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Nikola Tietze

Imaginierte GemeinschaftZugehörigkeiten und Kritik in der europäischen

Einwanderungsgesellschaft

Hamburger Edition

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Vorspiel

Zinedine Zidane, Profifußballer im Ruhestand, geboren am 23. Juni1972, hat im Laufe seiner Karriere renommierte Titel errungen: MitJuventus Turin wurde er zum Beispiel italienischer Meister und ge-wann den italienischen Supercup, mit Real Madrid holte er die spa-nische Meisterschaft und 2002 den UEFA-Champions-League-Pokal,mit der französischen Nationalmannschaft war er 1998 Weltmeisterund 2000 Europameister. Die FIFA ernannte ihn dreimal zum Weltfuß-baller des Jahres. Für seine Leistungen während der WM 1998 und2006 erhielt er jeweils den Goldenen Ball.

Die Erfolge des Dribbelkünstlers verbinden sich mit verschiede-nen europäischen Orten. In La Castellane, einem Viertel des sechstenArrondissements von Marseille, das wegen seiner sozialstrukturellenProbleme und Sozialwohnungssiedlungen verrufen ist, begann seineKarriere. Zinedine Zidane ist hier vor allem unter dem Namen Yazidbekannt. Mit dreizehn Jahren ging er für die Ausbildung zum Profifuß-baller nach Cannes, wo er seine spätere Ehefrau, die Tänzerin Véro-nique Fernandez, kennenlernte. Sie stammt aus Rodez im französischenAveyron und hat ihrerseits eine Großmutter aus dem spanischen Anda-lusien. Zudem erlebte Zidane in der großbürgerlichen Mittelmeerstadt,die für ihr internationales Filmfestival berühmt ist, 1989 seinen erstenEinsatz als Berufsspieler. Siebzehn Jahre später zeigten die beidenKünstler Philippe Parreno und Douglas Gordon auf dem Filmfestival inCannes in ihrem mit siebzehn Kameras gefilmten Werk »Zidane. EinPorträt des 21. Jahrhunderts« den Athleten bei der Arbeit, in den neun-zig Minuten des Spiels Real Madrid gegen Villareal vom 23. April 2005.

1992 ging Zidane nach Bordeaux zum FC Girondins. Bordeaux ver-lieh ihm den Spitz- und Kosenamen Zizou, unter dem er nach der Fuß-ballweltmeisterschaft von 1998 als Ikone der integrationspolitisch er-folgreichen französischen Republik gefeiert wurde. Es ist zugleich derOrt, wo er geheiratet hat und sein erster Sohn Enzo zur Welt kam. InBordeaux wurde Zidane 1996 in einem Freundschaftsspiel zwischenFrankreich und der Tschechischen Republik als Nationalspieler entdeckt,bei der WM 1998 gehörte er zur französischen Auswahlmannschaft.

Die WM 1998 brachte Zinedine Zidane dann bis nach Saint Denis.Hier errang er zusammen mit der französischen Nationalelf am 12. Juli1998 Frankreichs ersten Fußballweltmeistertitel im neu errichteten

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Stade de France – genau an dem Ort, an dem sein Vater Smaïl Zidaneals algerischer Arbeiter in den 1950er Jahren in einem Barackenlagergewohnt hatte. Einen Tag später, in Paris, fuhr er zusammen mit seinenMitspielern auf dem Oberdeck eines Reisebusses an jubelnden Men-schenmassen vorbei die Champs-Élysées hinauf bis zum Triumphbo-gen, auf den seit dem Vorabend sein Name mit Laserstrahlen projiziertwurde. Zum Nationalfeiertag am 14. Juli wurden er und die übri-gen Mitglieder der Nationalmannschaft zum Empfang des damaligenfranzösischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in den Élyséepalast ge-laden.

1996 warb Giovanni Agnelli, Fiat-Konzern-Leiter und Ehrenpräsi-dent von Juventus Turin, dem FC Girondins seinen begnadeten Fußbal-ler ab. Zidane zog mit seiner Familie und seinem Freund Malek aus LaCastellane in die norditalienische Industriestadt. In diese Zeit fällt zu-gleich die Geburt seines zweiten Sohnes Luca. Seine beiden Jüngsten,Théo und Elyaz, haben das Licht der Welt dann unter dem Stern desmadrilenischen Vereins erblickt. Denn 2001 wechselte Zidane zu RealMadrid, was den spanischen Club 76 Millionen Euro kostete. Am 7. Mai2006 spielte er für diesen vor einem madrilenischen Publikum, dasSpruchbänder mit der Aufschrift »Gracias por tu magia« [Danke fürdeine Zauberei] schwenkte, sein letztes Match und nahm Abschiedvom professionellen Klubfußball.

Von Madrid aus hatte Zinedine Zidane sich schon einmal verab-schiedet – und zwar von den Franzosen am 12. August 2004. In einemInterview, das der Fernsehkanal Canal+ aus dem Business-Center einesHotels des madrilenischen Flughafens übertrug, erklärte er, dass er ausder französischen Nationalelf ausscheide. Ein Jahr später, am 3. August2005, kam es dann zu dem berühmten Rücktritt vom Rücktritt: Zidaneentschied mit Blick auf die WM 2006, als Mittelfeldstürmer für Frank-reich erneut spielen zu wollen. Er nahm seinen Platz als Nummer 10 derÉquipe de France wieder ein und an der Fußballweltmeisterschaft inDeutschland teil. Das WM-Finale in Berlin, am 10. Juli 2006, war seinletztes Spiel als Profifußballer und endete für ihn mit einem Platzver-weis, nachdem er einem italienischen Gegenspieler in der Verlängerungeinen Kopfstoß – coup de boule – gegen das Brustbein versetzt hatte.Die Rote Karte in der bundesdeutschen Hauptstadt ist zu der berühm-testen der vierzehn geahndeten groben Unsportlichkeiten Zidanes ge-worden.

