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1 Soziologische, rechtliche und rehabilitative Probleme W. K. Schreiber 1.1 Demographische Angaben zu Dialysepatienten Die jährliche Statistik der European Dialysis and Transplant Association ent- hält demographische Angaben über Dialysepatienten mit Nierentransplanta- tion sowie deren Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Die zum Stichtag 31 . 12. 1979 herausgegebenen Daten (Brynger et al. 1980) berücksichti- gen die Angaben von 216 der 250 bekannten Einrichtungen. Danach befanden sich 9864 Patienten in Behandlung, davon 8,5% mit funktionierendem Trans- plantat, 85,4% in Hämodialysebehandlung und 2,1% in Peritonealdialysebe- handlung. Bei ca. 4% der Patienten war die Behandlungsform ungewiß. Der Anteil der Dialyse- oder transplantierten Patienten an der Bevölkerung steigt seit Jahren. Neuzugänge unter den behandelten Patienten (Hämodialyse und Nieren- transplantation) in den Altersgruppen bis 55 Jahren sind seit 1975 etwa kon- stant, wesentliche Zuwächse ergeben sich in den oberen Altersgruppen, beson- ders bei den über 75jährigen (Brynger et al. 1980). Parallel zu dieser Entwicklung wurde die Lebenserwartung von Dialysepatienten erhöht. Aufgrund beider Faktoren ist das durchschnittliche Alter der Dialysepatienten in der Bundesre- publik Deutschland auf fast 50 Jahre angestiegen. Daraus ergibt sich, daß sich ein erheblicher Teil der Patienten jenseits des produktiven Lebensabschnitts befindet. Der Anteil der 1979 neu hinzugekommenen Hämodialysepatienten beträgt bei den Heimdialysepatienten 14% und bei den Zentrumsdialysepatienten 33%. Von den zum Stichtag 31. 12. 1979 Patienten mit funktionierendem Transplan- tat hatte die Hälfte 1979 ein neues Transplantat erhalten. Die Angaben deuten darauf hin, daß die Nierentransplantationsrate in der Bundesrepublik steigt und Anstrengungen unternommen werden, den seit Jah- ren bestehenden Rückstand im Vergleich zu anderen westlichen Industriena- tionen aufzuholen. Der stärkere Zuwachs der Zentrumsdialysebehandlung im Vergleich zur Heimdialysebehandlung muß im wesentlichen auf den erhöhten Anteil älterer Dialysepatienten zurückgeführt werden. Insgesamt ist der Anteil der Heimdialysepatienten an den Hämodialysepatienten in der BRD seit 1975 nur um 9% gefallen, im Gegensatz zu den USA, wo die Einführung der Limi- ted-care-Dialysebehandlung zu einem erheblich reduzierten Anteil der Heim- dialysepatienten führte (vgl. Kap. I). Patienten in Zentrumsdialysebehandlung haben geringere Möglichkeiten bei der Wahl des Dialysezeitpunkts als Heim- F. Balck et al. (eds.), Psychonephrologie © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1985

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1 Soziologische, rechtliche und rehabilitative Probleme

W. K. Schreiber

1.1 Demographische Angaben zu Dialysepatienten

Die jährliche Statistik der European Dialysis and Transplant Association ent­hält demographische Angaben über Dialysepatienten mit Nierentransplanta­tion sowie deren Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Die zum Stichtag 31 . 12. 1979 herausgegebenen Daten (Brynger et al. 1980) berücksichti­gen die Angaben von 216 der 250 bekannten Einrichtungen. Danach befanden sich 9864 Patienten in Behandlung, davon 8,5% mit funktionierendem Trans­plantat, 85,4% in Hämodialysebehandlung und 2,1% in Peritonealdialysebe­handlung. Bei ca. 4% der Patienten war die Behandlungsform ungewiß. Der Anteil der Dialyse- oder transplantierten Patienten an der Bevölkerung steigt seit Jahren.

Neuzugänge unter den behandelten Patienten (Hämodialyse und Nieren­transplantation) in den Altersgruppen bis 55 Jahren sind seit 1975 etwa kon­stant, wesentliche Zuwächse ergeben sich in den oberen Altersgruppen, beson­ders bei den über 75jährigen (Brynger et al. 1980). Parallel zu dieser Entwicklung wurde die Lebenserwartung von Dialysepatienten erhöht. Aufgrund beider Faktoren ist das durchschnittliche Alter der Dialysepatienten in der Bundesre­publik Deutschland auf fast 50 Jahre angestiegen. Daraus ergibt sich, daß sich ein erheblicher Teil der Patienten jenseits des produktiven Lebensabschnitts befindet.

Der Anteil der 1979 neu hinzugekommenen Hämodialysepatienten beträgt bei den Heimdialysepatienten 14% und bei den Zentrumsdialysepatienten 33%. Von den zum Stichtag 31. 12. 1979 Patienten mit funktionierendem Transplan­tat hatte die Hälfte 1979 ein neues Transplantat erhalten.

Die Angaben deuten darauf hin, daß die Nierentransplantationsrate in der Bundesrepublik steigt und Anstrengungen unternommen werden, den seit Jah­ren bestehenden Rückstand im Vergleich zu anderen westlichen Industriena­tionen aufzuholen. Der stärkere Zuwachs der Zentrumsdialysebehandlung im Vergleich zur Heimdialysebehandlung muß im wesentlichen auf den erhöhten Anteil älterer Dialysepatienten zurückgeführt werden. Insgesamt ist der Anteil der Heimdialysepatienten an den Hämodialysepatienten in der BRD seit 1975 nur um 9% gefallen, im Gegensatz zu den USA, wo die Einführung der Limi­ted-care-Dialysebehandlung zu einem erheblich reduzierten Anteil der Heim­dialysepatienten führte (vgl. Kap. I). Patienten in Zentrumsdialysebehandlung haben geringere Möglichkeiten bei der Wahl des Dialysezeitpunkts als Heim-

F. Balck et al. (eds.), Psychonephrologie© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1985

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dialysepatienten, die Familienaktivitäten stärker mit den Notwendigkeiten der Dialyse koordinieren müssen als Zentrumsdialysepatienten.

