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Michael Baurmann Zweckrationalität und Strafrecht Argumente für ein tatbezogenesMaßnahmerecht Westdeutscher Verlag

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Michael Baurmann

Zweckrationalitätund Strafrecht

Argumente für ein tatbezogenesMaßnahmerecht

Westdeutscher Verlag

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Baunnann, Michael:

Zweckrationalität und Strafrecht: Argumente für

e. tatbezogenesMaßnahmerecht/Michael Baurmann.

- Opladen: Westdeutscher Verlag, 1987.ISBN 3-531-11807-2

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

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ISBN 3-531-11807-2

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung , .

EinleitungAbsolute und relative Straftheorien .

Normen und Fakten , .

ERSTER ABSCHNITTZweckrationalität und Freiheit

Führt die Orientierungan spezialpräventivenZielen zuManipulationund Kontrolle?

Schuldstrafrechtund interpersonalesHandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

MaßnahmerechtundmanipulativesHandeln ,......................

1. Die Zwei-Welten-Lehre und das dualistische Menschenbild

1.1 Kants Unterscheidung zwischen empirischem undmoralischem Subjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .DasDilemmaderZwei-Welten-Lehre ............................

Habermas' Unterscheidung zwischen zweckrationalemund verständigungs orientiertem Handeln1.3.1 EinehandlungstheoretischeVersionder Zwei-Welten-Lehre .........1.3.2 Die Theorie kommunikativen Handeins .........................

1.2

1.3

1.4 Die Zweckrationalität verständigungsorientierten Handeins1.4.1 Verständigung als Zweck und Zwecke der Verständigung ............1.4.2 ZweckrationalesundzielgerichtetesHandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.4.3 Die Grenzender Verständigung ...............................

2. Das Interpersonalitätsprinzip2.1 Innere und äußere Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2 Willensfreiheit in einer deterministischen Welt

2.2.1 Selbsterkenntnisund Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2.2.2 Die Struktur der Willensbildung

1. Unmittelbares und mittelbares Selbstbewußtsein .................H. Epistemischer, evaluativer und voluntativer Selbstbezug .,........

1

317

25

27

33

42

5153

566166

71

74

7782

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VI Inhaltsverzeichnis

2.3 Das Interpersonalitätsprinzip auf nicht-dualistischer Grundlage

2.3.1 Autonome und heteronome Kontrolle über die Willensbildung 89

2.3.2 Der Begriff manipulativen HandeinsI. Beispiele fürmanipulatives Handeln 94H. Durchschlagende Mittel und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 96IH. Die asymmetrische Wissenssituation 99IV. Ist das Abgrenzungskriterium hinreichend und notwendig? 104V. Externe und interne, ausschlaggebendeund unerhebliche Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109

VI. Eine Charakterisierung manipulativen Handeins 117

2.3.3 Probleme bei der Verwirklichung des InterpersonalitätsprinzipI Die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Wissens -Experten und Laien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 119H. Die ungleiche Verteilung externerInformationen 120IH. Die ungleiche Verteilung interner Informationen 124

2.3.4 Zweckrationales und interpersonales HandelnI. Die Vereinbarkeit von zweckrationalem

undinterpersonalemHandeln 127H. Die Wirksamkeitinterpersonalen Handelns 129III. Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135

2.3.5 Das teleologische Kriterium für Verantwortung 1382.3.6 Zweckrationalität und moralische Praxis 143

3. Die Praxis interpersonalen Handeins3.1 Zweck rationalität und Gefühle - Strawsons

Unterscheidung zwischen objektiven und reaktiven Einstellunge n 145

Eine dualistische Konzeption der moralischen Praxis. . . . . . . . . . . . . . .. 151

Ein nicht-dualistischer Bezugsrahmen interpersonalenHandelns-ausdrucks-undwirkungsorientiertesHandeln 155RechtundMoralohneEmotionen? 161

DiefolgenorientierteFundierungreaktiverHandlungen 162

Ein rationales Argument für Irrationalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 167

3.23.3

3.43.5

3.6

4. Einsicht in die Notwendigkeit und die BeziehungzwischenFreiheit und Mißerfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 173

ZWEITER ABSCHNITT

Zweckrationalität und VerantwortungBedroht die Orientierungan generalpräventivenZielen das Prinzipder individuellenZurechnung strafbarerHandlungen?

Schuldstrafrecht und der Schutz des Unschuldigen vor Strafe . . . . . . . . . . . . . . . .. 181

1. Die Rechtfertigung des strafrechtlichen VerantwortungsprinzipsaufderGrundlagedesVergeltungsprinzips 185

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I nhal tsv erzeich nis VII

2. Die Rechtfertigung des strafrechtlichen Verantwortungsprinzipsauf der Grundlage des Utilitätsprinzips2.1 Der Ansatz von Bentham - DiePriorität der Prävention. . . . . . . . . . . . .. 191

2.2 Der Nachvollzug von Benthams Argumenten in derdeutschen Rechtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196

Die Kritik an dem Ansatz von Bentham 198

Der Ansatz eines qualifizierten Utilitarismus -Die Priorität des gesellschaftlichen Nutzens2.4.1 Die handlungsutilitaristischeRechtfertigung des strafrechtlichen

Verantwortungsprinzips 2022.4.2 Die regelutilitaristischeRechtfertigung des strafrechtlichen

Verantwortungsprinzips 207

Die Kritikan dem Ansatz einesqualifiziertenUtilitarismus. . . . . . . . . .. 213

2.3.

2.4

2.5

3. Die Rechtfertigung des strafrechtlichen Verantwortungsprinzipsauf der Grundlage von Gerechtigkeitsprinzipien3.1 Der Ansatz von Hart- Die Priorität der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223

3.2 Die Kritik an dem Ansatz von Hart 226

3.3 Der Ansatz der Vertragstheorie - Die Priorität desindividuellen Nutzens

3.3.1 Die MinimalversioneinerVertragstheorie 2303.3.2 Die vertragstheoretischeRechtfertigung des strafrechtlichen

Verantwortungsprinzips 233

DRITTER ABSCHNITT

Zweckrationalität und VerhäItnismäßigkeit

Ist eine Folgenorientierung des Kriminalrechts unvereinbarmit dem bestehenden Straftatsystem und seiner Dogmatik?

1. SchuldalsKriteriumfürVerhäItnismäßigkeit 253

2. Die semantischeUnbestimmtheitdesSchuldbegriffs 259

3. Der Schuldbegriff als Grundlage der strafrechtlichen Zurechnung

3.1 DerSchuldbegriffimweiteren und engeren Sinn 265

3.2 Schuldprinzip und fragmentarischer Charakterdes Strafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 265

SchwerederSchuldundWertdesRechtsguts 269

Schuldprinzip und Tatbezogenheit 274

Vorsatz und Fahrlässigkeit 278Rücktritt vom Versuch 280

3.3

3.4

3.5

3.6

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VIII Inhaltsverzeichnis

3.7 Rückfall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 282

3.8 Zumutbarkeit , 284

3.9 Verbotsirrtum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 285

3.10 Zurechnungsfähigkeit3.10.1 Der Schuldvorwurfals,staatsnotwendigeFiktion' , 2873.10.2 Motivierbarkeit durch Strafe und normative

Ansprechbarkeit , 2913.10.3 Unzurechnungsfähigkeit und verminderte

Zurechnungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 295

4. Straftatsystem und Dogmatik in einem tatbezogenenMaßnahmerecht , 301

Literaturverzeichnis , 305

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Vorbemerkung

Es gibt in der Strafrechts wissenschaft die Tradition und auch vielleicht dieNotwendigkeit, bestimmte Fragestellungen und Probleme mit Hilfe andererDisziplinen zu bearbeiten und zu lösen. Das nützt der Rechtswissenschaft, er-möglicht aber auch diesen anderen Disziplinen einen Zugang zur Praxis undpraktischen Wirksamkeit, den viele von ihnen sonst kaum erhalten könnten -das gilt insbesondere für philosophische Theorien. Ich möchte hier versuchen,an diese Tradition anzuknüpfen und werde im folgenden einige Schnittpunkteder Strafrechtswissenschaft mit Themen der Philosophie und Sozialwissen-schaft zum Gegenstand der Untersuchung machen. In diesem Zusammenhanggeht es mir auch um den Nachweis, daß die modernen Ansätze in der analytischorientierten Sozialphilosophie und Ethik nicht zwangsläufig sozialtechnologi-sche und behavioristische Konzeptionen favorisieren müssen und daß Argu-mente für Freiheit und Gerechtigkeit keine Domäne der traditionellen Philo-sophie sind, die vor allem in der deutschen Rechtswissenschaft oft immer nochals einzige Partnerin akzeptiert wird.

Der Versuch, interdisziplinär zu arbeiten, ist von zahlreichen Gefahren be-droht, eine davon hängt zusammen mit der ungemütlichen Alternative, entwe-der von den Vertretern der jeweiligen Einzeldisziplin den Vorwurf zu hören,man habe sich in ihrem Fach nur dilettantisch und amateurhaft bewegt oderaber - wenn man diesem Vorwurf glücklich entgangen sein sollte - auf Ver-ständnislosigkeit und Langeweile zu stoßen, wenn die jeweils fremde Thema-tik behandelt wird. Nun kann man zwar nicht beiden Alternativen entgehen,aber man hat eine faire Chance, von beiden betroffen zu werden. So könnte esam Ende dieser Untersuchung gut sein, daß sich der Jurist herzhaft gelangweilthat, der Philosoph die Argumentation oberflächlich fand und der Sozialwis-senschaftler sich schließlich nach dem Ertrag der ganzen Anstrengung fragt.

