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Michaela Stich Existenzanalytische Aspekte der Sucht Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse Mai 2015 eingereicht von Dr. Michaela Stich eingereicht bei DDr. Alfried Längle und Dr. Silvia Längle

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Michaela Stich

Existenzanalytische Aspekte der Sucht

Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse

Mai 2015

eingereicht von Dr. Michaela Stich

eingereicht bei DDr. Alfried Längle und Dr. Silvia Längle

Inhaltsverzeichnis: Seite

Zusammenfassung, Schlüsselwörter/ Abstract, Keywords 3

Einleitung 4

1. Abhängigkeit und Sucht 5

1.1. Allgemeines 5

1.2. Der Begriff „ Sucht“ 6

1.3. Historisches 6

1.4. Klassifikation der Diagnose „ Abhängigkeit“ 7

1.5. Ätiologie 8

2. Sucht aus Sicht der Logotherapie und Existenzanalyse 9

2.1. Definition Logotherapie und Existenzanalyse 9

2.2. Die 4 personalen Grundmotivationen der Existenzanalyse 10

2.3. Sucht aus logotherapeutischer Sicht nach Viktor Frankl 21

2.4. Sucht aus Sicht der Existenzanalyse 21

3. Die Typologie nach Lesch ( Lesch, Walter, 1997) 22

mit besonderer Berücksichtigung des Typ IV

4. Dauerwohngemeinschaft für Typ IV- Alkoholkranke 24

4.1. Konzept 24

4.2. Abstinenz in der Suchttherapie 26

5. Der Test zur existentiellen Motivation 27

6. Untersuchung der Dauerwohngemeinschaft für 27

Typ IV- Alkoholkranke nach Lesch anhand des TEM

6.1. Untersuchungsablauf 28

6.2. Auswertung der Untersuchung 29

6.3. Diskussion 30

7. Resümee und Ausblick 37

Literatur 38

Zusammenfassung:

In der vorliegenden Arbeit wird im ersten Teil die Diagnose der Alkoholabhängigkeit näher

beleuchtet. Es wird hier vor allem auf die gängigen psychiatrischen Definitionen eingegangen und

ein kurzer Einblick in die Ätiologie der Suchterkrankungen gegeben.

Anschließend werden existenzanalytische Aspekte des Themas „Sucht“ beschrieben. In diesem

Kapitel findet sich auch eine zusammenfassende Erklärung von existenzanalytischen

Begrifflichkeiten, besonders eingegangen wird auf die 4 existenzanalytischen Grundmotivationen.

Im Dritten Kapitel wird die Typisierung von Alkoholkranken nach der Typologie nach Lesch

herausgegriffen und erklärt, um im Folgenden eine Wohngemeinschaft, die von 5 Alkoholkranken

Typ-IV nach Lesch bewohnt wird, näher zu beleuchten.

Es folgt die Untersuchung der 5 Bewohner mit Hilfe des „Tests für existenzielle Motivation“.

Das Untersuchungsergebnis zeigt einerseits, dass Defizite auf verschiedenen Grundmotivationen

zur Alkoholsucht führen können, andererseits unterstreicht es die Wichtigkeit aller 4

Grundmotivationen für die Abstinenz und die Lebensqualität von suchtkranken Menschen.

Schlüsselwörter: Alkoholabhängigkeit, Dürfen, Grundmotivation, Können, Mögen, Sollen,

Sinn, Sucht, Wohngemeinschaft

Abstract:

The first part of the paper has a closer look at the diagnosis of alcohol addiction. The most

common psychiatric definitions are mainly discussed with a short insight into the etiology of

addictive diseases.

Subsequently, existential analytic aspects of the theme 'addiction' are described. In this

chapter there is a summarizing description of the four basic motivations of existential

analytic terminologies, especially amplifying the four existential analytic basic motivations.

In the third chapter the types of alcoholics according to Lesch are described in order to have

a closer look at a flat sharing community of 5 type IV alcoholics.

In the next chapter, the examinations of the 5 residents, with the help of the ‘test for

existential motivation’ are given.

The results show on one hand that deficits in different basic motivations can lead to alcohol

addiction, on the other hand the importance of all 4 basic motivations for abstinence and life

quality of alcoholics.

Key words: alcohol addiction, may, basic motivation, can, want, shall, sense, addiction, flat

sharing community

Einleitung:

In unserer Gesellschaft ist die Alkoholabhängigkeit eine Erkrankung, die mit vielen Vorurteilen

verknüpft ist. Hartnäckig halten sich Meinungen, denen zu Folge es sich bei Abhängigkeiten nicht

um Erkrankungen handelt, sondern um persönliche Schwächen und Versagen. In meiner Ausbildung

zur Fachärztin für Psychiatrie verbrachte ich die ersten 18 Monate auf einer Suchtstation mit

besonderer Berücksichtigung für alkoholkranke Menschen in einem psychiatrischen Krankenhaus

in Deutschland. Damals fiel mir auf, dass selbst bei psychiatrischem Personal die Meinung

vorherrschte, die Patienten seien an ihrer Krankheit selbst schuld.

Auf der Station wurden alle alkoholabhängigen Patienten nach einem Schema behandelt. Es gab

eine 14 tägige körperliche Entgiftung, welche mit therapeutischen Gesprächen unterstützt wurde.

Anschließend wurden die meisten Patienten zur 3-monatigen Langzeittherapie in andere

Krankenhäuser geschickt. Mir fiel auf, dass die meisten Patienten in den 18 Monaten, in denen ich

auf der Station arbeitete, mindestens einen Rückfall erlitten. Aus den Krankenakten war zu

entnehmen, dass viele Patienten kaum abstinente Phasen zwischen den Spitalsaufenthalten hatten,

es gab Patienten, die bereits mehr als 100 Entgiftungen hinter sich hatten. Damals begann mich das

Phänomen Sucht zu interessieren und ich stellte mir die Frage, was die Patienten brauchten, um

längerfristig zufrieden und abstinent leben zu können. In meiner bisher 10 jährigen psychiatrischen

Erfahrung mit verschiedenen auf Suchtkranke spezialisierten Einrichtungen fand ich die Antwort

nicht.

In meiner existenzanalytischen Ausbildung schien mir das Konzept der 4 Grundmotivation für die

Behandlung von Menschen mit Suchterkrankungen besonders praktikabel. Über die Caritas

Gemeinde lernte ich den Verein Struktur kennen, der 2 Wohngemeinschaften für ehemals

obdachlose alkoholkranke Menschen geschaffen hat und betreut. Die Zielgruppe der

Wohngemeinschaft sind Typ- IV- Alkoholkranke nach Lesch, eine Untergruppe, die in den gängigen

Betreuungseinrichtungen durch besonders schlechte Prognosen hervorsticht.

Ich hatte das Glück, die eine der beiden Wohngemeinschaften persönlich kennen lernen zu dürfen.

Durch viele Gespräche mit den Bewohnern sowie Besuche in der Wohngemeinschaft und

Begegnungen bei Feiern und Freizeitaktivitäten gewann ich einen lebensnahen Einblick in den

Alltag der Bewohner. Dabei fiel mir auf, dass die Wohngemeinschaft so konzipiert ist, dass sie die 4

existenzanalytischen Grundmotivationen in ihrer Grundzügen berücksichtigt.

Die Projektberichte des Vereins Struktur decken sich mit meiner persönlichen Beobachtung der

Wohngemeinschaft, v.a. hinsichtlich der Rückfälle der Bewohner. Die hohe Abstinenzrate der

Bewohner ist für mich vor dem Hintergrund meiner psychiatrischen Ausbildung durchaus

erstaunlich.

Es stellte sich mir die Frage, ob diese hohe Abstinenzrate mit der Nährung der Grundmotivationen,

die durch die Wohngemeinschaft geschieht, zusammenhängt.

Aus dieser Überlegung heraus entstand die Idee, die Wohngemeinschaft nach existenzanalytischen

Aspekten zu untersuchen. Diese Arbeit soll einen kleinen Beitrag dazu leisten, Vorurteile gegen

alkoholkranke Menschen abzubauen. Weiters soll sie zeigen, wie wichtig es ist, in Abstimmung mit

dem persönlichen Können, Mögen, Dürfen und Sollen zu leben, um zu einer erfüllten Existenz zu

gelangen. Die Wohngemeinschaft für Typ-IV- Alkoholkranke nach Lesch liefert ein lebendiges

Beispiel dafür.

An dieser Stelle möchte ich den 5 Bewohnern der Wohngemeinschaft danken.

Ich habe viel von Euch lernen dürfen!

1. Abhängigkeit und Sucht

1.1. Allgemeines:

Definition: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Sucht als einen Zustand periodischer

oder chronischer Intoxikation, verursacht durch wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder

synthetischen Substanz, der für das Individuum und für die Gemeinschaft schädlich ist. Psychische

Abhängigkeit ist definiert als übermächtiges, unwiderstehliches Verlangen, eine bestimmte

Substanz/ Droge wieder einzunehmen ( Lust- Erzeugung und Unlust- Vermeidung). Physische

( körperliche) Abhängigkeit ist charakterisiert durch Toleranzentwicklung ( Dosissteigerung)

sowie das Auftreten von Entzugssymptomen.

Abusus oder Missbrauch beinhaltet den unangemessenen Gebrauch einer Substanz/ Droge, das

heißt überhöhte Dosierung und/ oder Einnahme ohne medizinische Indikation. Wiederholtes

Einnehmen führt zur Gewöhnung, psychisch durch Konditionierung, körperlich meist mit Folge der

Dosissteigerung.

Unter Alkoholmissbrauch im Speziellen wird ein Alkoholkonsum verstanden, der gegenüber der

soziokulturellen Norm überhöht ist, bzw. zu unpassender Gelegenheit erfolgt. Dies geht mit

vorübergehenden, deutlichen Veränderungen der psychischen und physischen Funktionen des

Konsumenten einher.

Alkoholabhängigkeit ist definiert durch das Vorliegen von psychischer und/oder körperlicher

Abhängigkeit vom Alkohol.

Psychische Abhängigkeit ist durch das unwiderstehliche Verlangen nach Alkohol („craving“)

charakterisiert und wird häufig von Kontrollverlust begleitet.

Körperliche Abhängigkeit ist durch Toleranzsteigerung mit nachfolgender Dosissteigerung und

Entzugserscheinungen gekennzeichnet. (Möller, Laux, Deister, 2001, 306, 315).

1.2. Der Begriff „Sucht“

Nach Laux (2001, 306) ist der Begriff Sucht ethymologisch auf das Wort „ siech“ ( krank)

zurückzuführen.

1888 definierte Meyers Konversationslexikon „ Sucht“ als ein in der Medizin veraltetes Wort, das

früher ganz allgemein Krankheit bedeutete, z.B. Schwindsucht, Fallsucht, Gelbsucht.

In Worten wie Tobsucht oder Mondsucht klingt ein Verständnis als krankhaftes Verlangen durch,

sowie ein allgemein auffälliges Verhalten durch Begriffe wie Eifersucht oder Habsucht beschrieben

wird.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Sucht häufig für unerwünschte Verhaltensweisen

oder Angewohnheiten verwendet, die mit süchtigen Fehlhandlungen im psychiatrischen Sinn, die

mit erheblichem Selbstzerstörungspotential einhergehen, nichts zu tun haben. ( z.B.

Schokoladensucht, Putzsucht, Fernsehsucht).

Unter dem Begriff „ Sucht“ werden von manchen Autoren auch die nicht stoffgebundenen

Abhängigkeiten abgehandelt, denen in den letzten Jahren im klinischen Bereich immer mehr

Bedeutung zukommt. Besonders erwähnenswert scheint unter diesen das pathologische Glücksspiel

( Spielsucht), das zuletzt im deutschsprachigen Sprachraum ein zunehmendes Problem darstellt.

Aus psychiatrischer Sicht, so Laux (2001,306), bezeichnet Sucht grundsätzlich pathologische

Verhaltensweisen, die einer „ süchtigen Fehlhaltung“entspringen.

1968 ersetzte die WHO den unscharfen Begriff „ Sucht“ durch „Abhängigkeit“.

1.3. Historisches

Der Wunsch des Menschen, der Wirklichkeit und den Ängsten des Alltagslebens wenigstens für

kurze Zeit zu entfliehen, dürfte so alt sein wie die Menschheit selbst.

Von berauschenden Substanzen ist bereits in zahlreichen vorchristlichen Schriften die Rede. So

beschreibt die Odyssee (Odyssee, 9. Gesang, Verse 347- 362), dass Odysseus den Kyklopen

Polyphemos betrunken machte, um ihn im Rausch zu überwältigen und so aus seiner

Unterdrückung zu fliehen.

Die psychotrope Wirkung des Weines wird in folgenden Worten beschrieben: „ Er nahm und er

trank. Es machte ihm schrecklich Freude, den süßen Trank so zu schlürfen. So bat er mich nochmal:

„ sei doch so gütig und gib mir den zweiten....“....Dreimal brachte und gab ich, vor Stumpfsinn

trank er auch dreimal. Als aber nun dem Kyklopen der Wein den Verstand überschwemmte,...“

Die alten Griechen sowie die Römer pflegten einen Kult des Weingottes Dionysos ( Bacchus), dem

sie in Gelagen opferten.

