Skript

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Mathematik f¨ ur Chemiker und Biochemiker Markus Arthur K¨ obis und Helmut Podhaisky WS 2012-13

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Mathematik fur Chemiker undBiochemiker

Markus Arthur Kobis und Helmut Podhaisky

WS 2012-13

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Vorwort

Dieses Vorlesungsskript enthalt den Stoff aus einer zweisemestrigen Vorlesung”Mathe-

matik fur Chemiker und Biochemiker“. Der Text ist in erster Linie als Begleitung zurVorlesung gedacht, deshalb wird z. B. an einigen Stellen auf Skizzen verwiesen, die dannan der Tafel entstehen. Beim Selbststudium muss der Leser diese Lucken selbst schließen.

Wir danken Herrn Steffen Beck fur zahlreiche Verbesserungsvorschlage und Frau Kathari-na Jungnickel fur viele Grafiken. Unserer besonderer Dank gilt Herrn Dr. Volker Drygallafur die Uberlassung seines Vorlesungsskriptes, das teilweise in den vorliegenden Text ein-geflossen ist.

Bitte senden Sie Korrektur- und Verbesserungsvorschlage per e-mail an:

[email protected]

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Inhaltsverzeichnis

1 Grundbegriffe 41.1 Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.2 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.3 Potenzen, Exponentialfunktion und Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Komplexe Zahlen 92.1 Arithmetische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.2 Trigonometrische und exponentielle Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3 Funktionen einer (reellen) Variablen 143.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.2 Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173.3 Stetigkeit von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.4 Grenzwerte von Folgen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.5 Ableitung einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203.6 Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233.7 Berechnung von Nullstellen mit dem Newton-Verfahren . . . . . . . . . . . 253.8 Entwickeln von Funktionen in Taylorreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253.9 Integralrechnung fur Funktionen in einer reellen Variablen . . . . . . . . . 283.10 Numerische Berechnung von bestimmten Integralen, Quadratur . . . . . . 363.11 Anwendungen der Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373.12 Losung einfacher Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Differential- und Integralrechnung fur Funktionen in mehreren Variablen 464.1 Partielle Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464.2 Extremwertaufgaben fur f : Rn → R1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.3 Die Kettenregel im Rn, Differenzieren impliziter Funktionen . . . . . . . . 514.4 Extrema unter Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534.5 Kurvenintegrale 1. Art (Bogenlangen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544.6 Kurvenintegrale 2. Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

5 Lineare Algebra 595.1 Vektorraum Rn und Skalarprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595.2 Lineare Abbildungen und Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635.3 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685.4 Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725.5 Eigenwerte und Eigenvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745.6 Matrixzerlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765.7 Eigenfrequenzanalyse einer schwingenden Membran . . . . . . . . . . . . . 76

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1 Grundbegriffe

Es gibt zahlreiche Bucher”Mathematik fur Chemiker/Naturwissenschaftler“, z. B. von den

folgenden Autoren: Rosch, Reinsch, Zachmann und Pavel. In der Vorlesung verwenden wirtypische mathematische Notation.

1.1 Zahlen

� N = {1, 2, 3, . . . } ist die Menge der naturlichen Zahlen. Wenn die Null dazugehorensoll, schreiben wir N0 = N ∪ {0}.

� Z = {. . . ,−3,−2,−1, 0, 1, 2, 3, . . . } = {k : k ∈ N oder − k ∈ N}∪ {0} ist die Mengeder ganzen Zahlen.

� Q = {p/q : p, q ∈ Z, q �= 0} sind die rationalen Zahlen.

� R ist die Menge der reellen Zahlen. Die formale Definition von R ist nicht so einfach.Wir stellen uns einen Zahlenstrahl (= rationale Zahlen + irrationale Zahlen) vor.

� C = {a+ ib : a ∈ R, b ∈ R} ist die Menge der komplexen Zahlen, vgl. Abschnitt 2.

Es giltN ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ C.

Warum benotigt man Z,Q,R und C? Damit Gleichungen der Form a + x = b, ax = bxa = b und ax = b (z. B. x2 = −1) stets Losungen besitzen. Durch eine Verallgemeinerungergibt sich oft eine Vereinfachung. Verzichtet man z. B. bei der Buchfuhrung auf negativeZahlen, muss man stattdessen Falle unterscheiden (Ausgaben/Einnahmen, Haben/Soll).Lasst man negative Zahlen zu, werden die Rechnungen viel ubersichtlicher.

Beispiel 1 (Die Wurzel aus 2 ist irrational). Angenommen√2 ∈ Q, d. h., es gibt p, q ∈ Z

mit p/q =√2. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit sind p und q teilerfremd, da man

andernfalls kurzen konnte. Durch Umstellen erhalten wir p2 = 2q2, woraus man weiterFolgendes schließen kann:

2 teilt p2 ⇒ 2 teilt p ⇒ 4 teilt p2 ⇒ 2 teilt q2 ⇒ 2 teilt q

Damit teilt 2 beide Zahlen, p und q, was im Widerspruch zur oben gemachten Annahmesteht. Dadurch ist bewiesen, dass p und q nicht existieren konnen und demzufolge

√2 �∈ Q

ist. �

1.2 Mengen

� Teilmenge: A ist Teilmenge von B, in Zeichen A ⊆ B, wenn x ∈ A ⇒ x ∈ B gilt.Fur jede beliebige Menge B gilt ∅ ⊆ B und B ⊆ B.

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1 Grundbegriffe

� Vereinigung : A ∪ B = {x : x ∈ A oder x ∈ B}

� Durchschnitt : A ∩ B = {x : x ∈ A und x ∈ B}

� Differenz : A \B = {x : x ∈ A und x �∈ B}

� Anzahl der Elemente: |A|, auch als Kardinalitat bezeichnet

Beispiel 2. Sei A = {2k : k ∈ Z} die Menge der geraden und B = {3k : k ∈ Z} die Mengeder durch drei teilbaren Zahlen. Was ist dann A ∪ B, A ∩ B, N \ A und A \B? �

Satz 1 (Regel von De Morgan). Fur beliebige Mengen A,B und C gilt:

(A \B) ∩ (A \ C) = A \ (B ∪ C)

Beweis. Wir verzichten auf einen strengen Beweis und veranschaulichen die Aussage:

Beispiel 3 (Horer der Veranstaltung). Wir betrachten die Mengen C = Chemiestudenten,B = Biochemiestudenten, L = Lehramt undM = Mathematikinteressierte. Gilt |M∩B| <|L| < |C \M |?

1.3 Potenzen, Exponentialfunktion und Logarithmus

Potenzfunktion y = xa

Fur n ∈ N definiert man xn := x · x · · · x · x� �� �n-mal

. Fur a ∈ R fordert man Stetigkeit und die

Rechenregeln x−a = 1xa , x

a · xb = xa+b und (xa)b = xa·b. Aus y = xa folgt x = y1/a = a√a.

Es gilt x0 = 1 fur alle x �= 0 (Frage: Was ist 00?) und (xa)′ = a · xa−1.

�� �

√x

xx2

x−2�

�� �

1xex(1

2)x

Abbildung 1.1: Potenz- und Exponentialfunktionen

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1 Grundbegriffe

Exponentialfunktion y = ax, a > 0

Es gilt a−x =�1a

�xund ax = ex ln a mit e = 2.718281828459 . . . Warum ist das ein

”naturlicher“ Logarithmus? Wegen (ex)′ = ex ! Der Beweis folgt unten.

Beispiel 4 (Kontinuierliche Verzinsung und Eulersche Zahl). Ein Euro, der mit 100%Zinsen ein Jahr angelegt wird, wird zu 2 Euro. Bei halbjahriger Verzinsung mit jeweils50% ergibt sich das Guthaben (1 + 1

2)(1 + 1

2) = 2.25 Euro. Tagliche Verzinsung liefert

Gd = (1 + 1365

)365 ≈ 2.7145 . . . , und im Sekundentakt ergibt sich

Gs =

�1 +

1

602 · 24 · 365

�602·24·365= 2.7182817 . . .

Der Grenzwert definiert die Eulersche Zahl

limn→∞

�1 +

1

n

�n

= e.

Fur den Zinzsatz x folgt dann

limn→∞

�1 +

x

n

�n= lim

mx→∞

�1 +

x

mx

�mx

= ex.

Aus dieser Grenzwertdefinition lasst sich die Regel (ex)′ = ex herleiten:

(ex)′ =�limn→∞

�1 +

x

n

�n�′= lim

n→∞n�1 +

x

n

�n−1 1

n= lim

n→∞

�1 +

x

n

�n �1 +

x

n

�−1

� �� �→1

= ex �

Der Logarithmus

��

����

���

���

���

� � � � � ��

ln(x)log10(x)

Abbildung 1.2: Logarithmusfunktionen

Sei y = ax eine Exponentialfunktion, dann ist der Logarithmus definiert durch die Um-kehrung, also x = loga y. Aus dieser Definition folgt die Rechenregel y = aloga y.Fur den dekadischen Logarithmus mit der Basis a = 10 schreibt man log10(y) = lg(y)und fur den naturlichen Logarithmus zur Basis a = e schreibt man loge(y) = ln(y).Ein Rechenschieber multipliziert, indem Strecken addiert werden. Grundlage dafur ist dieRechenregel

ln(x · y) = ln(x) + ln(y).

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1 Grundbegriffe

Beweis. Mit Logarithmen zu rechnen, bedeutet, auf die Exponenten zu schauen. Deshalbgilt eln(x·y) = x · y = elnxeln y = eln(x)+ln(y).

Beispiel 5. Man lose ax = y unter Verwendung des naturlichen Logarithmus nach x auf.Losung:

ax = y ⇒ x ln a = ln y ⇒ x =ln y

ln a= loga(y) �

Viele Phanomene werden anhand von logarithmischen Skalen beschrieben:

� Tonhohen in der Musik, eine Oktave ist eine Frequenzverdopplung

� ph-Wert = − log10[H+]

� Lautstarken in Dezibel: dB = 20 log10P2

P1(Ein Fernseher mit 60dB erzeugt einen

Schalldruck von 0.02Pa, ein Auto mit 80dB entspricht 0.2Pa und Presslufthammermit 100dB entspricht 2Pa. )

Beispiel 6 (Benfordsches Gesetz). Wird eine logarithmisch verteilte Große mit einer linea-ren Skala beschrieben, so treten die Anfangsziffern unterschiedlich oft auf; am haufigstenist die Ziffer

”1“.