Zinedine Zidane wohnt mit seiner Familie in Madrid, wo er unteranderem für den derzeitigen Präsidenten des Real Madrid, Florentino

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Perez, als Berater tätig ist. Heute bestimmen Werbeverträge und huma-nitäres Engagement seine Ortswechsel. Als Schirmherr für DanonesKinderprogramme und für Oranges Bildungsprogramme, als Medien-berater für Canal+, für Fototermine von Adidas, Ford, Generali oderauch Nedjma (algerischer Mobiltelefonanbieter) kommt er nunmehrnach Paris, Lyon und in andere Städte der Welt. Neben diesen Tätigkei-ten, die ihm Pressestimmen zufolge ein Jahreseinkommen zwischenzehn und fünfzehn Millionen Euro einbringen, setzt der Ex-Fußballersich unentgeltlich für den französischen Verein ELA zur Unterstützungvon Kindern mit der Bluterkrankung Leukodystrophie ein, für das Ent-wicklungsprogramm der Vereinten Nationen als Botschafter des gutenWillens und für die Zidane-Stiftung, die Infrastrukturprojekte in Al-gerien unterstützt und finanziert. Im Rahmen dieser ehrenamtlichenEngagements reist er von einem Ort zum anderen.

Besondere mediale Aufmerksamkeit erhielt Zinedine Zidanes Be-such in Algier und Aguemoune im Dezember 2006. Das Dorf Ague-moune, gelegen in der sogenannten Kleinen Kabylei und im Verwal-tungsdistrikt Béjaïa, ist der Heimatort seines Vaters Smaïl Zidane.Eine Reihe von Verwandten lebt dort, die Zinedine Zidane, verfolgtvon Journalisten, Paparazzi und Bewunderern und begleitet von einemüberforderten algerischen Sicherheitsdienst, während seiner Algerien-reise besuchte. In der algerischen Hauptstadt wurde er vom Staatsprä-sidenten Abdelaziz Bouteflika im Volkspalast empfangen und erhieltdie nationale Ehrenmedaille Al-Athir, die Auszeichnung der Helden desalgerischen Unabhängigkeitskampfes gegen Frankreich. Gut zwei Jahrespäter, am 1. Januar 2009, beförderte der damalige französische Staats-präsident, Nicolas Sarkozy, Zidane vom Chevalier de la Légion d’Hon-neur (Ritter der Ehrenlegion), den ihm der Weltmeistertitel von 1998eingebracht hatte, zum Officier de la Légion d’Honneur (Offizier derEhrenlegion) für seine Verdienste für die französische Republik.

Zinedine Zidane als sozialwissenschaftlicheFragestellung

Die Orte, die Zinedine Zidanes Karriere markieren, erzählen vondem möglichen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Kinder undEnkelkinder der Immigranten, die in den 1950er und 1960er Jahren –nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und im Kontext kolonia-

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ler Unabhängigkeitskriege – für die Arbeit in westeuropäische Indus-triebetriebe geholt wurden. Jene Orte stehen zugleich für den gesell-schaftlichen Wandel, die politischen Veränderungen und historischenWidersprüche, die mit dieser Einwanderungsgeschichte verbundensind. Als Arbeitnehmer, Unternehmer, Mieter, Wohnungs- oder Ge-schäftseigentümer prägen die Immigranten und ihre Nachkommenheute nicht nur das Erscheinungsbild westeuropäischer Städte, son-dern sind ebenfalls als Steuer- und Sozialversicherungszahler, als Kon-sumenten oder Sozialleistungsempfänger, als Schüler, Studierende,Auszubildende oder Rentner Teil der gesellschaftlichen Beziehungen.Ihr rechtlicher Status und ihre rechtlichen Ansprüche unterscheidensich in dieser Hinsicht maßgeblich von denen, die die Migranten be-saßen, als diese wie Zidanes Vater in den 1950er oder 1960er Jahrennach Paris, Marseille, Bordeaux, Turin, Berlin, Hamburg, Amsterdamoder auch Brüssel kamen und dort in Barackenlagern oder Ausländer-wohnheimen übernachteten. Mittlerweile sind die Immigranten, insbe-sondere ihre Kinder, unter Umständen zu Staatsbürgern verschiedenerwesteuropäischer Nationalstaaten geworden und können insofern –zumindest theoretisch – wie Zinedine Zidane in den Nationalmann-schaften zum Beispiel von Frankreich oder Deutschland mitspielen,aber auch staatliche Ämter bekleiden, Mitglied der Französischen Na-tionalversammlung oder des Deutschen Bundestags, verbeamtet oderLehrer an französischen oder deutschen Schulen werden. Dennoch ha-ben die Einwanderer die Beziehungen zu ihren Herkunftsländern häu-fig nicht abgebrochen. Gegebenenfalls haben auch ihre Kinder oderEnkelkinder auf eine eigene Art und Weise solche Beziehungen aufge-baut, denen sie etwa durch Reisen, Pflege der Muttersprache, nationa-listische Überzeugungen oder auch religiöse Lebenspraxis Ausdruckverleihen.

Darüber hinaus steht Zidanes Karriere dafür, dass Journalisten,Parteipolitiker, Staats- und Verwaltungsvertreter, Intellektuelle und an-dere öffentliche Persönlichkeiten die Einwanderungsgeschichte und diebesonderen sozialstrukturellen Bedürfnisse oder Probleme der Immi-granten und ihrer Familien instrumentalisieren, um nationales Selbst-verständnis, nationale Gemeinschaft oder nationalstaatliche Einheit-lichkeit zu imaginieren und zu thematisieren. Dabei sind Immigrantenund ihren Familien auf der gesellschaftlichen, politischen und recht-lichen Ebene Alteritäten zugeschrieben worden, die Statushierarchien,Ungleichbehandlung und Machtasymmetrien begründen und festigen.Die Nachkommen der Einwanderer erfahren dadurch Einschränkun-

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gen, begegnen Hindernissen und stoßen an Grenzen, wenn sie an dengesellschaftlichen Beziehungen teilnehmen, individuelle Autonomieentwickeln und Ansprüche auf Gleichberechtigung geltend machen.Daran ändert sich auch dann nichts, wenn sie wie Zinedine Zidane alsSymbol nationalstaatlicher Integration und Bewältigung der nationalenKolonialgeschichte oder auch der rassistischen Vergangenheit zele-briert werden. Hierin spiegelt sich nicht zuletzt, dass das öffentlicheReden über die Nachkommen postkolonialer Einwanderung zum Dreh-und Angelpunkt nationaler Selbstthematisierung in westeuropäischenEinwanderungsgesellschaften geworden ist.1