Bereits im ersten Buch des alten Testamentes, dem Buch Genesis, ist die zerstörerische Wirkung des

Alkohols beschrieben. Lot wird von seinen beiden Töchtern betrunken gemacht und im Anschluss

von ihnen vergewaltigt. ( Gen., 19, 33-35).

Im Gegensatz dazu wird der Wein im neuen Testament von Jesus Christus als heilendes Element im

„ Blut Christi“ und als Kultgetränk eingesetzt.

Die Spannweite zwischen dem Alkohol als Genussmittel und als zerstörerische Substanz scheint zu

allen Zeiten ein Thema der Menschen gewesen zu sein.

1.4. Klassifikation der Diagnose „Abhängigkeit“

Allgemein wird unterschieden zwischen stoffgebundener Abhängigkeit ( Medikamente, Drogen,

Alkohol,..) und nichtstoffgebundener Abhängigkeit ( Spielsucht, Kleptomanie, Pyromanie). Diese

Störungen mit suchthaftem Charakter werden in der Internationalen statistischen Klassifikation der

Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10) unter dem Kapitel

„ Impulskontrollstörungen“ abgehandelt. Die Magersucht und Bulimie ( Eß- Brech- Sucht) werden

ebenfalls unter einem eigenen Kapitel behandelt.

Bei den stoffgebundenen Süchten kann man zwischen legalen ( z.B. Alkohol) und illegalen ( z.B.

Kokain) Drogen unterscheiden. Diese Unterscheidung hat keine medizinische Relevanz.

Nach dem ICD- 10 ( Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte- Markwort, 1994) , müssen für die

Diagnose Abhängigkeit mindestens 3 der nachfolgenden Kriterien erfüllt sein:

1. Starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren.

2. Verminderte Kontrollfähigkeit

3. Körperliches Entzugssyndrom

4. Toleranzentwicklung ( Dosissteigerung)

5. Vernachlässigung anderer Interessen

6. Anhaltender Substanz- oder Alkoholkonsum trotz Nachweis schädlicher Folgen ( körperlich,

psychisch, sozial)

Die 5. Auflage des Klassifikationssystems Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,

der DSM- V (American Psychiatric Association, 2010a) führt erstmals den Substanzmißbrauch und

die Substanzabhängigkeit zu einem gemeinsamen Störungsbild, der Substanzgebrauchsstörung,

zusammen, da in einer Reihe von Studien die Differenzierbarkeit von Missbrauch und Abhängigkeit

in Frage gestellt wurde.

Es werden insgesamt 11 Kriterien für die Substanzgebrauchsstörung benannt. Bei Auftreten von 2

Merkmalen innerhalb eines 12- Monats- Zeitraums gilt die Substanzgebrauchsstörung als erfüllt.

Die Schwere der Symptomatik wird weiter spezifiziert:

Vorliegen von 2-3 Kriterien: moderat.

Vorliegen von 4 oder mehr Kriterien: schwer

1. Wiederholter Konsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei

der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt.

2. Wiederholter Konsum in Situationen , in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen

Gefährdung kommen kann.

3. Wiederholter Konsum trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher

Probleme

4. Toleranzentwicklung gekennzeichnet durch Dosissteigerung oder verminderte Wirkung.

5. Entzugssymptome oder deren Vermeidung durch Substanzkonsum

6. Konsum länger oder in größeren Mengen als geplant ( Kontrollverlust)

7. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche der Kontrolle

8. Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum der Substanz sowie Erholen von der Wirkung

9. Aufgabe oder Reduzierung von Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums

10. Fortgesetzter Gebrauch trotz Kenntnis von körperlichen oder psychischen Problemen.

11. Craving, starkes Verlangen oder Drang, die Substanz zu konsumieren

1.5. Ätiologie

Suchterkrankungen sowie die Alkoholsucht im engeren Sinne haben eine multifaktorielle Genese.

Für genetische Faktoren sprechen Adoptionsstudien, die eine erhöhte Konkordanz bei eineiigen

Zwillingen nachweisen konnten. Für die familiäre Häufung können allerdings auch psychologische

Faktoren ( „ Modelllernen“ ) verantwortlich sein.

Alkohol verändert bei chronischer Zufuhr verschiedene Neurotransmittersysteme. Durch die

Adaption entwickelt sich ein „ Suchtgedächtnis“, wodurch erklärt werden kann, dass ein langjährig

abstinenter Alkoholiker allein durch biologische Faktoren bedingt durch ein einziges alkoholisches

Getränk einen schweren Rückfall erleiden kann.

Auf psychologischer Ebene gibt es zahlreiche Risikofaktoren. Die Mehrzahl der psychischen

Störungen stellen einen erheblichen Risikofaktor für die sekundäre Entstehung einer Sucht dar,

wobei der Schweregrad der Sucht mit dem Schweregrad der Grundstörung positiv korrelieren

dürfte. „Broken Home“ - Situationen führen besonders häufig zur Sucht sowie negative Vorbilder in

der engeren Familie.

Soziokulturell ist beim Alkohol die ständige Verfügbarkeit von Bedeutung sowie berufsbedingte

Einflüsse, wie z.B. Arbeit in der Gastronomie. Häufig findet sich ein fließender Übergang vom

Genusstrinken zum abhängigen Trinken. Als erstes Anzeichen kann dabei festgemacht werden,

wenn der Alkohol eingesetzt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen.

2. Sucht aus Sicht der Logotherapie und Existenzanalyse

2.1. Definition Logotherapie und Existenzanalyse

Der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl ( 1905- 1997) gründete mit der Entwicklung der

Logotherapie die 3. Wiener Psychotherapeutische Schule.

Er wollte die Logotherapie dabei nicht als Alternative, sondern als Ergänzung der bisherigen

psychotherapeutischen Ansätze verstanden wissen. Frankl zufolge liegt die Hauptmotivation

menschlichen Handelns im Streben nach Sinn.

1983 wurde in Wien die „ Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse“ gegründet, die

basierend auf der Grundannahme Frankls, dass das Sinnstreben den Menschen motiviert, eine

eigenständige Psychotherapierichtung entwickelte.

Alfried Längle definiert die Existenzanalyse als eine phänomenologisch- personale Psychotherapie

mit dem Ziel, der Person zu einem ( geistig und emotional) freien Erleben, zu authentischen

Stellungnahmen und zu eigenverantwortlichem Umgang mit sich selbst und ihrer Welt zu verhelfen.

( Längle, 2005, 8)

Logotherapie wird heute als Spezialgebiet der Existenzanalyse gesehen, das sich der Analyse,

Prophylaxe und Therapie von Sinnproblemen und insbesondere der Behandlung von Sinnverlusten

widmet. ( Längle, 2005, 10)

Alfried Längle beschreibt 3 weitere personale Grundmotivationen, die erfüllt sein müssen, um die

Frage nach dem Sinn überhaupt stellen bzw. beantworten zu können.

Das Streben nach Sinn gilt als die 4. existenzielle Grundmotivation.

2.2. Die vier personalen Grundmotivationen der Existenzanalyse

Neben der von Frankl beschriebenen Sinnfrage als treibende Kraft menschlichen Handelns kennt

die Existenzanalyse 3 weitere Grundmotivationen, die der Sinnmotivation vorangehen.

1. Personale Grundmotivation:

Die erste Grundmotivation beschäftigt sich in erster Linie mit dem Können.

Der Mensch ist bewegt durch die Frage „ Ich bin- kann ich sein?“ ( Längle, 2007, 4) Das Können

ist grundlegend für die Motivation. Es stellt ein Verfügungspotential dar und ist dadurch die

Grundlage von Freiheit. Heidegger sieht im Können die Grundlage der Existenz, da alles, was wir

tun, eine Bezugnahme zum Sein darstellt. Auf dem Sein wiederum gründet alle menschliche

Wirklichkeit, es trägt die Existenz. Im Können ist uns nach Heidegger das Sein „ zuhanden“.

( Längle, 2007, 4)

Das erste Können besteht im Sein- lassen- Können: Die Dinge, meine Vorstellungen, mich selbst.

Das Sein- Lassen drückt sich im Wesentlichen in 2 Tätigkeiten aus: im Aushalten und im

Annehmen. Im Annehmen ist ein Akt der Demut enthalten: Ich nehme die Realität wahr, betrete

dadurch die Ebene der Wahrheit. Ich muss manche Wünsche und Vorstellungen loslassen, mich

ihnen unterwerfen. Die Voraussetzung für alles Annehmen ist das Gefühl: „ Ich kann damit sein.“

(Längle, 2007, 22)

Jedes Können hat 4 Voraussetzungen: es bedarf einer realistischen Einschätzung der Realität, die

Kenntnis der eigenen Energie sowie auch der Grenzen; es müssen die geeigneten Werkzeuge

gewählt werden und schließlich ist ein Konzept notwendig, um die Handlung letztendlich

durchzuführen. ( Längle, 2007, 7)

Im Nicht- Können erleben wir Scheitern. Alfried Längle ( 2007, 9) schreibt dazu: „ Im Scheitern

stoßen wir auf ein anderes Sein, dem wir nicht entkommen können, und das größer und mächtiger

ist als wir. Ein Sein, das über uns hinaus geht, über das wir nicht verfügen können, und das unser

Vorhaben zu Fall bringt. Scheitern gehört zum Leben. Es ist ein Zeichen der Reife, scheitern

ertragen zu können.“

Schwäche ist eine Form des Nicht- Könnens, dadurch nimmt sie Sein. Auf der Erlebensebene ist

eine Schwäche etwas, was man an sich nicht angenommen hat. ( Längle, 2007, 11) Wenn etwas

nicht angenommen werden kann, entsteht eine Angst, dass es zu Tage treten und für andere sichtbar

werden könnte. Diese Angst macht uns verletzlich. Sobald die Schwäche allerdings als Realität

angenommen werden kann, eröffnet sich wieder das Sein- Können. Schwächen annehmen und

zulassen kann auch Leiden verursachen, aber Leiden gehört zum Leben. Wird eine Schwäche nicht

angenommen, entsteht in der Regel größeres und komplexeres Leid.

Um sein zu können brauchen wir genügend Schutz, Raum und Halt in der Welt. Dafür ist vor allem

die Erfahrung des Angenommen- Seins notwendig, die den Menschen wiederum befähigt,

anzunehmen. Das Angenommen- Sein ist der stärkste Schutz für das Sein- Können. ( Längle, 2007,

27)

Um einen Raum zu erschließen, in dem sich das Können entfalten kann, ist es wichtig, in Abstand

zu dem zu gehen, worin wir stehen, damit wir mit Distanz die Umstände betrachten und eine

realistische Sichtweise entwickeln können. Das Raumhaben hat neben der psychischen naturgemäß

auch eine physische Dimension. Gibt es einen Wohnraum, einen Lebensraum, eine Zufluchtsraum?

Was für einen Herkunftsraum hat jemand? Dazu gehört auch der Begriff der Heimat, als der primäre

Raum, wo eine Person sein kann, wo sie sich zugehörig fühlt und wo es einen geschützten und

vertrauten Bewegungsraum für sie gibt. Das Gefühl des zu Hause Seins weist letztlich auf das

Verwurzeltsein im Raum und in der Welt hin. Die äußeren Räume des Zuhauses nähren dieses

Gefühl. ( Längle, 2007, 34)

Halt wird gewonnen durch die Erfahrung, dass es Menschen gibt, die mit einem etwas aushalten

können, ebenso durch die Erfahrung, dass man selbst etwas aushalten und durchstehen kann und die

Welt immer noch hält und nicht wegbricht. ( Längle, 2007, 27) Halt gibt uns Festigkeit, Stabilität

und Kraft. Er gibt Sicherheit, bietet aber auch Widerstand. ( Längle, 2007, 36)

Im Halterleben erfährt die Person, dass es etwas gibt, worauf sie sich verlassen kann.

Im Weltbezug gibt alles Halt, was Struktur und Ordnung gibt, wie eine regelmäßige Tätigkeit, eine

Wohnung, aber auch Gesetze und Regeln, nach denen man sich richtet.

Auf der Beziehungsebene ist Verläßlichkeit und Treue das haltgebende Element. Das Gefühl, dass

trotz allem immer wieder jemand da ist. Dieses Gefühl, das letztlich weniger ein Gefühl, als ein

vertrauendes Wissen ist, ist auch das haltgebende Moment im Glauben. Jeder Halt bleibt jedoch

brüchig, wenn er nicht in Verbindung steht mit einem gewissen Vertrauen auf sich selbst, einem

Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, den Körper. Halt wird auch genährt durch die Beziehung der

Person zu sich selbst. Es gibt Halt, wenn eine Person zu sich stehen und für sich eintreten kann.