� Der Eurostoxx 50: Von den 50 Aktien gab es z. B. am 3. Oktober 2010 11 Aktien,deren Kurs mit der Ziffer

”1“ begann.

� Entwicklung der Weltbevolkerung: 130 Jahre (von 1800 bis 1930) zwischen 1 Mrdund 2 Mrd, dann 30 Jahre (1930-1960) Ziffer

”2“, 24 Jahre (-1974) Ziffer

”3“, 13

Jahre (-1987) Ziffer”4“, 13 Jahre (-2000) Ziffer

”5“. �

���

����

�����

� ��� ���� ���� ���������������������

���������

����

Abbildung 1.3: Benfordsches Gesetz. Die Zeiten, in denen der Zahlenwert der Weltbevol-kerung mit einer

”1“ beginnt, sind langer als die Zeiten mit einer

”3“. Die

Einheit ist dabei egal, das Gesetz gilt genauso, wenn man z. B. Familienzahlt.

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Page 8: Skript

1 Grundbegriffe

Beispiel 7. (14C-Methode) Durch die kosmische Strahlung entsteht 14C

14N+ n → 14C + p+,

das mit einer Halbwertszeit von 5730 Jahren zerfallt:

14C → 14N+ e− (β − Zerfall).

Wie alt ist ein Fundstuck, bei dem r(t) = [14C][14N]

auf 10% des Normalwertes abgesunken

ist? Losung. Zerfallsgesetz r(t) = r0e−αt. Bekannt ist r(5730) = r0/2. Gesucht ist T mit

r(T ) = r0/10. Durch Logarithmieren erhalten wir

−α5730 = r0 ln1

2

−αT = r0 ln1

10

und schließlich, nach Division der Gleichungen, T = ln 10ln 2

· 5730 = 19034 Jahre. �

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2 Komplexe Zahlen

Motivation. Eine quadratische Gleichung az2 + bz + c = 0 hat Losungen der Form

z1/2 = − b

2a±

√D

2a,

mit der Diskriminate D = b2 − 4ac. Rechnet man mit reellen Zahlen, so sind drei Fallezu unterscheiden:

Fur D > 0 gibt es zwei reelle Losungen,D = 0 gibt es eine reelle, doppelte Losung,D < 0 gibt es keine reelle Losung.

Fuhrt man die imaginare Einheit i formal als i =√−1 ein, so muss man keine Falle

unterscheiden. Auch fur D < 0 erhalt man zwei Losungen, die dann komplex sind

z1/2 = − b

2a± i

√−D

2a.

Der”Weg durch das Komplexe“ hat die Rechnung vereinfacht. Obwohl die Nutzlichkeit

der komplexen Zahlen bereits von Rafael Bombelli (*1526, �1572) erkannt wurde, wa-ren

”imaginare“ Zahlen den Mathematikern lange suspekt; es dauerte 300 Jahre, bis die

komplexen Zahlen als”vollwertig“ angesehen wurden.

2.1 Arithmetische Form

Definition 1. Sei i =√−1 die imaginare Einheit. Eine Zahl z = x + iy, x, y ∈ R heißt

dann komplexe Zahl mit Realteil x = Re z und Imaginarteil y = Im z. Mit C bezeichnenwir die Menge

C = {x+ iy : x, y ∈ R}aller komplexen Zahlen. �Beispiel 8. Kann mein Taschenrechner mit komplexen Zahlen rechnen? Wenn ja, gibt eskeine Fehlermeldung bei folgenden Eingaben:

√−1 −→ 1i ln(−5) −→ 1.6094 + 3.1416i

�√−1 −→ 0.70711 + 0.70711i 00 −→ error oder 1

arcsin(2) −→ 1.5708 + 1.3171i 1/0 −→ ∞ �arcsin(i) −→ 0.88137i = ln(

√2 + 1)i

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2 Komplexe Zahlen

Die Rechenregeln aus R behalten Gultigkeit in C (unter Beachtung von i2 = −1). Seiz1 = x1 + y1i und z2 = x2 + y2i. Dann ist

z1 + z2 = (x1 + x2) + (y1 + y2)i

z1 − z2 = (x1 − x2) + (y1 − y2)i

z1 · z2 = (x1 + y1i)(x2 + y2i) = (x1x2 − y1y2) + (x1y2 + x2y1)i

z1z2

=x1 + y1i

x2 + y2i=

(x1 + y1i)(x2 − y2i)

(x2 + y2i)(x2 − y2i)

=1

r22((x1x2 + y1y2) + (−x1y2 + y1x2)i) mit r22 = x2

2 + y22

Beispiel 9.3 + 4i

1− 2i=

(3 + 4i)(1 + 2i)

(1− 2i)(1 + 2i)=

3− 8 + (4 + 6)i

1 + 4= −1 + 2i

Um den Nenner reell zu machen, muss man mit der konjugiert komplexen Zahl erweitern.

Definition 2. Sei z = x+ yi eine komplexe Zahl. Dann heißt z = x− yi die dazugehorigekonjugiert komplexe Zahl. Der Betrag einer komplexen Zahl ist

|z| =�x2 + y2 =

√zz. �

Grafische Darstellung komplexer Zahlen. Komplexe Zahlen lassen sich als Vektorenin der sogenannten Gaußschen Zahlenebene veranschaulichen, und die Rechenoperationenlassen sich geometrisch interpretieren: Der Betrag einer komplexen Zahl ist die Lange, dieAddition zweier Zahlen entspricht der Vektoraddition und durch das Multiplizieren wirdgestreckt und gedreht. Beispielsweise dreht eine Multiplikation mit i alles um 90 Gradgegen den Uhrzeigersinn, 1 → i → −1 → −i → 1. Das Konjugieren ist eine Spiegelungan der x-Achse.

z1

z3

z2

1i

2i

−1i

1 2 3−1

Abbildung 2.1: Addition komplexer Zahlen. Sei z1 = 2 + 2i, z2 = 1 − i. Dann ist z3 =z1 + z2 = 3+ i. Fur die Lange von z3 ergibt sich, nach Pythagoras, |z3| =√32 + 12 =

√10.

2.2 Trigonometrische und exponentielle Form

Real- und Imaginarteil einer komplexen Zahl z = x+iy konnen wir als kartesische Koordi-naten interpretieren. Bei der Umrechnung in Polarkoordinaten bestimmen wir die Lange r

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Page 11: Skript

2 Komplexe Zahlen

und den Winkel ϕ mit der reelle Achse, siehe Abbildung 2.2. Man beachte, dass der Win-kel ϕ nur bis auf Vielfache von 2π bestimmt ist; addiert man 2π zu ϕ hinzu, so entsprichtdies einer Drehung um 360◦.

z1

ϕ1 ∈ [0, π2 ]

z2

ϕ2

z4

ϕ4 ∈ [−π2 , 0]

z3ϕ3

r = |z| = |x+ iy| =�x2 + y2

ϕ =

arctan( yx) ∈ [0, π

2] (1. Quadrant)

arctan( yx) + π ∈ [π

2, π] (2. Quadrant)

arctan( yx)− π ∈ [−π,−π

2] (3. Quadrant)

arctan( yx) ∈ [−π

2, 0] (4. Quadrant)

x = r cosϕ, y = r sinϕ

Abbildung 2.2: Umrechnung zwischen arithmetischer und trigonometrischer Form. Beider Berechnung des Winkels ϕ (bei uns immer in Radiant, also mit ein-gestelltem rad auf dem Taschenrechner) kommt es darauf an, in welchemQuadranten z liegt.

Beispiel 10. Sei z = −12 + 5i. Polarkoodinaten? Es ist r =√122 + 52 = 13. Da z im 2.

Quadranten liegt, ist der Winkel ϕ = arctan(− 512) + π = π− arctan(5/12) ≈ 2.7468. �

Multiplikation von komplexen Zahlen in trigonometrischer Form

Sei z1 = r1(cosϕ1 + i sinϕ1) und z2 = r2(cosϕ2 + i sinϕ2). Dann erhalt man durchAusmultiplizieren und Zusammenfassen (unter Ausnutzung der Additionstheoreme)

z1 · z2 = r1r2((cosϕ1 cosϕ2 − sinϕ1 sinϕ2) + i(cosϕ1 sinϕ2 + sinϕ1 cosϕ2))

= r1r2(cos(ϕ1 + ϕ2) + i sin(ϕ1 + ϕ2)).

Also werden die Streckenlangen multipliziert und die Winkel addiert. Wir erinnern uns:Beim Multiplizieren von Potenzen wurden die Exponenten addiert, d. h., die Winkel ver-halten sich bei der Multiplikation wie Exponenten.

Formel von Euler

Seien r und ϕ aus R beliebig. Dann lautet die Eulersche Formel

r(cosϕ+ i sinϕ) = reiϕ.

Fur r = 1 und ϕ = π erhalt man die”schonste Formel der Mathematik“

eiπ + 1 = 0,

die die fundamentalen Großen 0, 1, e, π und i verbluffend einfach verknupft.Fur das Rechnen mit der exponentiellen Form gelten die gewohnten die Potenzgesetze.Um z zu potenzieren, setzen wir ein

zn =�reiϕ�n

= rneinϕ.

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Page 12: Skript

2 Komplexe Zahlen

Beim Wurzelziehen n√z gibt es wegen der Identitat reiϕ = rei(ϕ+2kπ), k ∈ Z stets n

Losungen:wn = re(iϕ+2kπ) ⇒ w = n

√re(iϕ+2kπ)/n, k = 0, . . . , n− 1,

d. h., wir erhalten

w0 = e0 = n√reiϕ/n, w1 =

n√rei(ϕ+2π)/n, w2 =

n√rei(ϕ+4π)/n, . . . ,

wn−2 =n√rei(ϕ+2(n−2)π)/n, wn−1 =

n√rei(ϕ+2(n−1)π)/n.

