Änderung des Gewebscharakters nicht radikal operierter Gliome

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(Aus dem PathologischenInstitut der KrankenanstaltenBerlin-Buch; I~europatho- logisches Institut der Heft- und Pflegeanstalt [Abt.-Direktor Dr. B. Ostertag].) Anderung des Gewebscharakters nieht radikal operierter Gliome. Von Walter Miiller (jetzt 1)athologisches Institut des Krankenhauses ~ioabit; Abt,-Direktor Dr. B. Ostertag). Mit 5 Textabbildungen. (Eingegaugen am 21. August 1933.) Wenn auch durch den grol~en Aufschwung der Gehirnchirurgie und durch das enge Zusammenarbeiten yon Hirnchirurgen und Neuropatho- logen (z. B. Cushing-Bailey, Heymann-Ostertag und zahlreiche andere) Grundlagen ffir eine pathologiseh-anatomische, klinisch verwertbare Unterscheidung der Tumoren des Zentralnervensystems geschaffen wurden, so ist doch fiber die einzelnen Stadien, die die Tumoren in ihrer geweblichen Entwicklung durehlaufen, recht wenig bekannt. In den meisten Fi~llen kommen Geschwfilste in einem Stadium zur anatomischen Untersuchung, das nur noch vermutungsweise Rficksehlfisse auf voraus- gegangene Entwicklungsstufen erlaubt. Von besonderem Weft sind nun, besonders naeh der weitgehenden Verfeinerung auch der pathologiseh- anatomischen diagnostischen MSglichkeiten im Hirnpunktat (Ostertag), die Untersuchungen yon Tumoren, die mehrmals in gewissen Zeitabsti~nden punktiert oder operiert wurden und unter Umst/inden sp/~ter zur Sek- tion kamen. Tooth hat bei 2 F/~llen schon darauf hingewiesen, dab ,,gut- artige" Gliome bei Rezidivoperationen ,,bSsartiger" waren und ffihrt das auf die Operation zurfick. ~hnliche Beobachtungen erw/~hnen Bailey und Cushing. Sie halten eine Umwandlung eines aus protoplasmatischen Astrocyten bestehenden Tumors in ein multiformes Spongioblastom im Sinne einer Dedifferentiation ffir mSglich. Globus hat 5 F/~lle beschrieben, bei denen sich bei wiederholter Entnahme yon Tumorteilen erhebliche Anderungen der Gewebsstruktur fanden in der Richtung einer Umwand- lung zuerst anscheinend gutartiger, homolog gebauter Tumoren in bSs- artigere multiforme Spongioblastome. An dem grol~en im Ostertagschen Institut eingehenden Gehirntumor- material konnten wir in 3 F/~llen besonders deutlich Ver/~nderungen des Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 148. 305

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(Aus dem Pathologischen Institut der Krankenanstalten Berlin-Buch; I~europatho- logisches Institut der Heft- und Pflegeanstalt [Abt.-Direktor Dr. B. Ostertag].)

Anderung des Gewebscharakters nieht radikal operierter Gliome.

V o n

Walter Miiller ( je tz t 1)a thologisches I n s t i t u t des K r a n k e n h a u s e s ~ ioab i t ; A b t , - D i r e k t o r Dr . B. Ostertag).

Mit 5 Textabbildungen.

(Eingegaugen am 21. August 1933.)