( Längle, 2007, 42-43)

Das Mittel, um Halt zu finden, ist die Wahrnehmung der Realität. In der Wahrnehmung wird das,

was ist, sein gelassen- es darf sein. Es stellt sich immer auch die Frage, ob diese Realität für eine

Person aushaltbar ist. Dazu müssen die 3 Grundbedingungen des sein Könnens erfüllt sein: es muß

genügend Halt vorhanden sein, um die Realität tragen zu können, genügend Schutz, um nicht

bedroht zu sein und genügend Raum, um selbst sein zu können. Wenn diese Bedingungen gegeben

sind, kann die Realität in ihrer Gesamtheit wahrgenommen und erkannt werden. Sind sie nicht

erfüllt, entsteht Angst. Diese wiederum hindert die Person an der Wahrnehmung und Annahme des

Gegebenen.

Die Antwort des Individuums auf den erlebten Halt ist das Vertrauen. Die Voraussetzung für das

Vertrauen ist die Vertrauenswürdigkeit. Ist diese gegeben, kann die Kontrolle abgegeben werden.

„Vertrauen ist die Einwilligung, sich einer haltgebenden Struktur zu überlassen, um die

wahrgenomme Unsicherheit (Risiko) zu überbrücken.“ ( Längle, 2007, 48)

Der letzte Grund des Vertrauens besteht in Selbsttreue, Urvertrauen und Grundvertrauen.

Ein tiefes intimes Vertrauen wird genährt durch das unbedingte Wissen, durch den Entschluss, dass

man letztendlich bei sich gut aufgehoben ist.

Das Urvertrauen stammt entwicklungspsychologisch betrachtet aus der Erfahrung, dass Menschen

in lebenswichtigen Zeiten bedingungslos zu einem gehalten haben. In vielen therapeutischen

Schulen wird das Urvertrauen als eine festgeschriebene, in der Kindheit entstandene Größe gesehen,

die später nicht mehr verändert werden kann. Die Existenzanalyse geht davon aus, dass der Kern

des Urvertrauens zwar durch frühe Erfahrungen entsteht, dass er aber durch die Summe aller

späteren Beziehungserfahrungen überformt wird und daher eine veränderliche Größe darstellt.

Demgegenüber sieht die Existenzanalyse im Grundvertrauen ein Vertrauen darauf, dass im Letzten

auch diese Welt noch gehalten wird. Es geht über in ein transzendentales Vertrauen. Das

Grundvertrauen wird definiert als letzter ( unbewusst) vollzogener Akt des Sich- Einlassens in den

jeweils als „ letzten“ empfundenen Halt- in das, was sich einem als Seinsgrund zeigt. ( Längle,

2007, 57) Als Seinsgrund sieht Heidegger den Boden, in dem die Wurzeln des Grundvertrauens

stecken. Durch dieses Grundvertrauen entsteht das Gefühl, dass es „ immer irgendwie weitergeht“.

Das Grundvertrauen ist der menschliche Grundakt zum Glauben.

Eine gut genährte 1. Grundmotivation führt zu einem festen Grundvertrauen. Ist die 1.

Grundmotivation schwach, führt das zu Angst und Verunsicherung. Auf psychopathologischer

Ebene liegt die Ursache für alle Angststörungen in einer geschwächten ersten Grundmotivation.

Dort liegt auch der Verlust des Bodens und der Realität in der Psychose.

Auch bei Suchterkrankungen spielen Haltverlust und mangelndes Grundvertrauen meist eine große

Rolle. Die Realität kann häufig nicht angenommen werden, da sie für die betreffende Person mit

Scham verknüpft ist. In der Sucht ist das Können erschüttert, die Sucht übernimmt die Führung. Im

Fall von Wohnungslosigkeit kommt es zu weiterem Verlust von Schutz, Halt und Raum. Mit

zunehmender Dauer wird in der Regel das Selbstvertrauen geschwächt, und es entstehen Ängste.

Häufig besteht die Motivation, in diesem Stadium weiter zu trinken, in der Bekämpfung dieser

Ängste und in einer zumindest kurzfristigen Realitätsflucht.

2. Personale Grundmotivation:

Die 2. Grundmotivation beschäftigt sich mit dem Mögen.

Der Mensch ist bewegt durch die Frage „ Ich lebe- mag ich leben?“.

Wenn der Boden für das Dasein in der ersten Grundmotivation gegeben ist, stellt sich die Frage:

„ ich bin da- aber als was bin ich da?“ Der Mensch erfährt sich als Lebender.

In der 2. Grundmotivation findet die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Leben statt.

Mögen bzw Nicht- Mögen kann definiert werden als „Erleben des Bewegtwerdens“. ( Längle, 2002,

4)

Dieses Bewegtwerden wird aus 2 Richtungen genährt: Mögen entsteht von innen heraus aus der

Lust, die sich an einem äußeren Wert entfacht. Es entsteht ein Lust Haben auf etwas, bzw ein sich

angezogen Fühlen von etwas.

Die existenzalytische These besagt, dass der Mensch als ganzer nur im Zusammenspiel mit der

psychischen Dimension leben kann. So wie der Körper das Substrat der ersten Grundmotivation ist,

ist die psychische Dimension das Substrat der zweiten Grundmotivation. Die Existenzanalyse

postuliert, dass durch das Übergehen der psychischen Dimension, die im Mögen enthalten ist, eine

psychische Bedürftigkeit entsteht, die Ersatz sucht. An dieser Stelle sieht die Existenzanalyse den

Keim der Sucht.( Längle, 2002, 7)

Die Voraussetzung, das Mögen aufgreifen zu können, ist eine verwirklichte 1. Grundmotivation. In

der Not, in der Psychose, immer, wenn das Können blockiert ist, ist die Frage nach dem Mögen

nachrangig und stellt sich in der Regel gar nicht.

Ist die erste Grundmotivation gesichert, können wir nach dem Mögen fragen.

Mögen braucht Zeit und Zuwendung. Erst dadurch kann das Mögen gefühlt und aufgenommen

werden. Auch die Dauer des Bestehens eines Wertes hat Einfluss auf das Mögen. Wenn wir auf eine

gewisse Beständigkeit vertrauen können, hilft uns das, uns auf ein Mögen einzulassen.

Die Frage nach dem Mögen führt zur Beziehungsaufnahme zu sich selbst und zu anderen, zur

Beziehungsaufnahme zum Leben.

Durch die Beziehungsaufnahme zu sich selbst und die innere Beziehung entstehen Gefühle als

Geschenk des Lebens an die Person.

Wenden wir uns dem zu, wo uns Leben abhanden gekommen ist, lassen wir uns von diesem Verlust

berühren und bewegen, entsteht auf der Ebene der 2. Grundmotivation das Gefühl der Trauer. Die

Tränen sind ein Zeichen dafür, dass es in einer Person trotzdem lebendig ist, obwohl sie glaubte, das

Leben verloren zu haben. Im Weinen entsteht die Quelle neuen Lebens- trotz allem. Selbstmitleid in

der Trauer schafft Nähe zu sich selbst und setzt dadurch sozusagen die Naht für die innere Wunde.

Indem sich die Person in der Trauer sich selbst zuwendet und sich erlaubt, sich um sich selbst zu

kümmern, gewinnt sie wieder an Leben. ( Längle, 2002, 13-14)

Gelingt die Zuwendung zu sich selbst nicht, bzw. wird die Trauer aus Angst vor dem Schmerz nicht

zugelassen, entsteht Depression als Ausdruck der Gefühllosigkeit.

Jede Beziehung zu anderen Menschen, zur Natur, zu Gott, zur Kunst ist durch Zuwendung und Zeit

genährt. Im Erleben von Beziehung entsteht das Grundgefühl: „Ich mag leben“ als Wurzel allen

Werterlebens. Diese Grundbeziehung wird gestärkt durch die Zuwendung zum Erleben und die

Bereitschaft zum Erleiden.

Wenn wir Nähe zulassen, entstehen Gefühle. Alfried Längle definiert Gefühl als die Wahrnehmung

einer Sache in ihrer Bedeutsamkeit für das eigene Leben ( Längle, 2002, 28). Dadurch haben

Gefühle eine enorme Bedeutung für die Lebensqualität und die persönliche Erfüllung im Leben.

„ Nicht viel Wissen sättigt die Seele, sondern die Verkostung der Dinge von innen.“ ( Ignatius von

Loyola).

Infolgedessen sind die Folgen einer erfüllten 2. Grundmotivation Lebenslust, Liebe, Genuss,

Verbundenheit sowie auch die Fähigkeit um Wertvolles zu trauern.

Den überdauernden Gefühlszustand, der einem die Qualität des aktuellen In- der- Welt- Seins

spiegelt, nennt man Stimmung.

Ein Mangel auf der Ebene der 2. Grundmotivation führt zur Depression. In der Depression ist das

Erleben blockiert, Gefühle können nicht wahrgenommen werden. Daher ist in der Depression auch

keine Trauer möglich. Gefühle, die aufgrund ihrer Bedrohlichkeit nicht wahrgenommen werden

können, führen zur emotionalen Verflachung und zur Depression. Es kann keine Nähe mehr

aufgenommen werden, die Zuwendung funktioniert nicht mehr und das Werterleben erlischt.

Die Depression sagt: „ Es ist nicht gut, dass ich lebe.“

Wie oben erwähnt, entsteht durch diesen Mangel an Leben und Lebendigkeit oft der erste Schritt in

die Sucht, die Ersatz verspricht, da viele Suchtmittel in der Lage sind, die emotionale Blockiertheit

kurzfristig zu durchbrechen. Dadurch entstehen aber keine reifen, durch die Zuwendung und Nähe

genährten Gefühle, die ins Werterleben führen, sondern beispielsweise im Falle von Alkohol eher

eine ungerichtete Emotionalität, die auf eher körperlicher Ebene die Tränen zwar fließen lässt, aber

den Schmerz nicht orten kann, sodass die Person nicht in die Verarbeitung des unterdrückten

Schmerzes kommt.

3. Personale Grundmotivation:

Die 3. Grundmotivation beschäftigt sich mit dem Dürfen.

Der Mensch ist bewegt durch die Frage „ Ich bin ich- darf ich so sein?“ ( Längle, 2009, 6)

Es geht um die Individualität, die Einzigartigkeit , Unverwechselbarkeit, Unterschiedlichkeit und

Abgegrenztheit. Es geht um das Ich, die innere Bestimmtheit in Abgrenzung zum anderen, um das

tiefste entschlossen Sein im Gewissen und um die Intimität der Person.

Bei gegebener Sicherheit auf der 1. Grundmotivation und Nähe auf der 2. Grundmotivation, kann

die 3. Grundmotivation nun die Frage nach der Klarheit stellen. Erst ein klares Ich, das das eigene

zu fassen bekommt, kann dem Du begegnen. Die Begegnung mit dem Du ist wiederum Grundlage

für die Bildung des Ichs.

Bedingung für die Ausbildung eines Selbst ist das „ Ja zur Person“. Für diesen Prozeß braucht es

Wertschätzung und Respekt. ( Längle, 2009, 5)

Es geht also um das Finden und Vertreten des Eigenen. Selbstfindung ist nur in der Abgrenzung

zum anderen möglich. Eine Grenzziehung kann allerdings nur dort erfolgen, wo es eine

Wertschätzung gegenüber der eigenen Person gibt. Wo man nicht zu sich stehen kann, ist auch keine

Abgrenzung möglich. Jede Abgrenzung geschieht für etwas und schützt einen Wert. Mit jedem Nein

wird also etwas anderes bejaht. Bei jedem Nein gilt es zu klären, um welches Ja es geht. ( Längle,

2009, 10)

Wird dieses Eigene vom anderen nicht gesehen, wird personale Offenheit abgewiesen oder Grenzen

nicht respektiert, führt das zum Ich- Verlust. ( Längle, 2009, 20) Dieses verloren Sein führt zu einer

inneren Leere und Einsamkeit und im Innersten zum tiefsten Schmerz des Nicht-so-sein-Dürfens. In

der Tiefe der verletzten Person empfinden wir Gefühle wie Scham, Ekel, Neid, Eifersucht,

Schadenfreude und Ärger.

Die personale Verarbeitung des verletzten Selbst besteht im Verzeihen. Im Verzeihen wird der

andere aus der Schuld entlassen, es gibt keine offene Rechnung mehr. Verzeihen fällt schwerer,

wenn der andere nicht einsichtig ist, aber es ist dennoch möglich, da es ein Akt des Subjekts ist und

mit der Beziehung im Grunde nichts zu tun hat. Verzeihung bedeutet auch: den anderen als Person

sehen.

Ist das Ich deswegen verletzt, weil sich die Person von sich selbst entfremdet hat, entsteht in der

personalen Zuwendung das Gefühl der Reue. Bereuen ist der parallele Akt zum Verzeihen nach

innen hin. ( Längle, 2009, 25-28)

Ist das Selbst verletzt, ist es auch hilfreich, wenn der Person Trost zugesprochen wird, es lindert das

Gefühl der Einsamkeit.