Beispiel 11. Losungen von w4 = 1.

w0 = 1, w1 = eiπ2 = i, w2 = eiπ = −1, w3 = ei

32π = e−iπ

2 = −i

Damit sind wir”eine Runde herum“, fur k = 4 erhalten wir w4 = ei

42π = e0 = 1. �

Beweisskizze fur die Eulerschen Formel

Der Beweis verlauft wie eine Zinseszinsrechnung mit dem”Zinssatz“ iϕ. Wird ein Vektor

der Lange r mit iϕ multipliziert, so wird dieser Vektor dadurch um 90◦ gedreht undauf die Lange rϕ gestaucht bzw. gestreckt. Somit erhalten wir z. B. z1 = r(1 + iϕ),z2 = r(1 + iϕ

2)2 und z4 = r(1 + iϕ

4)4 wie in Abbildung 2.3. Im Grenzubergang z =

limn→∞

zn = limn→∞

r�1 + iϕ

n

�n= reiϕ erhalt man einen Kreisbogen mit Bogenlange ϕ. Somit

giltz = r(cosϕ+ i sinϕ) = reiϕ.

r

riϕ

z1 = r + riϕ

r r

z2 = r(1 + iϕ2 )2

r iϕ2

z4 = r(1 + iϕ4 )4

r iϕ4

Abbildung 2.3: Skizze zum Beweis der Eulerschen Formel

Die Eulersche Formel zeigt, wie wichtig die Exponentialfunktion ist. Mit ihr kann manz. B. auch die Ableitungen von Sinus und Kosinus bestimmen.

Beispiel 12. Sei z = a+ ib = reiϕ = r(cosϕ+ i sinϕ). Dann gilt

z + z = 2a = 2r cosϕ und z − z = 2ib = 2ir sinϕ

also ist

cosϕ =1

2

�eiϕ + e−iϕ

�und sinϕ =

1

2i

�eiϕ − e−iϕ

�,

und fur die Ableitung gilt somit

(cosϕ)′ =1

2

�eiϕ + e−iϕ

�′=

1

2

�ieiϕ − ie−iϕ

�=

1

2i

�−eiϕ + e−iϕ

�= − sinϕ �

Die”Suchmaschine“ Alpha (http://www.wolframalpha.com/) kann mit komplexen Zah-

len rechnen. Die Ergebnisse werden sehr schon grafisch veranschaulicht. Probieren Sie z. B.mal die folgenden Eingaben aus:

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Page 13: Skript

2 Komplexe Zahlen

1+4 i

1/(1+4 i)

exp (2 i)

arctan x

sin (1/x)

integrate 1/x

differentiate x^x

x^x == 5

z^7 == 1

x^2+1

C vs N

C2H5OH vs Leucin

clenbuterol

EPO

Halle vs Magdeburg

Earth vs Mars

5 november 1605

allow

Die Firma Wolfram ist vor allem durch die Software Mathematica bekannt.

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Page 14: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.1 Grundbegriffe

Definition 3. Eine reelle Funktion f einer reellen Variablen ist eine Vorschrift, die jedemx ∈ D(f) eine Zahl f(x) zuordnet. D(f) heißt Definitionsbereich und W (f) = {f(x) :x ∈ D(f)} heißt Wertebereich. Falls y0 = f(x0), so heißt y0 Bild von x0 und x0 Urbildvon y0.

Beispiel 13. (a) Die Funktion y = sin x ist fur alle x ∈ (−∞,∞) erklart und hat (furreelle Argumente) den Wertebereich [−1, 1].

(b) Die Funktion f(x) = 0 fur x ∈ Q und f(x) = 1 fur x �∈ Q hat D(f) = (−∞,∞)und W (f) = {0, 1}.

(c) Fur f(x) = (x2 − 1)/(x− 1) ist D(f) = R \ {1} und W (f) = R \ {2}.

(d) Die Signumfunktion

sign(x) =

−1 x < 0

0 x = 0

1 x > 0

ist auf ganz R definiert und nimmt die Werte {−1, 0, 1} an.

Definition 4. Eine Funktion heißt eineindeutig oder injektiv, wenn es zu jedem y ∈ W (f)nur ein x ∈ D(f) mit y = f(x) gibt. Die Funktion g = f−1, die jedem Bild y das Urbildx zuordnet, heißt Umkehrfunktion von f . �Eine Umkehrfunktion f−1 existiert nur, wenn f eineindeutig ist. Dann gilt

f−1(f(x)) = x und f(f−1(y)) = y.

Beispiel 14. Die Umkehrfunktionen von

{ex, tan x, sin x, x2, 1/x, sign(x)}

sind{ln y, arctan y, arcsin y,√y, 1/y, nicht definiert}. �

Hintereinanderausfuhrung von Funktionen

Sei g : X → Y und f : Y → Z. Dann heißt die Funktion h(x) = f(g(x)) Kompositionvon f und g. Wir schreiben h = f ◦ g und sagen

”f nach g“. Es gilt (f−1 ◦ f)(x) = x.

Beispiel 15. Sei f(x) = ex und g(x) = 1x. Dann ist (f ◦ g)(x) = e1/x und (g ◦ f)(x) = 1

ex=

e−x, d. h., die Komposition ◦ ist i. Allg. nicht kommutativ. �Sei ω = h(f(g(x)). Dann gilt h ◦ (f ◦ g) = (h ◦ f) ◦ g, vgl. Abbildung 3.1. Also ist dieKomposition assoziativ.

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Page 15: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

X Y Zg f

f ◦ g

X Y Z

Ω

g

f

hh ◦ f

f ◦ g

Abbildung 3.1: Hintereinanderausfuhrung von Funktionen.

Monotonie (Wachstumsverhalten) von Funktionen

Definition 5. Eine Funktion f heißt monoton wachsend (fallend) in einem Intervall I ∈D(f), wenn fur beliebige x1, x2 ∈ I mit x2 > x1 gilt f(x2) ≥ f(x1) (bzw. f(x2) ≤ f(x1)).Eine Funktion f wachst streng monoton, falls x2 ≥ x1 ⇒ f(x2) > f(x1). �Streng monotone Funktionen sind eineindeutig, also umkehrbar. Die Umkehrfunktion istdann auch streng monoton. (Beweis: Angenommen, es gibt x1 �= x2 mit f(x1) = f(x2).O.B.d.A. ist x1 < x2. Mit der strengen Monotonie folgt f(x1) < f(x2), Widerspruch.)

Beispiel 16. Die Funktionen f(x) = ex wachst streng monoton. Fur f(x) = x2 gilt dasnur, wenn x > 0 ist. �

1

2

−1

−2

1 2−1−2

ex

ln(x)

Spiegelachse

1

2

0 1 2−1−2

x2

�(x)

Abbildung 3.2: Funktion und Umkehrfunktion fur ex und x2

Sind f und g streng monoton, so ist auch f ◦ g streng monoton. Beweis: Ubung.

Graphen (von Funktionen)

Der Graph einer Funktion f ist die Menge der Paare

G(f) = {(x, f(x)) : x ∈ D(f)}.

Graphen konnen in der impliziten Form

G = {(x, y) : F (x, y) = 0, x ∈ X, y ∈ Y }

15

Page 16: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

gegeben sein. In der impliziten Form kann man leicht entscheiden, ob ein Punkt (x, y)?∈ G

ist. Zum Zeichnen des Graphen ist die implizite Form weniger geeignet. Graphen konnenauch in der Parameterdarstellung

G = {(x, y) : x = x(t), y = y(t), t ∈ I}, I Intervall,

gegeben sein.

(a) Eine Parabel {(x, y) : ax2+bx+c−y = 0} kann durch x(t) = t und y(t) = at2+bt+cfur t ∈ (−∞,∞) parametrisiert werden.

(b) Fur eine Ellipsea

b

mit den Halbachsen a und b, implizit beschrieben durch{(x, y) : (x/a)2 + (y/b)2 = 1}, erhalt man eine Parameterdarstellung x(t) = a cos t,y(t) = b sin t mit t ∈ [0, 2π].

(c) Eine ‘liegende’ Parabel{(x, y) : x− y2 = 0} lasst sich z. B. durch x(t) = t6, y(t) = t3

mit t ∈ (−∞,∞) beschreiben.

(d) Fur eine Gerade in der Ebene, {(x, y) : ax+ by + c = 0} kann man einen Stellungs-vektor �s und einen Richtungsvector �r bestimmen, so dass t · �r + �s fur t ∈ (−∞,∞)alle Punkte durchlauft.

(e) Die Parameterdarstellung einer arithmetischen Spirale in Polarkoordinaten ist r(t) =a · t, wobei r der Radius und t der Winkel ist. In kartesischen Koordinaten wird dar-aus x(t) = a · t · cos t und y(t) = a · t · sin t.

(f) Die Zykloide ergibt sich als Rollkurve eines Kreises mit Radius 1 auf der x-Achse.Es ist daher x(t) = t− sin t und y(t) = 1− cos t, vgl. Abbildung 3.3.

2πa 4πa�

��

Abbildung 3.3: Arithmetische Spirale und Zykloide

16

Page 17: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.2 Polynome

Definition 6. Die Funktion

p(x) = a0 + a1x+ a2x2 + · · ·+ anx

n =n�

i=0

aixi

heißt Polynom vom Grad n in der Variablen x. �Polynome sind

”vielseitig“ aber trotzdem noch (relativ) gut beherrschbar. Deshalb spielen

sie insbesondere bei Anwendungen eine große Rolle. Polynome konnen mit dem Horner-Schema

p(x) = (. . . ((anx+ an−1)x+ an−2)x+ · · ·+ a1)x+ a0.

leicht ausgewertet werden. Zwei Polynome p(x) und q(x) sind gleich, wenn sie gleichenGrad haben und alle Koeffizienten vor gleichen x-Potenzen ubereinstimmen (Prinzip desKoeffizientenvergleichs). Ein Polynom vom Grad n hat genau n Nullstellen xi, die komplexsein konnen. Daraus ergibt sich die Produktdarstellung

p(x) = an(x− x1)(x− x2) · · · (x− xn), xi ∈ C.

Beispiel 17. Wir suchen die Parabel durch die Punkte {(1, 2), (3, 4), (4, 2)}, also diese:

��

��

�� � � � � � �

1. Rechenweg: Beim Lagrange-Ansatz p(x) = a(x−3)(x−4)+b(x−1)(x−4)+c(x−1)(x−3)kann man a, b und c unabhangig voneinander bestimmen. Aus p(1) = 2 ergibt sich a = 1

3.

Weiter ist b = −2 und c = 23. Multipliziert man aus, so ergibt sich p(x) = −x2 + 5x− 2.

2. Rechenweg: Sei p(x) = a0 + a1x+ a2x2. Aus den Interpolationsbedingungen p(xi) = yi

erhalten wir ein lineares Gleichungssystem, das wir mit dem Gaußalgorithmus losen:

a0 + a1 · 1 + a2 · 12 = 2

a0 + a1 · 3 + a2 · 32 = 4

a0 + a1 · 4 + a2 · 42 = 2

a1 · 2 + a2 · 8 = 2

a1 · 3 + a2 · 15 = 0

a2 · 3 = −3

Somit ist a0 = −2, a1 = 5 und a2 = −1 �.