Wie dies für den Leser auch immer ausgehen mag, als Autor habe ich dasBedürfnis, mich bei den Personen zu bedanken, die zum Entstehen dieser Ab-handlung beigetragen haben. An erster Stelle möchte ich hier die Mitgliederdes Instituts für Kriminalwissenschaften am Fachbereich Rechtswissenschaf-ten der Universität Frankfurt nennen, von denen ich im Laufe der Jahre vor al-lem auch durch die Teilnahme an einem gemeinsamen Kolloquium mehr überdie Probleme des Strafrechts gelernt habe als es durch konkrete Hinweise imeinzelnen zum Ausdruck kommen konnte. Viele Freunde und Kollegen habenmir darüber hinaus durch Diskussion und sachliche Hinweise helfen können.Namentlich erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang Norbert Hoer-ster, Hartmut Kliemt, Wolfgang R. Köhler, Lothar Kuhlen und Cornelius

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2 Vorbemerkung

Prittwitz. Eine besondere Mitverantwortung trifft meine langjährigen Freundeund Diskussionspartner Anton Leist, Martin Löw-Beer und Dieter Mans, diemich in meinem Denken wesentlich beeinflußt haben. Ohne die über vieleJahre andauernde persönliche Förderung durch Klaus Lüderssen aber wäredieses Buch nicht in dieser Form und ohne sein Beispiel einer rationalen Aus-einandersetzung mit Problemen des Strafrechts nicht mit diesem Inhalt ge-schrieben worden. Der Verwertungsgesellschaft Wort schließlich danke ichdafür, daß sie mir finanzielle Hilfestellung bei der Drucklegung leistete.

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Einleitung

Absolute und relative Straf theorien

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit diekriminalrechtlichen Institutionen in einer Gesellschaft als rational geplanteMittel zur Realisierung gesellschaftlicher Zwecke verstanden werden können.Diese Formulierung enthält zwei unterschiedliche Gesichtspunkte: Einerseitsdie empirische Frage, inwieweit die bestehenden Institutionen zweckrationalgeplante Mittel sind, andererseits die normative Frage, inwieweit sie zweckra-tional geplante Mittel sein sollen. Im folgenden wird dieser zweite Aspekt imVordergrund stehen, d. h. ich werde vor allem untersuchen, ob eine zweckra-tionale Planung gesellschaftlicher Institutionen im Bereich des Kriminalrechtswünschenswert und gerechtfertigt sein kann. Es geht um die Entwicklung einesnormativen Modells, das klären soll, unter welchen ethischen und empirischenPrämissen eine Zweckorientierung kriminalrechtlicher Institutionen akzepta-bel oder sogar geboten ist. Ich werde mich auf diese normativen Fragen abernicht beschränken. Darüber hinaus wird es mir zumindest ansatzweise um ei-nen Vergleich zwischen normativen Modellen und realen Sachverhalten ge-hen, denn wir dürfen normative Modelle nicht in einem wirklichkeitsfremdenRaum konstruieren.

Historisch liegt der Fragestellung dieser Abhandlung die Unterscheidungzwischen absoluten und relativen Straf theorien zugrunde. Diese Unterschei-dung entsprach einem eindeutigen Frontverlauf in der strafrechtswissenschaft-lichen Diskussion; heute können mit ihr - unter dem Gesichtspunkt der Klar-heit und Oberschaubarkeit: leider - die kontroversen Positionen allerdingsnicht mehr so ohne weiteres identifiziert werden.

Mit absoluten Straf theorien verbindet man die Position - am prägnantestenformuliert bei Kant und Hegel -, daß der Sinn und die Gerechtigkeit staatli-chen Strafens allein in den Prinzipien der Schuldvergeltung und Sühne zu se-hen ist, unabhängig davon, welche Folgen und welchen Nutzen die Institutiondes Strafrechts und die Maßnahme der Strafverhängung für die Gesellschaft imganzen und den einzelnen Betroffenen haben. Absolute Straftheorien könnendurch den ,Blick zurück', durch den ausschließlichen Bezug auf die in der Ver-gangenheit liegende Tat charakterisiert werden: in dieser Vergangenheit suchtman den Grund, den Anlaß und das Maß der Strafe. Die Zukunft, die Folgender Strafe, ihre möglichen general- und spezialpräventiven Wirkungen interes-sieren absolute Straftheorien nicht.

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4 Einleitung

Relative Straf theorien gründen sich auf das entgegengesetzte Interesse. Siesind nicht auf eine unwiederholbare und unkorrigierbare Vergangenheit ge-richtet, sondern auf die Zukunft und damit auf die empirischen Wirkungen desStrafrechts und der Strafverhängung und ihren Nutzen für die Gesellschaft undden einzelnen. Nur im Hinblick auf die tatsächlich feststellbaren Folgen er-scheint es relativen Straf theorien möglich, das Strafrecht als Institution und dieStrafverhängung im Einzelfall zu rechtfertigen. Vertreter von relativen Straf-theorien - zu ihren klassischen Protagonisten gehören Bentham und v. Liszt-empfinden ein großes Unbehagen angesichts einer staatlichen Institution, diedas Unrecht und den Schaden, die durch rechtswidrige Handlungen herbeige-führt werden, durch neuerliches Leid und damit eine Vergrößerung des Scha-dens im Namen einer ideellen Gerechtigkeit tilgen soll.

Man hat versucht, diese beiden Theorien auch dadurch zu charakterisierenund zu unterscheiden, daß man die absoluten Straftheorien mit dem Strebennach Gerechtigkeit und die relativen Straf theorien mit dem Streben nach Nütz-lichkeit identifizierte. Dieser Versuch ist aber oberflächlich und je nach Stand-punkt nur polemisch, denn er setzt bestimmte Definitionen für Gerechtigkeitbzw. Nützlichkeit bereits voraus. Die tieferliegenden Fragen hinter den kon-kurrierenden Straftheorien berühren aber gerade die Angemessenheit dieserDefinitionen und ziehen damit das Verhältnis zwischen den Prinzipien der Ge-rechtigkeit und Nützlichkeit mit in die Kontroverse. Den extremen Versionender jeweiligen Straf theorien entsprechen demnach auch extreme Annahmenüber das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Nützlichkeit: Für den ortho-doxen Anhänger einer idealistischen Philosophie sind Fragen der Gerechtig-keit vollständig unabhängig von denen der Nützlichkeit, während sich bei radi-kalen Versionen des Utilitarismus Fragen der Gerechtigkeit umstandslos aufsolche der Nützlichkeit reduzieren.

Anhand der klassischen Unterscheidung zwischen absoluten und relativenStraf theorien kann man sehen, daß die Frage nach der Legitimationsbasis ei-nes zweckrational geplanten Strafrechts präziser formuliert werden muß, umeine trennscharfe Alternative zu erhalten. Gemäß einer beiläufigen Verwen-dung des Begriffs der Zweckrationalität könnte man nämlich sowohl die relati-ven als auch die absoluten Straftheorien mit einer zweckrationalen Interpreta-tion strafrechtlicher Institutionen verknüpfen: Für die absoluten Straf theorienwürde man dementsprechend reklamieren, daß für sie das Strafrecht und dieStrafverhängung Mittel darstellen, um den allein legitimen Zweck der Strafe,die Vergeltung für die Schuld des Rechtsbrechers, zu realisieren. Insofernkönnte man die üblicherweise auf die relativen Straftheorien gemünzte Be-zeichnung als ,Zwecktheorie' auch für absolute Theorien verwenden.

Einige Autoren haben die Beschränkung des Begriffs ,Zwecktheorie' aufdie relativen Straftheorien damit begründet, daß es im Fall der präventivenStraftheorien um ,irdische' , empirisch beschreibbare Sachverhalte als Zweckeder Strafe geht (z. B. ein gesellschaftlicher Zustand, bei dem rechtswidrigesVerhalten in bestimmten Grenzen gehalten wird), im Fall der absoluten Theo-

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Einleitung 5

rien dagegen um ,metaphysische', nicht-empirische Verhältnisse (,Schuldaus-gleich'), die nur in einem spekulativ-idealistischen Sinn als Zweck postuliertwerden könnten. Diese Abgrenzung ist aber nicht ganz treffend, denn auch fürden Zweck ,Schuldausgleich' läßt sich ein empirisch beschreibbarer Sachver-halt angeben, der einer Realisierung dieses Zwecks entspricht (etwa die Ver-hängung von Strafen gegen alle gefaßten Rechtsbrecher gemäß einem auf demVergeltungsprinzip beruhenden Strafrecht). Es spricht prima facie nichts da-gegen, daß sich auch das Programm der absoluten Straf theorie in die Beschrei-bung eines gesellschaftlichen Zustands übersetzen läßt, der durch die Verwirk-lichung dieses Programms herbeigeführt werden soll (das sieht man ja schon andem vielzitierten Inselbeispiel von Kant). Andererseits geht es auch bei prä-ventiv orientierten Straf theorien nicht allein um eine Realisierung präventiverZiele, sondern ebenfalls um das Problem, daß diese Ziele im Einklang mit denGeboten der Gerechtigkeit verwirklicht werden sollen, womit sich das ,Be-schreibungsproblem' im Hinblick auf den gewünschten gesellschaftlichen Zu-stand erheblich verkompliziert.