Um ein gesundes Selbst zu entwickeln, ist die Wertschätzung unumgänglich. Sie ist die Keimzelle

für die Intimität der Begegnung. Für die Wertschätzung ist ein Hinsehen notwendig. Wenn

Wesentliches gesehen wird, entsteht Achtung und daraus die Wertschätzung. Alfried Längle ( 2009,

32) schreibt dazu: „ Wenn ich einen Menschen nicht schätzen kann, habe ich ihn in seinem Wesen

nicht gesehen.“

Für eine realistische Ich- Wahrnehmung und eine gesunde Selbstwertbildung braucht der Mensch

Beachtung. Der unerläßliche Anfang des Selbstwerts ist, dass man von anderen so gesehen wird,

wie man ist. Dadurch entsteht Selbstbeachtung, und eine Rücksichtnahme auf sich selbst kann

wachsen. Durch die Beachtung der Grenzen einer Person kann diese ihre Identität entwickeln und

ein Selbstbild entsteht.

Die Beachtung einer Person bereitet den Boden für Gerechtigkeit. Eine Person kann sich nur selbst

finden, wenn sie gerecht behandelt wird. Die Erfahrung der Person, dass sie in ihrem Wert gesehen

und dass die Umwelt ihr darin gerecht wird, erweckt das Gefühl für sich selbst.

Entwicklungspsychologisch gesehen entwickelt sich zuerst die Fähigkeit der Abgrenzung des

Eigenen, dann das Gefühl für Gerechtigkeit und schließlich in der Pubertät die Betonung der

Individualität. Dabei wird wie oben beschrieben der Selbstwert zuerst durch andere induziert, dann

durch die eigene Stellungnahme verankert. Gelingt diese Verankerung durch die Stellungnahme der

Person nicht, bleibt sie immer abhängig von der äußeren Wertschätzung, wie das z.B. beim

Narzißmus der Fall ist. ( Längle, 2009, 35-38)

Zu negativen Selbstwertinduktionen kommt es, wenn die Person in ihrer Intimität verletzt wird, z.B.

durch Abwertung, Grenzüberschreitung, Ungerechtigkeit, funktionieren Müssen.

Selbstwertprobleme werden dadurch sichtbar, dass Personen immer wieder negativ über sich

sprechen oder im Gegenteil sich überbewerten und kritiklos großartig finden. ( Längle, 2009, 59)

Ein gut ausgebildeter Selbstwert führt dazu, dass die Person ihr Dasein als gut ansieht und ihr

Verhalten realistisch einschätzen kann.

Die innere Aktivität zur Selbstwertbildung, die die Person selbst in der Hand hat, besteht aus den

gleichen 3 Bausteinen, nur von innen ausgehend: Selbstbetrachtung, Selbstbeachtung und

Selbstachtung. Über eine realistische Einschätzung seiner selbst , ist es notwendig, sich selbst ernst

zu nehmen und nach reifer Reflexion schließlich Stellung zu beziehen.

Durch ein inneres Ja zu sich selbst kann die Person zur Verankerung des Selbstwertes beitragen.

Dadurch kommt es zur Ich- Bildung und der Boden wird gelegt für wahre Begegnungsfähigkeit.

Erst die Not und das Faktum, dass es Einsamkeit gibt, drängt die Person dazu, dieses innere Ja zu

sprechen. Ein gewisses Maß an Leid und Einsamkeit ist daher notwendig zur Entwicklung der

Person.

Authentisch ist eine Person dann, wenn sie sich und ihr Handeln auf sich selbst abstimmt. In der

Authentizität ist die Person sie selbst ohne sich fremd bestimmen zu lassen. Sie kann sich

verantworten und geht sich nicht verloren. Sie ist das ursprüngliche, echte Ich, die innere

Wahrhaftigkeit, das Wesen. In der Echtheit wurzelt das Gespür.

Im tiefen Grund der 3. Grundmotivation treffen wir auf die Person und ihr Gewissen. Die Person ist

existenzanalytisch gesehen die Fähigkeit, mit dem Faktischen und dem Welthaften umzugehen.

( Längle, 2009, 65) Sie entwickelt sich am Gegenüber.

„Das ich wird Ich am Du.“ ( Frankl) , wobei die Grundlage dafür in der Kindheit gelegt wird: „Das

Du ist älter als das Ich.“ ( Nietzsche).

Persönlich wird es da, wo Offenheit herrscht im Bewegtsein, wo sich eine Person zeigt, wo im

Austausch sichtbar wird, worin sie bewegt wird.

Frankl definiert die Person als „das Freie im Menschen“. Die Person kann nach Frankl immer auch

anders sein, ist dadurch nicht berechenbar. Sie ist einzigartig und steht immer im Wechselverhältnis

mit dem anderen, von dem sie sich einerseits abgrenzt und auf das sie sich andererseits bezieht. Die

Person ist das Ansprechbare, Verstehende und Antwortende im Menschen. ( Längle, 2009, 70) Der

Ort der Begegnung der Person mit sich selbst ist die Intimität. Gemäß Thomas von Aquin ist das,

was in der Person aufkommt, immer gut, weil es mit der Person und ihrem Leben zu tun hat. Das

„ Böse“, die Schuld, bricht dann über die Person herein, wenn das, was in der Tiefe aufkommt,

nicht aufgegriffen wird. ( Längle, 2009, 74)

Das kann aus Unwissenheit entstehen oder aus Nachlässigkeit.

Die Intimität der Person wird geschützt durch die Scham. Die unverletzte Scham ermöglicht es, in

der Intimität vertrauensvolle Gespräche zu führen, mitzufühlen und respektvolle Distanz zu wahren.

Die verletzte Scham äußert sich im Sich Schämen, wenn Persönliches inadäquat preisgegeben wird.

Scham kann das Opfer wie den Täter befallen und kann blockierend wirken für die Heilung.

( Längle, 2009, 78-81)

In der Tiefe des Personseins reift das Gewissen. Es zeigt die Richtung an, die zu einem Optimum

an Wert in dieser Situation und unter dieser Konstellation von Umständen führt. Das Gespür sagt

uns, auf was etwas hinauslaufen wird. Das Medium des Gewissens, über das es wahrnimmt, ist also

das intuitive Gefühl. Das Gewissen ist die wohlmeinende leise innere Stimme, die Antwort gibt auf

die Frage „ Darf das so sein?“ ( Längle, 2009, 125)

Das Gewissen kann definiert werden als Gespür für die Hierarchie der Werte in einer Situation im

Hinblick auf das, was die Person insgesamt für gut hält und daher als „ richtig“ empfindet. ( Längle,

2009, 130)

Alle Arten von Grenzverletzungen, vor allem Traumata, führen zu einer Schwächung auf der 3.

Grundmotivation, also zu einer Verwundung der Tiefenperson.

Störungen auf der 3. Grundmotivation führen zu Einsamkeit, Ruhelosigkeit und Funktionieren ohne

innere Stellungnahme. Oft dominiert ein Gefühl der Leere und die Unfähigkeit, die eigenen

Grenzen zu schützen. Auf der 3. Grundmotivation verletzte Menschen sind oft schambesetzt und

angewiesen auf Bestätigung von außen. Auf psychopathologischer Ebene sind auf der 3.

Grundmotivation die Persönlichkeitsstörungen, vor allem die narzißtische und die histrionische

Persönlichkeitsstörung, sowie die Traumafolgestörungen angesiedelt.

In weiterer Folge führen auch Verletzungen auf der 3. Grundmotivation häufig in die Sucht.

Suchtmittel können kurzfristig helfen, den inneren Schmerz nicht zu spüren. Im Alkoholrausch

kann das verletzte Selbstwertgefühl vergessen werden, und einsame Menschen beginnen über ihre

Bewegtheit zu sprechen. Auf der anderen Seite verhindert die Sucht wiederum die Nachnährung des

Selbst, da das Erwachen des Wesentlichen sozusagen im Keim ertränkt wird und so nicht zur

Oberfläche kommen kann.

4. Personale Grundmotivation:

Die 4. Grundmotivation beschäftigt sich mit dem Sollen.

Der Mensch ist bewegt durch die Frage „ Ich bin da- wofür soll mein Leben sein?“. Im Vollzug der

4. Grundmotivation ist der Mensch gefordert, den Ruf der Situation zu erkennen und zu

beantworten. Die 4. Grundmotivation umfasst somit die von Viktor Frankl beschriebene Sinnfrage

als Motivation menschlichen Handelns. Die 3 oben beschriebenen Grundmotivationen sind

Voraussetzung für die existenzielle Antwort auf den Ruf der Stunde. Sind die ersten 3

Grundmotivationen gut genährt, sind wir bereit für die Welt, für Taten in der Welt. Die 4.

Grundmotivation führt uns in die existentielle Wende. ( Längle, 2010, 7)

Viktor Frankl schreibt dazu: „ Die Frage nach dem Sinn des Lebens schlechthin ist sinnlos, denn sie

ist falsch gestellt, wenn sie vage „ das“ Leben meint und nicht konkret „ je meine“ Existenz. Holen

wir zu einer Rückbesinnung auf die ursprüngliche Struktur des Welterlebens aus, dann müssen wir

der Frage nach dem Sinn des Lebens eine kopernikanische Wende geben: Das Leben selbst ist es,

das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte,

der dem Leben zu antworten - das Leben zu verantworten hat. Die Antworten aber, die der Mensch

gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete „ Lebensfragen“ sein. In der Verantwortung des

Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz selbst „ vollzieht“ der Mensch das Beantworten

ihrer eigenen Fragen. “ ( Frankl, 1987, 96)

Nach Frankl liegt Sinn „ draußen in der Welt“. Er kann nicht ohne Bezugnahme zur Welt nach Lust

und Laune erfunden werden. Sinnfindung verlangt im Gegenteil zuerst eine Zurückstellung seiner

eigenen Wünsche und Ideen, um sich statt dessen in eine Abstimmung mit der Realität und der

jeweiligen Situation zu bringen. Existentieller Sinn ist bei Frankl daher ein Leben in Weltoffenheit

statt in ( rücksichtsloser) Selbstverwirklichung. ( Längle, 2010, 19)

Um eine Antwort auf die Frage der jeweiligen Situation zu geben, ist es in erster Linie notwendig,

die Frage zu hören und zu verstehen. Dazu ist eine phänomenologische Offenheit nach Innen sowie

nach Außen unabdingbar. Wenn die Frage einer Situation erkannt wird und die Person

draufgekommen ist, worum es geht und worum es nicht geht, ist schon viel getan. Die Grundfrage

der existentiellen Wende lautet: „ Was machst du mit dem, was da ist, damit daraus etwas Gutes

werden kann?“ ( Längle, 2010, 22)

Es geht nicht darum, große vorgestellte Werte zu erreichen. Es geht vielmehr darum, die

Gegebenheiten, Widrigkeiten, vielleicht Krankheiten des eigenen Lebens anzunehmen und daraus

etwas zu machen. Es braucht daher eine gewisse Werteflexibilität beim existentiellen Sinn. Wenn

bestimmte Wertvorstellungen, die aufgrund der Widrigkeiten der Situation nicht verwirklicht

werden können, nicht losgelassen werden können, kann es aufgrund der Wertefixierung zur

Sinnlosigkeit kommen. Die phänomenologisch wertoffene Haltung führt zur Verlagerung der

Aufmerksamkeit auf einen Bereich, wo es noch Freiheit gibt. Leben ist nicht das Geplante, sondern

das, was sich einstellt. ( Längle, 2010, 23)

Das Streben nach Sinn bzw. der Wille zum Sinn steht in engem Verhältnis zu den 4

Grundmotivationen. „ Ein Wille ist dann frei und ganzheitlich, wenn er auf das Können, Mögen,

Dürfen und Sollen ( den situativen Anspruch) abgestimmt ist.“ ( Längle, 2010, 35)

In der Praxis stellt sich bei Problemen mit dem Willen immer die Frage, ob alle 4

Grundmotivationen enthalten sind.

Die Basis für Sinnfindung ist immer das Angesprochensein von Werten. Wir erleben dort Sinn ,wo

wir sehen, dass wir selbst etwas zum Besseren in der Welt beitragen können.

Frankl hat die Werte in 3 Kategorien eingeteilt, die die gesamte Fläche, wo Sinn gefunden werden

kann, abdecken.

Er unterscheidet die Erlebniswerte, die schöpferischen Werte und die Einstellungswerte.

Erlebniswerte werden dadurch spürbar gemacht, indem wir etwas Wertvolles aus der Welt

aufnehmen, was wir als gut oder schön erleben. Wir werden von der Welt beschenkt und nehmen

das Geschenk an.

Schöpferische Werte werden dadurch verwirklicht, indem man etwas tut, wodurch die Welt besser

wird. Das kann das Schaffen eines Werks sein (z.B. einen Kuchen backen) oder eine gesetzte Tat im

Bewusstsein, dass Taten Weichenstellungen sind und dass durch meine Tat die Situation anders

läuft.

Unter Einstellungswerken versteht Frankl den Wert der Einstellungen für die unausweichlichen und

unabänderlichen Situationen. Wenn ich keine äußere Freiheit mehr habe, so bleibt immer noch eine

Freiheit- die Freiheit nach innen hin. ( Längle, 2010, 83-86)

Auf der 1. Grundmotivation stellt sich hier zuerst die Frage, ob das Leid von der Person getragen

werden kann. Die 2. und 3. Grundmotivation fragen danach, wie das Leid getragen werden kann.

Auf der 4. Grundmotivation stellt sich schließlich die Frage, wofür bzw. für wen das Leid getragen

werden kann.