Eine Verallgemeinerung der Interpolation fur n > 2 ist leicht moglich. Das lineare Glei-chungssystem zur Berechnung der Koeffizienten hat auch dann eine spezielle Struktur, dieman ausnutzen kann (Newton-Interpolation).

17

Page 18: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.3 Stetigkeit von Funktionen

Definition 7. Eine Funktion f heißt stetig im Punkt x, falls zu jedem � > 0 ein δ existiert,mit

|f(x+ h)− f(x)| < � fur alle |h| < δ.

f heißt stetig im Intervall I, falls f in jedem Punkt aus I stetig ist. �Stetige Funktionen haben keine Sprunge, da kleine Anderungen h von x moderate Ande-rungen � von f(x+ h) bewirken. In Abbildung 3.4 sind unstetige Funktionen dargestellt.

f(x) =

�1 x ∈ Q0 x ∈ R \Q

�� �� � �

e1/x

�� �� � �

1/x2

Abbildung 3.4: Beispiele fur unstetige Funktionen. Die linke Funktion ist uberall unstetig,die mittlere ist fur x = 0 einseitig unstetig, und die rechte Funktion hateinen Pol bei x = 0.

Beispiel 18. Warum sind +∞ und −∞ keine”vollwertigen“ Zahlen? Fur x, y ∈ C gilt

stets x+y = y =⇒ x = 0. Fur ∞ gilt das jedoch nicht, z. B. ist 3+∞ = ∞, obwohl 3 �= 0ist. �Satz 2. Seien f : R → R und g : R → R stetig. Dann sind auch die folgenden Funktionenstetig:

f(x) + g(x), f(x) · g(x), (f ◦ g)(x)Beweis. Wir beweisen die Aussage nur fur f(x)g(x). Es ist

|f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x)|= |f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x+ h) + f(x)g(x+ h)− f(x)g(x)|≤ |f(x+ h)− f(x)|� �� �

→0 da f stetig

|g(x+ h)|+ |g(x+ h)− g(x)|� �� �→0 da g stetig

|f(x)|

Also gilt |f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x)| < � fur h < δ.

Mit Satz 2 folgt sofort, dass Polynome stetige Funktionen sind.

Satz 3. (Bolzano) Sei f : I → R eine im Intervall I = [a, b] stetige Funktion mitf(a) < f(b). Dann nimmt f jede Zahl y mit f(a) < y < f(b) mindestens einmal als Wertan, d. h., es gibt x ∈ [a, b] mit f(x) = y.

Der Satz von Bolzano ist die Grundlage fur die Methode der Bisektion. Ist f(a)f(b) < 0,so gibt es eine Nullstelle x ∈ [a, b] mit f(x) = 0. Durch fortgesetzte Intervallhalbierungkann diese Nullstelle beliebig genau approximiert werden.

Satz 4 (Minimum und Maximum). Eine auf einem beschrankten Intervall [a, b] stetigeFunktion nimmt ihr Maximum und ihr Minimum an.

18

Page 19: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.4 Grenzwerte von Folgen und Funktionen

Definition 8. Eine Folge (xk) hat den Grenzwert g, falls fur jedes � > 0 ein N ∈ N existiert,so dass |xk − g| < � fur alle Folgenglieder xk mit k > N gilt. Man schreibt lim

k→∞xk = g.

Fur Funktionen f(x) ist limx→x0

f(x) = g, falls fur jede Folge (xk) mit limk→∞

xk = x0 gilt

limk→∞

f(xk) = g. Ein rechtsseitiger Grenzwert limx→x0x>x0

f(x) = g existiert, wenn fur alle Folgen

(xk) mit xk > x0 gilt limk→∞

f(xk) = g. �

Beispiel 19. (a) limx→1(x2 − 1)/(x− 1) = limx→1 x+ 1 = 2, vgl. Ubungen.

(b) Es ist limx→0

sinxx

= 1. Warum? 1. Skizze mit Verhaltnis von Sehne zu Kreisbogen, siehe

Abbildung 3.5. 2. Skizze mit dem Anstieg der Sinusfunktion im Nullpunkt.

(c) limx→0 sin(1/x) existiert nicht, vgl. Skizze.

(d) limx→∞ arctan(x) = π2, vgl. Skizze.

(e) limx→∞√x+ 1−√

x = limx→∞(x+ 1− x)/(√x+ 1 +

√x) = 0.

(f) limn→∞ (1 + x/n)n = ex.

x

sin(x)

Abbildung 3.5: Fur kleine Winkel nahern sich Sekantenlange sin x und Bogenlange x an,d. h., es gilt limx→0 sin x/x = 1.

−2 −1 1 2

−1

1

x

y = sin(1/x)

−4 −2 2 4

π4

π2

x

y = arctan(x)

Abbildung 3.6: f(x) = sin(1/x) und f(x) = arctan(x)

19

Page 20: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.5 Ableitung einer Funktion

Definition 9. Der Grenzwert limh→0

(f(x0 + h) − f(x0))/h heißt (falls er existiert) die 1.

Ableitung von f an der Stelle x0. Man schreibt auch

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h= f ′(x0) =

df

dx

����x=x0

=d

dxf

����x=x0

.

Wenn der Grenzwert existiert, so heißt f an der Stelle x0 differenzierbar. �Der Bruch f(x0+h)−f(x0)

hentspricht dem Anstieg der Geraden durch die Punkte (x0, f(x0))

und (x0 + h, f(x0 + h)). Im Grenzubergang erhalt man die Tangente mit dem Anstiegf ′(x0).Differenzierbare Funktionen sind stetig, da

limh→0

f(x0 + h) = limh→0

h

f(x0 + h)− f(x0)

h� �� �→f �(x0)

+f(x0)

= f(x0)

ist. Die Umkehrung gilt nicht, z. B. hat f(x) = |x| keine Tangente in x0 = 0.

Beispiel 20. Durch Grenzwertbildung konnen wir nun einige Ableitungsregeln herleiten:

(xn)′ = limh→0

(x+ h)n − xn

h= lim

h→0

xn + hnxn−1 + h2(. . . )− xn

h= nxn−1

(const)′ = limh→0

const|x=x0+h − const|x=x0

h= 0

(ex)′ =�limn→∞

�1 +

x

n

�n�′= lim

n→∞n�1 +

x

n

�n−1 1

n= lim

n→∞(ex)(n−1)/n = ex

Weiter ist

(ln x)′ =1

x, (sin x)′ = cos x, (cos x)′ = − sin x, (tan x)′ = 1 + tan2 x

(arctan x)′ =1

1 + x2, (arcsin x)′ =

1√1− x2

Differentiationsregeln

Differenzieren ist linear, weil das Bilden der Grenzwerte linear ist, d. h., fur a, b ∈ C gilt

(ay(x) + bz(x))′ = ay′(x) + bz′(x).

Fur Produkte gilt(uv)′ = u′v + uv′,

da

limh→0

u(x+ h)v(x+ h)− u(x)v(x)

h=

limh→0

u(x+ h)v(x+ h)− u(x)v(x+ h) + u(x)v(x+ h)− u(x)v(x)

h= u′v + uv′

20

Page 21: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Fur Quotienten erhalt man die Regel�uv

�′=

u′v − uv′

v2,

aus (u · (1/v))′ = u′ · (1/v) + u · (1/v)′ und (1/v)′ = −v′/v2. Fur verkettete Funktionengilt die Kettenregel (

”Ableitung der außeren Funktion mal innere Ableitung“):

(f ◦ g)(x)′ = (f ′ ◦ g)(x) · g′(x), alsodf

dx=

df

dg

dg

dx.

Damit folgt speziell (ln g(x))′ = g′(x)/g(x).Die Ableitung der Umkehrfunktion erhalt man durch Differenzieren der Identitatx = f(f−1(x)). Daraus folgt

1 = f ′(f−1(x))(f−1(x))′ ⇒ (f−1(x))′ = 1/f ′(f−1(x)).

Beispiel 21. Wir bestimmen die Ableitungen einiger Umkehrfunktionen:

f(x) = ex, f ′(x) = ex, f−1(x) = ln x ⇒ (ln x)′ = 1/(elnx) = 1/x

f(x) = x2, f ′(x) = 2x, f−1(x) =√x ⇒ (

√x)′ = 1/(2

√x)

f(x) = tan x, f ′(x) = 1 + tan2 x, f−1(x) = arctan x

⇒ (arctan x)′ =1

1 + tan2(arctan x)= 1/(1 + x2)

Tangentenapproximation f(x+ h) ≈ f(x) + hf �(x)

Aus der Definition der Ableitung limh→0f(x+h)−f(x)

h= f ′(x) folgt durch Umstellen

limh→0

1

h(f(x+ h)− f(x)− hf ′(x))� �� �

=:Rf (x)

= 0,

alsof(x+ h) = f(x) + hf ′(x) + hRf (h) (3.1)

mit limh→0 Rf (h) = 0. Das kann man so interpretieren: Die Tangente f(x) + hf ′(x) ap-proximiert fur kleine h die Funktion f(x+ h), siehe Skizze. Man sagt auch, die Funktionf(x + h) verhalt sich in erster Naherung wie f(x) + hf ′(x). Die Funktion Rf (h) heißtRestglied.

Beweis der Kettenregel. Mit Gleichung (3.1) konnen wir nun die Kettenregel beweisen.Zu zeigen ist f(g(x))′ = f ′(g(x)) · g′(x). Aus (3.1) erhalten wir

g(x+ h) = g(x) + hg′(x) + hRg(h)

f(y + k) = f(y) + kf ′(y) + kRf (k).

Setzt man nun y = g(x) und k = hg′(x) + hRg(h), so ergibt sich

f(g(x+ h)) = f(g(x) + k) = f(g(x)) + (hg′(x) + hRg(h))f′(g(x))+

(hg′(x) + hRg(h))Rf (k)

= f(g(x)) + hg′(x)f ′(g(x)) + h(Rg(h)f′(g(x)) +Rg(h)Rf (k)� �� �

=:Rf◦g(h)

)

21

Page 22: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Beispiel 22 (Beweis der Eulerschen Formel durch Ableiten). Setze f(x) = cos x + i sin x.Dann gilt f(0) = 1 und f ′(x) = − sin x + i cos x = if(x). Betrachte h(x) = f(x)/eix.Dann gilt

h′(x) =if(x)eix − f(x)eixi

e2ix= 0.