Das durchschnittliche Alter der Heimdialysepatienten liegt etwa 4 Jahre unter dem der Zentrumsdialysepatienten und etwa 10 Jahre über dem der transplantierten Patienten. Etwa 213 der Dialysepatienten sind männlich (vgl. Kap. 11,2).

1.2 Versorgungssituation

Im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepublik in der Spitzengruppe der Nationen, die ein flächendeckendes Angebot von Dialyseeinrichtungen unter­halten (Abb. 1). Unter den Ländern, die einen hohen Versorgungsgrad für nie­reninsuffiziente Patienten durch Dialyse oder Transplantation erreicht haben, können 2 Entwicklungen beobachtet werden.

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'10 Anteil der Heimdialysepotienten und Transplantierten mit

funktionierendem Transplantat (Stichtag 31 .12.1979)

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Abb. 1. Anzahl der Zentren und Prozentanteil der Heimdialysepatienten und Transplantierten an den durch die EDTA ausgewiesenen Nierenpatienten (Stichtag 31. 12. 1979). 1 Ägypten, 2 Belgien, 3 Bulgarien, 4 Dänemark, 5 Bundesrepublik Deutschland, 6 DDR, 7 Finnland, 8 Frankreich, 9 Griechenland, 10 Großbritannien, 11 Irland, 12 Island, 13 Israel, 14 Italien, 15 Jugoslawien, 16 Libanon, 17 Luxemburg, 18 Niederlande, 19 Norwegen, 20 Österreich, 21 Po­len, 22 Portugal, 23 Schweden, 24 Schweiz, 25 Spanien, 26 Tschechoslowakei, 27 Türkei, 28 Tunesien, 29 Ungarn, 30 Zypern

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- flächendeckende Versorgung bei einem hohen Anteil von Zentrumsdialyse­patienten (z. B. Luxemburg),

- nicht flächendeckende Versorgung bei einem hohen Anteil von Heimdialyse-oder transplantierten Patienten (z. B. Dänemark).

Die Einflüsse unterschiedlicher Versorgungsstrukturen auf die Selektion der Patienten für die bestehenden Behandlungsalternativen, z. B. der Zwang, beste­hende Dialysekapazitäten im Zentrum auszulasten, oder Zugangsbeschränkun­gen insbesondere bei älteren Nierenpatienten zur Dialyse bei einer schlechten flächendeckenden Versorgungsstruktur, sind bislang nicht untersucht.

Abb. 2. Standorte von Dialyseeinrich­tungen in der Bundesrepublik Deutschland

In Abb. 2 sind die Standorte von Dialyseeinrichtungen in der BRD (European Dialysis and Transplant Association EDTA, 1979) dargestellt. Aus diesen An­gaben geht hervor, daß selbst bei relativ guter Flächendeckung der Versorgung in der BRD zahlreiche dünnbesiedelte Gebiete unterversorgt sind: Patienten aus diesen Gebieten befinden sich in mehr als 50 km Abstand zu einem Be­handlungszentrum. Wenn prospektiven Dialysepatienten aus solchen unterver­sorgten Gebieten der lange Weg zur Dialyse erspart werden soll, bleibt für

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diese nur Heimdialyse, Transplantation, Umzug in die Nähe eines Dialysezen­trums oder die Verweigerung der Dialysebehandlung. Empirische Befunde aus den sich aus der Versorgungsstruktur ergebenden Problemen sind nicht be­kannt.

Die gesundheitspolitisch wesentliche Entscheidung betrifft das Behand­lungsangebot (Tabelle 1).

Beim gegenwärtigen Stand der Behandlungstechnik muß eine Vollversor­gung von Dialysepatienten aller Altersgruppen die Zentrumsdialyse mit umfas­sen. Diese Behandlungsform wird von einem Teil der Patienten gemieden. We­sentliche Gesichtspunkte für Heimdialysepatienten sind dabei der seltenere Aufenthalt in einer Klinik bzw. Praxis, Dialysieren in gewohnter Umgebung, größere Unabhängigkeit bei der Wahl des Dialysezeitpunkts, häufigeres Zu­sammensein mit der Familie. Bei transplantierten Patienten stehen v. a. die

Tabelle 1. Versorgungsgesichtspunkte der BehandlungsaIternativen Zentrumsdialyse, Heim­dialyse und Transplantation

Zentrumsdialyse Heimdialyse Transplantation

Versorgung Flächendeckendes Flächendeckendes Flächendeckendes Netz von Einrichtun- Netz von Einrichtun- Netz von Transplanta-gen : von jedem Stand- gen nicht erforderlich tionseinrichtungen ort eines Landes muß nicht erforderlich eine Dialyseeinrich-tung innerhalb akzep-tabler Zeit erreichbar sein

Medizinische Ja Nein Präoperativ ist ge-und pflegerische Komplikationsrisiko wöhnlich Dialyse er-Versorgung muß gering sein, Dia- forderlich, Transplan-

lysepartner muß dauer- tation bei bestimmten haft zur Verfügung ste- Patientengruppen kon-hen traindiziert (z. B. Ope-

rationsrisiken), Verfüg-barkeit von Transplan-taten

Personalbedarf Ausgebildetes ärztli- Patient und Dialyse- Personalintensiv wäh-für die Behand- ches und Pflegeperso- partner (meist Ehepart- rend Operation und lung nal, Dialysetechniker ner). Schulung in Rekonvaleszenz, ambu-

verfügbar im gesamten Heimdialysetrainings- lante Kontrolluntersu-Behandlungszeitraum zentren. Bei Komplika- chungen

tionen oder nicht ver-fügbarem Partner muß Platz im Heimdialyse-trainingszentrum oder einer anderen Einrich-tung verfügbar sein

Kosten pro Pati- Kontinuierlich hoch Mittel Am Anfang am höch-ent sten, bei erfolgreicher

Transplantation auf Dauer am niedrigsten

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Hoffnung auf volle Wiederherstellung der Gesundheit, Wunsch nach Rückkehr zum "normalen" Leben, Wunsch nach Unabhängigkeit von der Dialyse, Hoff­nung auf Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit, mehr Bewe­gungsfreiheit, Urlaub, Reisen, Sport als bei der Dialyse im Vordergrund. Zen­trums dialyse patienten betonen demgegenüber das Gefühl der Sicherheit auf­grund der Behandlung durch medizinisches Personal, die bessere medizinische Versorgung im Zentrum, den geringeren Aufwand und die geringere Belastung der Familie bei der Dialyse außerhalb der Wohnung (Schreiber u. Tews 1982).