Der entscheidende Unterschied zwischen absoluten und relativen Straf-theorien scheint mir deshalb nicht darin zu bestehen, daß die Absichten der ei-nen in einem unrealen, metaphysischen Ziel münden und die der anderen ineinem ,handfesten' und ,greifbaren', sondern darin, daß bei ihnen ein jeweilsspezifisches Verhältnis zwischen Mittel und Zweck vorliegt, genauer gesagt:daß bei ihnen die Strafe als Mittel zu dem Zweck, den sie realisieren soll, in ei-ner jeweils unterschiedlichen Beziehung steht. Bei den relativen Straf theorienist die Strafverhängung das Mittel für einen von ihr unabhängig beschreibba-ren Zweck: die Prävention von strafbaren Handlungen. Die Strafe ist in diesemFall als Mittel gerechtfertigt, weil sie bestimmte kausale Wirkungen, be-stimmte empirische Folgen hat, die mit dem Vorgang der Strafverhängung unddes Strafvollzuges nicht identisch sind.

Im Rahmen der absoluten Straf theorien dagegen verschmilzt im Begriffder Vergeltung die Strafe als Mittel mit ihrem Zweck: die Strafe ist hier Zweckin sich selbst. Der Zweck der gerechten Vergeltung wird nicht durch die kausa-len Wirkungen und empirischen Folgen der Strafe realisiert, sondern die ge-rechte Vergeltung besteht aus dem Vorgang der Strafverhängung und desStrafvollzuges und ist durch diesen Vorgang als Zweck verwirklicht, unabhän-gig davon, welche Auswirkungen und Folgen dieser Vorgang haben wird. DasZweck -Mittel Verhältnis ist bei einer absoluten Straftheorie also keine empiri-sche Verknüpfung, sondern eine analytische. Die Strafe ist als Mittel zur ge-rechten Vergeltung nicht deshalb erfolgreich, weil sie bestimmte Wirkungenhat, sondern sie ist erfolgreich, weil sie in einer nicht-empirischen und damitdurch Fakten nicht gefährdeten Beziehung zu einer gerechten Vergeltungsteht: Die Strafe ist nach diesem Verständnis aufgrund ihrer Bedeutung iden-tisch mit dem Zweck, den sie realisieren soll.

Auf der Grundlage dieser Klärung können wir unsere Fragestellung jetztpräzisieren. Wenn wir uns im folgenden mit dem Problem beschäftigen wer-

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6 Einleitung

den, ob die kriminalrechtlichen Institutionen als rational geplante Mittel zurRealisierung gesellschaftlicher Zwecke gerechtfertigt werden können, dannsoll hier die Rede von einem Zweck-Mittel Verhältnis im empirischen Sinnsein. Diese Festlegung erlaubt es nun eindeutiger als zuvor, relative Straftheo-rien als ,Zwecktheorien' von absoluten Straftheorien abzugrenzen. Um einenanderen, in diesem Zusammenhang oft verwendeten Begriff aufzugreifen,könnte man auch von einem folgenorientierten Strafrechtskonzept sprechen,weil man bei ,Folgen' im allgemeinen nur an die empirischen Konsequenzeneines Vorgangs oder Ereignisses denkt.

Wie ich aber bereits angedeutet habe, ist der heutige Frontverlauf in derstrafrechtswissenschaftlichen Diskussion nicht mehr so einfach wie ehedemdurch Anhänger von absoluten bzw. relativen Straftheorien zu markieren. ImGegenteil, auf den ersten Blick scheint es so, als habe sich das Lager der abso-luten Straf theorien inzwischen nahezu geleert. Bei näherem Hinsehen stelltman allerdings fest, daß ihre Anhänger nicht etwa ausgestorben oder besiegtsind, sondern daß sie sich in das Lager der relativen Straf theorien geschlichenhaben, um mit einer neuen Taktik verlorengegangenes Terrain ausgerechnetim Feindesland selbst zurückzuerobern und zumindest einige ihre alten Fah-nen dort wieder zu entrollen. Welche theoretischen Entwicklungen steckenhinter dieser kriegerischen Schilderung?

Absolute Straf theorien in ihrer reinen Form, die den Sinn des Strafrechtsund der Strafe allein in der Schuldvergeltung unabhängig von den empirischenFolgen der Strafverhängung für Gesellschaft und Individuum sehen, werden sogut wie nicht mehr vertreten. Man kann deshalb heute von einem breiten -zwecktheoretischen - Konsens zumindest im Hinblick darauf ausgehen, daßdie Existenz strafrechtlicher Institutionen nur insoweit gerechtfertigt werdenkann, als mit ihnen präventive Ziele realisiert werden können. Wäre nachge-wiesen, daß diese Institutionen keine Auswirkungen auf die Häufigkeit be-stimmter unerwünschter Handlungen hätten, so wäre nach diesem Konsens dieethische Grundlage für das Strafrecht entfallen. Strafrecht ohne general- oderspezialpräventive Wirkungen wäre demnach nicht nur nutzlos, sondern (des-halb) auch unmoralisch.

Nun bezieht sich dieser Konsens allerdings nur auf die Rechtfertigung desStrafrechts im allgemeinen und nicht auch auf das Problem der Rechtfertigungder Strafverhängung im einzelnen Fall. Diese Trennung zwischen der Institu-tion und der Distribution der Strafe ist nützlich, weil mit der Antwort auf dieFrage, wodurch die Einrichtung strafrechtlicher Institutionen im allgemeinenlegitimiert wird, nicht automatisch auch die andere Frage beantwortet ist, wo-durch sich das Tätigwerden dieser Institutionen gegen bestimmte Personen imEinzelfall begründet und rechtfertigt. Eine reine ,zweckgelöste' Vergeltungs-theorie der Strafe konnte diese zwei Fragen freilich einheitlich beantworten:Das Strafrecht als Institution ist legitim, weil es gilt, entstehende Schuld zu ver-gelten und zu sühnen, und die Strafverhängung gegen eine bestimmte Personist legitim, insofern sie die gerechte Vergeltung für ein schuldhaftes Handeln

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Einleitung 7

dieser Person ist. Die Schuld ist für absolute Straf theorien ausreichendeGrundlage und einziger Maßstab für die Strafe.

Diese Situation hat sich insofern geändert, als die Konzepte der ,Schuld'und der ,gerechten Vergeltung' - die zum Kern absoluter Straf theorien gehö-ren - nicht mehr zur Legitimationsbasis strafrechtlicher Institutionen im all-gemeinen gezählt werden, sondern man hat ihre Verwendung auf den Bereichder Distribution der Strafe, auf den Bereich der Strafverhängung im Einzelfallbeschränkt. Kriterien für die Distribution strafrechtlicher Maßnahmen kön-nen nach dieser Auffassung nicht (allein) die general- oder spezialpräventivenFolgen einer Strafe sein, sondern die Strafverhängung muß sich an einem fol-genneutralen Schuldprinzip in dem Sinne orientieren, daß die Strafe unabhän-gig von ihrer präventiven Wirksamkeit (auch) eine gerechte Vergeltung für dieSchuld des Täters ist. Während also bei der Rechtfertigung des Strafrechts alsInstitution das Prinzip der Folgenorientierung Vorrang gegenüber dem Prinzipder zweckfreien Vergeltung hat, soll für die Praktizierung des Strafrechts imEinzelfall das Umgekehrte gelten.

Der Rückzug absoluter Straftheorien auf Probleme der Strafverhängungbedeutet nicht, daß ihre wesentlichen Anliegen ebenfalls auf der Strecke ge-blieben wären. Man könnte im Gegenteil sagen, daß der Kern dieser Theoriengestärkt wurde, indem sie sich auf eine überschaubare und damit besser zu ver-teidigende Bastion zurückgezogen haben. Dabei mußten sie allerdings denZwecktheorien eine Art oberste Gerichtsbarkeit über das von ihnen be-herrschte Territorium überlassen. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Tatsa-che, daß man einer Folgenorientierung bei dem Strafrecht als Institution Vor-rang einräumt, sondern auch im Hinblick darauf, daß man bei der Strafverhän-gung die Geltung eines Schuldprinzips selbst mehr oder weniger mit folgen-orientierten Argumenten begründet. Zwar interpretieren die Vertreter einer,Mischform' des Strafrechts die Anwendung des Schuldprinzips bei der Straf-verhängung zu Recht als die Anwendung eines Prinzips, bei dem die Berück-sichtigung empirischer Folgen keine oder nur eine subsidiäre Rolle spielt, aberdie Entscheidung der Frage, ob man die Institution des Strafrechts in dieserWeise mit einem folgenneutralen Schuldprinzip versehen sollte oder nicht,machen sie (inzwischen) durchaus von Zweckerwägungen abhängig. Die Ver-teidiger eines Schuldvergeltungsprinzips bei der Strafverhängung gehen in denmeisten Fällen von der Prämisse aus, daß die Auswirkungen und Folgen einesPrinzips, das bei seiner Anwendung gerade zu einer Vernachlässigung vonAuswirkungen und Folgen auffordert, insgesamt positiver zu bewerten sind alsdie Auswirkungen und Folgen einer Strafverhängung, die konsequent an prä-ventiven Gesichtspunkten orientiert wäre.