Also ist h(x) ≡ 1. Es folgt cos x+ i sin x = eix. �

Berechnung von Grenzwerten der Form 00 und ∞

∞Satz 5 (Regel von Bernoulli/l’Hospital). Sei limx→x0 f(x) = 0 und limx→x0 g(x) = 0.Dann gilt

limx→x0

f(x)

g(x)= lim

x→x0

f ′(x)

g′(x),

falls der zweite Grenzwert existiert.

Beweis. Der Behauptung folgt aus (3.1) durch Einsetzen:

limx→x0

f(x)

g(x)= lim

h→0

f(x0 + h)

g(x0 + h)= lim

h→0

f(x0) + hf ′(x0) + hRf (h)

g(x0) + hg′(x0) + hRg(h)=

f ′(x0)

g′(x0),

falls g′(x0) �= 0.

Bemerkung 1. 1. Falls auch limx→x0 f′(x) = limx→x0 g

′(x) = 0 ist, so kann man dieRegel zweimal anwenden, d. h., dann gilt

limx→x0

f(x)

g(x)= lim

x→x0

f ′(x)

g′(x)= lim

x→x0

f ′′(x)

g′′(x).

2. Die Regel kann analog auch fur limx→x0 f(x) = ±∞ und limx→x0 g(x) = ±∞ ange-wandt werden.

3. Andere unbestimmte Ausdrucke, wie 0 ·∞ oder ∞−∞, kann man umformen zu 00

oder ∞∞ .

4. Man beachte, dass man zuerst prufen muss, ob wirklich ein unbestimmter Ausdruckvorliegt, da sonst die Regel nicht gilt. Z. B. ist

limx→1

2x

3x2=

2

3, aber fur die abgeleiteten Großen gilt

(2x)′

(3x2)′

����x=1

=2

6=

1

3.

Beispiel 23.

(a) limx→0

sin x

x= lim

x→0

(sin x)′

x′ =cos x

1

���x=1

= 1

(b) limx→∞

x2e−x = limx→∞

x2

ex= lim

x→∞2x

ex= lim

x→∞2

ex= 0

(c) limx→∞

ln(1 +1

x)x = lim

x→∞

ln�1 + 1

x

x−1= lim

x→∞

−1/x2

1+1/x

−x−2= lim

x→∞1

1 + 1/x= 1

Aus (c) folgt limx→∞(1 + 1x)x = limx→∞ eln(1+

1x)x = e1. �

22

Page 23: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.6 Kurvendiskussion

Bei der Kurvendiskussion untersuchen wir fur eine gegebene reelle Funktion f(x) denDefinitionsbereich D(f), den Wertebereich W (f), die Monotonie, die lokalen Extrema,die Nullstellen und die Konvexitat.

Zur Monotonie. Sei f(x) differenzierbar im Intervall [a, b]. Ist f ′(x) > 0 fur alle x ∈[a, b], so wachst f streng monoton. Beweis, z. B. mit dem Hauptsatz der Integralrechnung,f(x2) = f(x1) +

� x2

x1f ′(x) dx > f(x1) fur x2 > x1.

Lokale Extrema. Notwendiges Kriterium: Falls f ein lokales Extremum im Punkt x0

besitzt und f differenzierbar ist, so gilt f ′(x0) = 0.

Beweis. (fur Minimum) Sei f(x0) ein lokales Minimum. Dann ist f(x0 + h) > f(x0) furkleine h. Also ist

limh→0h>0

f(x0 + h)− f(x0)

h≥ 0 und lim

h→0h<0

f(x0 + h)− f(x0)

h≤ 0,

und somit ist f ′(x0) ≥ 0 und f ′(x0) ≤ 0, also f ′(x0) = 0.

Beispiel 24. � Fur f(x) = x2 − 2x = x(x− 2) ist x0 = 1 ein kritischer Punkt (hier einMinimum) mit f ′(1) = 0.

� Fur f(x) = x3 ist x0 = 0 ein kritischer Punkt, allerdings hat f dort kein Extremum,sondern einen Wendepunkt.

Hinreichendes Kriterium: Falls f ′(x0) = 0 ist, so hat f ein Minimum, wenn f ′′(x0) > 0ist. Ist f ′′(x0) < 0 so ist f(x0) ein Maximum.

Verschwindet auch die zweite Ableitung in x0, so muss man hohere Ableitungen von fauswerten. Angenommen, die ersten k − 1 Ableitungen von f sind null und f (k)(x0) �= 0.Dann sind drei Falle zu unterscheiden:

1. k ist ungerade : x0 ist ein Wendepunkt (z. B. f(x) = x5)

2. k ist gerade und f (k)(x0) > 0: x0 ist Minimum ( z. B. f(x) = x4)

3. k ist gerade und f (k)(x0) < 0: x0 ist Maximum (z. B. f(x) = −x6)

Konvexitat. Eine Funktion f heißt konvex, wenn beliebige Sekanten”oberhalb von f“

verlaufen, alsof(αx0 + (1− α)x1) ≤ αf(x0) + (1− α)f(x1)

gilt fur beliebige α ∈ [0, 1], vergleiche Abbildung 3.7. Fur konvexe Funktionen, die diffe-renzierbar sind, wachst f ′(x) monoton, d. h. f ′′(x) ≥ 0 fur x ∈ [a, b].

Beispiel 25. (a) Wir untersuchen die Funktion f(x) = x ln x.

� � �

xlnx

x

23

Page 24: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

f(αx0 + (1− α)x1)

αf(x0) + (1− α)f(x1)

Abbildung 3.7: Die Funktion f(x) ist konvex.

Der Definitionsbereich istD(f) = {x : x > 0}. Am linken Rand hat f den Grenzwert

limx→0

x ln x = limx→0

ln x

1/x= lim

x→0

1/x

−1/x2= 0.

Die Funktion hat zwei Nullstellen x = 0 und x = 1. Die erste Ableitung ist f ′(x) =ln x+ 1. f hat daher ein lokales Minimum bei x0 = e−1 mit f(1/e) = −1/e. Es giltf ′′(x) = 1/x > 0 fur x > 0. Daher ist die Funktion konvex. Der Wertebereich istW (f) = [−1/e,∞).

(b) Das Morsepotential ist gegeben durch V (r) = D�1− e−a(r−r0)

�2, wobei D die

Bindungsenergie und r0 der Gleichgewichtsabstand fur ein zweiatomiges Molekulist. Der Definitionsbereich ist D(r) = {r : r ∈ R, r > 0} (da Abstande ausphysikalischen Grunden positiv sind). Fur r → ∞ ist limr→∞ V (r) = D. Aus1 = e−a(r−r0) erhalten wir die (doppelte) Nullstelle r = r0. Ableiten liefert V ′(r) =2D(1 − e−a(r−r0))(ae−a(r−r0)), also ist r = r0 ein kritischer Punkt. Aus V ′′(r) =2De−a(r−r0)a2e−a(r−r0) + 2D(1 − e−a(r−r0))a2e−a(r−r0) folgt V ′′(r0) = 2Da2 > 0, al-so hat das Potential in r = r0 ein lokales Minimum. Der Wertebereich von V istW (V ) = [0,max(D(1−ear0)2, 1)]. Abbildung 3.8 zeigt das Morsepotential fur D = 1,r0 = 1 und a ∈ {1, 1

2}. �

� � �r

a = 1a = 1

2

Abbildung 3.8: Morsepotential V (r) = (1− e−a·(r−1))2

24

Page 25: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.7 Berechnung von Nullstellen mit dem Newton-Verfahren

Aus f(x0 + h) ≈ f(x0) + hf ′(x0)!= 0 erhalt man durch Umstellen h = −f(x0)/f

′(x0).Daraus ergibt sich die Iterationsvorschrift des Newton-Verfahrens

xk+1 = xk −f(xk)

f ′(xk).

Beispiel 26 (Berechnung von√a). Wir losen f(x) = x2 − a = 0. Mit f ′(x) = 2x erhalten

wir

xk+1 = xk −x2k − a

2xk

=1

2

�x2k + a

xk

Mit a = 2 und x0 = 1 erhalt man die Folge x1 = 1.5, x2 = 1.416666666666, x3 =1.4142156862745099, x4 = 1.4142135623746899, x5 = 1.4142135623730949, x6 = x5. DieAnzahl der korrekten Ziffern verdoppelt sich bei jedem Schritt. �

x

f(x)

x0x1x2

f(x0) + (x− x0)f′(x0)

Abbildung 3.9: Newton-Verfahren

3.8 Entwickeln von Funktionen in Taylorreihen

Wir verwenden im folgenden Integrale, obwohl diese erst im nachsten Abschnitt einge-fuhrt werden. Dieses Vorgehen kann man kritisieren; es ist der Tatsache geschuldet, dassDifferential- und Integralrechnung sehr eng verwandt und daher schlecht isoliert behan-delbar sind.

Beispiel 27. Was ergibt sich, wenn man 1 n-mal integriert? An

�1 dh = h,

�h dh =

1

2h2,

�1

2h2 dh =

1

3!h3,

�1

3!h3 dh =

1

4!h4, . . .

erkennt man die allgemeine Form, 1n!hn mit n! = 1 · 2 · 3 · · ·n. �

25

Page 26: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Lemma 1 (Mittelwertsatz der Integralrechnung). Sei g(t) stetig in [a, b] und I =� bag(x) dx.

Dann gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit (b− a)g(ξ) = I.

Beweis. Da g(t) stetig ist, nimmt es nach Satz 4 Minimum g(t) und Maximum g(t) furt, t ∈ I an, d. h., es gilt g(t) ≤ g(t) ≤ g(t) fur alle t ∈ [a, b].

Setze F (t) =� bag(x) − g(t) dx. Da F (t) stetig ist und F (t) ≤ 0 und F (t) ≥ 0, hat F (t)

eine Nullstelle ξ zwischen t und t und es gilt

� b

a

g(x) dx = (b− a)g(ξ) fur ein ξ ∈ [a, b].

Satz 6 (Mittelwertsatz der Differentialrechnung). Sei f(x) in [a, b] differenzierbar. Danngibt es ein ξ ∈ [a, b] mit

f(b)− f(a) = (b− a)f ′(ξ)

Beweis. Die Behauptung ergibt sich, wenn wir auf den Hauptsatz der Integralrechnung

f(b)− f(a) =

� b

a

f ′(t) dt (3.2)

den Mittelwertsatz der Integralrechnung mit g(t) := f ′(t) anwenden.