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Nachkommenpostkolonialer Einwanderung selbst ihre Erfahrungen mit Herrschafts-verhältnissen und Bedingungen für individuelle Autonomie und Gleich-behandlung einordnen, bewerten und beurteilen. An welchen Ideenund Interessen, an welchen Grundsätzen und Maßstäben und an wel-chen Autoritäten, Axiomen und Regeln orientieren sie sich dabei? Wel-che Sinnzusammenhänge und Handlungsoptionen entwickeln sie imVerlauf oben genannter Einordnungen, Bewertungen und Beurteilun-gen? Inwieweit hinterfragen sie die vorgefundenen Herrschaftsverhält-nisse und Bedingungen für individuelle Autonomie und Gleichbehand-lung?2

1 Unabhängig von den konkreten historischen Kolonialbeziehungen zwischenEin- und Auswanderungsländern wird die Immigration der 1950er und 1960erJahre hier als postkolonial qualifiziert, weil sie globalgeschichtlich gesehen inden Zeitabschnitt der kolonialen Unabhängigkeit fällt. Sie vollzieht sich vordem Hintergrund, dass die westeuropäischen Staaten ihre Kolonialisierungspo-litiken beenden und gleichzeitig neue Abhängigkeitsverhältnisse für nichteuro-päische Staaten schaffen.Der Begriff »nationale Selbstthematisierung« fasst sämtliche öffentliche Dis-kurse zusammen, in denen die nationale Einheit eines Staats zur Darstellunggebracht wird (vgl. Bielefeld, Nation und Gesellschaft).

2 Die Erfahrungen der Nachkommen postkolonialer Einwanderung werden we-der als eine Gefühlsangelegenheit noch als Ausdruck eines reinen Subjekts be-trachtet, sondern mit François Dubet als eine kognitive Aktivität verstanden, inder Personen Handlungsrationalitäten entwickeln und aufeinander beziehen(vgl. Dubet, Sociologie de l’expérience). Etablierte politische und rechtlicheBedingungen, soziale Ungleichheitskonstellationen, Rollensozialisation, wirt-schaftliche und kulturelle Voraussetzungen beeinflussen die Art und Weise, wieErfahrung hergestellt wird, und die Inhalte, auf die die kognitive Aktivität ab-hebt. Dies führen Dubets empirische Studien, insbesondere die schon in den1980er Jahren durchgeführte Untersuchung »La galère: jeunes en survie«, indeutlicher Form vor Augen (vgl. Dubet, La galère; ders., Les lycéens; ders.,L’expérience sociologique).

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In westeuropäischen Ländern wie Deutschland und Frankreichzwingt, so François Dubet, die Form der Gesellschaftsbeziehungen diesozialen Akteure dazu, gesellschaftliche ebenso wie normative und mo-ralische Erfahrung eigenständig herzustellen.3 Denn in diesen Einwan-derungsgesellschaften vermitteln weder Klasse noch Nation ausrei-chend plausible Konzepte und Kategorien, die individuelle Erfahrungin übergeordneter und zentraler Weise strukturieren. In der national-staatlich verfassten Industriegesellschaft haben zum einen Klassenbe-griff und Klassenstruktur bestimmt, wie Personen Sinnzusammenhängeherstellen, Handlungsrationalitäten herausbilden und aufeinander be-ziehen. Zudem haben sie festgelegt, nach welchen übergeordnetenPrinzipien normative Standpunkte hinsichtlich der Herrschaftsverhält-nisse und bezüglich individueller Autonomie sowie Gleichbehandlungentwickelt werden. Zum anderen haben Nationsbegriff und National-staatsstrukturen eindeutig definiert und gegliedert, wie Gleichheit undSolidarität zu konzipieren sei, und dergestalt individuelle und kollektiveInteressen ausgerichtet. Fallen Klassenbegriff und -strukturen, Nations-begriff und Nationalstaatsstrukturen als zentrale Strukturelemente, dieder individuellen Biografie übergeordnet sind, weg, dann sind Personenin ihrer Tätigkeit, Sinnzusammenhänge, Handlungsrationalitäten, nor-mative sowie moralische Haltungen zu entwickeln und Herrschafts-verhältnisse zu bewerten sowie zu beurteilen, auf sich selbst zurück-geworfen. Denn weder Arbeitsplatz und Beruf noch nationalstaatlicheInstitutionen und soziales Milieu bestimmen und kontrollieren in um-fassender und vollständiger Weise Rollensozialisation, gesellschaftlichePraxis und politische Kritik.4

3 Vgl. Dubet, Ungerechtigkeiten, S. 41.4 Der Wandel der nationalstaatlichen Industriegesellschaft ist Gegenstand einer

umfangreichen sozialwissenschaftlichen Literatur und wird unter verschiede-nen, vielseitigen Perspektiven diskutiert. Im Vordergrund stehen hier die Ar-beiten, die unter dem Stichwort reflexive Moderne die industriegesellschaft-lichen Transformationen in den Blick genommen haben (vgl. Beck, »Jenseits vonStand und Klasse«; ders., Risikogesellschaft; Beck/Giddens/Lash, ReflexiveModernisierung). Im Hinblick auf die Folgen dieser Transformationen auf derEbene individuellen Handelns vgl. unter anderen Bauman, Flaneure, Spie-ler und Touristen; ders., Postmoderne Ethik; Giddens, Jenseits von Linksund Rechts; ders., Wandel der Intimität; Joas, Die Kreativität des Handelns;Reemtsma, Mehr als ein Champion; Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, unterder besonderen Perspektive hermeneutischer Wissenssoziologie vgl. Hitzler,»Individualisierte Wissensvorräte«; Hitzler/Bucher/Niederbacher, Leben inSzenen; Hitzler/Pfadenhauer, »Individualisierungsfolgen« und unter den Ge-sichtspunkten der von Alain Touraine entwickelten Soziologie der nouveaux