Mit einer solchen folgenorientierten Einbettung des Schuldprinzips ma-chen seine Anhänger einerseits einen entscheidenden Schritt aus der Traditionheraus, indem sie ihr Festhalten an den Konzepten von Schuld und Vergeltungnicht mit einer absoluten moralischen oder metaphysischen Geltung desSchuldprinzips, sondern ausschließlich im Hinblick auf seinen Beitrag zur Rea-

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8 Einleitung

lisierung rechtspolitischer Ziele begründen. Damit konzentrieren sie selbst dieDiskussion auf die Frage, welche Funktionen die traditionellen Begriffe undPrinzipien bei der "Abwicklung des Bruchs strafrechtlich geschützter Nor-men" erfüllen und ob oder inwieweit man sie in diesen "Funktionen entwederentbehren oder aber adäquat ersetzen kann" (Stratenwerth 1977, 7). Indemdas Schuldvergeltungsprinzip so mit der Behauptung verteidigt wird, es sei dasbeste Mittel zur Realisierung angebbarer Zwecke, entkleidet man es seinesEinmaligkeitsanspruchs und macht es einem Vergleich mit möglichen funktio-nalen Äquivalenten auf der Grundlage empirischer Zweck-Mittel Überlegun-gen zugänglich. Andererseits aber bietet sich mit dieser Neulokalisierung tradi-tioneller Konzepte in einem empirisch orientierten Weltbild die - aus andererSicht fragwürdige - Chance, aus der ursprünglich mit dem Anspruch auf apo-diktische, von empirischen Erkenntnissen unabhängigen Geltung auftreten-den absoluten Straf theorie wesentliche Konzepte und Prinzipien hinüberzu-retten und mit einem modernen Glanz über ihrer Patina zu versehen.

Die Argumente, die man für ein folgenneutrales Prinzip im Zentrum derStrafverhängung vorbringt, sind unterschiedlicher Art. Sie betonen etwa die,Rechtsbewährung' , die durch die sozialpsychologischen Auswirkungen derabsoluten Stellung der Vergeltungs strafe erzielt werde, sie erwarten, daß ge-rade eine klare Entsprechung von Verbrechen und Strafe zu einem besonderenVerantwortungsgefühl führe, oder sie erhoffen sich eine Vertiefung der sittli-chen Anschauungen und der allgemeinen Gesetzesachtung. Andere behaup-ten, daß nur durch das Schuldprinzip die Verhältnismäßigkeit des staatlichenStrafanspruchs gesichert werde und nur so die Freiheits- und Persönlichkeits-rechte des einzelnen den gesellschaftlichen Institutionen gegenüber zur Gel-tung gebracht werden könnten.

Diese mittlerweile sehr verbreitete Rechtfertigung für eine ,Mischform'des Strafrechts hat ein zwiespältiges Echo. Den einen erscheint sie quasi alsGeniestreich, mit dem nicht nur die notorischen Probleme der alten metaphy-sischen Straf theorien behoben werden, sondern auch die offensichtlichenSchwächen einer reinen Zwecktheorie, wie sie bei den einfachen handlungsuti-litaristischen Modellen zutage treten (vgl. Rawls 1975a), für andere führt sie inein unauflösbares Dilemma, weil sie entgegengesetzte und sich widerspre-chende Zwecke innerhalb einer und derselben Institution etabliert sehen (vgl.Goldman 1979), wieder andere bestreiten die Möglichkeit, daß man Begriffenwie ,Schuld' oder ,Vergeltung' einen rational deutbaren Gehalt geben könne.

Die konsequentesten Gegner der sog. Vereinigungstheorie, nach der sichdie Prinzipien der Vergeltung und Prävention miteinander harmonisieren las-sen, sind die Vertreter eines reinen Maßnahmerechts. Die Konzeption einesMaßnahmerechts ist ein Ableger der relativen Straf theorien, geht aber nocheinen entscheidenden Schritt über sie hinaus, insofern sie nicht mehr an demBegriff der Strafe im Sinne einer kalkulierten Übelszufügung festhält, sonderndie Frage prinzipiell offenläßt, welche Art von kriminalrechtlichen Maßnah-men im Hinblick auf eine humane, wirksame und gerechte Realisierung prä-

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ventiver Zwecke im allgemeinen und im Einzelfall geboten ist. Die Auswahlder jeweiligen Maßnahme soll nicht mehr durch einen Automatismus zwischenTat und Reaktion erfolgen, sondern auf die spezielle Persönlichkeit des Tätersabgestimmt werden, um präventiv möglichst wirkungsvoll zu sein. Unter die-sen Maßnahmen können, müssen aber nicht Strafen sein.

Der entscheidende Unterschied zwischen der Konzeption eines Maßnah-merechts und einem Strafrecht gemäß der Vereinigungstheorie besteht alsodarin, daß im Rahmen eines Maßnahmerechts auch die Verhängung der kri-minalrechtlichen Maßnahmen folgen orientiert an präventiven Zwecken aus-gerichtet und nicht mehr ,konditional' durch ein Vergeltungsprinzip gesteuertwerden soll. Nach den Prinzipien eines Maßnahmerechts sollen die Kriteriender Zweckrationalität nicht nur für den Gesetzgeber gelten, sondern auch fürdie Mitglieder der kriminalrechtlichen Institution selber, wenn sie entscheidenmüssen, welche Reaktion auf eine rechtswidrige Handlung unter präventivenGesichtspunkten geboten ist.

Die Anhänger eines Maßnahmerechts geben sich mit der Konzeption derVereinigungstheorie und der ,Mischform' des Strafrechts aufgrund unter-schiedlicher Motive nicht zufrieden. Einerseits geht es ihnen um die Wirksam-keit und Effektivität kriminalrechtlicher Institutionen im Hinblick auf prä-ventive Ziele, andererseits aber auch um die Humanisierung dieser Institutio-nen und die Rechtfertigung kriminalrechtlicher Interventionen gegenüberdem unmittelbar Betroffenen.

In diesem Zusammenhang bemängeln sie, daß durch die Orientierung derStrafverhängung an dem Vergeltungsprinzip Elemente der absoluten Straf-theorien erhalten bleiben, die mit den Aufgaben eines ,modernen' Kriminal-rechts und einer rationalen Ethik nicht mehr vereinbar scheinen: Mit der For-

derung nach einer Strafverhängung gemäß dem Schuldvergeltungsprinzip seidie Annahme verbunden, daß eine Strafverhängung gegenüber dem Betroffe-nen durch den Hinweis auf die empirisch zu erwartenden Folgen allein nichtgerechtfertigt werden kann. Unter dieser Voraussetzung muß man dem Ver-geltungsprinzip also eine legitimierende Kraft für die Strafverhängung zubilli-gen. Legitimierende Kraft kann das Vergeltungs prinzip aber nur in Verbin-dung mit der Vorstellung entfalten, daß eine Person aufgrund ihrer Hand-lungsweise eine Strafe ,verdient' hat. Diese Vorstellung ist wiederum abhängigvon einer indeterministischen Konzeption der Willensfreiheit, denn ,verdient'haben in diesem Sinn kann eine Person eine Strafe nur dann, wenn ihre rechts-widrigen Handlungen das Resultat einer ,freien Entscheidung für das Unrecht'waren und nicht das Resultat kausaler Determination, die eine ,Schuld' alsRechtfertigung für strafrechtliche Sanktionen ausschließt. Solange also dasSchuldvergeltungsprinzip eine legitimierende Funktion übernehmen solle, so-lange werde es mit einem indeterministischen Menschenbild verbunden seinmüssen.

Dem halten die Anhänger eines Maßnahmerechts entgegen, daß eine ge-sellschaftliche Institution, die sich zeitgenössischen Legitimationsanforderun-

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gen gewachsen zeigen soll, mit der Möglichkeit zumindest rechnen muß, daßindeterministische Konzeptionen der Willensfreiheit unzutreffend sind unddaß die Argumente für die Rechtfertigung dieser Institution von solchen Kon-zeptionen deshalb nicht abhängig sein dürfen. Das bedeute nicht zwangsläufig,daß man auf die Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligenHandlungen, zwischen zurechnungsfähigen und unzurechnungsfähigen Perso-nen oder auf die Begriffe der Willensfreiheit und Autonomie verzichten müs-se. Es bedeute nur, daß man diesen Begriffen einen von der Alternative De-terminismus/Indeterminismus unabhängigen Sinn geben solle - wobei siedann allerdings mit dem Vergeltungsprinzip oder der Vorstellung einer ,ver-dienten' Strafe nicht mehr vereinbar wären, denn dieses Prinzip und diese Vor-stellung seien von indeterministischen Prämissen abhängig.

Die Verfechter eines Maßnahmerechts kritisieren die herrschende ,Misch-form' des Strafrechts also nicht nur unter dem Gesichtspunkt der präventivenEffektivität, sondern auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der Gerech-tigkeit. Sie bezweifeln, daß sich das Schuldvergeltungsprinzip als Grundlageder Strafverhängung rechtfertigen läßt, auch dann, wenn es auf den Bereichder Distribution der Strafe beschränkt wird. Sie verlangen deshalb eine Recht-fertigung der Straf- bzw. Maßnahmeverhängung auch gegenüber dem einzel-nen Betroffenen im Hinblick auf ihre empirischen Auswirkungen und Folgenund nicht im Hinblick auf ein abstraktes und in sich fragwürdiges Rechtsprin-ZIp.

In diesem Anspruch trifft sich die Konzeption eines folgenorientiertenMaßnahmerechts mit ,konsequentialistischen' Theorien in der philosophi-schen Ethik, in denen die Bedeutung von Moral und moralischer Verantwort-lichkeit unter den Prämissen eines empirischen und deterministischen Welt-bildes diskutiert wird. Hier steht zunächst die Frage im Vordergrund, durchwelche besonderen Qualitäten menschliche Handlungen als Objekte für mora-lische Urteile noch ausgezeichnet werden können, wenn diese Handlungenkausal determiniert sind und im Prinzip deshalb mit allen anderen Naturvor-gängen gleichgesetzt werden müssen. Was kann es unter dieser Voraussetzungnoch gerechtfertigt erscheinen lassen, Personen ihre Handlungen zuzurechnenund sie moralisch zur Verantwortung zu ziehen?