Satz 7 (Taylorentwicklung). Sei f(t) fur t ∈ [x, x + h] n + 1-mal differenzierbar, danngibt es ein ξ ∈ [x, x+ h] mit

f(x+h) = f(x)+hf ′(x)+1

2h2f ′′(x)+

1

3!h3f ′′′(x)+· · ·+ 1

n!hnf (n)(x)+

1

(n+ 1)!hn+1f (n+1)(ξ).

Beweis. Fur n = 0 ist das der Mittelwertsatz. Fur n = 1 gilt

f(x+ h) = f(x) +

� x+h

x

f ′(t1) dt1

= f(x) +

� x+h

x

�f ′(x) +

� t1

x

f ′′(t2) dt2

�dt1 (3.3)

= f(x) +

� x+h

x

(f ′(x) + f ′′(ξ)(t1 − x)) dt1

= f(x) + hf ′(x) +1

2!h2f ′′(ξ).

Fur n > 1 wendet man (3.2) in (3.3) wiederholt an, d. h., man ersetzt f ′′(t2) durchf ′′(x) +

� t2x

f ′′′(t3) dt3 usw.

Das Polynom Tn(h) := f(x) + hf ′(x) + 12h2f ′′(x) + 1

3!h3f ′′′(x) + · · · + 1

n!hnf (n)(x) heißt

Taylorpolynom an f(x) an der Stelle x vom Grad n. Der Term 1(n+1)!

h(n+1)f (n+1)(ξ) heißt

Restglied (von Lagrange). Gilt limn→∞1

(n+1)!hn+1f (n+1)(ξ) = 0, z. B., wenn alle Ableitun-

gen beschrankt sind, so konvergiert die Taylorreihe�∞

k=01k!hkf (k)(x) an der Stelle x (fur

dieses h).

26

Page 27: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Beispiel 28. 1. Alle Ableitungen von ex an der Stelle x0 = 0 sind 1, also ist

eh = 1 +h

1!+

h2

2!+

h3

3!+

h4

4!+ · · ·

Diese Reihe konvergiert fur jedes h ∈ C.

2. Fur f(x) = sin(x) ist f ′(0) = 1, f ′′(0) = 0, f ′′′(0) = −1, f (4)(0) = 0, . . . Somit ist

sin h = h− h3

3!+

h5

5!− h7

7!+ · · ·

und analog

cosh = 1− 1

2!h2 +

h4

4!− h6

6!+

h8

8!+ · · ·

Beide Reihen konvergieren fur alle h ∈ C.

3. f(x) = 11−x

. Mit f ′(x) = (1 − x)2, f ′′(x) = 2(1 − x)−3, . . . , f (n)(x) = n!(1 − x) n+1

folgt1

1− h= 1 + h+ h2 + h3 + h4 + · · · (geometrische Reihe)

Die geometrische Reihe konvergiert fur |h| < 1, und sie divergiert fur |h| > 1.

Fur die endliche geometrische Summe ergibt sich (Ubungsaufgabe)

n�

k=0

hk = 1 + h+ h2 + h3 + h4 + · · ·+ hn =1− hn+1

1− h.

Der Konvergenzradius einer Potenzreihe. Taylorreihen sind Potenzreihen, die for-mal uber eine unendliche Summe P (x) =

�∞k=0 akh

k mit h = x − x0 eingefuhrt wer-den. Dabei heißt x0 Entwicklungspunkt. Im Falle einer Taylorreihe (entwickelt in x0) giltak = f (k)(x0)/k ! . Eine wichtige Frage ist, f ur welche x die Funktion P (x) endlich ist.Aufschluss liefert der Vergleich der Koeffizienten (a0, a1, a2, . . . ) mit einer geometrischenReihe: Klingen die Koeffizienten mit

limk→∞

|ak||ak+1|

= r

ab (Quotientenkriterium), so ist P (x) fur alle x mit |x − x0| < r endlich. Dabei heißt rKonvergenzradius der Reihe.

Beweis. Sei |h| < r. Dann ist

|P (x)| =∞�

k=0

|akhk| < C

∞�

k=0

|h|krk

< C1

1− |h|/r

27

Page 28: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.9 Integralrechnung fur Funktionen in einer reellenVariablen

Sei f(x) eine stuckweise stetige Funktion. Dann existiert das bestimmte Integral definiertdurch den Grenzwert � b

a

f(x) dx := limn→∞

n−1�

k=0

f(a+ kh)h

mit h = (b − a)/n. Wie man sieht, wird die Flache von Rechtecken mit Hohe f(a + kh)und Breite h summiert, deshalb ist das Integral

”die Flache unter der Kurve“.

Fur Integrale gelten die folgenden Rechnenregeln:

1. Linearitat: � b

a

αf(x) + βg(x) dx = α

� b

a

f(x) dx+ β

� b

a

g(x) dx

2. Intervalladditivitat:

� b

a

f(x) dx+

� c

b

f(x) dx =

� c

a

f(x) dx

3.� baf(x) dx = −

� abf(x) dx

Beispiel 29. Setze F (x) :=� xaf(t) dt. Was ist F ′(x)? Fur den Differenzenquotienten erhalt

man mit der Intervalladditivitat

limh→0

F (x+ h)− F (x)

h= lim

h→0

1

h

� x+h

x

f(t) dt = f(x).

Integrieren ist daher die Umkehroperation zum Differenzieren. �Definition 10 (Stammfunktion oder unbestimmtes Integral). Sei f(x) gegeben. Eine Funk-tion F (x) mit F ′(x) = f(x) heißt unbestimmtes Integral oder Stammfunktion von f(x).

Da Konstanten beim Ableiten zu null werden, ist mit F (x) auch F (x) + C eine Stamm-funktion von f(x), wobei C eine beliebige Konstante ist.

Satz 8 (Hauptsatz der Integralrechnung). Sei f(x) eine integrierbare Funktion und seiF (x) eine Stammfunktion von f(x). Dann gilt

� b

a

f(x) dx = [F (x)]ba = F (b)− F (a).

28

Page 29: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Einige Grundintegrale (Beweis jeweils durch Ableiten):�

xn dx =1

n+ 1xn+1 + C fur n �= −1

�1/x dx = ln |x|+ C�

eax dx =1

aexp ax+ C

�sin x dx = − cos x+ C

�cos x dx = sin x+ C

�1

1 + x2dx = arctan x+ C

�1√

1− x2dx = arcsin x+ C

�1√

1 + x2dx = ln(x+

√1 + x2) + C

= arsinh x+ C, (sinh x =1

2(ex − e−x))

�f ′(x)

f(x)dx = ln |f(x)|+ C.

Beispiel 30.�

x

x2 + 1dx =

1

2

�2x

x2 + 1dx =

1

2ln(x2 + 1) + C = ln

√x2 + 1 + C

Durch Umkehrung der Kettenregel erhalt man die Substitutionsmethode�

f(x) dx =

�f(ϕ(t))ϕ′(t) dt mit x = ϕ(t).

Beweis. Wir setzen die Kettenregel (F (ϕ(t)))′ = F ′(ϕ(t))ϕ′(t) in die rechte Seite vomHauptsatz ein

F (x) =

�F ′(x) dx+ C =

�F ′(ϕ(t))ϕ′(t) dt+ C.

Beispiel 31. In�sin(3x− 4) dx setzen wir t = 3x− 4 und dx = 1

3dt.

�sin(3x− 4) dx =

�sin t

1

3dt = −1

3cos t+ C = −1

3cos(3x− 4) + C

Analog, mit t = 2x+ 1, dx = 12dt,

� √2x+ 1 dx =

� √t1

2dt =

1

3(2x+ 1)

32 + C.

Im dritten Beispiel ist t =√x, also dx = 2t dt

�1

x+√xdx =

�1

t2 + t2t dt =

�2

t+ 1dt = 2 ln(t+ 1) + C = ln(

√x+ 1)2 + C.

29

Page 30: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Aus der Produktregel erhalten wir das Verfahren der partiellen Integration�

u′v dx = uv −�

uv′ dx.

Beispiel 32.�

xex dx = xex −�

ex dx = (x− 1)ex + C�

ln x dx =

�1 · ln x dx = x ln x−

�x1

xdx = x ln x− x+ C

oder alternativ mit Substitution t = ln x:�ln x dx =

�tex dt = (t− 1)et + C = (ln x− 1)x+ C

�ex sin x dx = ex sin x−

�ex cos x dx = ex sin x− ex cos x−

�ex sin x dx

⇒�

ex sin x dx =1

2(ex(sin x− cos x)) + C

alternativ uber komplexe Zahlen�ex sin x dx = Im

�ex(1+i) dx = Im

1

1 + i� �� �1−i2

exeix + C =1

2(ex(sin x− cos x)) + C �

Bemerkung 2. Die Integration von einfachen Funktionen kann schwierig sein; viele Funk-tionen lassen sich gar nicht geschlossen integrieren, z. B.

�sinxx

dx oder�e−x2

dx. Da dieseIntegrale aber fur manche Anwendungen sehr wichtig sind, fuhrt man neue Funktionenein, die durch das Integral festgelegt werden (z. B. Stichworte

”Sinintegral“ und

”Fehler-

funktion“). �

Integration rationaler Funktionen

Integrale von rationalen Funktionen der Form�p(x)/q(x) dx mit teilerfremden reellen

Polynomen p(x) und q(x) lassen sich stets geschlossen integrieren. Mit Hilfe von Poly-nomdivision und Partialbruchzerlegung wird die Integration systematisch auf folgendefunf Grundtypen zuruckgefuhrt:

1.

�Polynom dx = Polynom

2.

�1

x− adx = ln |x− a|+ C

3.

�1

(x− a)kdx = − 1

k − 1

1

(x− a)k−1+ C, k > 1

4.

�2(x− a)

(x− a)2 + b2dx = ln |(x− a)2 + b2|+ C

5.

�1

(x− a)2 + b2dx =

�1/b2

�x−ab

�2+ 1

dx. Mit der Substitution t = (x − a)/b und

dx = b dt wird daraus1

b

�1

t2 + 1dt =

1

barctan

�x− a

b

�+ C.

30

Page 31: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Beispiel 33. Mit der Suchmaschine Wolframalpha erhalt man

�(x5 + x2 + x+ 1)/((x2 + 4)(x− 1)3) dx =

1

250

�184 ln

�x2 + 4

�+ 250x− 320

x− 1− 100

(x− 1)2+ 382 ln(x− 1)− 101 tan−1

�x2

��.