Die Sinnfrage unterscheidet zwischen dem ontologischen und dem existentiellen Sinn.

Die ontologische Sinnfrage ist die Frage nach dem Sinn von Sein. Sie führt letztlich zur Frage nach

Gott. Frankl setzt den ontologischen Sinn mit dem „ Übersinn“ gleich und meint: Wir wissen nicht,

ob unser Leben ein einziger großer Sinn oder ein einziger großer Unsinn ist. Diese Frage kann nur

entschieden werden, indem wir entweder so handeln, als ob unser Leben einen letzten Sinn hätte,

oder als ob es keinen letzten Sinn hätte. ( Frankl, 2005, 124)

Psychologisch gesehen hat jeder Mensch zur ontologischen Sinnfrage einen Glauben.

Die existentielle Sinnfrage ist die Frage nach dem Sinn meines Handelns. Der existentielle Sinn ist

kein vorgegebener Sinn, sondern ein Sinn, der durch mich jetzt erst entsteht. Längle definiert den

existentiellen Sinn als „ die wertvollste Möglichkeit in einer Situation“ ( Längle, 2010, 94)

Frankl bezeichnet einen Zustand von Sinnlosigkeitsgefühlen, die noch nicht krankhaft sind, als

„ existentielles Vakuum“. ( Frankl, 1987, 18) Er meint damit das Leiden an einer „ abgrundtiefen

Sinnlosigkeit“ und Langeweile mit den Folgen von Interessenlosigkeit und Apathie.

Nach Frankl ist das existentielle Vakuum noch nicht als pathologisch anzusehen. Unter gewissen

Umständen kann sich jedoch das existentielle Vakuum in Form von neurotischen Symptomen

niederschlagen. In solchen Fällen spricht Frankl von der „ noogenen Neurose“. ( Frankl, 1987, 32)

Das existentielle Vakuum ist somit potentiell pathogen, andererseits kann es auch Symptom einer

psychischen Erkrankung, z.B. einer Depression sein.

Nach Frankl führt der Sinnverlust zum existentiellen Vakuum mit seinen Symptomen und in der

Folge zu den klinischen Störungen Aggression, Depression, Suizidalität und Sucht.

Es ist evident, dass die Sinnlosigkeit bei allen Suchtkranken eine Rolle spielt, wobei es aus Sicht

der Existenzanalyse noch nicht klar ist, ob es sich um ein sekundäres Phänomen handelt ( d.h.

Suchthandlungen werden als sinnlos erlebt) oder um eine (Mit-)Ursache der Suchtentstehung.

( Längle, 2010, 131)

2.3. Sucht aus logotherapeutischer Sicht nach Viktor Frankl

Wie oben erwähnt beschreibt Frankl Suchterkrankungen als Folge von Sinnleere und Wertverlust im

Sinne eines „ existenziellen Vakuums“. Seinen Überlegungen zufolge strebt Sucht nach einem

Glücksgefühl, ohne einen Grund zum Glücklichsein zu suchen.

„ Tatsächlich lässt sich das Glücksgefühl, das normalerweise menschlichem Streben gar nicht als

Ziel vorschwebt, vielmehr lediglich eine Begleiterscheinung des sein Ziel- erreicht- Habens

vorstellt- diese Begleiterscheinung, dieser „ Effekt“lässt sich auch „ haschen“ und die Einnahme

von Äthylalkohol macht es möglich.“( Frankl, 1977, 19)

2.4. Sucht aus Sicht der Existenzanalyse

Die heutige Existenzanalyse, die von Alfried Längle weiterentwickelt wurde, schließt an Frankl an,

der das Sinnstreben als innerste Motivation des Menschen und die Sucht als Folge der Sinnleere

sieht.

Aus existenzanalytischer Sicht bedarf es jedoch der Erfüllung der ersten drei personalen

Grundmotivationen, um die Sinnfrage überhaupt stellen, bzw. beantworten zu können. Das Streben

nach Sinn wird als 4. existenzanalytische Grundmotivation gesehen.

Die 4 Grundmotivationen können als 4 aufeinander aufruhende Stufen betrachtet werden, die

einander zur Voraussetzung haben. Demnach können sich Süchte nicht nur aus einer

unbeantworteten Sinnfrage entwickeln, sondern auch aus Defiziten der anderen 3

Grundmotivationen.

Längle und Probst ( 1997) beschreiben das Leiden in der Sucht im Freiheitsverlust und seinen

Folgen.

Die Übermacht der Sucht drängt den Menschen zu Handlungen, die er als Person nicht vertritt.

Süchtige beschreiben häufig, dass im Trinkrückfall eine tiefe innere Absage an die Sucht wie von

außen überrollt wird. Die Sucht wird im Nachhinein wie eine außerhalb der Person liegende Macht

erlebt, gegen die der Suchtkranke, wenn sie überhandnimmt, aus eigener Kraft nicht mehr

ankommen kann. Längle und Probst (1997, 80) beschreiben dieses Phänomen als Paradoxon, dass

der Süchtige Täter und Opfer zugleich ist. Darin wird der apersonale Charakter der Sucht sichtbar.

In der Sucht handelt der Mensch nicht als freie, verantwortungsbewußte Person, sondern als

Getriebener.

Weiters postulieren Längle und Probst (1997,23) 4 Elemente, die neben den oben beschriebenen

Theorien zur Suchtentstehung aus existentieller Sicht eine wesentliche Bedeutung haben. Es handelt

sich um 2 suchtmachende Haltungen und 2 existentielle Mangelsyndrome:

Die suchtmachenden Haltungen:

a) Passivierung durch die Wunschhaltung:

Der Abhängige lebt in einer unrealistischen Wunschhaltung nach Glück, ohne dazu einen aktiven

Beitrag zu leisten.

b) Leidvermeidung:

Das Leid wird als wertlos angesehen und nicht als Durchgangspassage zu neuem Leben.

Es erfolgt eine Flucht in die Sucht, um sich dem Leid nicht stellen zu müssen.

Die existentiellen Mangelsyndrome:

a) Sinnmangel und Sinnverlust:

Der Süchtige leidet daran, dass er Werte nicht spüren kann. Er entwickelt eine Erlebnissucht, einen

„ Hunger nach Leben“, hinter dem ursprünglich ein Hunger nach existenziellen Werten steht.

b) Inauthentizität und unsicherer Grundwert:

Der Süchtige lebt in einer Haltung des Nicht- Wahrhaben- Wollens und der Leugnung. Er lebt in

innerer Dissonanz, weil er existenziell nicht zu seinem Suchtverhalten steht.

In der existenzanalytischen Therapie der Sucht lohnt es sich, diese 4 Elemente phänomenologisch

gut auszuleuchten. Weiters werden alle 4 Grundmotivationen durchgegangen, um die vorrangig

betroffene herauszufinden und zu stärken.

3. Die Typologie nach Lesch ( Lesch, Walter, 1997) mit besonderer

Berücksichtigung des Typ IV

Otto Lesch nimmt bei seiner Typologie Bezug auf Ursachen, Verlauf und prognostische Aspekte

der Alkoholsucht, wobei er vier Typen unterscheidet.

Typ I: Alkoholkonsum aufgrund von „ biologischem Verlangen“

Alkoholkonsum führt zu Toleranzentwicklung und schweren Entzugssymptomen. Es sind keine

wesentlichen Auffälligkeiten der Persönlichkeit fassbar. Die Kindheit ist unauffällig. Bei diesen

Patienten kann auch nach langer Abstinenz jeder Rückfall ein starkes Alkoholverlangen auslösen,

weswegen stützende Psychotherapie und Selbsthilfegruppen zum Schutz gegen sozialen Trinkdruck

Erfolg versprechend sind.

Typ II: Alkoholkonsum aufgrund von „ psychologischem Verlangen“

Alkoholiker dieses Typs verwenden Alkohol als Bewältigungsstrategie bei Konflikten und als

Selbsttherapie bei Angst und Unruhe. Maßgeblich sind Störungen in der frühkindlichen und

familiären Entwicklung. Eine psychopharmakologische Behandlung kann leicht zu einer

Symptomverschiebung in Richtung Beruhigungsmittelabhängigkeit führen. Therapieziel muss die

Verbesserung der Lebensbedingungen sein. Absolute Abstinenz ist oft nicht notwendig.

Typ III: Alkoholkonsum zur Behandlung von psychiatrischen Zustandsbildern

Alkoholiker dieses Typs verwenden Alkohol als Selbstmedikation bei Befindlichkeitsstörungen und

Schlafproblemen. Antidepressive Medikation und Phasenprophylaktika sollten hier zur

Unterstützung psychotherapeutischer Verfahren eingesetzt werden.

Typ IV: Alkoholkonsum infolge „ frühkindlicher Vorschädigung und Entwicklungsstörungen“

Die Typ IV- Untergruppe der Alkoholkranken umfasst diejenigen Personen, die im psychiatrischen

Alltag oft als „ hoffnungslose Fälle“ abgestempelt werden.

Lesch bezeichnet als Typ- IV- Alkoholiker Patienten mit eindeutigen cerebralen Schädigungen

( Schädel- Hirn- Traumata, cerebrale Infektionen, Epilepsie, etc..) und/ oder massiver

psychosozialer Deprivation ( Vernachlässigung, Traumatisierung,..).

Aufgrund der einschlägigen Vorgeschichte finden sich bei Typ- IV- Alkoholikern sehr häufig

psychische und/ oder somatische Folgeerkrankungen sowie schwerwiegende soziale Probleme wie

Obdachlosigkeit, Haftaufenthalte, Langzeitarbeitslosigkeit.

Unter den psychischen Erkrankungen finden sich vor allem neurotische Störungen, wie z.B.

Angsterkrankungen und Depression sowie Persönlichkeitsstörungen.

Bei der existenzanalytischen Betrachtung fällt auf, dass beim Typ- IV- Alkoholiker alle 4

Grundmotivationen mehr oder weniger stark betroffen sein können, in der Regel besteht von

Vornherein eine Schwäche auf mehreren Grundmotivationen. So führen strukturelle Probleme wie

Obdach- oder Arbeitslosigkeit zu einem Einbruch der ersten Grundmotivation, signifikant viele

Typ- IV- Alkoholiker sind in Heimen aufgewachsen, die Halt- und Schutzlosigkeit war in vielen

Biographien von vornherein vorprogrammiert.

Das Fehlen einer stabilen Bezugsperson in der Kindheit mündet oft in Beziehungsschwierigkeiten

im Erwachsenenalter, Mangel an Nähe und Depression als Schwäche auf der 2. Grundmotivation

können die Folge sein.

Die 3. Grundmotivation bezieht sich auf die Person mit ihren Grenzen und die Beziehung zu sich

selbst. Diese ist bei persönlichkeitsgestörten Menschen sowie Menschen mit schweren Traumata in

der Anamnese stark beeinträchtigt, also ebenfalls bei einem Teil der Typ- IV- Alkoholiker.

In der 4. Grundmotivation ist der Mensch gefordert, auf die jeweils anstehende Frage des Lebens an

ihn zu antworten. In der Sucht, die um das Suchtmittel und seine Wirkung kreist, ist der Mensch in

der 4. Grundmotivation blockiert.

4. Dauerwohngemeinschaft für Typ- IV – Alkoholkranke

2005 wurde durch den Verein „Struktur“ die erste Dauerwohngemeinschaft für obdachlose Typ IV-

Alkoholkranke nach Lesch gegründet. In den letzten Jahren kann eine hohe Abstinenzrate in der

WG verzeichnet werden. Im Projektbericht 2010 wird folgender Überblick über die Trinkrückfälle

der vergangenen Jahre gegeben: „ Ende 2008 waren alle Bewohner der Wohngemeinschaft

monatelang 100% abstinent, in den Jahren 2009 und 2010 erreichten wir einen Gesamt-

Abstinenzwert von 99%. Ein Bewohner trank 6 Tage, ein anderer 17 Tage verteilt auf jeweils

umgrenzte Krisenphasen- im Zuge von schweren intrapsychischen Krisen. Alle anderen Bewohner

schafften die Abstinenz trotz Krisen, die die Gemeinschaft zu bewältigen hatte.“ ( Verein Struktur,

2010, 5) Im folgenden wird die Wohngemeinschaft vorgestellt und nach existenzanalytischen

Gesichtspunkten beleuchtet.

4.1. Konzept

Wie oben beschrieben handelt es sich bei Typ IV- Alkoholkranken um chronisch mehrfach

geschädigte Alkoholkranke, die in Fachkreisen oft als „ hoffnungslose Fälle“ abgestempelt werden.

Es ist hinlänglich bekannt, dass der komplexen Problematik von psychosozialer Beeinträchtigung

und Wohnungslosigkeit, zu deren Symptomen auch Alkoholabhängigkeit gehört, nur durch ein

hochgradig vernetztes Hilfssystem begegnet werden kann und dass solche Hilfssysteme aufgrund

der Komplexität der Anforderungen meist nicht gegeben sind. ( Verein Struktur 2012, 5)

Die meisten therapeutischen Konzepte zur Behandlung der Alkoholsucht basieren auf der Annahme,

dass es sich bei der Alkoholabhängigkeit um ein homogenes Krankheitsbild handelt.