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Angesichts des Wandels von Klasse und Nation können Analysen,die die Erfahrungen der Nachkommen der postkolonialen Einwande-rung in Deutschland und Frankreich auf Sozialstruktur, Milieusoziali-sation, nationalstaatliche Integrationsregelungen und -maßnahmen zu-rückführen, nur bedingt eine Antwort darauf geben, wie Personen auseingewanderten Familien Sinnzusammenhänge und Handlungsoptio-nen entwickeln, an welchen Ideen und Interessen sie sich orientierenund in welcher Weise sie erfahrene Herrschaftsverhältnisse und Bedin-gungen individueller Autonomie und Gleichbehandlung kritisieren.Daher werden in der vorliegenden Arbeit die Erfahrungen der Nach-kommen postkolonialer Einwanderung darüber erfasst, wie diese Per-sonen Zugehörigkeit zu imaginierten, staatlich nicht oder unvollständigverfassten Gemeinschaften konstruieren. Ihre Gemeinschaftsimagina-tionen sind insofern als sub- und transnational zu bezeichnen, als sielosgelöst von den nationalstaatlichen Strukturen der westeuropäischenEinwanderungsgesellschaften konzipiert und jenseits von diesen veror-tet werden.5

Mit Zugehörigkeitskonstruktionen, so die Ausgangsüberlegung,bringen Personen bestimmte Ordnungsvorstellungen für die Beziehun-gen innerhalb imaginierter Gemeinschaft wie auch auf allgemeingesell-schaftlicher Ebene zum Ausdruck. Insofern spiegeln Zugehörigkeits-konstruktionen Maßstäbe und Prinzipien wider, nach denen auf der

mouvements sociaux vgl. Wieviorka (Hg.), Une société fragmentée?. Im Hin-blick auf die sozialstrukturellen Veränderungen, die mit dem Wandel der natio-nalstaatlichen Industriegesellschaft verbunden sind, vgl. unter anderem Bonß/Lau, Reflexive Modernisierung, Bude/Willisch (Hg.), Das Problem der Exklu-sion; Castel, Die Metamorphosen; Häußermann, »Armut in den Großstädten«;Kronauer, »Soziale Ausgrenzung« und »Underclass«; Vogel, Wohlstandskon-flikte; Voß/Pongratz, »Die Arbeitskraftunternehmer«; und schließlich zu denTransformationen nationalstaatlicher Institutionen der Industriegesellschaftvgl. unter anderem Bielefeld, »Nation und Weltgesellschaft«; Beck/Sznaider,»Unpacking Cosmopolitism«; Dubet, »Die Schwäche der Institutionen«; ders.,Le declin de l’institution; Kastner, »Luhmanns Souveränitätsparadox. Zum ge-nerativen Mechanismus des politischen Systems der Weltgesellschaft«; dies.,Souveränität im Zeitalter der Globalisierung.

5 Nach Ulrike Jureit schließt im Unterschied zu den Begriffen »Vorstellung« und»Erfindung« der Begriff »Imagination« die Idee ein, dass ein vorgestelltes Indi-viduum oder Kollektiv eine tatsächliche Abbildung findet (vgl. Jureit, »Imagi-nation und Kollektiv«). Infolgedessen beinhaltet Imagination immer auch,danach zu streben, dem vorgestellten Bild zu ähneln. Entsprechend verweistGemeinschaftsimagination auf Vorstellungen und Handlungen, mit denen Ge-meinsamkeiten, Bindungen, Einverständnis und Verbundenheit bestätigt undhergestellt werden.

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einen Seite individuelle und kollektive Handlung entworfen wird undauf der anderen beobachtete, innergemeinschaftliche und allgemeinge-sellschaftliche Handlungen ein- und zugeordnet, bewertet und beurteiltwerden. Dementsprechend ist die These dieser Arbeit, dass mithilfeeiner Soziologie der Zugehörigkeitskonstruktionen Handlungsrationa-litäten und normative Orientierungen untersucht werden können unddergestalt die Kritik bezeichnet werden kann, die Personen aufgrund ih-rer Erfahrungen als Nachkommen postkolonialer Einwanderung gegen-über Herrschaftsverhältnissen und Bedingungen individueller Autono-mie und Gleichbehandlung entwickeln. Die nachstehenden Kapitelhaben daher zum Gegenstand, Zugehörigkeitskonstruktion und ihr kri-tisches Potenzial zu beschreiben und zu konzeptualisieren. Sie zielen indieser Hinsicht, mit Gordon, dem Koautor des Films »Zidane. Ein Por-trät des 21. Jahrhunderts«, gesprochen, darauf, »dem Rätsel Zidane nä-her[zu]kommen« – einem Rätsel, das Gordon darauf zurückführt, dassZidane »diese sehr starre Fassade, einen undurchdringlichen Charakter[hat] und gleichzeitig […] ein ziemlich explosiver Typ [ist]«.6

Zugehörigkeitskonstruktionen von Muslimen, Kabylenund Palästinensern in Deutschland und Frankreich:Drei Fallstudien

Die im Weiteren verfolgte Soziologie der Zugehörigkeitskonstruk-tionen geht von der Perspektive derjenigen aus, die Zugehörigkeit zusub- und transnational imaginierten Gemeinschaften konstruieren. Sieversucht also, den subjektiv gemeinten Sinn der artikulierten Ord-nungsvorstellungen, Maßstäbe und Prinzipien zu erfassen und davonausgehend die Strukturelemente der Zugehörigkeitskonstruktionen undihre normativen Ausrichtungen zu konzeptualisieren und zu systemati-sieren. Darüber hinaus werden Zugehörigkeitskonstruktionen als Aus-druck von individueller oder auch kollektiver Kompetenz verstanden,Handlungen sowohl auf Ideen als auch auf Interessen zu beziehen.7

6 Douglas Gordon, Interview, Zinedine Zidane bleibt ein Rätsel für uns, Art. DasKunstmagazin, 16. 6. 2008, http://www.art-magazin.de/kunst/7296/ [30. 6.2010].