Wenn auch durch den grol~en Aufschwung der Gehirnchirurgie und durch das enge Zusammenarbeiten yon Hirnchirurgen und Neuropatho- logen (z. B. Cushing-Bailey, Heymann-Ostertag und zahlreiche andere) Grundlagen ffir eine pathologiseh-anatomische, klinisch verwertbare Unterscheidung der Tumoren des Zentralnervensystems geschaffen wurden, so ist doch fiber die einzelnen Stadien, die die Tumoren in ihrer geweblichen Entwicklung durehlaufen, recht wenig bekannt. In den meisten Fi~llen kommen Geschwfilste in einem Stadium zur anatomischen Untersuchung, das nur noch vermutungsweise Rficksehlfisse auf voraus- gegangene Entwicklungsstufen erlaubt. Von besonderem Weft sind nun, besonders naeh der weitgehenden Verfeinerung auch der pathologiseh- anatomischen diagnostischen MSglichkeiten im Hirnpunktat (Ostertag), die Untersuchungen yon Tumoren, die mehrmals in gewissen Zeitabsti~nden punktiert oder operiert wurden und unter Umst/inden sp/~ter zur Sek- tion kamen. Tooth hat bei 2 F/~llen schon darauf hingewiesen, dab ,,gut- artige" Gliome bei Rezidivoperationen ,,bSsartiger" waren und ffihrt das auf die Operation zurfick. ~hnliche Beobachtungen erw/~hnen Bailey und Cushing. Sie halten eine Umwandlung eines aus protoplasmatischen Astrocyten bestehenden Tumors in ein multiformes Spongioblastom im Sinne einer Dedifferentiation ffir mSglich. Globus hat 5 F/~lle beschrieben, bei denen sich bei wiederholter Entnahme yon Tumorteilen erhebliche Anderungen der Gewebsstruktur fanden in der Richtung einer Umwand- lung zuerst anscheinend gutartiger, homolog gebauter Tumoren in bSs- artigere multiforme Spongioblastome.

An dem grol~en im Ostertagschen Institut eingehenden Gehirntumor- material konnten wir in 3 F/~llen besonders deutlich Ver/~nderungen des

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Gewebscharakters bei operierten Gliomen feststellen. F/Jr den Chirurgen sind diese Befunde wichtig, da sie fiir weitere F/~lle eine, wenn auch vorsichtige Prognosestellung erheblich beeinflussen k6nnen. Sie bedingen aber auch die Frage, wieweit etwa die mul t i formen Spongioblastome und t iberhaupt alle ,,b6sartigen" Gliome, die doch den gr6Bten Tell der inoperablen H i rn tumoren ausmachen, bei frfihzeitiger Diagnose noch in einem relat iv gutar t igen und operablen Ausbi ldungszus tand erfaBt werden k6nnten.

Bei unserem ersten Fall (Nr. 2811, 3803) kamen jeweils zweimal Itirnpunktions- zylinder und ansehlieBend Operationsmaterial zur Untersuehung. Die klinische

Abb. I a--c. a 1. Punktat. b 1. Operationsmaterial. e 2. Operationsmaterial. Fall 1. Nr. ~803. 290fi~eh. Kresyl. -- "Weitgehende ~bereinstimmung des Gewebseharakters in a und b.

Deutlieher Untersehied gegen e. S. Text.

Untersuehung des 38j/~hrigen ehemaligen Offiziers lieB den Verdacht auf einen Tumor im Bereich der linken Zentralregion aufkommen. Bei der ersten I4irnpunk- tion fanden wir im Punktat aus der linken Schl/~fengegend ein yon Blutungen durchsetztes Gliomgewebe (Abb. i a). Das Punktat aus der linken Seheitel-Oeeipital- gegend, zeigte 6demat6s durchtr/~nktes Gewebe mit einzelnen Gli~partien, bei denen nicht sicher zu entscheiden war, ob sie aus der Randzone eines Glioms stammten. Die Punktion der hinteren Stirngrenze zeigte ebenf~lls starkes Odem, besonders in den tieferen Partien, w/~hrend die vierte Punktionsstelle (vordere Stirn) keinen auff/flligen Befund bot. Einige Tage sp/~ter wurden aus der linken Zentralregion Teile eines Tumors entfernt, dessen radikale Beseitigung nicht m6glich war. Die histologischen Bilder des ersten Punktates (Abb. l a) und des ersten Operations- materials (Abb. 1 b) stimmen weitgehend fiberein.

