Abi-Rede (Axel Seebahn, 2014)
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Grußworte des Kollegiums an die Abiturienten – Abi 2014 -
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Ich spreche zu Ihnen als Vertreter der Lehrerschaft des OGT.
Zunächst möchte ich natürlich die Abiturienten begrüßen, deren Eltern,
Verwandte, Lehrer, Gäste aus der Politik und in besonderer Weise die
Mitglieder des Abiturjahrgangs 1964 und 1954, die heute ihr 50- bzw. 60-
jähriges Abitur begehen.
Consummatum est – es ist vollbracht! (PAUSE)
Heute entlassen wir Sie – ausgestattet mit dem höchsten Zertifikat, das das
deutsche Schulsystem zu bieten hat - in die außerschulische Welt. Sie sind jetzt
quasi „Außerschulische“ oder etwas weniger dramatisch: „Ehemalige“.
Wie Sie sich diese außerschulische Welt gestalten, wird von nun an Ihre
höchsteigene Obliegenheit sein. Für manchen mag diese Freiheit echte
Befreiung bedeuten, für den anderen eher bedrohlich wirken.
In den neun Jahren Ihrer Zeit am Ostsee-Gymnasium haben Sie zahlreiche
Veränderungen erfahren und zum Teil auch mitgestalten dürfen oder müssen.
Zum Beispiel erlebten Sie insgesamt vier Schulleiter, eine Unmenge von
unterschiedlichsten Lehrern und Referendaren, aber auch zahlreiche
Änderungen baulicher und struktureller Art, z.B.:
- den Wechsel von G8 auf G9 (wenn auch nur als Beobachter),
- die Errichtung des Lernlabors,
- die Einrichtung (Ihrer) Containerklassen,
- den Bau und die Ausrüstung des Atriums,
- die Einrichtung eines zweiten und dritten Computerraums,
- die Ausstattung der Schule mit Schließfächern,
- die Ausstattung sämtlicher Räume mit Videobeamern.
Es wird deutlich, dass sich die Geschwindigkeit, in der sich Schule entwickelt,
dramatisch erhöht hat.
Dies sind natürlich sowohl Reaktionen auf geänderte Lebenswirklichkeiten als
auch einen sich verändernden Bildungsbegriff.
Sehr gut ablesen lassen sich diese Veränderungen auch an den stetig
veränderten Hausordnungen.
- 2006 war z.B. das Musikhören mit Mp3-Playern verboten (aus Angst vor
Grußworte des Kollegiums an die Abiturienten – Abi 2014 -
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Vereinsamung der Schüler)
- seit 2008 galt dies auch für den Gebrauch von Handys, später Smartphones,
was vor knapp 6 Wochen wieder aufgehoben worden ist.
- Dazu zählt aber auch, dass das Mitführen eines USB-Sticks seit 2010
verbindlich gefordert wird.
War Bildung laut Brockhaus im Jahre 1960 definiert als (langsam):
Der Vorgang geistiger Formung, auch der inneren Gestalt, zu der der Mensch
gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner
Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und
Praktiken beherrscht, sondern der durch sein Wissen und Können teilhat am
geistigen Leben.
Heißt es nun:
Bildung sei der lebensbegleitende Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem
er seine geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und seine
personalen und sozialen Kompetenzen erweitert.
Dies sind wesentliche Veränderungen, die sich natürlich immer auch in einer
Phase der Umorientierung und damit gelegentlicher Richtungslosigkeit
niederschlagen.
Eher negative Beispiele für diese Richtungslosigkeit könnten sein, dass es in
diesem Jahr zum Beispiel keine Abizeitschrift gibt oder aber auch der arg
improvisierte gestrige Abi-Streich.
Möglicherweise sind dies aber die Schattenseiten einer zunehmenden
Individualisierung, die „Mehr-als-eine-Person-Projekte“, durchaus erschweren
kann.
Des Weiteren wäre der Gegensatz zu nennen zwischen der schier endlosen
Verfügbarkeit von netzgestütztem Wissen und der Beachtung des Primats des
geistigen Eigentums, Stichwort „Plagiarismus“ und der Fähigkeit bzw.
Unfähigkeit, wichtige Informationen von unwichtigen oder gar falschen
unterscheiden zu können.
Grußworte des Kollegiums an die Abiturienten – Abi 2014 -
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Dazu kommen Krankheitsbilder, die Ihre Schülergeneration quasi erfunden
oder zumindest bekannt gemacht hat: Alkopops und Komasaufen, SMS-,
Facebook- und Whatsapp-Sucht, chronische Übermüdung durch
ununterbrochenes z.B. World-of-Warcraft-Spielen und vieles mehr.
Auf der positiven Seite ist hervorzuheben, dass die Unterrichtslandschaft
deutlich bunter geworden ist. Das heißt zum Beispiel, dass gerade auch der
Textbegriff enorm erweitert wurde. Wurde früher versucht, Wissen mehr oder
weniger ausschließlich per geschriebenem Text auf Papier oder Tafel zu
vermitteln, wurden Sie bereits fast selbstverständlich mit Filmen und
Hörbeispielen beschult.
Auch der Aspekt der selbstständigen Produktion hat während Ihrer Schulzeit
deutlich an Gewicht gewonnen. So schrieben Sie eben nicht nur Texte, sondern
spielten Theater, erstellten Internetseiten, Hörspiele, Filme, Fotoromane und
vieles mehr dieser Art, zumeist auf bemerkenswertem Niveau.