7 Der gewählte Ansatz ist von der im Kontext der neuen pragmatischen Sozio-logie in Frankreich entwickelten Soziologie der Kritik insofern inspiriert, als erdie Kompetenz von Personen, auf der normativen Ebene zu handeln, in den

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Diese methodologischen Vorentscheidungen machen es notwendig,Zugehörigkeitskonstruktionen zunächst einmal empirisch zu erfassen.Daher sind zwischen 2003 und 2007 drei qualitative Fallstudien inDeutschland und Frankreich durchgeführt worden: eine zu Zugehörig-keitskonstruktionen von Muslimen in Hamburg, Paris und Lyon, einezu Zugehörigkeitskonstruktionen von Kabylen in Paris und Lyon undschließlich eine zu Zugehörigkeitskonstruktionen von Palästinensernin Berlin. Im Rahmen dieser Fallstudien hat die Autorin Personen, diesich selbst als Muslime, Kabylen oder Palästinenser verstehen, in nar-rativen Interviews aufgefordert, die Gemeinschaft, der sie sich zuord-nen, zu beschreiben und zu erklären. Aus dem Interviewmaterial sindzunächst Gemeinschafts- und Alteritätserzählungen herausgearbeitetworden, die dann im Hinblick auf die Strukturelemente und normati-ven Orientierungen jeweilig deutlich werdender Zugehörigkeitskon-struktionen und im Hinblick auf deren kritisches Potenzial analysiertworden sind.8

Blick nimmt und auf die Frage bezogen wird, wie mit Zugehörigkeitskonstruk-tionen innergemeinschaftlich und allgemeingesellschaftlich Kritik geäußertwird. Die Soziologie der Kritik besitzt ihren Ausgangspunkt in dem Buch»Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft« (vgl.Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung). Sie wurden durch die Veröf-fentlichung »Der neue Geist des Kapitalismus« maßgeblich fortentwickelt (vgl.Boltanski/Chiapello, Der neue Geist). Vgl. zur Soziologie der Kritik auch Bol-tanski/Honneth, »Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie?«; Celikates,»Von der Soziologie der Kritik«; Hartmann, »Rechtfertigungsordnungen undAnerkennungsordnungen«; Honneth, »Verflüssigungen des Sozialen«; Nachi,Introduction à la sociologie pragmatique; Potthast, »Der Kapitalismus ist kriti-sierbar«; Potthast/Guggenheim, »Symmetrical Twins«; Thévenot, L’action aupluriel.

8 Die Interviewmethode, die für die drei Fallstudien angewandt worden ist,beruht darauf, die Gesprächspartner zu Erzählungen – hier über die imagi-nierte Gemeinschaft – zu veranlassen und sie dabei durch Nachfragen undeventuell Kommentare zu unterstützen (vgl. Michelat, »Sur l’utilisation de l’en-tretien«; Maître, »Sociologie de l’idéologie«; Schneider, »Geschichtliches zueinem methodischen Modeartikel«; Schütze, »Biografieforschung«). Sie richtetsich folglich auf subjektive Bedeutungshorizonte und Sinnzusammenhänge, diedie Gesprächspartner in einer bestimmten biografischen Situation, in einembestimmten historischen und politischen Kontext und unter den gegebenenBedingungen der Interviewsituation gegenüber einer fremden, die eigene Ge-meinschaftsimagination nicht teilenden Interviewerin herstellen (vgl. Honer,»Einige Probleme lebensweltlicher Ethnographie«). Das empirische Materialist also weder mit einem standardisierten und reproduzierbaren Verfahrennoch unabhängig von der Person der Sozialwissenschaftlerin, die das narrativeInterview als Methode eingesetzt hat, erhoben worden.

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Praktisch wurde bei der Durchführung der Fallstudien so vorgegan-gen, dass zunächst Orte aufgesucht wurden, die nahelegen, Personenmit einem muslimischen, kabylischen oder palästinensischen Selbst-verständnis anzutreffen: Moscheevereine, Stadt- und Kulturvereine,Studentenvereinigungen, Sprachkurse, Bildungseinrichtungen und ge-sellschaftspolitische Initiativen von Muslimen, Kabylen oder Palästi-nensern. Dort angetroffene Personen – gleichgültig welchen Alters undwelchen Geschlechts – wurden um ein Gespräch gebeten, und wenn sieeinwilligten, wurde ein Termin dafür vereinbart. Nicht immer war esmöglich, wie gewünscht, Einzelinterviews zu führen. Manche Ge-sprächspartner bevorzugten es, zu zweit, dritt oder viert interviewt zuwerden. In einigen Situationen ergaben sich Gruppengespräche: etwamit Gästen eines Filmabends zu Ehren des kabylischen SchriftstellersKateb Yacine in Paris, mit Sprachkursteilnehmern in einem palästinen-sischen Kulturverein oder mit Besuchern eines Lokals offener Sozial-arbeit in Berlin. Zudem stellte sich oft erst im Laufe des narrativenInterviews heraus, ob der Gesprächspartner immigrations- und fami-lienbiografisch gesehen der Gruppe der Nachkommen postkolonialerEinwanderung zugeordnet werden konnte oder nicht. In die Fallstudiensind in der Regel nur die Gespräche eingegangen, für die eine solcheZuordnung möglich war. Jedoch wurde vom Kriterium, Kind oderEnkelkind aus einer eingewanderten Familie zu sein, dann abgesehen,wenn das Interview eine spezifische, in anderen Interviews nur diffuszum Ausdruck gebrachte Art und Weise, Zugehörigkeit zu konstruie-ren, besonders deutlich vor Augen führte. Diesbezüglich stellt die Fall-studie zu den Zugehörigkeitskonstruktionen der Palästinenser insoferneine Ausnahme dar, als sie Einwanderer – Flüchtlinge, die aus dem Li-banon in den 1970er und 1980er Jahren nach Berlin gekommen sind –und Nachkommen postkolonialer Einwanderung – Kinder palästinensi-scher Flüchtlinge, die in Berlin zur Schule gegangen sind – umfasst undeinander gegenüberstellt. Sich dem empirischen Feld über Orte in Ber-lin zu nähern, hat in diesem Fall also dazu geführt, die immigrations-und familienbiografischen Auswahlkriterien in den Hintergrund zustellen.9

9 Zur näheren Begründung dieses Verzichts vgl. die Beschreibung des gesell-schaftlichen und politischen Kontexts der Befragungsgruppe der Palästinenserin Exkurs I, zum gesellschaftlichen und politischen Kontext der Befragungs-gruppe der Muslime vgl. Kapitel VII und VIII und zum gesellschaftlichen undpolitischen Kontext der Befragungsgruppe der Kabylen Exkurs II.