Nur durch die Bereitstellung aller Behandlungsalternativen kann somit von einer Vollversorgung der terminal niereninsuffizienten Patienten ausgegangen werden. In der Statistik der in der EDTA zusammengefaßten Einrichtungen ist erkennbar, daß nur in 6 von 30 Ländern eine Mischversorgung angeboten wird und mindestens 100 Patienten pro Mio. Einwohner behandelt werden (Brynger et al. 1980). Bei 8 Staaten, die nach diesem Kriterium eine Vollversorgung be­treiben, besteht kein flächendeckendes System von Dialyseeinrichtungen. Die skandinavischen Länder und Dänemark gleichen die geringe Flächendeckung durch eine hohe Transplantationsrate, England v. a. durch einen hohen Anteil von Heimdialysepatienten aus. In Ländern mit einem Patientenanteil unter 100/Mio. Einwohner kann in keinem Fall von einem flächendeckenden System der Versorgung gesprochen werden. Der Anteil der Heimdialysepatienten oder Transplantierten ist in diesen Ländern sehr unterschiedlich (vgl. Abb. 1). We­gen der geringeren Investitionen und laufenden Kosten ist auf diesem Wege ein Versorgungsrückstand am schnellsten aufzuholen. Eine Vollversorgung ist jedoch kaum erreichbar.

Zur Behandlung oder Betreuung von Patienten mit besonderen psychischen Belastungen oder familiären Problemen sowie zur Einleitung von Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung und zur Sicherstellung einer angemesse­nen psychosozialen Versorgung sind Psychiater, Psychologen und Sozialarbei­ter sinnvoll. In einer Befragung aller bekannten Dialyseeinrichtungen zur Be­handlung erwachsener Hämodialysepatienten in der Bundesrepublik Deutsch­land machten darüber 110 Einrichtungen Angaben. Danach waren in 15 Ein­richtungen ein Psychologe oder ein Psychiater (auch konsiliarisch) verfügbar. In 30 Einrichtungen stand ein Sozialarbeiter zur Verfügung (einschließlich Versorgung durch Kliniksozialarbeiter, städtische Sozialarbeiter). In 12 Ein­richtungen waren sowohl Sozialarbeiter als auch Psychiater oder Psychologen vertreten (Schreiber u. Tews 1982).

Aufgrund der so skizzierten personellen Bedingungen kann die Versorgung von psychischen und sozialen Problempatienten oder von Patienten, für die eine berufliche Eingliederung zu betreiben wäre, in der Mehrheit der Einrich­tungen nicht als gewährleistet betrachtet werden. In den meisten Dialyseein­richtungen werden diese Patienten offenbar als Einzelfälle betrachtet, die eine Erweiterung der bestehenden medizinischen Versorgung nicht rechtfertigen. In jüngster Zeit erschweren zusätzlich Maßnahmen zur Kostendämpfung im Ge­sundheitswesen eine Erweiterung psychosozialer Dienste.

Aufgrund der Versorgungssituation von Dialysepatienten besteht ein we­sentliches Problem bereits im Zugang dieser Patientengruppe zu den ihr zuste-

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henden Leistungen aus dem Sozialrecht. Damit können vom Gesetzgeber vor­gesehene Maßnahmen zur Integration chronisch Kranker und Behinderter in vielen Fällen nicht den gewünschten Effekt erbringen.

1.3 Grundlagen des Sozialrechts für Behinderte

Wer als "behindert" anerkannt ist, für den finden eine Reihe von Sonderbe­stimmungen in Gesetzen und eigens für Behinderte geschaffene Gesetze An­wendung. Ausnahmeregelungen gelten in bestimmten Fällen bereits während eines laufenden Antragsverfahrens (z. B. erweiterter Kündigungsschutz von Ar­beitsverhältnissen nach dem Schwerbehindertengesetz).

In den meisten Gesetzen ist "Behinderung" nicht oder nicht klar definiert. Gewöhnlich werden ausdrücklich körperliche, geistige und seelische Behinde­rungen einbezogen unter der Voraussetzung, daß diese Behinderungen die Ein­gliederung des Betroffenen in die Gesellschaft erheblich beeinträchtigen. Ge­wöhnlich wird bei akuten Krankheiten nach 6monatiger Krankheitsdauer von einer chronischen Krankheit oder Behinderung ausgegangen. Die Grenze zwi­schen chronischer Krankheit und Behinderung ist fließend. Personen, denen eine Behinderung droht, sind bei Rehabilitationsmaßnahmen tatsächlich Be­hinderten gleichgestellt.

Wird eine Person als Behinderter anerkannt - Dialysepatienten wird eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100% bescheinigt (Schwerbehin­dertenstatus ab MdE 50%) -, sind daran eine Reihe von Rechtsfolgen geknüpft, die sie vor sozialem Abstieg schützen sollen. Dazu zählen insbesondere Maß­nahmen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation.

Die Sozialgesetzgebung orientiert sich an dem bei uns bestehenden geglie­derten System der Sozialversorgung mit unterschiedlichen Zuständigkeiten von Krankenkassen, Unfallversicherungsanstalten, Arbeitsverwaltung, Rentenversi­cherungsanstalten, Sozialämtern als wesentlichsten Trägern von Maßnahmen im Bereich der Rehabilitation. Insgesamt haben Behinderte besondere Rechte auf Leistungen medizinischer und beruflicher Rehabilitation sowie ergänzende Maßnahmen, erweiterten Schutz am Arbeitsplatz und im sonstigen Rechtsver­kehr und Rechte auf Vergünstigungen, z. B. durch Steuerfreibeträge, Kraftfahr­zeugsteuerbefreiung, Ermäßigung in der Kfz-Haftpflichtversicherung, Beihilfe zur Beschaffung eines Pkw, Zusatzurlaub, Freibetrag bei der Berechnung von Wohngeld, Wohnberechtigungsschein, Wohnungsbaudarlehen, Rezeptgebüh­renbefreiung. Bestimmte Vergünstigungen und Bestimmungen zum Schutz von Schwerbehinderten sind an eine Anerkennung als Schwerbehinderter gekop­pelt oder werden teilweise nur unterhalb bestimmter Einkommens- oder Ver­mögensgrenzen gewährt.