Da die Erfahrung zeigt, dass bei solchen Konzepten eine Reihe von Patienten in ihrer Problematik

nicht erfasst werden, erscheint eine Einteilung der Süchtigen nach der Typologie nach Lesch, die für

die einzelnen Typen verschiedene therapeutische Empfehlungen anbietet, sinnvoll.

Unter den wohnungslosen Alkoholikern finden sich besonders häufig Typ- IV- Alkoholiker, d.h.

Patienten mit einer psychiatrischen Basisstörung, sozialer Deprivation und cerebraler

Vorschädigung.

Oft gelingt es nicht, für ehemals wohnungslose Menschen eine für ihre individuelle

Problemsituation förderliche Wohnlösung zu finden.

Viele psychisch Kranke sind in Wohnprojekten für Obdachlose überfordert, insbesondere wenn in

ihrem Umfeld viel Alkohol konsumiert wird. Weiters zeigt sich in betreuten Einzelwohnungen

genauso wie in zahlreichen Wohnungslosen- Einrichtungen eine zunehmende Vereinsamung trotz

vorhandener sozialer Angebote.

Oft werden jahre- bis jahrzehntelange Therapie und Betreuungsarbeit in einzelne Personen

investiert, die am Ende dieser aufwendigen und teuren Prozesse dann doch einsam, unglücklich und

weiter trinkend in ihren Wohneinheiten einem raschen körperlichen Verfall oder auch dem Suizid

entgegen gehen. ( Verein Struktur 2012, 2).

Eine weitere Beobachtung zeigt, dass es immer wieder alkoholkranke Menschen gibt, die im

alkoholfreien Umfeld den Alkoholkonsum längerfristig einstellen. In dieser Gruppe handelt es sich

Beobachtungen des Vereins Struktur und eigenen Beobachtungen zu Folge besonders häufig um

Typ- IV- Patienten, also um eine Patientengruppe, für die der soziale Faktor für viele Lebensbelange

entscheidender ist als andere.

Weiters hat sich gezeigt, dass es Patienten gibt, die sich wiederholt in suchtspezifische Spitäler

„ flüchten“, ohne dass eine längerfristige Verbesserung ihrer Befindens erzielt werden kann.

Offensichtlich ist der Anreiz für solche Aufenthalte häufig nicht der Wunsch nach langfristiger

Alkoholabstinenz, sondern eher das Entkommen aus dem Leidensdruck der sozialen Situationen

dieser Menschen, wie Einsamkeit, Wohnungslosigkeit, Strukturlosigkeit.

Alkoholkranke, ehemals wohnungslose Menschen haben oft auch mit dem Problem der Arbeits-

und Beschäftigungslosigkeit zu kämpfen, wodurch die Einsamkeit der Menschen noch erhöht wird.

Bewohner von Einzelwohnungen sehen aufgrund von mangelnden sozialen Netzwerken oftmals nur

die Rückkehr in die früheren, durch Alkohol geprägten Beziehungen, indem sie ihre früheren

Stammlokale aufsuchen. In den Gedanken vieler alkoholkranker Menschen sind Alkohol und

Sozialkontakte eng miteinander verknüpft.

Demzufolge ist es vielversprechend, alkoholfreie Lebensräume zu schaffen, in denen die Patienten

die Erfahrung des sozial eingebunden Seins ohne Alkohol machen können.

In der Geschichte der Suchttherapie ist bekannt, dass das Leben in Gemeinschaft einen

therapeutischen Effekt hat. ( Verein Struktur, 2012, 10)

Der Verein Struktur geht in seinem Arbeitsansatz basierend auf einer Untersuchung von Young

davon aus, dass die soziale Strukturierung des Gehirns anthropologisch und biologisch

transpathogen ist, d.h. dass die Motivation des Menschen, sich in eine soziale Gruppe zu

integrieren, so stark und tragfähig ist, dass sie auch bei psychischen und psychiatrischen

Krankheiten stabilisierend wirken kann. Das freiwillige Leben in Gemeinschaft aktiviert auch auf

hirnbiologischer Ebene über die sozialen Impulse Ressourcen in der Person. ( Young, 2001, 133-

138)

In der Arbeit des Vereins Struktur hat sich gezeigt, dass die Eingliederung einer Person in eine

Wohngemeinschaft etwa 2 Jahre in Anspruch nimmt. Im Falle der untersuchten

Dauerwohngemeinschaft für Alkoholkranke Typ-IV nach Lesch sind in diesem Prozess auch immer

wieder Bewohner aus der Gruppe herausgefallen, da sie in die Dynamik der sich entwickelnden

Gemeinschaft nicht mehr hineinpassten.

Mit der Zeit wandelte sich die Gruppendynamik zu einer Gemeinschaftsdynamik, in der die

Bindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern tragfähiger und belastbarer wurden.

Christian Wetschka vom Verein Struktur geht davon aus, dass es vor allem 3 Faktoren sind, die in

der Therapie von psychisch Kranken Menschen, die aus allen sozialen

Sicherheitsnetzen herausgefallen sind, wirksam sind: ein sicherer Wohnplatz, stabile

Beziehungen und eine sinnvolle Beschäftigung. ( Verein Struktur, 2012, 11)

4.2. Abstinenz in der Suchtherapie

Abstinenz als allgemeines Therapieziel bei alkoholkranken Menschen muss vor dem Hintergrund

der aktuellen Suchtforschung stark relativiert werden. State of the art sind heute Programme, in

denen auch Trinkmengenreduktion oder kontrolliertes Trinken angeboten werden. (Verein Struktur

2012, 8) Diese Optionen sind allerdings für Typ-IV- Patienten, die häufig durch cerebrale Schäden

in ihren Exekutivfunktionen wesentlich eingeschränkt sind, nicht realistisch. Die Erfahrung zeigt,

dass in ihrem Fall erst ein abstinentes Umfeld eine Verbesserung der Verläufe ermöglicht. Der

überwiegende Teil der vorhandenen Wohn- und Betreuungseinrichtungen ist derzeit nicht

abstinenzorientiert und entspricht damit vermutlich auch den Bedürfnissen der Mehrzahl der

alkoholkranken Menschen. Allerdings wird es dadurch jener Gruppe der Patienten , für die die

Abstinenzerhaltung aufgrund von mangelnder Kontrollfähigkeit wichtig ist, besonders schwer

gemacht, ohne Alkohol zu leben.

Andererseits ist auch selbstverständlich, dass das Leben in einer Gemeinschaft nur auf freiwilliger

Basis, nie auf Zwang, basieren kann. Das Ziel der therapeutischen Wohngemeinschaft für Typ- IV-

Alkoholiker ist die Schaffung eines abstinenten Umfeldes zur Erleichterung der selbstgewählten

Abstinenz vom Alkohol.

5. Der Test zur existentiellen Motivation ( TEM)

Der Test zur existentiellen Motivation ( TEM) wurde 2000 von A. Längle und P. Eckhardt

entwickelt mit dem Ziel, die Ausprägung der vier existentiellen Grundmotivationen zu erfassen.

Der TEM ist kein störungsspezifisches Instrument, sondern hat das Ziel, die Person mit ihren

Ressourcen und Strukturschwächen zu erfassen.

Er beinhaltet 56 Items, jeweils 14 auf eine Grundmotivation bezogen. Die erste Grundmotivation

wird im Test mit Grundvertrauen ( GV) bezeichnet, die zweite Grundmotivation mit Grundwert

(GW), die dritte mit Selbstwert ( SW) und die vierte mit Sinn des Lebens ( SdL). Die Items sind

gemäß einer 6-stufigen Skala zu beantworten. Bei der Auswertung wird aus den Ergebnissen der

einzelnen Items für jede Grundmotivation ein Rohwert ermittelt. Ein niedriger Rohwert weist auf

eine schwache Ausprägung der jeweiligen Grundmotivation hin. Der TEM wurde von P. Eckhart an

1013 Personen aller Alters- und Berufsgruppen der österreichischen Bevölkerung normiert.

6. Untersuchung der Dauerwohngemeinschaft für Typ- 4- Alkoholkranke

nach Lesch anhand des TEM

In der vorliegenden Untersuchung soll einerseits ein Vergleich der Bewohner der

Wohngemeinschaft mit der Normalbevölkerung vorgenommen werden. Dafür wurde jeder

Bewohner ersucht, den TEM vom Standpunkt seiner heutigen Situation auszufüllen. Dieser Teil der

Untersuchung hat das Ziel, das nach psychiatrischen Diagnosekriterien homogene Krankheitsbild

der Alkoholabhängigkeit Typ- 4 nach Lesch anhand der Grundmotivationen zu beleuchten, und die

Hypothese zu stärken, dass sich das Phänomen der Sucht auf personaler Ebene durch

Strukturschwächen auf verschiedenen Grundmotivationen entwickeln kann und es sich somit um

ein existentiell gesehen disharmonisches Phänomen handelt. Da nur eine sehr kleine Zahl von

Patienten ( 5) untersucht wurden, kann diese Behauptung nur im hypothetischen Bereich bleiben,

allerdings kann sie unterstrichen werden.

Andererseits soll die Untersuchung die personale Entwicklung jedes einzelnen Bewohners seit dem

Einzug in die Wohngemeinschaft zeigen. Dafür wurden die Bewohner gebeten, sich an ihre

psychische Verfasstheit vor dem Einzug in die Wohngemeinschaft zu erinnern, und den TEM aus

dieser Position heraus zu beurteilen. Dieser Teil der Untersuchung soll die Ressourcen, die die

Bewohner mit Hilfe der Wohngemeinschaft entwickeln konnten, beleuchten.

6.1. Untersuchungsablauf

Die Bewohner wurden außerhalb jeglichen therapeutischen Settings im persönlichen Gespräch

gefragt, ob sie an einer Untersuchung mit dem TEM teilnehmen möchten. Es war ihnen wichtig,

diese Frage vorerst untereinander zu besprechen und eine gemeinsame Antwort darauf zu finden.

Als Hauptmotivation, sich der Untersuchung zu unterziehen, gaben sie an, einerseits dabei helfen zu

wollen, die Stärken der therapeutischen Wohngemeinschaft herauszuarbeiten. Andererseits betonten

sie, es als sinnvoll zu erleben, mir beim Abschluss meiner Psychotherapieausbildung helfen zu

können sowie die weitere Etablierung des TEM zu fördern.

Allein in diesem Gespräch waren Ressourcen auf der 2.,3. und 4. Grundmotivation zu erkennen.

Nachdem sich die Bewohner zur Teilnahme an der Untersuchung entschlossen hatten, wurde ihnen

im Rahmen eines gemeinsamen Gesprächs im Gemeinschaftsraum der Wohngemeinschaft der Test

ausgeteilt. Es wurde ihnen erklärt, dass es keine " richtigen" oder " falschen" Antworten gebe und

dass es das Ziel sei, die Fragen möglichst spontan und authentisch zu beantworten. Nach der

Besprechung suchte sich jeder Teilnehmer einen ruhigen Platz in der Wohngemeinschaft, um den

Test ohne Außeneinflüsse ausfüllen zu können. Alle Tests wurden nach einer Zeit zwischen 10 und

20 Minuten wieder abgegeben.

Anschließend wurde den Bewohnern der 2. Teil der Untersuchung erklärt. Sie wurden ersucht,

sich emotional und gedanklich in die Zeit zurückzuversetzen, in der sie von der Sucht gefangen und

noch nicht in der Wohngemeinschaft waren, und vor diesem Hintergrund den Test auszufüllen.

Gemeinsam wurde beschlossen, dass aufgrund der erforderlichen Konzentration das Bearbeiten des

2. Tests nicht am gleichen Tag stattfinden sollte. Die Teilnehmer wünschten sich eine Variante, in

der jeder selbst den Zeitpunkt bestimmen konnte, wann er den Test ausfüllen möchte. Als

Zeitspanne zum Ausfüllen des Tests wurden wieder etwa 20 Minuten vereinbart, um die

Spontaneität und Authentizität beim Ausfüllen zu gewährleisten. Der Test wurde verteilt, und es

wurde vereinbart, dass die fertig bearbeiteten Fragebögen 4 Tage später gesammelt an mich

ausgehändigt werden sollten, was ein Bewohner exakt zum vereinbarten Zeitpunkt im Auftrag aller

erledigte.

6.2. Auswertung der Untersuchung

Teil 1:

Vergleich der Bewohner der Dauerwohngemeinschaft für Typ- 4- Alkoholkranke nach

Lesch mit der Allgemeinbevölkerung:

Da der TEM eine Skala von Intervallen anbietet, wurde der jeweiliger Mittelwerte errechnet. Zur

besseren Vergleichbarkeit wurden die Rohwerte durch die Anzahl der Items ( jeweils 14 ) dividiert.

Bei dieser Vorgangsweise entsteht zu jeder Grundmotivation ein Zahlenwert, der mit den Werten

der Normalbevölkerung, die von P. Eckhardt untersucht wurden, verglichen werden kann.

Skalenwerte unter 3,5 bedeuten, dass der Untersuchte hauptsächliche verneinende Antworten

gegeben hat.