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Darüber hinaus hat der gewählte Zugang zu den Untersuchungs-gruppen zur Konsequenz, dass die Befragungsgruppen unter sozial-strukturellem Gesichtspunkt uneinheitlich sind. Gleichwohl bilden so-genannte Bildungsaufsteiger, die im Unterschied zu ihren Eltern einenGymnasialabschluss besitzen, eine Universität oder universitätsähn-liche staatliche Bildungseinrichtungen besuchen oder aber Berufsaus-bildungen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium absolvierthaben, die Mehrheit der interviewten Personen. Des Weiteren warendie Befragten deutsche oder französische Staatsbürger oder aber hatteneinen Aufenthaltsstatus, der sie bis auf die politischen Rechte mit denStaatsbürgern in Deutschland und Frankreich gleichstellt. Arbeitsloseohne Berufsausbildung, Personen mit gescheiterten Schulkarrieren undprekärem aufenthaltsrechtlichem Status finden sich lediglich unter denbefragten Palästinensern, die in Berlin zur Schule gegangen sind. Zu-dem waren diese zum Zeitpunkt der durchgeführten Gespräche imDurchschnitt vier bis fünf Jahre jünger als die befragten Muslime undKabylen, die zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt waren. Ab-gesehen von diesen sozialstrukturellen und altersbedingten Unausge-wogenheiten, die mit der Immigrationsgeschichte und -motivation derFamilien der Befragten zusammenhängen, wurde zudem in Kauf ge-nommen, dass Frauen und Männer nicht in gleicher Anzahl befragtwerden konnten. Bis auf die Fallstudie zu den Zugehörigkeitskonstruk-tionen der Muslime stellen Männer eindeutig die Mehrheit in den Be-fragungsgruppen dar.

Den drei Fallstudien lag in gleichem Maße und gleicher Weisedie Frage zugrunde, auf welche Art und Weise die befragte PersonGemeinschaft imaginiert. Im Vordergrund des empirischen Untersu-chungsinteresses stand also die modale Seite sub- und transnationalerGemeinschaftsimaginationen, nicht aber ihre inhaltliche Orientierungan Islam, kabylischer Sprachkultur oder palästinensischem Nationalis-mus. Insofern handelt es sich im Folgenden nicht um eine Untersu-chung, die das Spezifische muslimischer, kabylischer oder palästinensi-scher Gemeinschaftsbildung oder die Rolle des Islam, der kabylischenSprachkultur oder des palästinensischen Nationalismus für die Nach-kommen postkolonialer Einwanderung in Deutschland und Frankreichzu verstehen versucht. Islam, kabylische Sprachkultur und palästinen-sischer Nationalismus sind hingegen als Beispiele für Inhalte betrachtetworden, die ermöglichen, Zugehörigkeit zu konstruieren und dergestalthandlungs- und kritikorientierende Sinnzusammenhänge herzustellen.

Mit den inhaltlichen Bezügen ihrer Zugehörigkeitskonstruktion wei-

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sen die Befragten der drei Fallstudien insgesamt betrachtet über ihresozialstrukturelle Inklusion in die gesellschaftlichen Beziehungen alsSchüler, Studierende, Arbeitnehmer, Sportler, Konsumenten oder auchSozialleistungsempfänger hinaus. Sie stellen sich dadurch zwangsläufigin ein Spannungsverhältnis zu den nationalen Selbstthematisierungenwie auch zu nationalstaatlichen Strukturen in Deutschland und Frank-reich. Zudem stehen die ausgewählten inhaltlichen Dimensionen deruntersuchten Zugehörigkeitskonstruktionen für drei unterschiedlicheKategorien gesellschaftspolitischer sowie staatlicher Zuordnungen undAngehörigkeiten – für die Religions-, die Sprach- und die Territoriums-kategorie.

Darüber hinaus beruht die Entscheidung, muslimische, kabylischeund palästinensische und nicht andere religions-, sprach- oder territo-rialkategoriale Zugehörigkeitskonstruktionen von Nachkommen post-kolonialer Einwanderung zu untersuchen, darauf, dass die Befragtensich mit den Inhalten ihrer Gemeinschaftsimaginationen implizit undindirekt aufeinander beziehen, voneinander differenzieren oder gegen-seitig vereinnahmen können. Denn als Muslime können sie Umma, dieGemeinschaft der Muslime, auf die theologisch-islamische Bedeutungder arabischen Sprache beziehen, die wiederum in einem politischenSinn als ein Kernelement des palästinensischen Nationalismus zu be-trachten ist und in dieser Hinsicht in den Gemeinschaftsimaginationender befragten Palästinenser eine zentrale Rolle spielt. Letztere wie-derum können ihre Zugehörigkeitskonstruktionen in ein Verhältniszum Islam stellen und unter Umständen den palästinensischen Natio-nalismus zu einem Ausdruck der Gemeinschaft der Muslime erklären.Kabylische Zugehörigkeitskonstruktionen hingegen gründen im Allge-meinen darauf, dass die imaginierte kabylische Gemeinschaft von ara-bischer Sprache und Islam abgegrenzt wird.

Vor dem Hintergrund solcher möglichen positiven und negativenVerschränkungen der Inhalte in den imaginierten Gemeinschaften istder konzeptionelle Ausgangspunkt für die drei Fallstudien, dass einePerson erst durch eine Zugehörigkeitskonstruktion zum Muslim, Pa-lästinenser oder Kabylen wird. Hypothetisch kann sie sich also mal alsMuslim, mal als Palästinenser oder mal als Kabyle verstehen. Dies führtZinedine Zidane als narrative Figur der untersuchten Gemeinschaftser-zählungen vor Augen. In der Tat haben die Befragten der drei Fall-studien in Deutschland und Frankreich, unaufgefordert oder auf Nach-fragen hin, den Ex-Fußballer in ein Verhältnis zu ihren imaginiertenGemeinschaften gestellt. Dabei wurde Zidane mal zu einem Muslim,

