen einer Generation angehören und es keine/kaum Lehrstühle für Wissenschaftstheorie in der Erziehungswissenschaft gibt.

• Ich betrachte das, was als „Daten“ bezeichnet wird, als Tatsachenbeschreibungen, also als Beobachtungssätze. Das Problem, dass auch diese Sätze erst durch Interpretation von Beobachtungen, Aufzeichungen etc. gewonnen wurden, interessiert mich hier nicht, sondern mich

Page 17: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

interessiert der Vorgang, der „Interpretation von Daten“ genannt wird. These: Bei der Interpretation von Daten geschieht Folgendes: Auf der Grundlage von nicht-thematisierten Hintergrundannahmen (z.B. hinsichtlich der Rationalität menschlichen Handelns) werden die Daten als Ausdruck von zu einem bestimmten Kontext gehörenden Phänomenen betrachtet. Man kann auch sagen, sie werden als Ausdruck von etwas verstanden. Die Interpretation selbst ist dann die Beantwortung der Frage nach der Funktion bzw. nach der causa finalis, die das durch die Daten repräsentierte Phänomen in diesem Kontext hat: Welche Bedeutung kommt dem Phänomen im Lichte dessen, was wir mittels der Daten über es wissen, für den Kontext zu, in dem wir es sehen?

• Die Verfahren unterscheiden sich danach, (1) ob sie die die Art und Weise, wie die untersuchten Akteure selbst ihr Tun interpretieren, zum Gegenstand der Untersuchung machen (quantitativ vs. qualitativ) und (2) wie sie den Zugang zu diesen Selbstinterpretationen methodisch organisieren. These: Gelegentlich wird behauptet, dass qualitative Verfahren Vorteile gegenüber quantitativen Verfahren hätten, weil sie in der Lage seien, die Selbstinterpretationen der empirischen Akteure für die Validierung der Forschungsinterpretationen zu nutzen. Im Extremfall müsste der empirische Akteur den Forschungsinterpretationen zustimmen müssen, weil der Forscher die Welt des Akteurs „mit dessen Augen“ gesehen hat. Dagegen spricht, dass das Ergebnis der Forschung sein kann, dass die Selbstinterpretationen des Akteurs systematisch defizitär sind. Die Zurückweisung solcher Interpretationen durch den Akteur wäre dann ganz natürlich, aber würde ihre Validität nicht in Frage stellen. – Die Sprache, in der das „Objekt“ der Forschung spricht, ist nicht identisch mit der Sprache, in der über das Objekt gesprochen wird.

III.

Fügt man die Interpretationen eines Gegenstandsbereichs zusammen, so ergibt sich ein Bild (ein Modell) dieses Gegenstandsbereichs. Ein solches Bild kann mehr oder weniger vollständig, detailliert, scharf, kohärent und treffend sein. Dies sind Charakteristika, welche die Qualität von auf der Grundlage empirischer Daten gewonnenen Interpretationen betreffen, ohne dass die Frage nach ihrer Wahrheit betroffen ist. Um prüfen zu können, ob eine Interpretation wahr ist, benötigt man Kriterien dafür, was der Fall sein muss, damit es angemessen ist, einem Objekt die Prädikate zuzuschreiben, welche die Interpretation ihm zuschreibt. Diese Kriterien gewinnt man aus einer Definition dieser Prädikate, die vom Akt der Zuschreibung getrennt ist und ihm vorausgeht. Das Problem ist nun, dass in der qualitativen empirischen Sozialforschung die Definition der interpretativen Prädikate nicht von der Anwendung der Prädikate getrennt wird. Derartige Untersuchungen schaffen erst die Sprache, in der über die beobachteten Phänomene gesprochen wird. Sie zeichnen ein Bild ihres Gegenstandsbereichs, das anregend, aufschlussreich, „dicht“ und erhellend sein mag, aber es ist nicht möglich zu sagen, ob es „wahr“ ist.