Das Tumorgewebe geht ziemlieh unvermittelt in das angrenzende Gehirngewebe tiber ohne besonders starke Proliferation der Glia in den Randpartien. Die Ge- schwulst zeigt einen loekeren, fast wabigen Aufbau mit der Neigung zur Status spongiosus Bildung. Sie ist nicht sehr zellreieh. Die kleinen Zellen selbst sind

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einheitlich gebaut mit runden bis ovalen Kernen (Abb. la und b). Nur ganz ver- einzelt findet sich eine geringgradige Polymorphie mit mehrkernigen Zellen. Das ganze Gewebe ist sehr faserreich. Auffallend ist die starke Vascularisation. Nach dem histologischen Bild handelt es sich um ein Gliom, das aus weitgehend aus- reifenden Zellen besteht und einen verh~ltnism~Big ,,gutartigen" Eindruck maeht.

Nach gutem tteilungsverlauf wurde der Patient 3 Woehen sp~ter erheblich gebessert zur R6ntgentie]enbestrahlun9 entlassen. Die Besserung, insbesondere der Riickgang der paretischen Erscheinungen hielt einige Zeit an, aber allm~hlich traten wieder sti~rkere epileptische Anf~lle auf, die paretischen Erseheinungen im Bereieh der rechten K~rperhi~lfte nahmen zu und eine Wesensver~nderung ging vor sich.

9 Monate naeh der ersten Operation wurde bei dem Patienten die zweite Gehirn- punktion im Bereich des alten Operationsgebietes vorgenommen. Es warden keine eigentliehen ttirnzylinder gewonnen, sondern eine gelbliche Fliissigkeit, in deren Sediment sich zahlreiehe kleine Gliakerne und einzelne amSboide Zellen mit gelappten Kernen fanden. Nach weiteren 4Wochen (10 l~onate naeh der ersten Operation) wurde eine Retrepanation vorgenommen und mit der elektrisehen Schlinge in etwa TaubeneigrSBe ,,gliSs-cystische" Massen im Bereich der hinteren Zentralwindung entfernt. Eine radikale Operation war wiederum unmSglieh. Starke Blutung. Naeh gutem Heilungsverlauf und erheblichem Rtickgang der Symptome warde der Patient gebessert entlassen.

Die histologische Untersuchung des zweiten Operationsmaterials ergab nun eine weitgehende Versehiedenheit des geweblichen Aufbaues im Vergleieh zu dem 10 Monate vorher entnommenen Gewebe. Die Gesehwulst ist sehr viel zellreieher. Die Zellen und insbesondere die Zellkerne zeigen starke Polymorphie. Es finden sich zahlreiehe groBe mehrkernige Zellen und viele Kernteilungsfiguren. Stellen- weise stehen die Zellen in radi~rer Anordnung um groBe Gef~tl]e herum. Auch die Glia in den angrenzenden Randsehiehten des Gehirngewebes zeigt eine erheb- lich st~rkere Proliferation, als bei der ersten Entnahme. Die Geschwulst ist wieder sehr faserreich und enth~lt neben den iiberwiegenden unreifen Zellformen auch zahlreiche faserbildende groBe Astrocyten. Das histologisehe Bfld des zweiten Operationsmaterials maeht den Eindruck einer starken Gewebsunreife. Nach den haupts~chlich vorhandenen Zellformen kSnnte man ein multiformes Spongioblastom diagnostizieren (Abb. le).

Bei dem zweiten Fall (Nr. 3127) stehen uns zwei Punktionsbefunde, zwei Opera- tionsbefunde und das Sektionsergebnis zur Verffigung. Die klinische Untersuchung der 53j~hrigen Frau ergab den Verdaeht auf einen reehtsseitigen Schl~fenlappen- tumor, In dem in Serien aufgeschnittenen ersten Punktat aus der Sehlitfengegend fanden wir ausgedehnte regressive Veri~nderungen. Nur an einzelnen Stellen war mit Sieherheit die Diagnose eines Tumors zu stellen, der yon Ostertag, unter Vor- behalt auf Grund der ausgedehnten regressiven Veri~nderungen, als ,,Oligodendro- glioeytom" bezeichnet wurde. Auffallend war der Bindegewebsreiehtum. Bei der einige Tage spi~ter vorgenommenen Operation besti~tigte sich diese Diagnose am Operationsmaterial. Aueh hier besteht wieder weitgehendste Ubereinstimmung zwischen Punktions- und Operationsbefund, wenn auch in den bei der Punktion getroffenen Absehnitten die regressiven Verimderungen besonders hervortraten. Die einzelnen Gesehwulstanteile zeigen wechselnden Zellgehalt. Unter Partien mit ~u[3erst dicht stehenden, abet doch weitgehend gleichartig gebauten Zellen (Abb. 2) finden sich verhi~ltnism~Big zellarme Stellen, ebenfalls mit weitgehender Homo- logie der zelligen Elemente. Lediglieh in einzelnen Teilen, besonders um grSBere Gef~l]e herum, nehmen die sonst vorwiegend runden Keme eine mehr l~ngliehe Form an im Bereieh yon wirbelartig angeordneten Zellziigen.