Wie man sieht, entstehen viele Terme, die jedoch alle Grundtypen entsprechen. �Wir werden nun genauer beschreiben, wie man den allgemeinen Fall auf die Integrationvon Grundtypen reduziert. Als erstes pruft man, ob eine unecht gebrochene Funktion mitgrad(p) ≥ grad(q) vorliegt. Wenn ja, so fuhrt man eine Polynomdivision

p(x)

q(x)= Polynom +

r(x)

q(x)

mit grad(r) < grad(q) durch und rechnet dann mit r(x)q(x)

weiter. Fur die anschließende Par-

tialbruchzerlegung von p(x)q(x)

bestimmt man alle Nullstellen von q(x) = (x− x1) · · · (x−xn) und unterscheidet dann die folgenden Falle:

(a) Sei a eine einfache Nullstelle von q(x), d. h., q(x) = (x − a)R(x) mit einem RestR(x) vom Grad n− 1. Dann gilt

p(x)

q(x)=

A

x− a+

B(x)

R(x),

mit eindeutig bestimmtem A und B(x).

(b) Sei a reelle und k-fache Nullstelle von q(x), d. h., q(x) = (x − a)kR(x). Dann sinddie Koeffizienten Al und das Polynom B(x) mit grad(B(x)) = grad(p(x))− k in

p(x)

q(x)=

A1

(x− a)+

A2

(x− a)2+ · · ·+ Ak

(x− a)k+

B(x)

R(x)

eindeutig bestimmt.

(c) Sei a komplexe und einfache Nullstelle von q(x). Dann ist auch a Nullstelle vonq(x) (Beweis: Es gilt q(Re(a) + i Im(a)) = q(Re(a) − i Im(a)) = 0). Also ist q(x) =(x − a)(x − a)R(x) = (x2 + C1x + C0)R(x) mit C1 = −2Re(a) und C0 = |a|2. DerAnsatz fur die Partialbruchzerlegung ist nun

p(x)

q(x)=

Ax+ B

x2 + C1x+ C0

+B(x)

R(x).

(d) Sei a komplexe und k-fache Nullstelle von q(x). Das fuhrt auf

p(x)

q(x)=

A1x+ B1

x2 + C1x+ C0

+A2x+ B2

(x2 + C1x+ C0)2+ · · ·+ Akx+ Bk

(x2 + C1x+ C0)k+

B(x)

R(x).

Die Falle (c) und (d) konnen alternativ wie (a) und (b), nur mit komplexen Zahlen,behandelt werden. So ist z. B.�

1

x2 + 1dx =

i

2

�1

x+ i− 1

x− idx =

i

2(ln(x+ i)− ln(x− i)) + C = arctan(x) + C.

31

Page 32: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Beispiel 34. (i) Als erstes betrachten wir einfache reelle Nullstellen.

�x+ 2

(x+ 1)(x− 1)dx =

�A

(x+ 1)+

B

(x− 1)dx = A ln(|x+ 1|) + B ln(|x− 1|) + C.

Die Konstanten A und B mussen fur alle x die Gleichung

x+ 2 = (x− 1)A+ (x+ 1)B (3.4)

erfullen. Jetzt haben wir zwei Moglichkeiten, A und B zu finden: wir konnen dieKoeffizienten vergleichen und dann ein lineares Gleichungssystem losen oder wirsetzen spezielle Werte fur x ein, was hier einfacher ist. Fur x = 1 wird (3.4) zu3 = 2B und fur x = −1 zu 1 = −2A. Also ist B = 3/2 und A = −1/2.

(ii) �1

x2(x+ 2)dx =

�A

x+

B

x2+

C

x+ 2dx

Die Koeffizienten bestimmen wir aus

1 = x(x+ 2)A+ (x+ 2)B + x2C (3.5)

durch Koeffizientenvergleich

x0 : 1 = 2B

x1 : 0 = 2A+B

x2 : 0 = A+ C.

Wir erhalten nach kurzer Rechnung A = −14, B = 1

2und C = 1

4.

Alternativ lasst sich die Losung von (3.5) wieder durch Einsetzen bestimmen. DieserWeg ist weniger rechenaufwendig und gleichzeitig mathematisch interessanter. Furx = −2 erhalten wir die Gleichung fur C, namlich 4C = 1. Fur x = 0 bleibt nurB ubrig, also 1 = 2B. Aber wie bekommt man nun A, ohne das Gleichungssystemlosen zu mussen? Der Trick ist, abzuleiten. Wir betrachten f(x) = Ax+B

x2 + Cx+2

,multiplizieren mit x2 und leiten ab und werten die Ableitung in x = 0 aus, alsoA = (x2f(x))′|x=0. Die dazugehorige Rechnung ist sehr kurz

A = (x2f(x))′|x=0 =

�1

x+ 2

�′����x=0

= − 1

(2 + x)2

����x=0

= −1

4.

(iii) Im folgenden Beispiel wird der Zahler auf die Grundtypen 4 und 5 aufgeteilt.

�3(x+ 1)− 5

(x+ 1)2 + 1dx =

3

2

�2(x+ 1)

(x+ 1)2 + 1dx− 5

�1

(x+ 1)2 + 1dx

=3

2ln(|x+ 1|2 + 1)− 5 arctan(x+ 1) + C

Um zu erklaren, warum die Partialbruchzerlegung stets moglich ist, benotigt man einigetechnische Vorbereitungen, auf die wir hier leider nicht detailliert eingehen konnen. Wirgeben lediglich die Beweisidee fur den folgenden Satz an, aus dem die vier Falle (a)–(d)abgeleitet werden konnen.

32

Page 33: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Satz 9 (Existenz und Eindeutigkeit der Partialbruchzerlegung). Seien p(x), q1(x) undq2(x) teilerfremde Polynome mit grad(p(x)) < grad(q1(x)q2(x)). Dann existieren zweieindeutig bestimmte Polynome a(x) und b(x) mit

p(x)

q1(x)q2(x)=

a(x)

q1(x)+

b(x)

q2(x),

mit grad(a(x)) < grad(q1(x)) und grad(b(x)) < grad(q2(x)).

Beweis. Mit dem erweiterten Euklidischen Algorithmus folgt das Lemma von Bezout ,d. h., es gibt �a(x) und �b(x) mit

ggt(q1(x), q2(x)) = 1 = �a(x)q2(x) +�b(x)q1(x).Erweitern wir diese Gleichung mit r(x)/(q1(x)q2(x)), so ergibt sich

r(x)

q1(x)q2(x)=�a(x)r(x)q1(x)

+�b(x)r(x)q2(x)

.

Die nicht echt gebrochenen Anteile spalten wir mittels Polynomdivision durch q1(x) bzw.q2(x) in ein Restpolynom R(x) ab, es ergibt sich

r(x)

q1(x)q2(x)=

a(x)

q1(x)+

b(x)

q2(x)+R(x).

Im Grenzubergang x → ∞ wird daraus 0 = limx→∞ R(x), also gilt R(x) = 0. Zum Beweisder Eindeutigkeit nehmen wir an, es gibt ein zweites Paar von Polynomen mit

r(x)

q1(x)q2(x)=

A(x)

q1(x)+

B(x)

q2(x).

Dann gilt

0 =a(x)− A(x)

q1(x)+

b(x)− B(x)

q2(x).

Da a(x)−A(x) in den Nullstellen von q1(x) verschwinden muss (bei k-fachen Nullstellenauch a(k)(x)−A(k)(x)), gleichzeitig aber grad(a(x)−A(x)) < grad(q1(x)) ist, folgt a(x) =A(x) und analog b(x) = B(x).

Uneigentliche Integrale

Wir unterscheiden zwei Arten von uneigentlichen Integralen: zum einen Integrale, beidenen Intervallgrenzen unendlich sind, z. B. die obere

� ∞

a

f(x) dx := limb→∞

� b

a

f(x) dx,

und zum anderen Integrale, bei denen der Integrand im Inneren des Integrationsgebietesunbeschrankt ist, z. B. an einer Stelle ξ (vgl. Skizze). Dann definiert man das Integraldurch den Grenzwert

� b

a

f(x) dx := lim�→0

� ξ−�

a

f(x) dx+

� b

ξ+�

f(x) dx.

Man sagt, ein uneigentliches Integral ist konvergent, wenn der Grenzwert existiert undendlich ist.

33

Page 34: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Beispiel 35.� ∞

1

1/x dx = limb→∞

� b

1

1/x dx = limb→∞

ln b = ∞� ∞

1

1/x3 dx = limb→∞

� b

1

1/x3 dx = limb→∞

−1

2x−2

����b

1

= −1

2(0− 1) =

1

2� 1

−1

1/x2 = 2 lim�→0

� 1

1/x2 dx = 2 lim�→0

−1

x

����1

= ∞� 1

0

1√xdx = lim

�→0

1√xdx = lim

�→02√x��2�

Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein uneigentliches Integral existiert. �Beispiel 36 (Gammafunktion). Besonders wichtig (z. B. wenn man mittels t-Test pruft,ob zwei normalverteile Zufallsgroßen den gleichen Erwartungswert haben, vgl. WikipediaStichworte t-Verteilung und t-Test) ist die Gamma-Funktion definiert durch das uneigent-liche Integral

Γ(x) :=

� ∞

0

tx−1e−t dt.

Fur x = 1 ist das Integral einfach, wir erhalten Γ(1) =�∞0

e−t dt = −e−t|∞0 = 1. Mitpartieller Integration kann x um eins reduziert werden, es gilt

Γ(x) =

� ∞

0

tx−1e−t dt = −tx−1e−t��∞0+ (x− 1)

� ∞

0

tx−2e−t dt,

alsoΓ(x) = (x− 1)Γ(x− 1).

Mit dieser Rekursionsformel erhalt man Γ(x) = (x − 1)! f ur x ∈ N. Die Gammafunktionhat viele interessante Eigenschaften, z. B.

Γ(x)Γ(1− x) =π

sin πx.

Daraus folgt Γ(12) =

√π. Mit Hilfe dieses Wertes konnen wir die Flache

F (x) =1√2π

� x

−∞e−

t2

2 dt

unter der Gaußschen Glockenkurve fur x → ∞ bestimmen.Aufgrund der Symmetrie ist

F (∞) = 2

� 0

−∞

1√2π

e−t2

2 dt.