PD Dr. Robert Kreitz – Uni Göttingen und Uni Gießen

Page 18: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Abstract Dresden – Michael Szurawitzki

Mundus linguisticus Finlandiae Germanicaeque - Eine kontrastive und diachrone Untersuchung der thematischen Einstiege deutscher und finnischer linguistischer

Zeitschriftenartikel 1897-2003

HintergrundIn meiner textlinguistischen Studie werden die Einleitungen deutscher und finnischer wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel kontrastiv und diachron untersucht (1987-2003). Deutsch war zu Beginn des Untersuchungszeitraumes die zentrale Welt-Wissenschaftssprache; dies gilt gerade für den Bereich der Philologie. Finnisch hatte sich zum selben Zeitpunkt gerade als eigenständige Wissenschaftssprache zu ,emanzipieren’ begonnen.Die thematischen Einstiege wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel belegen klar, welche Position die Autoren der jeweiligen Artikel in Bezug auf die Disziplin und andere Texte einnehmen. Thematische Einstiege, begriffen in einer kontrastiven rhetorischen Tradition (vgl. Swales 1981 und 2004), stellen eine eigene separierbare Einheit dar und können deswegen in den Fokus einer Analyse gestellt werden. Die Resultate einer ersten Analyse deuten darauf hin, dass gerade im Bereich der thematischen Einstiege wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel signifikante Entwicklungen zu beobachten sein werden. Funktional müssen thematische Einstiege in allen Artikeln vorhanden sein, nicht unbedingt hingegen auf der formalen Ebene, gerade wenn man in der Zeit zurückgeht. Aus den genannten Gründen lassen sich thematische Einstiege wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel sowohl kontrastiv als auch diachron analysieren.

Materialauswahl und KorpusUntersucht werden Artikel aus Zeitschriften, die in ihrem jeweiligen Land eine lange wissenschaftliche Tradition haben. Auf der deutschen Seite handelt es sich um die Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB), die seit 1878 erscheinen. Das entsprechende finnische Pendant bildet die Veröffentlichung Virittäjä, die seit 1897 erscheint. Beide Zeitschriften gehören zu den führenden (auch) linguistisch orientierten wissenschaftlichen Medien ihres jeweiligen Sprachraumes. Es werden inhaltlich linguistisch orientierte Artikel betrachtet, die jeweils von Muttersprachlern verfasst worden sind. Behandelt wird der Zeitraum 1897-2003, da so ab dem ersten Erscheinungsjahrgang des Virittäjä eine Analyse durchgeführt werden kann. Das Korpus (ca. 120 Artikel) liegt vor.

Das Korpus für die Studie ist wie folgt zusammengestellt worden: zunächst wurden vier Betrachtungspunkte ausgewählt, um ein verlässliches System für die diachrone Analyse zu gewährleisten. Das Ziel war, grob etwa gleich große Intervalle zwischen den betrachteten Perioden zu haben. Der erste ausgewählte Zeitraum ist mit 1897 am ersten Erscheinungsjahrgang der finnischen Zeitschrift Virittäjä orientiert. Pro Zeitpunkt sollten ca. 15 linguistische Artikel aus jeweils dem Virittäjä und den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) ausgewählt werden. Beide Publikationen waren/sind nicht allein auf Beiträge aus dem linguistischen Themenfeld beschränkt, so dass aufgrund des Titels und des jeweiligen Inhaltes der Beiträge eine thematische Selektion erfolgen musste. Somit enthalten die ersten Subkorpora Artikel, die zwischen 1897 und 1901 erschienen sind. Für die zweiten Subkorpora sollte gelten, dass die Nazizeit, d.h. 1933-1945, ausgespart werde, um keine Verzerrung des akademischen Duktus durch mögliche Instrumentalisierung der Sprache in Deutschland wie in Finnland (Finnland war in dieser Phase zeitweilig Verbündeter Deutschlands) in Kauf nehmen zu müssen. Dies bedeutet für den finnischen Teil des zweiten Subkorpus, dass Artikel aus dem Zeitraum 1927-1931 ausgewählt wurden, während für den deutschen Teil Artikel zwischen 1930 und 1931, einer scheinbar in Deutschland linguistisch produktiven Periode, selektiert wurden. Für die dritten Subkorpora stellt sich die Situation

Page 19: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

umgekehrt dar: die Virittäjä-Artikel kommen aus dem Zeitraum 1965-1966, während die PBB-Artikel aus den Jahren zwischen 1962 uns 1968 stammen. Die vierten und letzten Subkorpora der hier vorgestellten Untersuchung enthalten Virittäjä-Artikel aus den Jahren 2002-2003 und PBB-Artikel aus den Jahren 1997-2003.