Die anf~nglieh gute Besserung hielt aber nut kurze Zeit an; es folgte ein rasch zunehmender Verfall und naeh nicht ganz 4 Monaten die zweite Aufnahme. Im

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Bereich des ersten Operationsgebietes land sich ein apfelgrol3er Prolaps, der punk- tiert wurde. Die histologische Untersuchung zeigte ein reeht zellreiches Gliom. Bei der kurz darauffolgenden Operation wurde Tumorgewebe entnommen, ohne dal3 eine radikale Operation mSglich war. Diese zweite Operation wurde yon der I)atientin nicht fiberstanden.

Bei der Sektion fand sich eine Trepanationsstelle fiber der rechten SchlSfen- scheitelgegend mit geringem Gehirnprolaps. Im Bereich des rechten SchlSfen- lappens war ein frischer operativer Defekt. Die Gehirnwindungen waren besonders im Bereich der rechten Hemisphiire stark verstrichen unter erheblicher Verdr~ngung der linken ttemisphi~re. Auf einem Frontalschnitt in I-Ibhe des Infundibulums sieht man eine Geschwulst, die yon dem Operationsgebiet im Schl~tfenlappen bis fast

Abb. 2. F(~I1 2. Nr. 3127. 1. Operationsmaterial. 460fach. Kresyl. Sehr zellreiche, abet vorwiegend gleichartig gebaute Geschwulst. S. Text, vgl. Abb. 3.

zur Mittellinie reicht unter teilweiser ZerstSrung des Thalamus und der subthala- mischen Kerne, mit starker Verdr~ngung der Seitenventrikel un4 des 3. Ven. trikels. Nach der Gehirnoberfl~che zu, besonders im Bereich des alten Operations- gebiets und nach der Basis des Schl~fenlappens zu werden die Meningen durch den fast papillomartig wachsenden Tumor infiltriert. Die Geschwulst ist stark vaseulari- siert. Daneben f~llt aber schon makroskopiseh eine unregelmaBige Unterteihmg der Geschwulst durch derbere, anscheinend bindegewebige Faserzfige auf, w~hrend die dazwischen gelegenen Gowebsanteile erhebliche Nekrosen und regressive Ver- ~nderungen erfahren haben.

Das histologische Bild des zweiten Punktats, Operationsmaterials und der Sek- tion weieht erheblich yon dem der ersten Entnahme ab. Die Geschwulst ist in noch auff~lligerem MaBe als bei dem ersten Operationsmaterial sehr bindegewebs- reich. Einen grundlegenden Untersehied aber zeigen bei der zweiten Untersuchung die Zellen in dem yon der ersten Operation getroffenen Gebiet. Die Geschwulst- anteile sind (im Gegensatz zu Fall 1 und 3) zwar erheblich zell~rmer als bei dem Material der ersten Entnahme, aber die Zellform und die Zellanordnung ist eine ganz andere. W~hren4 es sich bei dem Operationsmaterial um sehr dieht stehende

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weitgehend gleichartig gebaute, ausdifferenzierte, runde und polygonale Zellen haadelte, fanden sich bei der zweiten Operation und der Sektion vSllig andere Zelltypen. Wie die Abb. 3 zeigt, sind die Zellen vorwiegend birnen- und flaschen- fSrmig und stehen in reihenfSrmiger, meist mehrzeiliger Anordnung. Mitosen sind in grSgerer Anzahl deutlich naehweisbar (s. Abb.). Die Zellen gleichen weitgehend nicht ausdifferenzierten primitiven Spongioblasten bzw. nach der gliSsen Seite hin differenziertem Neuroepithel.