Der Schwerpunkt der Sozialgesetzgebung für Behinderte betrifft die beruf­liche Eingliederung chronisch Kranker und Behinderter, daran geknüpft sind bestimmte medizinische, berufliche und ergänzende Maßnahmen.

Der Rest dieses Beitrags soll überwiegend dazu genutzt werden, Probleme bei der Erhaltung der Berufstätigkeit von Dialysepatienten darzulegen. Dabei

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wird die Situation erwachsener Dialysepatienten besonders berücksichtigt. All­gemein bestehende Probleme des Sozialrechts treten für Behinderte und für die relativ geringe Zahl von Kindern und Jugendlichen unter den Dialysepatienten zurück.!

1.4 Rehabilitation von Dialysepatienten

Zur Rehabilitation zählen medizinische, berufliche und ergänzende Maßnah­men, die zur Eingliederung von Dialysepatienten in Arbeit, Beruf und Gesell­schaft beitragen. Solche Maßnahmen kommen für alle Dialysepatienten in Fra­ge, die ohne ihre Nierenerkrankung berufstätig wären und für die eine Alters­rente noch nicht in greifbare Nähe gerückt ist. Als Träger dieser Maßnahmen kommen meist die gesetzlichen Krankenversicherungsträger, die gesetzlichen Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit in Frage. Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit sollen erst bewilligt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation erfolglos durch­geführt worden sind, oder wenn ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwar­ten ist (Vorrang der Rehabilitation vor Rente).

Das Rehabilitationsangleichungsgesetz fordert dazu auf, dafür zu sorgen, daß die Rehabilitationsträger zusammenarbeiten, daß Rehabilitationsmaßnah­men nahtlos und zügig verlaufen und daß die Leistungen zur Rehabilitation dem Umfang nach einheitlich erbracht werden. 1976 wurde zwischen den Trä­gern der gesetzlichen Krankenversicherung und der Kassenärztlichen Bundes­vereinigung ein Vertrag nach § 368s Reichsversicherungsordnung (RVO) (frü­her § 368r RVO) geschlossen, der eine umfassende Beratung des Behinderten über die Möglichkeiten der medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation durch Arzt, Krankenkasse und andere zustän­dige Rehabilitationsträger für Leistungsberechtigte nach der gesetzlichen Krankenversicherung sicherstellen soll. Nach dem Text dieses Vertrags ist u. a. als Behinderter anzusehen, wer eine nicht nur vorübergehende erhebliche Be­einträchtigung der körperlichen Kräfte aufgrund von schweren chronischen Erkrankungen der inneren Organe oder des Stoffwechsels oder aus anderen Ursachen hat. Dabei wird eine drohende Behinderung einer eingetretenen Be­hinderung gleichgestellt. Aufgrund des Vertrags muß der an die kassenärztliche Versorgung angeschlossene Arzt unter Berücksichtigung des medizinischen und beruflichen Status und der allgemeinen Lebensverhältnisse über geeignete Rehabilitationsmaßnahmen ärztlich beraten und dazu motivieren. Der Arzt hat die Krankenkasse mit Hilfe eines vorgegebenen Formblatts "so früh wie mög­lich zu unterrichten". Die Mitteilung an die Krankenkasse hat lediglich zu un-

J Ausführliche Darstellungen der rechtlichen Situation von Behinderten bei Thrust (1980). Der Wortlaut von Gesetzestexten, Anordnungen, Vereinbarungen usw. ist in Jung u. Preuss (1979) (fortgeschriebene Loseblattsammlung) zusammengetragen. Zu einer umfassenden Bestandsaufnahme der Rehabilitation s. Tews u. Wöhr) (1981)

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terbleiben, wenn der Behinderte dem ausdrücklich widerspricht, oder wenn für die erforderliche Behandlung Maßnahmen im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung ausreichen.

Aufgrund dieser Mitteilung sollen die gesetzlichen Kassen selbst oder an­dere zuständige Leistungsträger "unverzüglich geeignete Maßnahmen zur Re­habilitation einleiten". Empirische Untersuchungen über die Anwendung die­ses Vertrags fehlen derzeit völlig. Es gibt jedoch eine Reihe von Hinweisen da­für, daß Mitteilungen aufgrund dieses Vertrags an die Krankenkassen in sehr vielen Fällen nicht oder erst sehr spät erfolgen. Bei prospektiven Dialysepa­tienten gibt es dafür eine Reihe von objektiven Schwierigkeiten, insbesondere bei der präzisen Bestimmung, ob und wann eine Dialysebehandlung notwendig werden wird und welche langfristigen Möglichkeiten in einer konservativen Behandlung der Nierenerkrankung liegen. Es kann aber auch nicht ausge­schlossen werden, daß vielfach die Bedeutung einer frühzeitigen Meldung und die Motivierung des Patienten für notwendige Rehabilitationsmaßnahmen un­terschätzt werden und daß eine hinreichende Sensibilisierung der behandeln­den Ärzte für Fragen der Rehabilitation derzeit noch nicht besteht. Es mag auch eine Rolle spielen, daß die oft erheblichen Zeitaufwände für die Mittei­lung an die Krankenkasse, Rückfragen durch die Kasse, Beteiligung am Reha­bilitationsgesamtplan usw. den Ärzten nicht angemessen honoriert werden.

Die relative Seltenheit von Dialysepatienten (ca. 10000 Dialysepatienten auf ca. 50000 niedergelassene Ärzte für Allgemeinmedizin) hat zur Folge, daß Ärzte nicht die zur frühzeitigen Einleitung von Maßnahmen erforderlichen Er­fahrungen haben.