Als Ausgangspunkt dient für meine Studie die kontrastive und diachrone Forschung Irena Vassilevas (2004) zu deutschen und bulgarischen wirtschaftswissenschaftlichen Artikeln. Vassileva betrachtet u.a. auch die Einleitungen der Artikel, kommt aber über ein einfaches Beschreibungsmodell (vgl. Vassileva 2004: 472-473) dieser nicht hinaus. Ein Modell wie das Vassilevas ließe sich nicht unmodifiziert auf meine Untersuchung übertragen, da es gerade umfangreicheren wissenschaftlichen Publikationen (in meinem Korpus sind Artikel von >100 Seiten enthalten) als Beschreibungsmodell nicht gerecht würde. Andererseits sind auch sehr kurze Artikel (ca. 1-2 S.) im Korpus vorhanden, so daß hier einerseits mit Vassilevas Frage nach der Orientierung des ersten Satzes (Vassileva 2004: 472-473) und Kirsten Adamziks Reflektionen zum Themasatz (Adamzik 2004: 130) gearbeitet werden muß, um gezielt eine adäquate Beschreibung vornehmen zu können. Angelehnt ist die hier durchzuführende Analyse an die Überlegungen Ken Hylands (2000), der in Anlehnung an Bhatia (1993: 22-34) folgendes Muster einer linguistischen Analyse von Texten zugrunde legt:

1. Placing the genre-text in a situational context in order to understand why the genre is conventionally written the way it is. 2. Surveying the existing literature for other perspectives and insights into the situated working of the genre and its conventional form. 3. Refining the situational/contextual analysis to more clearly identify the goals, participants, network of surrounding texts, and the extra-textual reality that the text is trying to represent. 4. Selecting an appropriate corpus to ensure that it is sufficiently representative of the focus genre to allow the research questions to be explored adequately. 5. Studying the institutional context in which the genre is used in order to better understand the implicit conventions most often followed by participants in that communicative situation. 6. Selecting one or more levels of analysis (lexico-grammatical, textualisation, move structure) to best address the motivating problem. 7. Obtaining information from specialist informants to confirm findings, validate insights, add psychological reality, and open areas of further exploration.

(Hyland 2000: 137)

Ein solches Modell trägt solchen Beobachtungen wie denen Flowerdews (2002) Rechnung, der feststellt, dass die moderne Forschung zum akademischen Diskurs immer ,tiefer’ gehe:

Work in academic discourse analysis has steadily become ’narrower and deeper’ (Swales, 1990:31) – narrower in the sense that it has focused on specific genres, and deeper in so far as it has sought to investigate communicative purposes, not just formal features.

(Flowerdew 2002: 2)

Hylands Analysemodell kann jedoch auf keinen Fall unmodifiziert übernommen werden. Vielmehr müsste – bei einem schon bestimmten Korpus - für jeden betrachteteten Zeitabschnitt zuerst (1.) der historische Kontext geklärt werden, um dann (2.) auf den situationellen Kontext der untersuchten Artikel wie Universitätsumfeld, Herausgeber etc. einzugehen. Ein dritter Schritt müsste den Diskurskontext im Sinne der thematischen Linie in der Forschungsdiskussion überblicken. Daraufhin muß (Schritt 4) eine Einbettung der Analyse der Einleitungen in die Schritte 1-3 erfolgen. Auf der Grundlage eines solchen Modells2 lassen sich dann Veränderungen zum Vorabschnitt beschreiben.

1 Flowerdews Anmerkung; vgl. Swales, John. 1990. Genre analysis: English in academic and research settings. Cambridge: Cambridge University Press. 2 Ein solches Modell geht konform mit der Forderung Ehlichs (1986: 68) nach konkreten Schritten, um sprachliches Handeln (hier: Texte, genauer wissenschaftliche Artikel) verstehen zu können: „Die Entwicklung von Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns ist nicht abstrakt, sondern nur in einem Wechselprozeß von Empirie mit linguistischer Theoriebildung möglich.“

Page 20: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

1

Interpretation in der Rechtswissenschaft.