Einige Autoren sind der Meinung, daß es unter dieser Prämisse keinenPlatz mehr für unser Moralsystem gebe, denn seine Prinzipien und Begriffeseien unauflöslich mit der Vorstellung verbunden, daß menschliche Handlun-gen in einem nicht-kausalen Sinne frei seien. Andere aber sind der Auffassung,daß wir unser Moralsystem sehr wohl mit einer solchen Prämisse vereinbarenkönnen, unter der Bedingung nämlich, daß wir unsere moralischen Prinzipienfolgenorientiert interpretieren und den Zweck von moralischen Normen somitdarin sehen, die Menschen zu erwünschten Handlungsweisen zu motivieren.Gemäß dieser Auffassung besteht der Sinn moralischer Verantwortlichkeitdarin, daß ein zurechnungsfähiger und verantwortlich handelnder Menschdurch moralische Normen und Urteile motivierbar ist. Man sieht also, daß man

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Einleitung 11

bei dem Versuch, unser Moralsystem mit deterministischen Prämissen in Ein-klang zu bringen, notwendig bei folgenorientierten, teleologischen Konzeptenlandet.

Die Position, die in der philosophischen Ethik sachlich mit den relativenStraf theorien konvergiert, wird üblicherweise als ,Vereinbarkeitstheorie' oder,weicher Determinismus' bezeichnet. Die Annahme, unser Moralsystem seinotwendig an ein indeterministisches Menschenbild gebunden, ist nach Auf-fassung der Vereinbarkeitstheoretiker zum großen Teil das Ergebnis vonÄquivokationen. Die Art von Freiheit und Selbstbestimmung, die durch unse-ren Begriff der moralischen Verantwortlichkeit impliziert ist, wird demnachfälschlich erweise gleichgesetzt mit der Unabhängigkeit von kausalen Gesetz-mäßigkeiten, d. h. der Zwang, der uns im Zusammenhang von moralischer undrechtlicher Schuld von unfreien, unfreiwilligen und fremdbestimmten Hand-lungen reden läßt, wird verwechselt mit dem ,Zwang', der in dem notwendigenÜbergang von der Ursache zur Wirkung besteht.

Dieser Irrtum kann entstehen - so die Vereinbarkeitstheoretiker -, wennman über keine zureichende Analyse des Kausalmechanismus verfügt oder dieBedeutung von sprachlichen Ausdrücken wie ,Anders-handeln-können' ver-kennt. Ist man sich aber über solche Irrtümer erst einmal im klaren, dannwerde sofort deutlich, daß die Prämisse des Determinismus keineswegs die ab-surde Annahme impliziert, eine Beschreibung menschlicher Handlungen mitHilfe solcher Begriffe wie ,Entscheidung', ,Absicht' oder ,Intention' sei aus,wissenschaftlichen' Gründen sinnlos oder irreführend; im Gegenteil könntengerade deterministische Analysen mentaler Ursachen von Handlungen dieBedeutung solcher Begriffe sehr viel besser klären als ihre Vernebelung mitindeterministischem Vokabular.

Im Zusammenhang mit einer teleologischen Interpretation unseres Moral-systems, die den Sinn moralischer Normen und moralischer Urteile darin sieht,,zukunftsorientiert' das Verhalten der Menschen in erwünschte Bahnen zulenken, bedeute moralische Zurechnungsfähigkeit eben nicht mehr und nichtweniger als die Eigenschaft eines Menschen, sich durch moralische Bewertun-gen in seinem Handeln beeinflussen zu lassen; als die Fähigkeit, in normalerWeise motivierbar zu sein. In einem moralisch relevanten Sinn ,frei' gehandeltzu haben, moralisch für eine Handlung verantwortlich zu sein, ist dann nurgleichbedeutend mit dem Sachverhalt, über eine bestimmte, empirisch fest-stellbare Handlungsdisposition zu verfügen und erfordert nicht, in einem un-ergründlichen Sinn der Welt der kausalen Zusammenhänge entschlüpft zusein. M. Schlick hat diesen Gedankengang in einer besonders prägnantenWeise zusammengefaßt:

)}Die Frage nach dem Verantwortlichenist die Frage nach dem richtigenAngriffs-punkt der Motive. Und das wichtige ist, daß sich hierin ihr Sinn vollkommen er-schöpft, daß dahinter nicht noch irgendein mystischer Zusammenhang zwischenVergehen und Ahndung steckt, der durch die geschilderten Umstände nur ange-

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zeigt würde. Es handelt sich wirklich nur darum, zu wissen, wer zu bestrafen oderzu belohnen ist, damit die Strafe oder der Lohn auch als solche wirken, ihrenZweck erreichen können.« (Schlick 1984, 162)

Die Vereinbarkeitstheoretiker gehen also davon aus, daß auch in einer deter-ministischen Welt auf der Grundlage einer teleologischen, instrumentalisti-schen oder pragmatischen Moral die wesentlichen Merkmale unseres beste-henden Moralsystems, das ja nach einer verbreiteten Meinung sowohl folgen-neutral ist als auch auf indeterministischen Voraussetzungen beruht, erhaltenbleiben und daß auch unsere moralische Praxis, unsere Sprache und unsereBegriffe, mit denen wir uns auf Personen und Handlungen beziehen, im we-sentlichen unverändert sein werden.

Die Kritiker an der Vereinbarkeitsthese - die sowohl aus dem Lager der,harten' Deterministen wie aus dem Lager der Indeterministen kommen - be-streiten diese Annahme, d. h. sie bezweifeln, daß unsere moralische Praxis undunsere moralischen Prinzipien mehr oder weniger nahtlos mit deterministi-schen Prämissen und einer folgenorientierten Einstellung übereinstimmen.Unsere alltäglichen Reaktionen auf unerwünschte oder erwünschte Verhal-tensweisen, unsere moralischen Urteile und die individuelle Zurechnung vonHandlungen, unsere Gefühle wie Haß, Liebe, Dankbarkeit, Verehrung oderVerachtung, könnten nicht alle nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlich-keit und Wirksamkeit für die Steuerung von Verhalten verstanden werden,viele unserer selbstverständlichen Einstellungen und Handlungen im Rahmenunserer moralischen Praxis widersprächen einer solchen Interpretation diame-tral. Würde man sich tatsächlich gemäß den Prinzipien einer teleologischenMoral und den Annahmen eines deterministischen Weltbildes verhalten wol-

len, müßten radikale und weitgehende Veränderungen unseres Alltags undunserer moralischen Praxis die Folge sein.

In diesen Vorbehalten treffen sich nun wiederum die Kritiker der weichenDeterministen mit den Verteidigern eines zweckneutralen Schuldprinzips. InAnalogie zu den Argumenten gegen eine teleologische Interpretation unserermoralischen Praxis wird in der Rechtswissenschaft gegenüber einem präventivausgerichteten Maßnahmerecht der Vorwurf erhoben, daß es zu einer radika-len Veränderung unseres Rechtssystems und seiner Institutionen führen müsseund mit grundlegenden Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit unverein-bar sei. Insbesondere sieht man die Gefahr, daß auf der Grundlage einerdurchgehenden Orientierung der Strafverhängung an präventiven Zweckendie rechtsstaatlichen Sicherungen unseres Strafrechts zusammenbrechen oderdoch zumindest stark gefährdet werden müßten, weil man davon ausgeht, daßsolche rechtsstaatlichen Sicherungen im Rahmen eines nur an empirischenZwecken orientierten Maßnahmerechts weder begründet noch durchgesetztwerden könnten. Rechtsstaatliche Normen sind nach der Befürchtung dieserKritiker "Fremdkörper" in einem zweckrationalen Strafrecht (vgl. Naucke1983, 18).

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Einleitung 13

Damit ist in der Diskussion eine interessante Frontstellung entstanden.Unter den Verteidigern des Strafrechts in seiner momentanen, der Vereini-gungstheorie weitgehend entsprechenden Form, finden sich nämlich immerweniger, die dieses bestehende Strafrecht wegen seiner außerordentlich positi-ven Auswirkungen preisen oder das Vergeltungsprinzip als Grundlage derStrafverhängung seiner großen Gerechtigkeit wegen loben. Es überwiegen da-gegen Argumente im Sinne einer reductio ad absurdum, indem die unhaltbarenKonsequenzen demonstriert werden sollen, die ein Fallenlassen des Schuld-prinzips, bzw. die durchgehende Folgenorientierung eines Maßnahmerechtsangeblich mit sich bringen. Propagiere man ein präventiv orientiertes Maß-nahrnerecht, dann nehme man Konsequenzen in Kauf, die im Vergleich mitdem bestehenden Strafrecht alles im allem immer noch ein schlechter Handelseien. Man könne deshalb zwar nicht zeigen, daß eine Strafverhängung nachdem Schuldprinzip die beste denkbare Möglichkeit sei, aber immerhin könneman nachweisen, daß die angebotenen Alternativen mehr neue Problemeschaffen als sie alte lösen können.

Ich möchte nun im folgenden weder den kritischen Argumenten weiternachgehen, die von einem zwecktheoretischen Standpunkt gegen das Prinzipder Schuldvergeltung vorgebracht worden sind, noch den Bemühungen, sichgegen diese Kritik direkt zu verteidigen, indem man etwa zu zeigen versuchthat, daß eine indeterministische Interpretation des Schuldbegriffs nicht zwin-gend sei oder daß man das Vergeltungsprinzip nicht als Legitimationsgrundla-ge, sondern nur als Grenze für die Strafverhängung benötige. Ich will auchnicht untersuchen, wie ein reines Maßnahmerecht im Detail aussehen könnteoder welche Konzeptionen hierzu existieren. Ich will mich hier ,nur' mit dreizentralen Einwänden auseinandersetzen, die gegenüber einer Zwecktheorieder Strafe, bzw. einer Konzeption für ein folgenorientiertes Maßnahmerechtimmer wieder in verschiedenen Varianten erhoben werden. Diese Einwändelassen sich als eine Differenzierung und Unterteilung des einen globalen Vor-wurfs verstehen, wonach ein präventiv orientiertes Maßnahmerecht zu einemAbbau rechtsstaatlicher Garantien führen müsse, bzw. mit den Grundsätzeneiner rechtsstaatlichen Institution prinzipiell unvereinbar sei. Diese Einwändebeziehen sich im einzelnen auf das Verhältnis zwischen

- spezialpräventiven Zwecken und dem Anspruch des Rechtsadressaten aufFreiheit und Autonomie,

- generalpräventiven Zwecken und der individuellen Zurechnung von straf-baren Handlungen,

- einer generellen Folgenorientierung und dem bestehenden Straftatsystemmit seiner Dogmatik.