1.4.1 Medizinische Rehabilitation

Die medizinischen Leistungen zur Rehabilitation sollen alle Hilfen umfassen, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine Behinderung zu beseitigen, zu bes­sern oder eine Verschlimmerung zu verhüten . . . (§ 10 Rehabilitationsangleichungsgesetz).2

Wenn man von spezifischen Belastungserprobungen, arbeitstherapeutischen Maßnahmen, Kuren usw. absieht, ist die Mehrzahl der medizinischen Rehabi­litationsmaßnahmen auch als Maßnahme der kurativen Medizin möglich. Im Falle von Dialysepatienten können die bestehenden medizinischen Maßnah­men sowohl einer kurativen als auch einer rehabilitativen Medizin zugeschrie­ben werden. Der Unterschied liegt in der Zielsetzung: rehabilitative Medizin wird sich nicht auf die Kontrolle eines somatischen Status beschränken, son­dern sich als Teil der Maßnahmen verstehen, die zur Eingliederung oder Wie­dereingleiderung des Patienten in Arbeit, Beruf und Gesellschaft notwendig er­scheinen. Meist erfolgt die berufliche Rehabilitation, nachdem medizinische Rehabilitationsmaßnahmen abgeschlossen worden sind und eine kontinuierli­che und intensive medizinische Behandlung nicht mehr notwendig ist. Die be­sondere Situation von Dialysepatienten und die gesetzlichen Rahmenbe-

2 Jung u. Preuss (1979)

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dingungen lassen jedoch eine umgekehrte Reihenfolge wünschenswert erschei­nen: Die berufliche Situation sollte bereits vor Dialysebeginn auf ein Leben mit der Dialyse abgestimmt sein (vgl. Kluthe et al. 1975; Piazolo u. Brech 1981).

Als Träger von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen kommen bei Dialysepatienten v. a. die Krankenkassen und die Rentenversicherungen in Frage. Ist die Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers nicht geklärt, so ist der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, bei dem der Behinderte versichert ist, vorleistungspflichtig.

1.4.2 Berufliche Rehabilitation

Die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation sollen alle Hilfen umfassen, die erforder­lich sind, um die Erwerbsfähigkeit des Behinderten entsprechend seiner Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wieder herzustellen und ihn hierdurch möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern (Rehabilitationsangleichungsgesetz § 11)3

Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß berufs fördernde Leistungen bis­herige Tätigkeiten, berufliche Fähigkeiten und Neigungen zu berücksichtigen haben, und daß diese auch dem beruflichen Aufstieg dienen können. Zu den berufsfördernden Leistungen zählen:

a) Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme sowie Eingliederungshilfen an Arbeitgeber,

b) Berufsfindung und Arbeitserprobung, Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der Behinderung erforderlichen Grundausbildung,

c) berufliche Anpassung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung einschließlich eines zur Teilnahme an diesen Maßnahmen erforderlichen schulischen Abschlusses,

d) sonstige Hilfen zur Arbeits- und Berufsförderung, um Behinderten eine angemessene und geeignete Erwerbs- oder Berufstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder in einer Werkstatt für Behinderte zu ermöglichen (Rehabilitationsangleichungsgesetz, § 11).

Für berufliche Maßnahmen bei Dialysepatienten sind gewöhnlich der Renten­versicherungsträger oder die Bundesanstalt für Arbeit zuständig, wobei die Bundesanstalt für Arbeit vorleistungspflichtig ist. Nach der Anordnung des Verwaltungs rats der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsför­derung Behinderter vom 31. 07. 75 sind nach § 9 fünf Voraussetzungen für eine berufliche Rehabilitation notwendig:

- die Bereitschaft des Behinderten, sich beruflich bilden zu lassen; - ein zum Abschluß der notwendigen Maßnahmen hinreichendes Leistungs-

vermögen;

3 Aus der o. g. Befragung der Dialyseeinrichtungen ging hervor, daß über die Hälfte der Ein­richtungen montags, mittwochs und freitags nur morgens und/oder nachmittags Dialysen anbieten. Fast 80% der Einrichtungen bieten dienstags oder donnerstags nur diese, für Be­rufstätige sehr ungünstigen Dialysezeiten an. 11% der Einrichtungen boten samstags und 93% sonntags keine Dialysen an. (Schreiber u. Tews 1982)

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- Art und Schwere der Behinderung dürfen nach Abschluß der Maßnahmen einer beruflichen Tätigkeit auf dem für ihn erreichbaren allgemeinen Ar­beitsmarkt oder in einer Werkstatt für Behinderte nicht entgegenstehen;

- die Förderung nach beruflicher Eignung und Neigung des Behinderten muß zweckmäßig sein;

- er .hat einen Antrag gestellt.

Aufgrund dieser Bestimmungen wird neben den Fähigkeiten des Behinderten und seiner Motivation auch die Einschätzung der Arbeitsmarksituation für die Gewährung von beruflichen Rehabilitationsleistungen wichtig. Da bei Dialyse­patienten gewöhnlich nur eine Teilzeitbeschäftigung als angemessene Lösung betrachtet wird und der Arbeitsmarkt für Teilzeitkräfte ohnehin durch ein Überangebot gekennzeichnet ist, liegt hier - wenn nicht ohnehin außergewöhn­liche Qualifikationen vorliegen, die auch eine berufliche Rehabilitation unnö­tig erscheinen lassen - der Haupthinderungsgrund für die Einleitung berufli­cher Maßnahmen bei Dialysepatienten durch die Bundesanstalt für Arbeit. Derzeit bestehen zudem Tendenzen, die Bedingungen zur Förderung berufli­cher Maßnahmen eng auszulegen.

Beginnt die berufliche Rehabilitation von Nierenpatienten nach Dialysebe­ginn, so sind die Startbedingungen des Patienten für einen beruflichen Neuan­fang ungünstiger geworden. Ist als berufliche Maßnahme eine innerbetriebli­che Umsetzung ausreichend und möglich kann der Behinderte an seinem Ar­beitsplatz bleiben, so schützt ihn das Schwerbehindertengesetz vor Kündigung (Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen HauptfürsorgesteIlen '79 1980).

Bei beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen, die auf einen beruflichen Neu­beginn oder ein neues Beschäftigungsverhältnis abzielen, deuten bisherige Er­fahrungen darauf hin, daß die Schutzfunktion des Schwerbehindertengesetzes bei bestehenden Arbeitsverhältnissen die NeueinsteIlung von Schwerbehinder­ten eher behindert.