Zwischen Textinterpretation und Dogmatik

Dr. Angelika Günzel, Akad. Rätin, Universität Trier

I. Begriff der Interpretation

In der Rechtswissenschaft versteht man unter Interpretation beziehungsweise Auslegung die Ermittlung des Inhalts und des Sinns von Rechtsnormen und Willenserklärungen. Dabei las-sen sich zwei große Bereiche der juristischen Auslegung unterscheiden: Die Auslegungsme-thoden, die daran anknüpfen, dass Rechtsnormen und Willenserklärungen verbale Äußerun-gen sind und deshalb eine gewisse Nähe zu Interpretationsmethoden der Literaturwissenschaft aufweisen, und solche, die auf dogmatische Grundsätze, also genuin juristische Erwägungen zurückzuführen sind. Im Rahmen der ersten Kategorie werden der engere und weitere ge-schichtliche Kontext (historische Auslegung), der Wortlaut, die Semantik (grammatische Aus-legung), die systematische Stellung (systematische Auslegung) und schließlich Sinn und Zweck des juristischen Textes (teleologische Auslegung) herangezogen. Der zweiten Katego-rie lassen sich hingegen die verfassungskonforme und die europarechtskonforme Auslegung einer Rechtsnorm zuordnen, da das Ziel, eine Rechtsnorm bei mehreren möglichen Interpreta-tionen so auszulegen, dass sie mit dem höherrangigen Recht vereinbar ist, nur mit Blick auf die juristische Lehre von der Normenhierarchie verständlich wird.

II. Interpretationsgegenstand

Wie jede Wissenschaft beeinflusst auch die Rechtswissenschaft ihren Interpretationsgegen-stand und seine Wahrnehmung nicht nur durch die Art der Erkenntnisfrage, sondern bereits dadurch, dass sie ihn in einen bestimmten Kontext stellt beziehungsweise ihn aus diesem löst. Sie geht aber - insbesondere im Vergleich zu den Naturwissenschaften - insofern noch dar-über hinaus, als dass ihr Hauptinterpretationsgegenstand, die Rechtsnorm, bereits nach ihren Regeln geschaffen wurde. Damit wohnt der juristischen Interpretation eine besondere Nei-gung zur Selbstreferenz inne.

III. Grenzen der Interpretation

Die Interpretation stößt in der Rechtswissenschaft an zahlreiche Grenzen: Grenzen aufgrund der Natur der Rechtswissenschaft, selbst gesetzte, also rechtliche Grenzen und schließlich an Grenzen der (menschlichen) Erkenntnis.

1. Natur der Rechtswissenschaft beziehungsweise des Rechts

Der Anwendungsbereich der juristischen Interpretationsgrundsätze wird wie derjenige der Rechtswissenschaft selbst zunächst durch die Bindung des Rechts an einen Staat beziehungs-weise ein bestimmtes Rechtssubjekt determiniert. So weichen die Auslegungsgrundsätze des deutschen Rechts von denjenigen anderer Staaten, die z.B. dem anglo-amerikanischen oder romanischen Rechtskreis angehören, oder auch von denjenigen des Europarechts deutlich ab. Ferner sind innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft die Auffassungen über die Ausle-gungsmethoden und ihr Verhältnis zueinander nicht statisch, sondern zeitgebunden. Letzteres umfasst auch die Abhängigkeit der Auslegungsmethoden von dem jeweils herrschenden poli-tischen System. Auslegung ist damit zum Teil auch ein politisches Instrument.

Page 21: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

2

2. Rechtliche Grenzen

Rechtstechnisch gesehen, ist die Grenze der Auslegung, wie bei jeder Textinterpretation, der mögliche Wortsinn des (Gesetzes)Textes. Bei der Auslegung durch den Richter besteht eine weitere, durch das Recht selbst gesetzte Grenze darin, dass der Richter durch das Grundgesetz nicht nur an die Gesetze, sondern auch an das „Recht“, also an eine letztlich dem gesetzten Recht voraus liegende Idee der Gerechtigkeit, gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Dementspre-chend muss ein Richter ein Gesetz zunächst nicht anwenden, wenn es aus seiner Sicht nicht so ausgelegt werden kann, dass es mit der Verfassung vereinbar ist. Die Grenze der Auslegung ist also die Verfassung und letztlich die Idee der Gerechtigkeit. Für den Gesetzgeber besteht die Grenze der Auslegung in der „verfassungsmäßigen Ordnung“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, also insbesondere in den durch die Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) besonders ge-schützten Grundsätzen wie z.B. der Menschenwürde und den Grundrechten.