Die Vorwürfe, die im Zusammenhang mit diesen Problemfeldern an dieAdresse eines zweckrationalen Maßnahmerechts gerichtet werden, lauten:

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Erstens sei eine spezialpräventive Orientierung bei der Verhängung krimi-nalrechtlicher Maßnahmen eine Mißachtung der Willensfreiheit und persönli-chen Integrität des Rechtsadressaten. Ein Maßnahmerecht bedeute die Ent-mündigung und Verdinglichung des Delinquenten, weil er zu einem Objektstaatlicher Behandlung und Manipulation degradiert werde. Zweitens führeeine Orientierung an generalpräventiven Zwecken zu einer Unterordnung derInteressen und Rechte des einzelnen unter das Wohl der Gemeinschaft, bis hinzu der Konsequenz, daß unter bestimmten Bedingungen ein Unschuldiger denInteressen der Mehrheit geopfert werden müsse. Drittens erfordere eine kon-sequente präventive Orientierung der Straf- bzw. Maßnahmeverhängung dieAuflösung oder zumindest vollständige Veränderung des Straftat systems undseiner Dogmatik, denn die bestehenden Regeln der strafrechtlichen Zurech-nung seien in allen ihren Teilen an den Schuldbegriff gebunden. Damit droheaber dem einzelnen Betroffenen die Gefahr, daß er aus Gründen der Zweck-mäßigkeit in unverhältnismäßiger Weise in seinen Persönlichkeitsrechten ein-geschränkt werde, denn ein zweckfrei konstruiertes Straftatsystem alsSchranke der Kriminalpolitik würde entfallen.

Nur ein Schuldvergeltungsprinzip als Grundlage der Strafverhängungkönne die Rechte der Betroffenen vor einseitiger kriminalpolitischer Zweck-verfolgung schützen: Das Schuldprinzip bewahre die persönliche Integritätund Autonomie des Delinquenten, indem es staatlichen Institutionen eine ge-zielte und manipulative Persönlichkeitsveränderung unter spezialpräventivenZielsetzungen verbiete; es verhindere, daß das Allgemeinwohl unter general-präventiven Gesichtspunkten den Rechten und Interessen des einzelnen über-geordnet wird, indem die Bestrafung einer Person auf der Grundlage desSchuldprinzips nur dann gerechtfertigt ist, wenn man sie für eine strafbareHandlung verantwortlich machen kann; schließlich sichere es die Verhältnis-mäßigkeit der strafrechtlichen Interventionen, indem der Schuldbegriff alszweckfreie und geradezu zweckfeindliche Grundlage des Systems der straf-rechtlichen Zurechnung dieses System zu einer unübersteigbaren Schranke fürdie Kriminalpolitik mache.

Ich hoffe nun, daß ich im folgenden plausibel machen kann, daß diese Vor-behalte gegenüber dem Konzept eines zweckorientierten Maßnahmerechts zuUnrecht bestehen und daß man zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Kri-minalrechts - d. h. hier insbesondere Respektierung der Autonomie desRechtsbrechers, Schutz des Unschuldigen vor Strafe und Gewährleistung derVerhältnis mäßigkeit - auf das Schuldvergeltungsprinzip nicht angewiesen ist.

Falls mir das gelingen sollte, dann wird sich gezeigt haben, daß die Vorbe-halte und Einwände gegenüber einer folgenorientierten Theorie des Kriminal-rechts auf eine unzulässige Vereinfachung der Struktur von Strafzwecktheo-rien und auch des Begriffs der Zweckrationalität zurückgehen. Diese Verein-fachung beruht hauptsächlich auf der impliziten oder auch expliziten Annah-me, daß Zwecktheorien des Kriminalrechts die von ihnen postulierten Zweckeum nahezu jeden Preis realisieren wollen und einseitig effektivitätsorientiert

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nur auf die Verwirklichung ihrer unmittelbaren Zwecke fixiert sind, ohne dieNebenfolgen der von ihnen anvisierten Mittel und mögliche Zielkonflikteebenfalls in ausreichendem Maße berücksichtigen zu können. So kommt esdann zu den bekannten und beliebten Beispielen, nach denen ein konsequen-tes Maßnahmerecht fordern müsse, den rückfälligen Gewohnheitsverbrecherdurch Gehirnwäsche oder stereotaktische Operationen zu einem angepaßtenMitbürger zu machen, einen Unschuldigen zu hängen, wenn dadurch andereUnschuldige vor der Lynchjustiz gerettet werden können oder den behand-lungsbedürftigen Ladendieb zwangsweise lebenslang zu therapieren.

So wie jeder individuelle Handelnde aber bei der angestrebten Verwirkli-chung seines unmittelbaren Handlungszwecks schon aus Gründen des Selbst-interesses dafür Sorge tragen wird, daß die von ihm erwogenen Mittel seineanderen Zwecke und Ziele nicht oder nur möglichst wenig beeinträchtigen -seine ,Opportunitätskosten' also nicht höher werden als der aus der Realisie-rung seines Handlungszwecks erwartete Nutzengewinn -, so muß natürlichauch jede zweckrationale Planung gesellschaftlicher Institutionen ihre voraus-sehbaren Auswirkungen auf andere Institutionen und das soziale Leben insge-samt berücksichtigen, um eine Entscheidung treffen zu können, die nicht nurkausal effizient im Hinblick auf ein isoliertes Ziel ist, sondern den erwartetensozialen Nutzen insgesamt maximiert.

Andere Maßstäbe würde der Begriff zweckrationalen Handeins nur dannnahelegen, wenn man ihn nicht als Bestandteil einer allgemeinen Theorie ra-tionalen Handeins auffaßt - für die alle zu erwartenden Konsequenzen einerHandlungsalternative entscheidungsrelevant sind -, sondern als Begriff für einVerhalten, das nur dem Kriterium der kausalen Effizienz von Handlungen beider Verwirklichung bestimmter (isolierter) Zwecke genügt. Einen solchen en-gen Begriff von Zweckrationalität halte ich für wenig sinnvoll und in vielenKontexten für irreführend. Niemand hat wohl auch jemals ernsthaft die Auf-fassung vertreten, bei seinen rechtspolitischen (oder sonstigen gesellschaftspo-litischen) Entscheidungen solle sich ein Gesetzgeber an einem dieserart einge-engten Begriff von Zweckrationalität orientieren und die Augen vor darüberhinaus gehenden Folgen seiner Entscheidungen bewußt verschließen. Ich ver-stehe diesen Begriff im folgenden jedenfalls als Bestandteil eines allgemeinenKonzepts folgenorientierten Handeins und damit auch als Bestandteil der all-gemeinen Theorie rationalen Handeins und ihrer Postulate.

Wenn man deshalb die Institutionen des Rechts im allgemeinen und imHinblick auf ihre Aktivitäten im Einzelfall auf der Grundlage der Nützlichkeitihrer verhaltenssteuernden Funktionen rechtfertigen und planen will, dannfolgt daraus in keiner Weise, daß sie ihre Ziele ,ohne Rücksicht auf Verluste'anstreben sollen. Falls in einer sozialen Gemeinschaft das Recht des Bürgersauf Schutz seiner individuellen Freiheit gegenüber staatlichen Eingriffen sehrhoch angesetzt wäre, so daß der Wert präventiver Effektivität dagegen weit zu-rückfiele, so könnte in dieser Gesellschaft das Ergebnis einer präventiv-zweck-rational geplanten Kriminalpolitik durchaus sein, daß bei allen Delikten nur

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geringfügige Geldbußen verhängt werden - trotzdem hätten wir es mit einerfolgenorientierten Rechtfertigung der entsprechenden Institutionen zu tun,die ohne ihre präventiven Zwecke nicht verständlich wären.

Die Tatsache, daß im Rahmen einer Zweckorientierung kriminalrechtli-cher Institutionen der Zweck die Mittel durchaus nicht heiligt, hängt also damitzusammen, daß bei der Beurteilung des gesellschaftlichen Werts einer Einrich-tung immer alle Folgen und Nebenfolgen bilanziert werden müssen. Wenndeshalb Autonomie und persönliche Integrität der Rechtsadressaten einenhohen Stellenwert haben, dann wird man eine spezialpräventive Zweckverfol-gung dementsprechend eingrenzen; wenn man den einzelnen prinzipiell nichtdem Allgemeinwohl unterordnen möchte, dann wird man dies auch aus gene-ralpräventiven Erwägungen heraus nicht akzeptieren, und wenn eine effektiveEinschränkung und Begrenzung staatlicher Interventionen generell gewünschtwird, dann wird man sich nach geeigneten Kriterien für Verhältnismäßigkeitumschauen und ein zweckorientiertes Handeln nur in diesen Grenzen zulas-sen. Grundsätzlich ist einem zweckrationalen Handeln die Einschränkung vonEffektivität und Wirksamkeit im Hinblick auf den unmittelbaren Handlungs-zweck keineswegs fremd, sondern unter den Prämissen der Zweckrationalitätsogar geboten, wenn ein Handelnder die für ihn bestmögliche Alternative mitden insgesamt günstigsten Folgen wählen will.