Mit der Substitution t =√2z und dt = − 1√

2zdz folgt

F (∞) =2√2π

� 0

−∞e−z

�− 1√

2· 1√

z

�dz =

1√π

� ∞

0

e−zz12−1 dz =

Γ(12)√π

= 1.

Im Tafelwerk findet man die Werte von F (x) als Quantile der Normalverteilung. Z. B. istF (1) = 0.8413 und F (2) = 0.97725 (das bedeutet, dass bei normalverteilten Zufallsgro-ßen weniger als 3% aller Realisierung oberhalb der doppelten Standardabweichung vomMittelwert entfernt liegen sollten, vgl. Skizze). �

34

Page 35: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

(2,1)(3,2)

(4,6)

(1,1)

1√2π

� x−∞ e−t2/2 dt

Abbildung 3.10: Gammafunktion und Gaußsche Glockenkurve

Beispiel 37 (Divergenz der harmonischen Reihe). SeiHn =�n

k=11k= 1+ 1

2+ 1

3+ 1

4+· · ·+ 1

n.

Was ist limn→∞

Hn? Mit

Hn >

� n+1

0

1

xdx = ln x|n+1

1 = ln(x+ 1)

(vgl. Abbildung 3.11) folgt Hn → ∞ fur n → ∞. Es gilt limn→∞

Hn − ln(n) = 0.577215 . . .

(Euler-Macheroni-Konstante).

Sei Sn =�n

k=11k2. Dann ist Sn < 1 + 1/4 +

�∞2

1x2 dx = 1.75. (ohne Beweis: limn→∞ Sn =

π2

6).

0

0.5

1

0 1 2 3 4 5

S4 >� 4+11

1xdx

Abbildung 3.11: Die harmonische Reihe divergiert, weil� n+1

11/x dx eine unter Schranke

ist.

Satz 10 (Riemannsche Vermutung). Sei ζ(x) =∞�k=1

1kx

die Riemannsche Zetafunktion.

Dann gilt

1. ζ(x) =�

p prim

11−p−x

2. ζ(x) = 0 ⇒ Re(x) = 12oder x = −2k mit k ∈ N

Beweis. Aussage 1 folgt aus der geometrischen Reihe und der Eindeutigkeit der Prim-faktorzerlegung. Die zweite Aussage ist unbewiesen, obwohl das Problem bereits 1859formuliert wurde.

35

Page 36: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

3.10 Numerische Berechnung von bestimmtenIntegralen, Quadratur

Gesucht ist I =� baf(x) dx. Lasst sich eine Stammfunktion F (x) finden, so gilt mit dem

Hauptsatz der Integralrechnung I = F (b) − F (a). Alternativ kann I durch eine Quadra-turformel approximiert werden. Im Folgenden ist h = (b− a)/n.

Trapezregel T1 = h

�1

2f(a) +

1

2f(b)

Trapezsumme Tn =h

2f(a) +

n−1�

k=1

hf(a+ hk) +h

2f(b)

Fassregel F1 =h

6

�f(a) + 4f(

a+ b

2) + f(b)

Simpsonregel Fn =n−1�

k=0

h

6(f(ak) + 4f(ak + h/2) + f(ak + h)) , ak = a+ kh

Beispiel 38. Numerische Quadratur von� 101/(1 + x2) dx. Der exakte Wert dieses In-

tegrals ist arctan(x)|10 = π4≈ 0.78539816339744830962. Numerisch erhalt die Werte in

Tabelle 3.1. �

Tabelle 3.1: Numerische Quadratur von� 101/(1 + x2) dx

Trapezregel T1 =12(1 + 1

2) = 3

4= 0.75

T2 =3140

= 0.775

T4 =9191174

= 0.782794

T10 = 0.78498149

T100 = 0.78539399673

Simpsonregel F1 =16

�1 + 4 · 4

5+ 1

2

�= 47

60= 0.7833

F2 =801110200

= 0.7853921

F4 = 0.7853981256146

F10 = 0.7853981632424

Satz 11. Die Fassregel integriert alle Polynome bis zum Grad 3 exakt.

Beweis. Durch Tabelle 3.2.

Bemerkung 3. Die Fehler fur die Fassregel und fur die Simpsonregel kann man abschatzen.Sei f ′′(x) stetig in [a, b] und M2 = maxx∈[a,b] f ′′(x). Dann gilt

����� b

a

f(x) dx− Tn

���� ≤M2(b− a)3

12n2.

36

Page 37: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Ist f (4)(x) stetig und M4 = maxx∈[a,b] f (4)(x), so gilt

����� b

a

f(x) dx− Fn

���� ≤M4(b− a)5

180n4�

Tabelle 3.2: Die Fassregel integriert Polynome bis zum Grad 3 exakt.

Grad exakt Fassregel

0� 1

01 dx = 1 1

6(1 + 4 + 1) = 1

1� 1

0x dx = 1

2x2|10 = 1

216(0 + 4 · 1

2+ 1) = 1

2

2� 1

0x2 dx = 1

3x3|10 = 1

316(0 + 4 ·

�12

�2+ 1 = 1

3

3� 1

0x3 dx = 1

4x4|10 = 1

416(0 + 4 ·

�13

�3+ 1 = 1

4

4� 1

0x4 dx = 1

5x5|10 = 1

516(0 + 4

�12

�4+ 1) = 5

24

3.11 Anwendungen der Integralrechnung

Flachenberechnungen

(a) Flache zwischen zwei Kurven, vgl. Abbildung 3.12.

(i) Schnittpunkte A und B berechnen

(ii) F =� baf(x)− g(x) dx

(b) Flache unter einer Kurve in Parameterdarstellung, y = y(t), x = x(t) mit t ∈ [0, T ].Mit Hilfe der Substitutionsregel erhalt man

� b

a

y(x) dx =

� T

0

y(x(t))x(t) dt.

Beispiel 39. Zykloide x = t− sin t, y = 1− cos t. x(t) = dxdt

= 1− cos t

� b

a

y(x) dx =

� 2π

0

y(x(t))x(t) dt

=

� 2π

0

(1− cos t)(1− cos t) dt

=

� 2π

0

1− 2 cos t+ cos2 t dt

= t− 2 sin t+1

2(cos t sin t+ t)|2π0

= 3π

37

Page 38: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

f(x)

g(x)

A

B

F =� ba f(x)− g(x) dx

Abbildung 3.12: Berechnung der Flache zwischen zwei Kurven

Nebenrechnung: Sei X =�cos2 t dt und Y =

�sin2 t dt. Aus partieller Integration

X =

�cos2 t dt = cos t sin t+

�sin2 t dt

erhalt man die lineare Gleichung

X − Y = cos t sin t

Integriert man 1 = cos2 t+ sin2 t, so erhalt man eine weitere Gleichung

X + Y = t

Die Losung des linearen Gleichungssystems ist X = 12(t+ cos t sin t). �

(c) Flache von Funktionen in Polarkoordinaten. Skizze. F ≈ 12(ϕ2 − ϕ1)R

2. Grenzwert-bildung liefert

F =1

2

�r(ϕ)2 dϕ.

Beispiel 40. Flache einer arithmetischen Spirale. Es gilt r(ϕ) = ϕ. Also ist

F =1

2

� 2π

0

ϕ2 dϕ =1

6ϕ3

����2π

0

=4

3π3.

12

� 2π

0r(ϕ)2 dϕ

Kurvenlangen

L = limn→∞

��(Δxi)2 + (Δyi)2

= limn→∞

��

1 +

�ΔyiΔxi

�2

·Δxi

=

� b

a

�1 + y′(x)2 dx

38

Page 39: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

In Parameterdarstellung ergibt sich

L =

� T

0

�x(t)2 + y(t)2 dt.

�Δx2

i +Δy2i

Δxi

Δyi

Abbildung 3.13: Berechnung von Kurvenlangen

Beispiel 41. (a) Kreis. Mit x = r cos t, y = r sin t, t ∈ [0, 2π] folgt

L =

� 2π

0

�r2(sin2 t+ cos2 t) dt = 2rπ

(b) Ellipse. Sei x = a cos t und y = b sin t, t ∈ [0, 2π] mit a > b. Das Integral

L =

� 2π

0

�a sin2 t+ b cos2 t dt

=

� 2π

0

�(a2 − b2) sin2 t+ b2 dt

ist ein sogenanntes elliptisches Integral und kann nicht geschlossen berechnet wer-den.

(c) Zykloide. Sei x = t− sin t und y = 1− cos t. Die Lange der Zykloide fur t ∈ [0, 2π]ist dann

L =

� 2π

0

�(1− cos t)2 + sin2 t dt

= 2

� π

0

√2− 2 cos t dt = 2 ·

√2

� π

0

√1− cos t dt.

Mit der Substitution z = cos t, also t = arccos z und dt = 1/√1− z2dz erhalt man

nun

L = 2√2

� 1

−1

�1− z

1− z2dz

= 2√2

� 1

−1

(1 + z)−12 dz

= 2 ·√2 · 2 (1 + z)

12

���1

−1= 2 ·

√2 · 2 ·

√2 = 8.

39

Page 40: Skript

3 Funktionen einer (reellen) Variablen

Volumenberechnung

Querschnittsflache Q(x) (Skizze). V =� baQ(x) dx. Rotation um die x-Achse

V =

� b

a

πf 2(x) dx

Abbildung 3.14: Eine Funktion y(x) rotiert um die x-Achse. Das Volumen ergibt sichdurch Summation von zylindrischen Scheiben der Breite dx. Es gilt V =� baπy(x)2 dx.

Rotation um die y-Achse

V =

� y2

y1

πx2(y) dy

Beispiel 42. (a) Rotation der Parabel y = x2 + 1 um die y-Achse. Dann ist x2 = y − 1.

V = π

� 5

1

x2 dy = π

� 5

1

(y − 1) dy = π�y2/2− y

�51= 8π

(b) y = x2 + 1, Rotation um x-Achse.

V =

� 1

0

π(x2 + 1)2 dx = π

� 1

0

x4 + 2x2 + 1 dx

= π

�1

5x5 +

2

3x3 + x

�����1

0

= π3 + 10 + 15

15=

28

15π

(c) Volumen einer Einheitskugel 1. Idee: 8 Oktanten:

V = 8

� 1

0

� √1−x2

0

�1− x2 − y2 dy dx

2. Idee: die Kugel entsteht durch Rotation einer Kreislinie um die x-Achse:

V = π

� 1

−1

(1− x2) dx = π�x− x3/3

���1−1

=4

40