3. Grenzen der Erkenntnis

Unter dem Begriff der Grenzen der Erkenntnis lassen sich Fragestellungen zusammenfassen, die sich auf die eingeschränkte beziehungsweise fehlende Fähigkeit des Menschen zu Objek-tivität zurückführen lassen. So ist bereits dem Interpretationsgegenstand – sei es ein Gesetz oder eine Willenserklärung – ein gewisser Mangel an Objektivität zu attestieren. Wie bei je-dem Text spielt auch hier das Vorverständnis des Lesers, insbesondere das sprachliche und das juristische, aber auch das geschichtliche, eine große Rolle. Dementsprechend kann stel-lenweise bereits dieses erste Verständnis einer Norm als Interpretation eingeordnet werden, eine Interpretation, die häufig nicht als solche bezeichnet wird und derer sich der Leser häufig gar nicht bewusst ist. Beim eigentlichen Interpretationsakt kommt der individuellen Person des Interpreten besonde-re Bedeutung zu. Dies liegt zunächst an den Unwägbarkeiten der einzelnen Interpretationsme-thoden, die zum Beispiel bei der Ermittlung des Wortsinns und damit der Festlegung der Grenze der Auslegung oder der Bestimmung der Quelle für die Ermittlung von Sinn und Zweck einer Norm bestehen. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Auslegungsmethoden – im Rahmen des möglichen Wortsinns – grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bei der Anwendung der Auslegungsmethoden auf den konkreten Fall und bei der notwendi-gen Gewichtung der einzelnen Auslegungsergebnisse fließen nicht nur das Wertesystem des Interpreten, seine Religiosität oder Areligiosität, seine Positionierung in der Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Naturrechtslehre und der Lehre vom Rechtspositivismus, seine poli-tischen und gesellschaftlichen Ansichten ein, sondern auch seine persönlichen Erfahrungen, seine Lebensgeschichte. Nach Ansicht der feministischen Rechtswissenschaft spielt schließ-lich auch das Geschlecht des Interpreten hier eine Rolle.

IV. Stellenwert und Thematisierung der Interpretation im wissenschaftlichen Diskurs

Trotz dieser Unsicherheiten kommt der Interpretation in der Rechtswissenschaft eine große Bedeutung zu. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass für diese Wissenschaft andere Erkenntnisquellen – wie z.B. Datenerhebungen, Experimente – nicht zur Verfügung stehen. Umso mehr erstaunt es, dass die Interpretation nicht im Zentrum des wissenschaftlichen Dis-kurses der Rechtswissenschaft steht. Sie gilt vielmehr als Instrument, Hilfsmittel, das be-herrscht werden muss, jedoch für sich allein nicht den Kern der Auseinandersetzung darstellt. Fragen der Interpretation werden vielmehr primär im Zusammenhang mit Einzelfragen zum Verständnis einer bestimmten Norm oder einer konkreten Willenserklärung erörtert. Ein Grund hierfür mag eine gewisse Scheu sein, die wesentliche Erkenntnisquelle der Rechtswis-senschaft in Frage zu stellen, ohne eine Alternative zu dieser zu haben.

Page 22: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Interpretation und EntscheidungBenjamin Lahusen