In diesem Sinne werde ich in den drei Abschnitten dieser Arbeit zu zeigenversuchen, daß ein zweckrationales Maßnahmerecht die Autonomie derRechtsadressaten nicht bedroht, insofern es an ein Interpersonalitätsprinzipgebunden bleibt; daß es die Rechte des einzelnen den Interessen der Gemein-schaft nicht unterordnet, insofern es ein Verantwortungsprinzip beachtet unddaß es das bestehende Straftatsystem mit seiner Dogmatik übernehmen unddamit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung tragen kann. Wesentlich fürunsere Fragestellung ist in diesem Zusammenhang natürlich der Nachweis,daß eine Einhaltung dieser drei Prinzipien mit einer Folgenorientierung beider Maßnahmeverhängung vereinbar ist und daß es zur Begründung und Ver-wirklichung dieser Prinzipien des Konzepts von Schuld und Vergeltung unddamit auch eines indeterministischen Menschenbildes nicht bedarf.

Ein Maßnahmerecht, das in dieser Weise rechtsstaatliche und sozialstaatli-che Forderungen in sich zu vereinigen vermag, nenne ich ein ,tatbezogenesMaßnahmerecht' . Ein tatbezogenes Maßnahmerecht soll dadurch charakteri-siert sein, daß es bei der Verhängung und bei dem Vollzug von Maßnahmenspezialpräventiv orientiert ist und das Interpersonalitätsprinzip beachtet. Tat-bezogen ist es in zweierlei Hinsicht: Erstens ist das Vorliegen einer strafbarenTat, für die man eine zurechnungsfähige Person verantwortlich machen kann,die Voraussetzung für kriminalrechtliche Interventionen. Zweitens wird durchden Bezug auf eine strafbare Tat die Eingrenzung spezialpräventiver Maß-nahmen im Sinne der Verhältnismäßigkeit gewährleistet.

Bevor ich aber beginne, das Verhältnis eines solchen tatbezogenen Maß-nahmerechts zu Freiheit, Verantwortung und Verhältnismäßigkeit im einzel-

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nen zu untersuchen, sind noch ein paar methodologische Bemerkungen zumbesseren Verständnis des Folgenden am Platze.

Normen und Fakten

Nur auf den ersten Blick könnte man versucht sein, die Beziehung zwischenethischen Theorien, moralischen Prinzipien oder normativen Modellen undder Welt der empirisch feststellbaren Tatsachen und Fakten damit als unpro-blematisch abzutun, daß man feststellt, im einen Fall ginge es eben um das, wassein soll, im anderen Fall um das, was ist, eine Beziehung sich also nur insoweitherstellen lasse, als überprüft werden könne, inwieweit die Welt der Tatsachenund Fakten unseren moralischen Prinzipien oder normativen Modellen ent-spreche oder nicht. Schon ein Blick auf die Geschichte der naturalistischenEthiken reicht, um zu bemerken, daß das Verhältnis zwischen Normen undFakten von so einfacher Schlichtheit wohl nicht sein kann, wenn man einenGroßteil der ethischen Theorien nicht auf unerklärliche Irrtümer zurückfüh-ren will. "Wir haben die Menschen zu nehmen, wie sie sind, und moralischeNormen zu entwickeln, wie sie durchführbar erscheinen." In dieser allgemei-nen Forderung von J. L. Mackie (1981,169) nach einer grundsätzlichen Bin-dung normativer Theorien und Modelle an die gegebenen Tatsachen und Fak-ten spiegelt sich die realistische Einschätzung, daß moralische Systeme ohneeine Fundierung in den gegebenen Interessen und Handlungsspielräumen derMenschen zu einer nutzlosen Gedankenspielerei zu verkommen drohen - ei-nem moralischen Handeln jedenfalls nicht förderlich sein können.

Ich möchte in den folgenden Bemerkungen die Aufmerksamkeit auf eineArt von Tatsachen und Fakten lenken, die in einer besonderen Weise für jedeMoral- oder Gerechtigkeitstheorie von Bedeutung sind und sei es nur, daß siesich von ihnen abgrenzen muß: Es handelt sich um unsere moralischen Intui-tionen, um unsere spontanen oder überlegten moralischen Urteile und Stel-lungnahmen, die wir nicht als Theoretiker, sondern im Alltag als Beobachteroder Betroffene formulieren, um die moralischen Ansichten und Überzeugun-gen, die man als durchschnittlich vernünftiger, aufgeklärter und einigermaßenvorurteilsfreier Bürger hat; es geht um die empirische Moral von Einzelindivi-duen oder sozialen Gemeinschaften, um das faktisch vorhandene Gerechtig-keitsempfinden, das sich in emotionalen Äußerungen, in politischen Debattenund im Handeln in menschlichen Grenzsituationen ausdrücken kann, das einebewußte oder unbewußte Richtschnur bildet für das eigene aber auch die Be-wertung fremden Verhaltens.

Diese Art von Fakten unterscheiden sich von anderen Fakten, auf die einenormative Theorie Bezug nehmen kann, weil sie selber Aussagen und Urteile

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mit moralischem Gehalt darstellen, also Aussagen und Urteile, die von demglei-ehen Typ sind, wie sie von ethischen Theorien und normativen Modellen ge-macht werden. Es handelt sich also eher um eine Konkurrenz zu solchen Theo-rien und Modellen - mit dem Unterschied allerdings, daß es eben ein empirischfeststellbares Faktum ist, daß diese Aussagen und Urteile von einer bestimmtenAnzahl von Menschen bereits tatsächlich akzeptiert und befolgt werden.

Mit dem Phänomen, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung mit einembestimmten Gegenstand bereits im Alltag vorgebildet ist und dort seinen Ur-sprung hat, muß jede wissenschaftliche Theorie, zumindest in den Grundla-gendisziplinen, rechnen. Unterschiedlich ist, in welchem Ausmaß sie sich dannim Verlauf ihrer eigenen, wissenschaftsinternen Entwicklung über diese ur-sprünglichen Verbindungen hinwegsetzt. Während das bei den Naturwissen-schaften ziemlich leichtfüßig und ohne Skrupel geschieht, haben die Sozialwis-senschaften traditionell ein empfindsames Verhältnis zu ihrer Quelle und wosie sich deutlich von ihr entfernt haben, ist ein schlechtes Gewissen oft die Fol-ge.

Das gilt nun in besonderem Maße für eine wissenschaftliche Theorie, diemoralische Urteile und Prinzipien sozialer Gerechtigkeit begründen will. Nurwenige Moralphilosophen nehmen eine so radikale und unbesorgte Positionein wie z. B. J. J. C. Smart, der den intuitiven und alltäglichen Überzeugungennur mit eher verächtlichen Bemerkungen gedenkt. Das Gegenstück d:;tzuistdie ebenfalls extreme Ansicht, man solle unseren Intuitionen absolute Autori-tät über moralische Fragen einräumen und einer ethischen Theorie nur die we-nig schmeichelhafte Aufgabe einer gewissen Systematisierung und Explikationzugestehen. Diese Ansicht ist oft verbunden mit einer vollständigen Analogi-sierung zwischen empirischen und normativen Theorien, indem man unsere in-tuitiven und singulären moralischen Urteile mit den gegebenen Einzeldateneiner empirischen Theorie gleichstellt. In beiden Fällen komme es dann nurdarauf an, verallgemeinernde Prinzipien (und Gesetzmäßigkeiten) zu finden,die anhand der Rohdaten in ihren Implikationen überprüft werden können.Damit hat man dann allerdings auf die Möglichkeit eines kritischen Verhältnis-ses zu den vorgefundenen Daten vollständig verzichtet, und es fragt sich, obman diesen Anspruch einer ethischen Theorie in dieser Weise fallen lassenkann.

Weitaus komplexere Verhältnisse zwischen unseren singulären Alltagsur-teilen und verallgemeinernden Prinzipien bestimmen ein Großteil der Diskus-sionen über die modernen Versionen z. B. des Utilitarismus und der Vertrags-theorie. Hier billigt man zwar unseren Intuitionen eine wichtige Rolle bei demAufbau und der Überprüfung einer Theorie der Moral oder Gerechtigkeit zu,andererseits aber räumt man den systematischen Konstruktionen und verall-gemeinernden Prinzipien einen hohen Stellenwert ein, was eben auch zu einerkritischen Revision von Alltagsurteilen und Intuitionen führen könne.

Vor allem J. Rawls hat diesem Problem spezielle Aufmerksamkeit gewid-met und mit seinem Begriff des ,Überlegungsgleichgewichts' versucht, dieses

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Einleitung 19

Verhältnis in einer neuen Weise zu bestimmen. Demnach spielen die wohl-überlegten moralischen Urteile der mündigen Mitglieder einer moralischenGemeinschaft sowohl als Instanzen der Überprüfung von Ableitungen aus all-gemeinen moralischen Prinzipien eine Rolle als auch als Grundlage für eineKonstruktion dieser Prinzipien mit Hilfe eines ,Urzustandes' . Zwischen diesendrei Konstruktionselementen einer Vertragstheorie - wohlüberlegte Urteile,allgemeine moralische Prinzipien und Urzustand - soll nun ein Verhältniswechselseitiger Kritik und Beeinflussung herrschen. Stabilität und ,Begrün-dungsruhe' trete ein, wenn die gegenseitigen Korrekturen und Ableitungenschließlich in einem ,Überlegungsgleichgewicht' gemündet sind - wie dasRawls für seine eigene Theorie annimmt.