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mal zu einem Kabylen und selbst zu einem Palästinenser. Die changie-renden inhaltlichen Zuordnungen der Figur Zinedine Zidane in denGemeinschaftserzählungen bestätigen jedoch nicht nur den Ansatz,Zugehörigkeitskonstruktion unabhängig von ihren Bezügen auf einenspezifischen Inhalt zu konzipieren und zu differenzieren. Sie verwei-sen auch darauf, dass Zugehörigkeitskonstruktion mehr einschließt alseine bestimmte Gemeinschaftsimagination. Denn als narrative Figurspiegelt Zinedine Zidane Sinnzusammenhänge und normative Orien-tierungen wider, die die Befragten mit ihren Zugehörigkeitskonstruk-tionen jenseits von Islam, kabylischer Sprachkultur und palästinensi-schem Nationalismus artikulieren. Gerade diese Sinnzusammenhängeund normativen Orientierungen haben im Vordergrund der Analyse desempirischen Materials gestanden. Sie sind, wie ein Blick in Essays undPresseberichterstattung über Zinedine Zidane zeigt, keinesfalls exo-tisch. Im Gegenteil sind sie in der deutschen und französischen Öf-fentlichkeit durchaus allgemein geläufig und werden mitunter hochgepriesen.10

Unter den Gesichtspunkten der Frage, wie Zugehörigkeit konstru-iert wird, wie solche Konstruktionen strukturiert und normativ orien-tiert werden, sind Bezüge auf den Islam, die kabylische Sprachkulturund den palästinensischen Nationalismus nicht nur als Beispiele zubetrachten, sondern relativieren sich auch die Unausgewogenheiten,die die Zusammensetzungen der drei Befragungsgruppen im Hinblickauf sozialstrukturelle Voraussetzungen, Lebensalter und Geschlechter-verteilung auszeichnen. In der Tat zielen die Fallstudien nicht darauf,empirisch nachvollziehbar erklären zu können, warum und unter wel-chen sozialen, biografischen oder rollensozialisatorischen Bedingun-gen muslimische, kabylische oder palästinensische Zugehörigkeitenkonstruiert werden. Sie haben vielmehr die Funktion, eine empirischeGrundlage herzustellen, die ermöglicht, allgemeine Modalitäten derZugehörigkeitskonstruktion zu sub- und transnational imaginiertenGemeinschaften beschreiben zu können. Doch müssen die drei Fallstu-dien in ihrem allgemeingesellschaftlichen, politischen und rechtlichenKontext betrachtet werden – zumal da, wo, wie im dritten Teil die-ser Arbeit, das kritische Potenzial der Zugehörigkeitskonstruktionenim Hinblick auf allgemeingesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse undBedingungen individueller Autonomie und Gleichbehandlung genauer

10 Für die Figur Zinedine Zidane in deutsch- und französischsprachiger Pressebe-richterstattung und essayistischer Literatur vgl. Zidane – Variation I.

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erfasst wird. Insofern ist den Fallstudien eine Untersuchung der institu-tionellen Voraussetzungen, mit denen sich Muslime, Kabylen und Pa-lästinenser in ihrer Zugehörigkeitskonstruktion in Deutschland oderFrankreich konfrontiert sehen, an die Seite gestellt worden.

Im Mittelpunkt dieser Kontextuntersuchung stehen zum einen diesemantischen Leistungen, die Territoriums-, Religions- und Sprach-kategorie für die staatliche Organisation und Bestimmung von Angehö-rigkeit und Zuordnungen zu sozialen Gruppen in Europa allgemeinerbringen, und zum anderen die institutionellen Strukturen sowie Ent-wicklungen, die mit diesen drei Kategorien in Deutschland und Frank-reich verbunden sind. In dieser Hinsicht sind Dokumente der beideneuropäischen Instanzen, Europarat und Europäische Union (EU), aufder einen und staats- und verwaltungspolitische Entwicklungen inDeutschland und Frankreich auf der anderen Seite analysiert worden.Die Analyse ist insofern ideologiekritisch ausgerichtet, als sie europäi-sche Dokumente und deutsche wie auch französische staats- und ver-waltungspolitische Entwicklungen im Sinne von Rahel Jaeggi daraufhinbefragt, welche Selbstverständlichkeiten die europäischen Dokumenteund staats- und verwaltungspolitischen Entwicklungen in Deutsch-land und Frankreich bezüglich des Verständnisses von Territoriums-,Religions- und Sprachkategorie setzen, welche normativen Maßstäbemit diesen »Selbstverständlichmachungen« etabliert und welche Herr-schaftsinteressen damit verfolgt werden.11

Die doppelte Perspektive auf europäische Semantiken der Territo-riums-, Religions- und Sprachkategorie einerseits und auf die institutio-nellen Strukturen sowie Entwicklungen deutscher und französischerImmigrations-, Religions- und Sprachpolitik andererseits beruht zu-nächst auf der Feststellung, dass unter den gegebenen politischen Be-dingungen in Europa nationalstaatliche Institutionen nur vor dem Hin-tergrund europäischer Rechtsverhältnisse und Bedeutungshorizonteadäquat eingeordnet und beurteilt werden können. Denn die National-staaten, die wie Deutschland und Frankreich in den Europarat und dieEU eingebunden sind, teilen miteinander bestimmte Aspekte ihres Ge-waltmonopols und orientieren zugleich die Ausübung ihrer Souveräni-tät insgesamt an durch Europarat und EU gesetzten politischen Stan-dards. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass deutsche und französischeStaats- und Verwaltungspolitik ihr jeweiliges Ziel, nationale Einheitund nationalstaatliche Einheitlichkeit herzustellen, aufgeben. Gerade

11 Jaeggi, »Was ist Ideologiekritik?«, S. 269–270.

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Immigrations-, Religions- und Sprachpolitik zeigen, dass sowohl inDeutschland wie in Frankreich eine zentrale staatspolitische Hand-lungsrationalität darin besteht, Einheit und Einheitlichkeit herzustel-len. Jedoch müssen Staats- und Verwaltungsvertreter aufgrund derpostsouveränen Bedingungen europäischer Nationalstaaten unweiger-lich ihre immigrations-, religions- und sprachpolitischen Entscheidun-gen und Handlungen auf europäische Standards beziehen – sei es in po-sitiver, abgrenzender oder unterminierender Weise.12