1.5 Rehabilitation von Nierenpatienten während der Phase der kompensierten Retention

Bisherige empirische Befunde (TE WS et al. 1980) deuten aus zwingenden me­dizinischen Gründen darauf hin, daß insbesondere gewerblich Tätige nach Dialysebeginn ihre Berufstätigkeit aufgeben. Wenn berufliche Rehabilitations­maßnahmen auf beruflichen Neubeginn oder ein neues Arbeitsverhältnis zie­len, bestehen stets Probleme der beruflichen Anpassung. Die zusätzlichen Pro­bleme des Dialysepatienten - verminderte Leistungsfähigkeit unmittelbar vor und während der Dialyse - und die große zeitliche Belastung aufgrund der Dialyse sollten möglichst nicht mit der Forderung an den Patienten zusammen­treffen, sich beruflich anzupassen. Daraus ist zu folgern, daß die berufliche Anpassung zum Zeitpunkt des Dialysebeginns und vor Eintritt von krankheits­bedingten Leistungsschwächen abgeschlossen sein sollte. Wird das berücksich­tigt, kann der Patient in einer Phase relativ hoher Leistungsfähigkeit

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die notwendigen Lernprozesse durchlaufen und sich in ein neu es Arbeitsver­hältnis einleben. Spätestens mit Beginn der Dialyse begibt er sich unter den Schutz des Schwerbehindertengesetzes und kann eine Tätigkeit ausführen, die mit der Dialyse vereinbar ist. Dieser Weg kann aber nur beschritten werden, wenn rechtzeitig eine Meldung nach § 368s RVO erfolgte (drohende Behinde­rung) und Nierenpatient und Leistungsträger bereit sind, eine frühzeitige be­rufliche Anpassung durchzuführen.

Die bestehenden Schwierigkeiten, die Entwicklung von der Nierenerkran­kung bis zur notwendig werdenden Dialyse auch im zeitlichen Ablauf vorher­zusagen, und die in eine konservierende Therapie gesetzten Hoffnungen lassen - selbst wenn eine Meldung nach § 368s RVO erfolgte - dem Patienten tiefgrei­fende Veränderungen in seinem beruflichen Leben als nicht notwendig erschei­nen. In dem Maße, in dem seine berufsspezifische (insbesondere körperliche) Leistungsfähigkeit nachläßt, wird zunehmend erkannt, daß berufliche Rehabi­litationsmaßnahmen erforderlich werden. Die für eine solche Anpassungslei­stung erforderliche Leistungsfähigkeit ist dann aber reduziert. Daher ist damit zu rechnen, daß von vielen Betroffenen - meist gewerblich tätigen Nierenpati­enten - entweder eine minderqualifizierte Tätigkeit angenommen werden muß (innerbetriebliche Umsetzung) oder die Berufstätigkeit ganz aufs Spiel gesetzt wird und ein Rentenantrag erfolgt.

1.6 Nachgehende Versorgung, nachgehende Hilfen

Aufgrund des Schwerbehindertengesetzes haben die HauptfürsorgesteIlen zu­sammen mit der Bundesanstalt für Arbeit bei beschäftigten Schwerbehinderten nachgehende Hilfe durchzuführen. Dazu sollen von den HauptfürsorgesteIlen Betriebsbesuche aufgrund von einzelnen Fällen (hier meist zur Bearbeitung von Kündigungen) und systematische Betriebsbesuche durchgeführt werden. Dadurch soll erreicht werden, daß die Schwerbehinderten "in ihrer sozialen Stellung nicht absinken, nach Möglichkeit ihrem Beruf erhalten bleiben und auf Arbeitsplätzen beschäftigt werden, auf denen sie ihre Kenntnisse und Fä­higkeiten voll verwerten können" (Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen HauptfürsorgesteIlen '79, 1980, S. 70). Nach eigenen Aussagen (a. a. 0., S. 61) sind die HauptfürsorgesteIlen jedoch derzeit nicht in der Lage, die nachgehende Hilfe im erforderlichen Umfang durchzuführen, weil sie durch laufende Kündigungsverfahren "weitgehend ausgelastet waren".

Obwohl die nachgehende Hilfe als Vorbeugung zur Kündigung nicht hin­reichend Platz greifen konnte, muß der Kündigungsschutz nach dem Schwer­behindertengesetz als wirksam bezeichnet werden. 1978 wie 1979 war die Zu­stimmung zu Kündigungen in über 40% der Fälle wegen Betriebsauflösungen oder Betriebseinschränkungen zu erteilen. Jeweils in etwa 20% der Fälle wurde die beantragte Zustimmung versagt oder der Antrag auf Kündigung bei gleich­zeitiger Gewährleistung der Weiterbeschäftigung zurückgezogen. Durch diese Angaben - die nicht gesondert für Dialysepatienten vorliegen - wird dokumen­tiert, daß das Schwerbehindertengesetz selbst bei unzureichender nachgehen-

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der Hilfe arbeitserhaltende Bedeutung hat. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß vermutlich eine Reihe von Kündigungsverfahren aufgrund der Schwierig­keiten, die Kündigung durchzusetzen, gar nicht erst eingeleitet wurde.

Zu den weiteren Aufgaben der nachgehenden Betreuung gehören Beratung und Hilfe bei der Ausstattung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfen, bei Fragen des beruflichen Aufstiegs und der Überbrückung bei innerbetrieblichen Umsetzungen.

Für Jugendliche können überbetriebliche Rehabilitationsmaßnahmen in Berufsbildungswerken, für Erwachsene in Berufsförderungswerken durchge­führt werden. Beide Gruppen von Ausbildungseinrichtungen bieten chronisch Kranken und Behinderten Ausbildungen in modernen Berufen mit überwie­gend überdurchschnittlichen Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt an. Die meisten Ausbildungen liegen auf Kammerebene (Abschlußprüfung vor der Industrie- und Handelskammer), es gibt aber auch Ausbildungen auf Fach­schul- und Fachhochschulebene. Je nach betreuten Behindertengruppen beste­hen in unterschiedlichem Umfang begleitende Dienste. Diese können den ärzt­liche, pflegerischen, therapeutischen und psychologischen Bereich umfassen. Rehabilitationsberater gibt es in allen Einrichtungen. Nur in der Stiftung Reha­bilitation (Heidelberg) gehören Dialysemöglichkeiten zur medizinischen aus­bildungsbegleitenden Versorgung. Dadurch wird die Koordination von Dialy­se- und Ausbildungszeiten erleichtert. Teilnehmer an beruflichen Bildungs­rnaßnahmen können in der Einrichtung oder außerhalb wohnen.