Die Probleme, die ich im Laufe dieser Arbeit behandeln werde, haben nunebenfalls in einer jeweils spezifischen Weise das Verhältnis zwischen unseremintuitiven Gerechtigkeitsempfinden und theoretisch-wissenschaftlich konzi-pierten Modellen zum Gegenstand. Man könnte deshalb die Kritik an einemfolgenorientierten Maßnahmerecht auch so reformulieren, daß sie sich auf ei-nen angeblichen Widerspruch zwischen einer solchen Konzeption und unserenintuitiven moralischen Urteilen und unserem Gerechtigkeitsgefühl stützt:

Erstens stünde eine spezialpräventive Orientierung bei der Verhängungkriminalrechtlicher Maßnahmen demnach im Widerspruch mit unserem Emp-finden, daß es mit der Würde des autonomen Menschen unvereinbar ist, ,unterdie Sachen' gemengt zu werden, indem er zum bloßen Objekt eines fürsorgli-chen Staates gemacht wird.

Zweitens kollidiere eine Orientierung an generalpräventiven Zwecken miteiner unserer intuitiv stärksten Überzeugungen, wonach es ungerecht ist, einePerson zu bestrafen, die man für eine strafbare Handlung nicht verantwortlichmachen kann und ein Unschuldiger nicht den Interessen der Mehrheit geopfertwerden darf.

Drittens widerspreche die durch ein präventiv orientiertes Maßnahme-recht drohende vollständige Veränderung des Straftatsystems unserer starkenintuitiven Präferenz für die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzesund unserer Ablehnung einer unbegrenzten Beeinträchtigung von Freiheits-rechten.

Nun könnte man als Vertreter eines ,rationalen' Prinzips der Folgenorien-tierung insbesondere unter Hinweis auf die offensichtliche Inhumanität und Ir-rationalität zumindest einiger Aspekte unseres bestehenden Strafrechtssy-stems leicht in die Versuchung geraten, unsere Gerechtigkeitsintuitionen ab-zuwerten und im Falle ihrer Abweichung von den:Ergebnissen folgenorientier-ter Erwägungen nur zu konstatieren: "Um so schlimmer für unsere Intuitio-nen. Sie sind offenbar das Resultat unaufgeklärter Alltagstheorien und müssenim Sinne rationalerer Prinzipien korrigiert werden." Doch vor einer solchenReaktion sollte man sich hüten, und in Wirklichkeit gibt es auch unter den har-ten Verfechtern folgenorientierter Konzeptionen in der Ethik kaum jemand,der diese Auffassung vertreten hat. Eine Zwecktheorie muß solche Einwände

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ernst nehmen und darf nicht mit einem arroganten Hinweis auf die Zweckra-tionalität über sie hinweggehen.

Ohne hier nun im einzelnen das schwierige Verhältnis zwischen intuitivenund aus Prinzipien begründeten Urteilen in einer Theorie der Moral oder Ge-rechtigkeit diskutieren zu können, möchte ich doch versuchen, einige, wie ichglaube, konsensfähige Überlegungen zu dem Verhältnis von Intuition und Ar-gumentation im Zusammenhang mit den spezifischen Problemen einer norma-tiven Theorie des Kriminalrechts anzudeuten.

Ich gehe mit den meisten zeitgenössischen Vertretern einer philosophi-schen Ethik davon aus, daß man bei der Suche nach begründbaren Prinzipienfür die gerechte Behandlung der Mitglieder einer Gesellschaft zunächst not-wendigerweise an unser intuitives Gerechtigkeitsempfinden anknüpfen muß:Ohne eine intuitive Idee von Gerechtigkeit läßt sich keine Theorie der Gerech-tigkeit entwickeln. Das bedeutet nicht, daß wir bei der Entwicklung solcherTheorien und Prinzipien sklavisch an unsere Intuitionen gebunden bleibenmüssen oder daß wir niemals zu entgegengesetzten Resultaten gelangen könn-ten. Unsere Intuitionen halten sicherlich nicht alle einer rationalen Überprü-fung stand und es ist fraglich, ob es eine Mehrheit ist, die eine solche Überprü-fung besteht. Andererseits läßt sich die Vernünftigkeit von Gerechtigkeits-prinzipien nicht ohne weiteres unabhängig von unseren Intuitionen messen,und es gibt sicherlich intuitive Überzeugungen, die wir auch dann nicht opfernwürden, wenn die Gegenposition argumentativ zunächst unwiderlegbarscheint.

Dieses latent gespannte Verhältnis zwischen Intuitionen und begründetenPrinzipien scheint sich nun nicht immer in ein, Überlegungsgleichgewicht' imSinne Rawls' auflösen zu lassen, sondern anstatt zu einer geklärten Harmonie,in nur schwer auflösbare Zirkel zu führen, so daß angesichts konkurrierenderGerechtigkeitsprinzipien unklar bleiben kann, nach welchen Kriterien man dieKonkurrenz entscheiden soll (wenn man nicht - wie man bei Rawls vielleichtvermuten kann - von vornherein in die Prinzipien nur das hineinbringt, wasdurch unsere Intuitionen diktiert wird). Genau dieser Fall scheint nun für diehier behandelten Probleme zu drohen: Auf der einen Seite hat man es zu tunmit den Derivaten einer argumentativ nicht begründbaren absoluten Straf-theorie, die aber für sich reklamiert, ausgezeichnet zumindest mit einigen un-serer wesentlichen intuitiven moralischen Überzeugungen zusammenzustim-men; auf der anderen Seite stehen die Vertreter einer zweckrational begründe-ten Straftheorie, die sich der luziden Rationalität und einsehbaren Vernünftig-keit des Prinzips der Folgenorientierung rühmen, von ihren Gegnern aber vor-gehalten bekommen, daß die Anwendung dieses Prinzips auf bestimmte straf-rechtliche Probleme zu Ergebnissen führen würde, die mit unserem Gerech-tigkeitsgefühl unter keinen Bedingungen vereinbar seien.

Nehmen wir für den Moment an, diese Situationsbeschreibung wäre rich-tig, dann stünde man unausweichlich vor dem schwierigen Problem, das Ver-hältnis zwischen Intuition und Argumentation in bezug auf Fragen der Ge-

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rechtigkeit jedenfalls so weitgehend zu untersuchen, daß Alternativen deroben skizzierten Art entscheidbar würden. Wie diese Lösung am Ende auchaussähe, ich glaube nicht, daß man sehr glücklich mit ihr wäre. Aber ich denke,daß sich die Alternative bei den hier zur Diskussion stehenden Problemen inWirklichkeit nicht so stellt und man sich deshalb im Hinblick auf die Einschät-

zung des Wertes von intuitiven Gerechtigkeitsüberzeugungen zumindest indiesem Zusammenhang auf einen Minimalkonsens einigen kann. Ich möchtenämlich zeigen, daß ein richtig verstandenes und richtig angewandtes Prinzipder Folgenorientierung im Hinblick auf die Autonomie des Rechtsadressaten,das Prinzip der subjektiven Zurechnung und die rechtsstaatlichen Garantiendes bestehenden Straftatsystems mindestens so gut mit unseren Intuitionenübereinstimmt wie die traditionellen Prinzipien der strafrechtlichen Schuld-vergeltung, die unter anderen Aspekten als den hier diskutierten durchausnicht immer zu intuitiv annehmbaren Resultaten führen.

Zur Entscheidung der hier einschlägigen Alternativen muß man sich alsonur auf ein Minimalkriterium einigen, das ungefähr so lautet: "Wenn zweikonkurrierende Gerechtigkeitstheorien beide zu intuitiv akzeptablen Ergeb-nissen kommen, dann soll man sich für diejenige unter ihnen entscheiden, de-ren Aussagen und Argumentationen einfacher und klarer sind und die inter-subjektiv nachvollziehbaren Methoden der Überprüfung unterzogen werdenkönnen." Wenn hier die Rede davon ist, daß beide Theorien gleichermaßen zuintuitiv akzeptablen Ergebnissen kommen, dann bedeutet das natürlich nicht,daß sie zu denselben Ergebnissen kommen müssen. Das gilt vor allem nicht fürden Bereich, in dem unsere intuitiven Überzeugungen an Eindeutigkeit undIntensität verlieren.

Falls es also gelingt zu zeigen, daß eine folgenorientierte Rechtfertigungeines tatbezogenen Maßnahmerechts zu einer Rechtfertigung einiger für die-sen Bereich wesentlichen und zentralen intuitiven Gerechtigkeitsüberzeugun-gen führt, hätte man drei Vorteile erzielt: Erstens wird eine mühselige undu. U. unergiebige Diskussion um das Verhältnis zwischen intuitiven und dis-kursiven Kriterien für Gerechtigkeitstheorien umgangen; zweitens kann manden Ansprüchen derjenigen genügen, die den Wert intuitiver Überzeugungen,sei es begründet oder unbegründet, sehr hoch einschätzen: auch sie werdeneine Theorie, die intuitiv plausibel und rational begründbar ist, einer anderenTheorie vorziehen, die zwar auch zu intuitiv plausiblen Folgerungen kommt,aber mit metaphysischen oder zumindest schwer überprüfbaren Argumentenarbeitet; drittens aber können auch diejenigen zustimmen, die von Intuitionenauf diesem Gebiet wenig oder gar nichts halten, denn warum sollten sie es nichtbegrüßen, wenn eine vernünftige Theorie darüber hinaus mit unseren Intuitio-nen übereinstimmt bzw. belegen kann, daß zumindest einige unserer Intuitio-nen rational rekonstruierbar sind.