Probleme, die sich früher nie stellten, müssen nun also gelöst werden, damit
die Lebenswirklichkeit der Schüler und die Schulwirklichkeit nicht noch stärker
auseinanderdriften, man dem gerade eben skizzierten Bildungsanspruch aber
dennoch gerecht werden kann.
In diesem Kontext kann man Sie mit Fug und Recht als „pädagogische
Wendekinder“ bezeichnen.
Vielleicht beruhigt es Sie ein wenig, wenn ich Ihnen sage, dass diese „Wende“
auch vor den Universitäten und Fachhochschulen nicht Halt gemacht hat. Im
Zuge der Bologna-Reform – die in diesem Jahr übrigens Ihren 15. Jahrestag
feiert – wurden und werden nahezu sämtliche Studiengänge dem Bachelor-
/Mastersystem angepasst, was vielerorts noch lange nicht abgeschlossen ist
oder auch schon wieder „nachstrukturiert“ wird.
Für das OGT lässt sich sagen, dass wir diese Herausforderungen annehmen
müssen und dies auch gerne tun.
Beispielsweise planen wir im Moment, die Schule samt Sportplätzen und Höfen
vollständig mit WLAN zu vernetzen und den Schülern personalisierte Zugänge
einzurichten. Dies steht in Zusammenhang mit der Verdreißigfachung der
Internetbandbreiten zum Jahresende.
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Grundlage wird die von einem Info-Kurs eingerichtete E-Learning-Plattform
„moodle“ sein. Auf diese Weise werden die Schüler nur noch Termine und
andere Informationen erhalten, die für sie relevant sind, ihre persönlichen
Daten sowie Unterrichtsinhalte abspeichern und bearbeiten können sowie in
Echtzeit miteinander an Projekten – unabhängig vom Aufenthaltsort – arbeiten.
Dazu brauchen wir die Expertise ehemaliger OGTler (Fabian Schmidt und Tobias
Stahl, Abi-Jahrgang 2001 und 2006). Sie sehen, die Kreise schließen sich
häufiger, als man glauben mag.
Dies wird Schule, wie wir kennen, abermals nachhaltig und hoffentlich positiv
verändern. Die Bewertung lässt sich naturgemäß nur in der Retrospektive
bewerten.
Retrospektive ist ein schönes Stichwort. Auch wenn Sie im Moment vermutlich
froh sind, all den Schulstress hinter sich lassen zu können, werden Sie schon
bald bemerken, dass sich beim Gedanken an Ihre „alte Schule“ eine gewisse
Wehmut anschleicht. Sollte dies so sein, kann ich Ihnen versichern, dass Sie
jederzeit willkommen sind, Ihre alte Bildungsstätte zu besuchen und die
beschriebenen Veränderungen mitzuverfolgen.
Dankenswerterweise haben sich die meisten von Ihnen als Mitglieder des
Ehemaligenvereins registrieren lassen, sodass Sie auch per E-Mail halbjährlich
auf dem Laufenden gehalten werden. Sollte die Wehmut gar zu groß werden,
unterstützen wir Sie gerne bei der Organisation und Ausrichtung Ihrer ersten
Klassen- oder Jahrgangstreffen.
Nun ist bereits mehrfach der Begriffe Wehmut gefallen. Er bezeichnet eine
„sehnsuchtsvolle Hinwendung zu vergangenen Personen, Geschehnissen oder
auch Gegenständen.“
Wir würden uns freuen, wenn Sie das Antonym von „Wehmut“ zu Ihrer
zukünftigen Lebensmaxime machen könnten, also die sehnsuchtsvolle
Hinwendung zu allem, was kommen mag, gleichsam eine Vorfreude auf die
Zukunft, ohne dabei jedoch das Gewesene zu vergessen.
Wie das am besten zu realisieren sein könnte, muss allerdings jeder Einzelne
von Ihnen für sich selbst herausfinden.
Grußworte des Kollegiums an die Abiturienten – Abi 2014 -
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Wenn Sie sich irgendwann dabei erwischen, dass Sie Sätze über das OGT mit
„Zu meiner Zeit…“ beginnen und dabei ein angenehmes Gefühl haben, können
Sie gewiss sein, hier jederzeit offene Türen und Ohren vorzufinden.
Und wer weiß, vielleicht kommen Sie ja auch als Lehrkräfte zurück oder als
Fachleute, deren nachschulisch erworbenes Wissen hier gebraucht wird.
Beispiele dafür sitzen gerade unter Ihnen.
Abschließend möchte ich Ihnen viel Erfolg bei Ihren wie auch immer gearteten
Zukunftsgestaltungsversuchen wünschen. Erfolg deshalb, weil Glück immer so
sehr nach Zufall klingt.
Denn am Ende des Tages sind all Ihre Erfolge und Misserfolge immer Resultate
dessen, was Sie gewollt, gedacht und vor allem getan haben, kurz: Ihrer
Entscheidungen und Taten.
Ich wünsche ihnen die dazu nötige Neugier, Kreativität, Offenheit und
Ausdauer.
Niemand wird Ihnen diese Entscheidungen von nun an abnehmen, also hüten
Sie sich vor dem Erschlaffen und der Selbstzufriedenheit.
Oder wie Goethe die Engel am Ende von Faust II sagen lässt:
Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
Leben Sie wohl und melden Sie sich ruhig hin und wieder!
Danke