Seit etwa einem halben Jahrhundert ist die Geburt einer juristischen Spezialdisziplin für Inter-pretationsfragen abgeschlossen. Die essentielle Bedeutung des Interpretationsproblems frei-lich war schon lange vorher virulent; nach dem Abschied vom Naturrecht und den Versuchen, das Recht einer Gesellschaft in Gesetzbüchern zu kodifizieren, ist die Frage, wie der Richter die legislativen Vorgaben umsetzt, eine der meisterörterten der Rechtswissenschaft. Mit der Ausbreitung rechtstaatlicher Strukturen und der Ausdifferenzierung eines von allen politi-schen Einflüssen unabhängigen Entscheidungsapparates in Form der Gerichte mußte durch eine leistungsstarke Interpretationslehre gewährleistet werden, daß die Urteiler und Entschei-der das ihnen vorgesetzte Recht auch tatsächlich anwenden, und nicht etwa nach eigenem Gutdünken neues erfinden.Interpretation meint demnach ein Verfahren zur Ermittlung des Sinns eines Gesetzestextes; angeleitet wird es durch die sogenannten canones der Auslegung, klassischerweise also Gram-matik und Logik, die seit Savigny beständig angereichert, verfeinert und erweitert wurden. Ihre Ergebnisse kommen überwiegend rational und objektiv nachprüfbar zustande, auch wenn sich letzte Reste subjektiver Ermessensausübung nie ganz ausschließen lassen. In jedem Falle finden sie eine intersubjektiv nachvollziehbare Grenze im noch möglichen Wortsinn. Wo die-ser überschritten ist, betreibt der Richter nicht Rechtsanwendung sondern -fortbildung, die un-ter besonderen Legitimationsanforderungen steht. Auf diese Weise bleiben die Gewaltentei-lung und die Bindung des Richters an Gesetz und Recht gewährleistet (Art. 20 III, Art. 97 I GG). In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Ele-mente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen.“ (BVerfGE 34, 269, 287 – Soraya).Funktioniert hat dieses Modell so noch nie. Die Gesetzesbindung der Richter, gestützt auf eine Methodenlehre, die ihre Auslegungstätigkeit in stabilen Grenzen hält, ist eine politische Fiktion, deren juristische Unmöglichkeit schon zu Zeiten der großen Kodifikationen längst durchschaut war. In der Folge führten vor allem sprachphilosophische, hermeneutische, und epistemologische Einsichten dazu, daß der klassischen Auslegungslehre der Tod bescheinigt werden mußte. Erforderlich war diese außerjuristische Expertise nicht. Schon die Struktur des Rechts, welche die Gerichte zwingt, jeden Fall zu entscheiden, obwohl bekannt ist, daß sich die Mannigfaltig-keit des Lebens nicht in Gesetzesform gießen läßt, steht einer Auslegungslehre, die sich allei-ne auf den Sinn von Texten stützen könnte, im Wege. Davon abgesehen hat sich die Vorstel-lung eines kohärenten Rechtstextes, der der Auslegung ein Ziel böte, durch die Digitalisierung und Globalisierung juristischer Argumente in Luft aufgelöst. Bedeutungsmangel ist denn auch nicht das Grundproblem einer juristischen Methodenlehre, sondern beständiger Bedeutungs-überschuß, der reduziert werden muß, um Handlungsfähigkeit zu erhalten. Wortsinngrenzen und andere rechtsdogmatische Fiktionen werden allenfalls hilfreich, sobald es darum geht, die getroffene Entscheidung als „juristisch“ darzustellen.In dieser Sachlage ist es nicht ganz einfach, Grenzen der Interpretation anzugeben. Am erfolg-versprechendsten sind derzeit Versuche, mit dem Begriff des Netzwerks die traditionelle Vor-stellungen von Linearität und Kausalität endgültig zu verabschieden; die Kunst der Rechtsan-wendung besteht dann darin, ein hypertextuell organisiertes Argumentationsnetz in jedem Einzelfall so zusammenzusetzen, daß im Hinblick auf bereits getroffene Entscheidungen Ko-härenz und im Hinblick auf noch zu treffende Entscheidungen Anschlußfähigkeit hergestellt

Page 23: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

wird. Ob man diese Tätigkeit noch mit der Bezeichnung „Interpretation“ versehen will, ist prinzipiell gleichgültig; die philologischen Assoziationen, die damit geweckt werden, spre-chen eher dagegen. Aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge dürfte derzeit der Begriff der Performanz sein.Die Fülle der Literatur zum Thema ist mittlerweile unübersehbar geworden. Juristisch opera-bel ist keine der angebotenen Lösungen. Insofern überrascht es nicht, daß die neuere Metho-denlehre in der Rechtspraxis gar nicht, die ältere überwiegend in Form rhetorischer Bekennt-nisse wahrgenommen wurde. Von der Vorstellung einer rechtswissenschaftlichen Interpretati-onslehre, welche die Praxis anleiten und nennenswert beeinflussen könnte, muß man sich wohl verabschieden. Mehr als eine angemessene Beschreibung dessen, was Gerichte tun, ist derzeit nicht zu haben.

Page 24: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

Der Sinn Religiöser Musik und die Rolle von Mr. X(Christoph Stange)

1. Die Notwendigkeit, neue Sinnbezüge herzustellen2. Mögliche Sinnkategorien am Beispiel Religiöser Musik3. Ästhetische Erfahrungen eröffnen neue Lebensmöglichkeiten4. Mr. X als Experte und Regulator