Unter dem Gesichtspunkt der Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit sind bisherige Erfahrungen mit überbetrieblichen Rehabilitationsmaßnahmen (in einem Berufsförderungswerk) als positiv zu beurteilen: von 31 erfolgreichen Absolventen beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen im Berufsförderungswerk Heidelberg arbeiten nach eigenen Ermittlungen 22. Die Arbeitsbedingungen, die von diesen Dialysepatienten geschildert werden, machen gleichzeitig das bisherige Scheitern und die Dringlichkeit der Nachsorge deutlich : von den ge­nannten 22 berufstätigen Dialysepatienten berichteten 4, daß sie Nacht- oder Wechselschichtdienst hätten, 3 Akkordarbeit, 7 zeitweilige oder häufige schwere körperliche Arbeit, 3 arbeiteten in Hitze, 3 an spanabhebenden Ma­schinen, 11 hatten keine Gleitzeit (Schreiber et al. in Vorbereitung).

Bei der bisher geringen Anzahl überbetrieblicher Rehabilitationsmaßnah­men und den noch fehlenden Untersuchungen zur Situation berufstätiger Dia­lysepatienten (ohne Maßnahmen beruflicher Rehabilitation, nach innerbetrieb­lichen und/ oder überbetrieblichen beruflichen Rehabiliationsmaßnahmen) sind generalisierungsfähige Aussagen nicht möglich. Die genannten ersten Er­gebnisse legen jedoch die Befürchtung nahe, daß bei Dialysepatienten die Ge­fahr groß ist, aus dem Arbeitsleben ausgesteuert zu werden. Vergleiche zwi­schen unterschiedlichen Patientengruppen (Pach et al. 1977) vermitteln den Eindruck, daß die Behandlungsform entscheidend für den Grad beruflicher Rehabilitation ist. Aufgrund von Längsschnittuntersuchungen kann dies je­doch nicht bestätigt werden (Huber et al. im Druck).

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1.7 Berentung

Dialysepatienten, die 35 Versicherungsjahre nachweisen können und als Schwerbehinderte anerkannt sind, können derzeit bereits nach Vollendung des 60. Lebensjahrs Altersrente beziehen.

Für Dialysepatienten, die ohne ihre Nierenerkrankung berufstätig wären, es aber nicht sind, ist eine Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente der typische Lohn(Teil)ersatz. Um eine solche Rente zu erhalten, muß die "kleine Warte­zeit" - eine Versicherungszeit von 60 Monaten - bestehen (§§ 1246f RVO). Als "berufsunfähig" gilt, wer infolge seiner Krankheit nicht mehr als die Hälfte dessen verdienen kann, was ein vergleichbarer Versicherter mit ähnlicher Aus­bildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten zu verdienen vermag (§ 1246 RVO). Die Berufsunfähigkeitsrente hat Lohnausgleichsfunktion. Dabei wird offenbar von der Annahme ausgegangen, daß ausreichende Arbeitsmög­lichkeiten für Teilzeitbeschäftigte bestehen. 1976 präzisierte das Bundessozial­gericht, daß für qualifizierte Versicherte Teilzeittätigkeiten nicht zumutbar sind, wenn tatsächlich keine Vermittlungsmöglichkeit auf dem Arbeitsmarkt besteht. Wenn die Arbeitsverwaltung und der Rentenversicherungsträger inner­halb eines Jahres keinen von der Wohnung erreichbaren zumutbaren Arbeits­platz nachweisen können, gilt diese Bedingung derzeit als erfüllt. Die regelmä­ßigen Angaben der Bundesanstalt für Arbeit belegen, daß Teilzeitstellen nur ei­nen Bruchtil der bestehenden Stellen ausmachen, und daß die Nachfrage nach den weniger verfügbaren Stellen wesentlich größer ist als nach Vollzeitstellen.

Als erwerbsunfähig gilt, wer ua. aufgrund von Krankheit eine Erwerbstätig­keit nicht mehr ausfüllen kann oder nur ein Achtel der Beitragsbemessungs­grenze als Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielen kann.

Renten müssen bei dem zuständigen Rentenversicherungsträger beantragt werden, sie werden meist zunächst nur auf Zeit gewährt. Wenn eine Besserung der Erwerbsfähigkeit nicht eintritt, wird eine Dauerrente gewährt. Bei Perso­nen, die einen Rentenantrag stellen, wird nach dem Prinzip "Rehabilitation vor Rente" geprüft, ob Maßnahmen zur Rehabilitation angezeigt sind. Umgekehrt führt jedoch die Prüfung auf geeignete Rehabilitationsmaßnahmen im negati­ven Falle nicht automatisch zur Berentung. Der Rentenantrag muß gestellt werden.

Es ist unwahrscheinlich, daß berentete Nierenpatienten, auch nach erhebli­cher Verbesserung des gesundheitlichen Status wie etwa nach Nierentransplan­tation, eine Berufstätigkeit aufnehmen (Huber et al. 1982). Wenn auch die der­zeitige Praxis bei Dialysepatienten unter bestimmten Voraussetzungen einen Zuverdienst in unbegrenzter Höhe ermöglicht, so führt dies doch gewöhnlich nicht zur dauerhaften und regelmäßigen Berufstätigkeit. Daher werden eine Reihe von Überlegungen diskutiert, die eine Teilberentung entsprechend der verbleibenden Teilzeitarbeitsfähigkeit vorsehen. Es ist fraglich, ob angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktsituation solche Maßnahmen geeignet sind, erheb­lich mehr Dialysepatienten einen Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten - es ist jedoch wahrscheinlich, daß berufstätige Dialysepatienten unter solchen Bedin­gungen eher berufstätig bleiben.

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1.8 Probleme der Versorgung unter den Gesichtspunkten der Rehabilitation

Schwächen unseres gegliederten Systems der Sozial versorgung bestehen auf­grund der unübersichtlichen Gesetzgebung und der verschiedenen Zuständig­keiten. Für Rehabilitationsmaßnahmen gibt es klare Regelungen, die den Zu­gang zu Rehabilitationsmaßnahmen erleichtern: insbesondere gelten Anträge auch dann als gestellt, wenn sie bei unzuständigen Trägern eingereicht werden; Träger von Rehabilitationsmaßnahmen arbeiten zusammen.