Da in unserem Fall die untersuchte Gruppe lediglich aus 5 Personen besteht, wird im Folgenden

darauf verzichtet, einen Mittelwerte aus den Ergebnissen der Untersuchten zu bilden, es werden die

errechneten Werte für jeden Bewohner einzeln angeführt.

Zum Vergleich mit der Normalbevölkerung wurden die Fragebögen, die die Klienten aus heutiger

Sicht ausgefüllt haben, verwendet:

GV GW SW SdL

Normalpopulation: 4,8 5,3 4,8 5,0

Klient 1 4,21 4,86 4,64 4,79

Klient 2 4,8 4,5 4 4,43

Klient 3 4,7 5,8 5 4,5

Klient 4 5,6 5,9 5 5,7

Klient 5 3,9 4 3,4 2,7

Teil 2:

Vergleich der Bewohner der Dauerwohngemeinschaft für Alkoholkranke Typ IV nach Lesch zum

heutigen Zeitpunkt mit der Zeit vor der Aufnahme in die Wohngemeinschaft:

Die Errechnung der Werte erfolgte wie oben beschrieben.

Als verblüffendes Ergebnis erscheint bei dieser Untersuchung die große Diskrepanz der

Skalenwerte der jeweiligen Einzelperson vor und nach dem Einzug in die

Wohngemeinschaft. Im Folgenden werden für jeden Klienten beide Werte angegeben:

Klient 1: GV GW SW SdL

vorher 1,29 0,71 0,93 0,79

nachher 4,21 4,86 4,64 4,79

Klient 2: GV GW SW SdL

vorher 1,8 1,35 1,43 2

nachher 4,8 4,5 4 4,43

Klient 3: GV GW SW SdL

vorher 3,3 4 3,14 2,14

nachher 4,7 5,8 5 4,5

Klient 4: GV GW SW SdL

vorher 2,85 4,6 2,5 4,6

nachher 5,6 5,9 5 5,7

Klient 5: GV GW SW SdL

vorher 1,8 1,1 0,9 1

nachher 3,9 4 3,4 2,75

6.3. Diskussion:

Im ersten Teil der Untersuchung ist auffällig, dass es im Gesamtbild nur bei Klient 5 eine größere

Diskrepanz zu den Werten der Normalbevölkerung gibt, alle anderen kommen nahezu an die Werte

der Normalbevölkerung heran. 2 Klienten erreichen teilweise sogar Werte, die diejenigen der

Normalbevölkerung teilweise überschreiten, obwohl es sich bei den Alkoholkranken der Gruppe

Typ- IV nach Lesch um eine Patientengruppe handelt, die nach psychiatrischer Lehrmeinung als

nicht bzw. nur schwer therapierbar gilt.

Klient 4 verzeichnet in allen Grundmotivationen einen höheren Wert als die Normalbevölkerung.

Klient 4 ist der älteste und langjährigste Berwohner der Wohngemeinschaft. Er ist 73 Jahre alt, hat

in seinem Leben eine Reihe von schwersten Schicksalsschlägen erlitten, ist seit jungen Jahren

alkoholabhängig und war jahrelang auf der Straße. Seine jüngste Vergangenheit war geprägt von

einem Speiseröhrenkarzinom, an dem er vor ca 2 Jahren erkrankte. Ein monatelanger

Spitalsaufenthalt mit Operation und nachfolgender Strahlen- und Chemotherapie war notwendig.

Nach Hause entlassen wurde er mit einer perkutanen endoskopischen Gastrotomie (PEG), ein

endoskopisch angelegter künstlicher Zugang von außen in den Magen durch die Haut und

Bauchwand zur Ernährung. Er selbst sowie seine Mitbewohner und Freunde der Wohngemeinschaft

lernten die Sonde zu bedienen. Der Klient war massiv abgemagert, wurde gequält von Schmerzen,

Schwäche und Übelkeit. Vor einigen Monaten konnte die PEG- Sonde wieder entfernt werden. Der

Klient hat aber nach wie vor massive Probleme mit der Nahrungsaufnahme. Außerdem ist er seit der

Krankheit aufgrund seiner Schwäche nur noch mit Rollator gehfähig, vorübergehend war er im

Rollstuhl.

Im Anschluss an die Strapazen der Erkrankung kam es zu einem kurzem Trinkrückfall, wobei

sowohl durch den Klienten selbst als auch durch seine Mitbewohner rasch der Leiter der

Wohngemeinschaft informiert und ein stationärer Aufenthalt zur Krisenintervention organisiert

wurde.

Beachtlich ist, dass Klient 4 in der Untersuchung trotz oben genannter Umstände in allen 4

Grundmotivationen über der Normalbevölkerung liegt.

Betrachtet man seine Werte im 2. Teil der Untersuchung fällt auf, dass er in der Entwicklung von

Grundvertrauen und Selbstwert große Sprünge gemacht hat, der Grundwert und der Sinn des

Lebens waren auch während der akuten Phase der Sucht relativ gut ausgeprägt.

Beobachtet man Klient 4 in seinem Alltag in der Wohngemeinschaft, sieht man die hohen Werte im

TEM bestätigt. Es entsteht der Eindruck, dass er der ruhende Pol der Wohngemeinschaft ist. Durch

seine körperlichen Einschränkungen verbringt er viel Zeit zu Hause, wobei er gern in der

Gemeinschaftsküche sitzt. Er beschäftigt sich mit Malen und Lesen, er ist ein ausgesprochen guter

Zuhörer, interessiert sich für seine Mitmenschen und versteht es, die anderen mit seinem oft etwas

makaberen Humor aufzuheitern. Sein Zimmer hat er nach seinem Geschmack eingerichtet, es

hängen viele Bilder, die er selbst gemalt hat, sowie Fotos von Freunden und von seiner früh

verstorbenen Lebensgefährtin.

Als ältester der Wohngemeinschaft wird er von seinen Mitbewohnern oft beziehungsvoll „Opa“

genannt. Solange es sein körperlicher Zustand zulässt, nimmt Klient 4 an allen Aktivitäten der

Wohngemeinschaft teil. Im Theaterprojekt „Kreativ am Werk“ hat er viele Jahre lang Rollen

übernommen, aktuell ist er gesundheitsbedingt zu einer Pause gezwungen.

An seinem Beispiel sieht man eindrucksvoll, wie die Struktur der Wohngemeinschaft ihm Halt und

Schutz gibt. Seit er in der WG wohnt, konnte er auch ein starkes Selbstwertgefühl ausbilden. Dieser

Halt, das Werterleben, sein positiver Selbstwert und der Sinn im Leben sind ihm trotz der tiefen

Erschütterung durch eine lebensbedrohliche und körperlich massiv einschränkende Krankheit nicht

verloren gegangen.

Die Werte von Klient 5 zeigen die größte Diskrepanz zur Normalbevölkerung. Allerdings zeigt sich

auch in seinem Fall eine gewaltige Entwicklung auf allen 4 Grundmotivationen vom Zeitpunkt der

Obdachlosigkeit und aktiven Sucht bis heute.

Klient 5 leidet trotz intensiver Zuwendung zum Mögen immer wieder unter depressiven

Verstimmungen, die medikamentös und psychotherapeutisch behandelt werden. Er berichtet trotz

Medikation häufig über Schlafstörungen, die ihn aufgrund der Tagesmüdigkeit in seinem Alltag

einschränken. Auch er ist jemand, der seine Defizite annimmt und mit ihnen lebt. Er ist der einzige

der 5 Klienten, der nicht mehr ganz in der Wohngemeinschaft lebt, sondern teilweise bei seiner

Lebensgefährtin. Da diese berufstätig ist, ist er untertags so gut wie immer in der

Wohngemeinschaft. Häufig übernimmt er das Kochen für das Mittagessen.

Auch Klient 5 spielt Theater. Ursprünglich fühlte er sich dafür zu unsicher. Als 2010 ein Kollege

einen Alkoholrückfall erlitt, wollte er die anderen nicht hängen lassen und übernahm 2 Wochen vor

der Aufführung eine große Rolle. Im Projektbericht wurde damals ein Interview mit ihm

abgedruckt. Es folgen einige Auszüge daraus, die charakteristisch für seine Person sind

(Projektbericht, Pro 2010, Kreativ am Werk, 32-33):

Wie geht es dir als Einspringer?

„Mittelmäßig. Ich mache mir selber zu viel Druck, obwohl eh alle dankbar sind und helfen wollen.

Ich sag mir, auch wenn ich es nicht kann, probier ich es halt. Und dann mach ich mich selber fertig.

Ich bin dann unsicher innerlich. Das merkt man äußerlich nicht...“

Der ausgefallene Schauspieler ist ein Wohnungskollege von dir. Wie geht es dir damit?

„Da mach ich mir auch einige Gedanken, das kann mir auch passieren. Auch wenn man sich

bemüht, gibt es keine Garantie. Aber er ist jetzt nicht ausgestoßen, er ist ein super Bursch ,und wir

stehen hinter ihm.“

Macht dir die Schauspielerei Spaß?

„Na ja, ich bin ja in einem gewissen Sinn ein geborener Schauspieler. Man spielt auch im Leben

viel, damit die anderen nicht mitkriegen, was mit dir los ist. Das hab ich von Jugend an gemacht.“

Hat sich deine Stimmung seit dem Einzug in die Wohngemeinschaft verändert?

„Ja, es ist schon besser geworden. Wenn ich alleine wäre, wäre ich schon wieder abgestürzt. Wenn

Leute da sind, kannst du dich nicht so einfach gehen lassen. Mir alleine wäre es wurscht, aber mit

den anderen geht es nicht. Insofern hat sich mein Leben schon verbessert, obwohl ich schon

schwierige Phasen habe, nur trinke ich halt dann nix mehr. Die anderen in der WG sind eine

moralische Stütze sozusagen, weil sie auch gegen das Trinken ankämpfen.“

Aus dem Text wird deutlich, dass Klient 5 immer wieder an Selbstunsicherheit und Sinnmangel

leidet. Durch die Struktur und die Beziehungen der Wohngemeinschaft fühlt er sich gehalten und

verstanden, was ihm hilft, sein Leben wieder anzugehen.

Auffallend im 2. Teil der Untersuchung ist, dass es vor der Stabilisierung der Klienten durch die

Dauerwohngemeinschaft kein einheitliches Muster in der Ausprägung der Grundmotivationen gibt.

Bei allen Klienten gab es vor dem Einzug in die Wohngemeinschaft eine Schwächung auf allen 4

Grundmotivationen mit unterschiedlicher Ausprägung.

Die Behauptung, dass Alkoholsucht auch existentiell gesehen kein einheitliches Krankheitsbild

darstellt, wird dadurch untermauert. Alkoholabhängigkeit kann offenbar auf dem Boden eines

schwachen Grundvertrauens ebenso entstehen wie auf dem Boden eines schwachen Grundwerts,

eines schwachen Selbstwert oder eines fehlenden Sinns im Leben. Umgekehrt ist eine Stärkung der

Person auf allen 4 Grundmotivationen sinnvoll, wenn die Alkoholsucht bekämpft werden soll.

Die großen Diskrepanzen der Werte auf allen 4 Grundmotivationen zwischen dem Leben vor und

dem Leben in der Wohngemeinschaft im 2. Teil der Untersuchung sind ein starker Indikator dafür,

dass die Wohngemeinschaft mit der Struktur, die sie auf verschiedenen Ebenen bietet gemeinsam

mit den menschlichen Ressourcen, die mit ihr verbunden sind, alle 4 Grundmotivationen nähren

kann.

In der Untersuchung verzeichnen alle 4 Bewohner eine schwache 1. Grundmotivation vor Einzug in

die Wohngemeinschaft. Die alkoholrestriktive Wohngemeinschaft bietet Schutz. Es wird darauf

geachtet, dass jeder Patient genügend Raum hat, sich innerlich und äußerlich zu entfalten.

Einerseits wird das dadurch gewährleistet, dass die Patienten sich ihr Zimmer als Lebensraum selbst

gestalten. Andererseits werden die Bewohner ermutigt, sich den inneren Raum zu nehmen, den sie

brauchen. Haltgebend wirkt die Tagesstruktur, die durch Angebote wie Arbeitstherapie und

anregende Freizeitgestaltung gegeben ist. Ausgehend von der Erfahrung, dass sich bei Typ IV-

Alkoholikern aufgrund der meist jahrelangen Krankheitsgeschichten mit vielfachen Aufenthalten in

verschiedenen Einrichtungen therapeutische und sozialarbeiterische Interventionsformen erschöpft

haben, treten diese professionellen Formen der Betreuung im Alltag der WG in den Hintergrund

zugunsten einer Aktivierung von internen ( auf die Wohngemeinschaft bezogenen) und externen

( auf das soziale Umfeld bezogene) Netzwerken. In der Wohngemeinschaft ist es gelungen, eine

gemeinschaftliche Lebenskultur mit gemeinsamem Kochen, Festgestaltung, Freizeitaktivitäten

sowie Reisen aufzubauen. Strukturschaffend sind auch wöchentliche Treffen mit dem WG- Leiter

und den in die Gemeinschaft integrierten Ehrenamtlichen.