1. Die Notwendigkeit, neue Sinnbezüge herzustellen

Die Notwendigkeit einer gelungenen Interpretation leuchtet im Falle der Musik sofort ein. Unwillkürlich denkt man an Livedarbietungen von Musik; die Qualität einer Aufführung wird dabei nicht zuletzt anhand der Qualität der Interpretation beurteilt. Gelungene Interpretationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Sache angemessen sind und von vielen verstanden werden.Eine Interpretation im Sinne einer Bedeutungszuweisung findet jedoch nicht nur auf der performativen Ebene statt, sondern auch im alltäglichen Umgang mit Musik: (Fast) jeder umgibt sich mit Musik, misst ihr Bedeutung für das eigene Leben bei und kleidet sie auf diese Weise in ein Netz von Sinnbezügen. Sie sind oftmals Teil des eigenen Lebensentwurfes und deshalb auch nur schwer zu ändern. Musikalische Bildung aber zielt darauf ab, an viele Kulturen anschlussfähig zu werden, sich also neue Musiken anzueignen. Die Voraussetzung dafür ist das Aufbrechen der gewohnten Deutungsmuster.Schließlich ist es die Musik selbst, die immer wieder neue Deutungen einfordert. (Ott 1991, 118): Man kann „Kunst nicht nur unterschiedlich interpretieren [...], sondern [...] sie [hat] ihren Existenzgrund darin [...], unterschiedliche Interpretationen auszulösen: Sie ist sozusagen dazu da, nicht eindeutig verstanden zu werden.“ – Musik soll folglich „immer wieder anders gehört, erlebt und interpretiert werden.“

2. Mögliche Sinnkategorien am Beispiel Religiöser Musik

Am Beispiel Religiöser Musik kann gezeigt werden, dass eine Interpretation, die sich ausschließlich an der ursprünglichen Intention einer Musik orientiert, das Ziel musikalischer Bildung völlig verfehlen kann. Die Grundlage dieser Argumentation bildet ein Sinnmodell, das von der Zweiteilung in Praktischen und Existenziellen Sinn ausgeht. Der Praktische Sinn zielt dabei auf die konkrete Handlung im Hier und Jetzt, während der Existenzielle Sinn auf die grundlegenden Richtungen im Leben zielt. Religiöser Musik kommt nun ihrer Intention nach die Aufgabe zu, Religiösen Sinn (als einer Spielart Existenziellen Sinns) entstehen zu lassen. Dieser Sinn ergibt sich wesentlich vor dem Hintergrund eines an eine Religion angebundenen Deutungshintergrundes und gebraucht die Musik nur für diesen Zweck. Das aber steht im Widerspruch zum Wesen der Musik, zu ihrer Deutungsoffenheit.

3. Ästhetische Erfahrungen eröffnen neue Lebensmöglichkeiten

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, offene Deutungen auch bei funktional gebundener Musik, wie Religiöse Musik sie ist, zu ermöglichen. Nur aus dieser Offenheit heraus, die das probeweise Einnehmen verschiedener Standpunkte einschließt, kann eine Beziehung zwischen Mensch und Musik entstehen. Ein gelungener Wahrnehmungsvollzug um seiner selbst willen lässt sich als ästhetische Erfahrung bezeichnen. Ihr Zustandekommen hängt von der Relation zwischen Mensch und Musik ab, also sowohl vom Gegenstand selbst als auch vom Standpunkt des Menschen. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich im Sinne

Page 25: Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. In: Ders ......interessieren sich diese im Prinzip für ‚alles’ (Texte, Handlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, verrückte Gedanken…),

musikalischer Bildung neue Lebensmöglichkeiten ergeben, sich also die grundlegenden Lebensrichtungen (geringfügig) ändern.

4. Mr. X als Experte und Regulator

Um ästhetische Erfahrungen machen zu können, bedarf es gegebenenfalls der Beratung durch einen Experten, wie das zu bewerkstelligen ist. Er ist aber auch notwendig, um willkürlichen Sinnzuweisungen, die der Musik nicht angemessen sind, vorzubeugen. Ich nenne ihn Mr. X, denn seine Position kann durch verschiedene Personen ausgefüllt sein. Bei Musiken der Jugendkulturen sind die Schüler die Experten, und so können sie folglich auch in die Rolle von Mr. X schlüpfen. In anderen Fällen kann dieser Part durch den Lehrer übernommen werden. Hilfreich kann es aber auch sein, andere Rezipienten sowie Produzenten oder Reproduzenten von Musik zu befragen – sei es live oder mit Hilfe von Quellen. Auf diese Weise lässt sich auch eine gelungene performative Interpretation sichern.