Ärzte, die vermuten, daß Rehabilitationsmaßnahmen notwendig sind, kön­nen diese durch eine Meldung nach § 368s RVO auf den Weg bringen. Diese Möglichkeit konnte bisher nicht gewährleisten, daß erforderliche Maßnahmen frühzeitig genug eingeleitet wurden, mit der Folge, daß viele niereninsuffi­ziente Patienten ihre Berufstätigkeit aufgeben mußten und Rente beziehen.

Bei Maßnahmen zum Schutz des Behinderten und bei Vergünstigungen aufgrund seines Status als Behinderter muß der Behinderte in jedem Einzelfall selbst tätig werden. Eine Information der Bevölkerung ist zwar aufgrund des Rehabilitationsangleichungsgesetzes vorgesehen, der Betroffene ist aber oft auf den Hinweis von Sozialarbeitern oder Mitpatienten angewiesen.

Als Grundlage für eine frühzeitige Einleitung von Rehabilitationsmaßnah­men (möglichst schon in der Phase der kompensierten Retention) und um den Zugang zu Möglichkeiten aufgrund der Sozialgesetzgebung zu erleichtern, muß der Patient sozialrechtliche Informationen erhalten. Unter den derzeitigen Be­dingungen erreichen die vom Gesetzgeber zur Entlastung und als Integrations­hilfe gedachten Maßnahmen häufig nicht die vorgesehenen Adressaten. Der Ausbau sozialer Dienste zur Versorgung von Dialyseeinrichtungen wird durch leere Kassen der öffentlichen Hände, Bemühungen um eine Kostendämpfung bei den Rentenversicherungen und der Bundesanstalt für Arbeit, aber auch durch eine freiwillige Beschränkung der Dialyseeinrichtungen auf den medizi­nischen Bereich behindert.

Bereits in der Phase der kompensierten Retention sollten mindestens alle gewerblichen Beschäftigten und zwar spätestens, sobald eine Dialysebehand­lung wahrscheinlich wird, für eventuelle Rehabilitationsmaßnahmen motiviert werden. Dazu sollten Informationen über die wahrscheinliche weitere Ent­wicklung der Nierenerkrankung, dann erforderliche Behandlungsmaßnahmen und Konsequenzen für die berufliche Situation des Patienten skizziert werden. Innerbetrieblichen Möglichkeiten der beruflichen Anpassung sollte Vorrang vor überbetrieblichen gegeben werden. Eine Meldung nach § 368s RVO sollte erfolgen. Spätestens zum Zeitpunkt der Festlegung der Shuntoperation sollte der Patient auf mögliche Vergünstigungen nach dem Sozialrecht aufmerksam gemacht werden. Dazu kann z. B. auf Rehabilitationsberater oder Sozialarbei­ter im Gesundheitswesen oder auf Selbsthilfegrupen von Dialysepatienten ver­wiesen werden. Dialyseeinrichtungen sollten mit der Berufstätigkeit von Pati­enten vereinbare Dialyseschichten anbieten.

Die durch den medizinischen Fortschritt in den letzten Jahren geschaffenen Behandlungsmöglichkeiten der schwer Nierenkranken stellt die Gesundheits­versorgung in der Bundesrepublik Deutschland beispielhaft vor Probleme, de­ren Lösung die Zukunft unseres Gesundheitswesens bestimmen kann. Diese

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Behandlungsmöglichkeiten haben dazu geführt, daß die ca. 10000 Dialysepa­tienten ca. 1 % des gesamten Aufkommens der gesetzlichen Krankenversiche­rung für medizinische Behandlungen ihrer mehr als 33 Mio. Mitglieder ver­brauchen (Clade 1977). Die jährlichen Behandlungskosten eines Dialysepa­tienten liegen weit über dem durchschnittlichen Bruttogehalt der erwerbstäti­gen Bevölkerung. Solche Lasten können nur getragen werden, wenn der Anteil der Versicherten, die einer derart kostenintensiven Behandlung bedürfen, ge­ring ist. Für den Fall der Ausweitung kostenintensiver Behandlungsmöglich­keiten zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung ist die Verfügbarkeit von Behandlungsmöglichkeiten für alle Betroffenen nicht mehr zu gewährleisten.

Die derzeit bestehenden sozialrechtlichen Möglichkeiten von chronisch Kranken bzw. Behinderten werden bei weitem nicht ausgenutzt. Es ist fraglich, ob die finanzielle und personelle Ausstattung der Träger entsprechender Maß­nahmen im gegliederten System für eine gesetzmäßige Versorgung aller Lei­stungsberechtigten überhaupt ausreichen würde.

Die derzeitig weitgehend kurative Grundorientierung der Versorgung von Dialysepatienten in den meisten Dialyseeinrichtungen der Bundesrepbulik führt dazu, daß in vielen Fällen Chancen zur Rehabilitation vergeben werden. Andererseits sind Prognosen für den Erfolg beruflicher Maßnahmen aus soma­tischen Gründen, wegen fehlender Teilzeitstellen und häufig bestehender Pro­blemen, Arbeitszeiten mit Dialysezeiten zu koordinieren, schwierig.

Folgende Maßnahmen könnten wesentlich zur Verbesserung der Situation von niereninsuffizienten Patienten beitragen:

a) Sicherung einer schnellen Prüfung von notwendigen Maßnahmen unter Re­habilitationsgesichtspunkten. Dabei ist dafür Sorge zu tragen, daß alle er­forderlichen beruflichen Maßnahmen möglichst weit vor Dialysebeginn und einem möglichen prädialytischen Leistungsabfall erfolgen.

b) Schaffung von Anreizen, die eine Berufstätigkeit auch bei Rente im Rah­men eines Systems der Teilberentung möglich machen.

c) Sicherstellung der Versorgung des Patienten bei beruflichen und sozialen Ausgliederungsprozessen.

d) Schaffung struktureller Voraussetzungen zur Verbesserung der Möglichkeit zur Berufstätigkeit bei Dialysepatienten durch größere Flexibilität im Ange­bot von Dialyseschichten.

Literatur

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