Stützend auf der 2. existenzalaytischen Grundmotivation sind die Beziehungen, die innerhalb

sowie außerhalb der WG gelebt werden. Die Verläufe bei bestehenden Wohngemeinschaften zeigen,

dass dort, wo eine tragfähige Gemeinschaft entstanden ist, d.h. eine gemeinsame Identität und ein

Zusammengehörigkeitsgefühl, die Abstinenzwerte steigen. Es hat sich gezeigt, dass der Aufbau

einer solchen tragfähigen Gemeinschaft etwa 2 Jahre dauert. Dabei kommt es immer wieder vor,

dass einzelne Bewohner aus der Gruppe hinausfallen, weil sie in die Dynamik der entstehenden

Gruppe nicht hineinpassen. Im Verlauf wandelt sich die Gruppendynamik in eine

Gemeinschaftsdynamik, in der die Bindungen zwischen den einzelnen Bewohnern stärker und

belastbarer sind (Verein Struktur, 2012, 11).

Weiters werden die Bewohner in der Wohngemeinschaft darin gefördert, ihre Vorlieben zu

entwickeln und ihr eigenes Mögen aufzugreifen. Dazu braucht es Zeit und Zuwendung zu den

gemochten Werten.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet ein Bewohner ( Klient 5 in der Untersuchung), der

liebevoll eine große Filmesammlung angelegt hat. Er besucht häufig Videotheken, wobei er sich

viel Zeit nimmt, einen Film auszuwählen. Dazu fährt er oft durch die ganze Stadt, um eine

besonders umfangreiche Videothek aufzusuchen. Gerne wählt er künstlerisch hochwertige Filme.

Besondere Filme zeigt er gern seinen Mitbewohnern und der Wohngemeinschaft nahestehenden

Personen. Er organisiert Filmabende, zu denen er in der Regel ein auf die Besucher abgestimmtes

Abendessen vorbereitet. Auch beim Kochen kann man beobachten, dass er mit großer Achtsamkeit

das Gemüse kleinschneidet und sich viel Zeit und Ruhe nimmt, dem Gericht seine persönliche Note

zu geben. Beim Servieren kann man beobachten, dass er genussvoll bei der Sache ist. Bestärkt wird

er in seinem Mögen von den positiven Resonanzen der Mitbewohner und Gäste auf die Filme sowie

auf die liebevoll zubereiteten Mahlzeiten. Dadurch wird der Wert für ihn beständig und fest

gemacht.

Entsprechend der 3. Grundmotivation wird in der Wohngemeinschaft neben dem

Gemeinschaftsgefüge auch der Individualität der einzelnen Bewohner große Bedeutung

beigemessen. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer, das er individuell gestaltet. Bei

Besichtigung der Zimmer stechen die Interessen und Vorlieben sowie der eigene Stil und

Geschmack der Bewohner ins Auge. Wie oben beschrieben verfügt ein Bewohner über eine

liebevoll zusammengestellte Filmsammlung, die die Regale ausfüllt. Außerdem hat er eine Vorliebe

für technische und metallische Gegenstände, die dem Zimmer eine persönliche Note verleihen.

Weiters beschäftigt er sich mit Kunst, er brennt mit einem speziellen Gerät Bilder in Holzplatten.

Für dieses Hobby hat er in seinem Zimmer einen Arbeitsplatz eingerichtet. Ein anderer Bewohner

hat sein Zimmer mit Fotos aus seiner Vergangenheit und sportlichen Motiven geschmückt.

Ein wichtiges Element im Zusammenleben der Bewohner ist der gegenseitige Respekt und die

Wahrung der persönlichen Grenzen. Dies wird besonders wichtig, wenn einer der Bewohner einen

Rückfall erleidet. Dann wird die Grenzsetzung für die anderen „überlebensnotwendig“, da nur

durch eine scharfe Grenzziehung zum rückfälligen Mitbewohner die eigene Abstinenz erhalten

bleiben kann. In den letzten Jahren gelang dies den Bewohnern zunehmend besser. So werden

Rückfälle von den Mitbewohnern an den Wohngemeinschafts- Leiter gemeldet und die betreffende

Person wird rasch einer Behandlung zugeführt. Die Mitbewohner selbst haben nicht den Anspruch,

dem rückfälligen Kollegen aus eigener Kraft zu helfen, da sie ihre Grenzen und ihre eigene

Anfälligkeit, zum Alkohol zu greifen, kennen. In den meisten Fällen ist es im Falle eines Rückfalls

notwendig, den Patienten im Sinne aller Bewohner kurzfristig für einige Wochen aus der

Wohngemeinschaft herauszunehmen und einer Krisenintervention zuzuführen. Die Bewohner

werden zu Selbstverantwortung angeleitet. Für die jeweils persönlichen Belange ist jeder selbst

zuständig, soweit er dazu in der Lage ist. Zudem übernimmt jeder für Teilbereiche des

gemeinsamen Alltags Verantwortung. Über die Jahre des Zusammenlebens zeigt sich, dass auch das

Verantwortungsgefühl füreinander gestiegen ist. Dies sieht man schön am Beispiel eines Bewohners

(Klient 4 in der Untersuchung), der an einem Ösophagus- Karzinom erkrankte und mehrfach viele

Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Er wurde regelmäßig von seinen Wohnungskollegen

besucht und blieb trotz langer physischer Abwesenheit lebendiger Teil der Wohngemeinschaft.

Entlassen wurde er mit einer PEG- Sonde und im Rollstuhl, sodass er neben der professionellen

Versorgung in den Alltagsdingen auf die Versorgung durch seine Mitbewohner angewiesen war. Die

Mitbewohner übernahmen zunehmend Verantwortung für verschiedene Hilfeleistungen ihm

gegenüber und ermöglichten ihm damit den weiteren Verbleib in der Wohngemeinschaft trotz

körperlicher Einschränkungen. An diesem Beispiel zeigte sich andererseits auch die große

Notwendigkeit der Abgrenzung untereinander. Anfangs fiel es den Mitbewohnern schwer, sich vom

Leid des Patienten abzugrenzen, was sich in der psychischen Befindlichkeit niederschlug und bei

einem Bewohner (Klient 2 in der Untersuchung) möglicherweise Mitursache für einen Trinkrückfall

war.

Die Bewohner werden von der Wohngemeinschaftsleitung dazu angeleitet, die eigenen Grenzen

auszuloten und einen immer realistischen Blick auf die eigene Person zu bekommen.

Christian Wetschka schreibt in diesem Zusammenhang über den Begriff Empowerment:

„Was ist Empowerment? Auf keinen Fall: Alles ist möglich. Auf keinen Fall: Man kann alles lernen.

Auf keinen Fall: Die Gruppe ist so super, die kann sich alles regeln. Empowerment ( engl. für

Selbstermächtigung), den man gern etwas romantisierend denkt und anwendet, ist auch: Erkennen

der eigenen Grenzen, Akzeptieren der Grenzen der Gruppe, Erkennen, was alles nicht geht.

Kurzum: ein Zuwachs an Realitätserkenntnis. Sehen, was wirklich ist und Sagen, was wirklich ist,

ist die größte Revolution.“ ( Projektbericht, Pro 2010, Kreativ am Werk, 5).

Um die eigenen Grenzen zu erkennen, ist eine phänomenologische Grundhaltung notwendig, die

die Bereitschaft mit sich bringt, nicht zu beschönigen, aber auch nicht zu unterschätzen.

Verantwortung muss auch für die Wohnraumerhaltung und -gestaltung übernommen werden, für die

Haushaltsführung, die Pflege der Haustiere und Pflanzen sowie für die gemeinsame Planung der

Freizeitaktivitäten.

Als sinngebend auf der 4. Grundmotivation werden gemeinsame Projekte, wie das Theaterprojekt

„ Kreativ am Werk“ erlebt. Dieses Projekt besteht seit 1990 und präsentiert fast jedes Jahr ein neues

Theaterstück. Bis auf einen Bewohner ( Klient 1 in der Untersuchung) betätigen sich alle Bewohner

der Wohngemeinschaft schauspielerisch. Die Theatergruppe besteht hauptsächlich aus Menschen

aus sozialen Randgruppen, die meisten von ihnen leiden an einer psychiatrischen Erkrankung, ein

Großteil zusätzlich noch an einer Alkoholabhängigkeit.

Otto Lesch schreibt nach einem Theaterbesuch der Gruppe: „ Für mich ist es jedesmal eine richtige

Freude, wenn ich sehe, was sogenannte „ schlecht verlaufende Patienten“ alles leisten können. Die

Talente, die bei so einer Aufführung zu Tage treten, sind für mich auch deshalb ganz wichtig, weil

man dabei automatisch sein medizinisch psychiatrisches Krankheitskonzept in Frage stellt. Das

Theaterstück war sehr gut, aber noch viel wichtiger, es wurde sehr gut präsentiert und man hat

gespürt, dass alle mit ihrem Herzen und mit viel Freude dabei sind.“ ( Projektbericht, Pro 2010,

Kreativ am Werk, 2)

Ein weiterer Ausdruck einer erfüllten 4. Grundmotivation ist das hohe soziale Engagement, das die

Bewohner der Wohngemeinschaft aufweisen. Sie alle sind Mitglieder in der Kirchengemeinde der

Caritas, wobei sie unterschiedliche Aufgaben übernommen haben. 2 der Bewohner ministrieren

regelmäßig in den Gottesdiensten, alle tragen gelegentlich zur Messgestaltung bei, indem sie Texte

vorlesen bzw als Einführung zum Gottesdienst über persönliche Erfahrungen berichten.

2 Bewohner betätigen sich künstlerisch, einer arbeitet ehrenamtlich als Kreuzträger bei

Begräbnissen.

Auch die Beziehungen untereinander, das gegenseitige Stützen und füreinander Sorgen,

beispielsweise im Zubereiten einer gemeinsamen Mahlzeiten stärkt die 4. Grundmotivation. In der

Wohngemeinschaft leben auch 2 Katzen, deren Betreuung die gemeinsame Aufgabe der Bewohner

ist.

Bei genauer Betrachtung des Konzeptes der Wohngemeinschaft sind alle 4 existenzanalytischen

Grundmotivationen beachtet und gut genährt. Dies schlägt sich offensichtlich nieder in den

durchaus erstaunlichen Daten über die Krankheitsverläufe und Abstinenz der Bewohner.

7. Resümee und Ausblick

In der Untersuchung konnte die Hypothese unterstrichen werden, dass es sich bei der Diagnose der

Alkoholabhängigkeit Typ- IV nach Lesch nach Kriterien der Existenzanalyse keineswegs um ein

homogenes Krankheitsbild handelt, sondern dass Defizite auf allen 4 Grundmotivationen zur

Suchtentstehung und -erhaltung führen können.

Da lediglich eine Gruppe von 5 Klienten untersucht wurde, muss diese Behauptung vorerst im

hypothetischen Bereich bleiben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch breitere

Untersuchungen zu demselben Ergebnis kommen.

Therapeutisch bedeutsam ist auch die Tatsache, dass die einzelnen Klienten ab dem Zeitpunkt des

Einzugs in die Wohngemeinschaft alle eine deutliche Nährung aller Grundmotivationen erfahren

haben. Das ist von besonderem Interesse, da sich kein Klient in einer laufenden Psychotherapie

befindet. Es scheint, dass alleine die Wohngemeinschaft, die mit ihr verbundenen Beziehungen und

Aufgaben für die zunehmende Gesundung der Patienten verantwortlich ist. Die 4

Grundmotivationen bilden die Basis für das Gelingen des Zusammenlebens in der

Wohngemeinschaft. Wie oben beschrieben, ist die Wohngemeinschaft so konzipiert, dass sie den

Klienten Schutz, Raum und Halt gibt. Es wird Wert gelegt auf das Mögen der einzelnen und auf

warme Beziehungen, die Bewohner werden dazu angeleitet, ihre Grenzen zu wahren und einander

mit Respekt zu begegnen und letztendlich wird dafür gesorgt, dass jeder einzelne sinngebenden

Beschäftigungen nachgeht. Die Untersuchung untermauert auch die Hypothese von Christian

Wetschka vom Verein Struktur, dass vor allem ein sicherer Wohnplatz, stabile Beziehungen und

eine sinnvolle Beschäftigung in der Therapie von psychisch Kranken Menschen, die aus allen

Sicherheitsnetzen herausgefallen sind, wirksam sind. Die Wohngemeinschaft unterscheidet sich vor

allem dadurch von herkömmlichen therapeutischen Einrichtungen, dass sie als

Dauerwohngemeinschaft konzipiert ist und die Klienten auch nach Erlangen des therapeutischen

Ziels dort bleiben können. Dieser Faktor dürfte für die Festigung der 1. Grundmotivation

maßgeblich sein.

Insgesamt scheint es wünschenswert, ähnliche Einrichtung für ehemals obdachlose Menschen mit

Alkoholproblemen zu schaffen, um dem Phänomen der häufigen Rückfälle, die bei Klienten, die in

betreuten Einzelwohnungen wohnen, entgegenzuwirken.

Literatur

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