Mit der europäischen und deutsch-französischen Perspektive auf dieKontexte der drei Fallstudien wird des Weiteren davon ausgegangen,dass zwischen europäischen Rechtsverhältnissen, Bedeutungshorizon-ten und institutionellen Strukturen sowie Entwicklungen in Deutsch-land und Frankreich Wechselwirkungen bestehen. Diese verbietennicht nur, Deutschland und Frankreich als ausschließliche und selbst-verständliche institutionelle sowie staatliche Rahmungen der Zuge-hörigkeitskonstruktionen der Muslime, Kabylen und Palästinenser zubetrachten und mit einem »methodologischen Nationalismus« zu ver-absolutieren.13 Sie begründen auch »ein rekursives Konstitutionsver-hältnis« im Sinne des organisationssoziologischen Ansatzes von Klaus

12 Für die Bezeichnung »postsouverän« vgl. Bielefeld, »Nation und Weltgesell-schaft«.Verschiedene, vom Neoinstitutionalismus inspirierte Arbeiten haben diesesBeziehungsverhältnis zwischen nationalstaatlicher Politik und europäischenStandards dargelegt (vgl. Meyer u.a., »World Society«, Powell/DiMaggio[Hg.], The New Institutionalism). Yasemin N. Soysal hat am Beispiel wohl-fahrtsstaatlicher Inklusion von Arbeitsimmigranten in westeuropäischen Staa-ten gezeigt, wie menschenrechtliche, europäisch garantierte Maßstäbe das Kri-terium nationalstaatlicher Angehörigkeit relativieren, und insofern den Begriffvon postnationaler Bürgerschaft geprägt (vgl. Soysal, Limits of Citizenship;Jacobson, Rights across Borders; kritisch dazu Joppke, Immigration and theNation-State; ders., »Staatsbürgerschaft und Migration«). Matthias Koenigwiederum hat am Beispiel der Inkorporation muslimischer Immigranten inGroßbritannien, Frankreich und Deutschland erläutert, wie europäische Stan-dards nationalstaatliche Religionspolitik beeinflussen (vgl. Koenig, Staatsbür-gerschaft und religiöse Pluralität; ders., »Europäisierung von Religionspoli-tik«). Kerstin Rosenow beschreibt eine Europäisierung der Integrationspolitik(vgl. Rosenow, Die Europäisierung der Integrationspolitik). Theresa Wobbeschließlich hat im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter aufdem Arbeitsmarkt die Wirksamkeit der EU-Normen, die Antidiskriminierungs-politik der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren, erläutert (vgl. Wobbe, »Vomnation-building zum market-building«; dies./Biermann, Von Rom nach Ams-terdam).

13 Wimmer/Glick Schiller, »Methodological Nationalism«.

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Türk, Thomas Lemke und Michael Bruch. In diesem rekursiven Konsti-tutionsverhältnis werden europäische Standards ebenso wie deutscheund französische Staats- und Verwaltungspolitik ständig verändert.14

Insofern beruht die Kontextuntersuchung zu den Fallstudien auf derKonzeption, dass die europäischen Semantiken der Territoriums-, Reli-gions- und Sprachkategorie wie auch die deutsche und französische Im-migrations-, Religions- und Sprachpolitik offene Prozesse sind.

Nicht zuletzt greifen die Personen, die sub- und transnationaleZugehörigkeiten in Deutschland und Frankreich konstruieren unddadurch etablierte normative Standards und Herrschaftsverhältnissehinterfragen, in diese offenen Prozesse ein. Insofern stehen sie den eu-ropäischen territorial-, religions- und sprachkategorialen Standardsebenso wie der deutschen und französischen Immigrations-, Religions-und Sprachpolitik in einem Verhältnis gegenüber, das bis zu einem ge-wissen Grad mit dem Bild eines Fußballmatchs erfasst werden kann.Dieses Bild des Fußballmatchs aufgreifend, werden abschließend dieErgebnisse der Fallstudien und der Untersuchung ihres allgemeingesell-schaftlichen, politischen und rechtlichen Kontexts in den Rahmen all-gemeiner zugehörigkeitssoziologischer Überlegungen gestellt. Darüberhinaus rechtfertigt die Prominenz, die die Figur Zinedine Zidane so-wohl unter den Befragten der Fallstudien als auch auf allgemeingesell-schaftlicher Ebene besitzt, diese Ergebnisse mithilfe des FußballspielsZinedine Zidanes zu illustrieren.

14 Türk/Lemke/Bruch, Organisation in der modernen Gesellschaft.

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Inhalt

Vorspiel 7

Empirie: Zur Methode 23

I Gemeinschaftserzählungen 32

II Gemeinsamkeiten glauben und Zugehörigkeiten konstruieren 68

III Zugehörigkeitskonstruktion in der Innenansicht 102

Zidane – Variation I 142

IV Das nationalstaatliche Territorium im Geflecht europäischerInstitutionen, Rechtsverhältnisse und normativer Standards 148

V Religionssemantiken im Europarat und in der EU 179

VI Semantiken der Sprachkategorie:Europäische Pluralismusordnung und ihre Eigendynamik 210

Zidane – Variation II 238

VII Die territorialstaatliche Inklusion der Muslimein Deutschland und in Frankreich: Ein historischer Aufriss 245

Palästinenser in Berlin – Exkurs I 274

VIII Die institutionelle Inkorporation islamischerReligionspraxis in Deutschland und Frankreich 283

IX Sprachpolitik für Einwanderer in Deutschland und Frankreich 308

Kabylen in Frankreich – Exkurs II 330

Zidane – Variation III 343

X Muslime, Kabylen und Palästinenser in Deutschlandund Frankreich erzählen ihre Alterität 349

XI Muslimische, kabylische und palästinensischeAlteritätserzählungen und Kritik 387

XII Zugehörigkeitskonstruktionen und ihr kritisches Potenzial 416

Nachspiel 442

Bibliografie 462

Zur Autorin:

Nikola Tietze, PD Dr. phil., Soziologin, Hamburger Stiftung zur Förde-rung von Wissenschaft und Kultur; assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung. 1999 Promotion an der École des Hautes Études en Scien-ces Sociales Paris und der Universität Marburg; 2013 Habilitation an der Universität Hamburg; von 2000 bis 2015 Wissenschaftlerin im Hamburger Institut für Sozialforschung; Gastdozentin an den Universitäten Hamburg, Paris, Bordeaux.

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Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus der Lifevon Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-86854-249-31. Auflage September 2012