Die Geschwulst zeigt also bei der zweiten Untersuchung, und zwar besonders in den nach der ers ten Opera t ion im a l ten Opera t ionsgebie t neugebi lde ten Ante i len einen deut l ichen , ,Ri ickschlag" zu Zellformen,

A b b . 3. Fa l l 2. Nr . 3127. Sek t ionsma te r i a l . 240fach. H ~ m a t o x y l i n - E o s i n . BirnenfOrmige in mehrze i l igen Re ihen a n g e o r d n e t e Zellen, p r i m i t i v e n Spong iob la s t en hhnl ich . S. Tex t ,

vgl . Abb . 2. Bei 5I 5i i tose.

die auf jugendl icherer Entwick lungss tufe stehen. Sie is t deut l ich ent- differenziert , auch wenn sie n icht so deut l ich , ,bSsart iger" erscheint , wie Fa l l 1 und 3.

Bei dem 3. Fall (Nr. 3429; 34jiihrige Frau) liegen die zwei Beobachtungen aller- dings nicht ganz 3 Monate auseinander, aber trotzdem ist ein deutlicher Unter- sehied in beiden Befunden vorhanden. Bei der Operation wurden kleinapfelgroBe Tumormassen aus dem rechten Schli~fenlappen entfernt. Der histologische Auf- bau war nicht ganz einheitlich. In den tiefer gelegenen Anteilen zeigt sich stellen- weise eine fast neurinomartige Struktur, w~hrend in den die Rinde infiltrierenden .~nteilen ein grofier Reichtum an Astrocyten und Astroblasten auffi~llig war, die sieher in dieser Anzahl nicht pr~formiert waren. Hier fanden sich aueh vereinzelt mehrkernige plasmatische Elemente. Auffallend war die groge Zahl der sti~behen- fSrmigen Zellen, die allerdings die gewShnliehen Hortegazellen erheblich an Gr6ge iibertrafen (Abb. 4).

Nach kurzdauernder erheblicher Besserung setzte eine rasch zunehmende Verschlechterung ein, die nach nieht ganz 3 ~onaten zum Tode fiihrte. Bei der

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Sektion war an dem Gehirn kein operativer De]ekt mehr zu sehen, obgleich doch in Apfelgr61]e Geschwulstmassen 3 Monate vorher entnommen waren. An Frontal- schnitten erkennt man, daJ] der ganze operative Defekt yon weichem, graugelbem Geschwulstgewebe ausgeffillt wird. Die Gesehvealst reicht mit einer weitgehend erweichten Zone his in die vordere Zentralwindung und nach hinten bis in den Occipitalpol. Lediglich hier finden sich Gesehwulstanteile, die makroskopisch noeh eine/~hnliche Beschaffenheit zeigen, wie das frfiher entnommene Operations- material.

Wenn nun sehon makroskopisch ein deutlicher Unterschied zwischen den Tumoranteilen zu erkennen war, die nicht unmittelbar durch die Operation

Abb. 4. Fall 3. Nr. 3429. 1. Operationsmaterial. 280fach. Kresyl. S. Text. vgl. Abb. 5.

beeinfluBt worden waren (Occipitallappen), und den Anteilen, die in dem Operations- bert neu entstanden waren, bzw. im unmittelbaren Operationsgebiet lagen, so ist mikroskopisch der verschiedene Au~bau insbesondere im Vergleich zu dem Opera- tionsmaterial noch deutlicher. Die Geschwulst ist sehr zellreich mit starker Poly- morphie der Zellformen und besonders der Kerne (Abb. 5). Neben zahlreichen grol]en mehrkernigen Zellen finden sich dichtstehende Elemente mit geschw~nztem Kern. Zahlreiche Kernteilungsfiguren sind ~estzustellen. An manchen Stellen, besonders um die Gef/~i~e herum, sind spindelfSrmige Zellen in Wirbelstellung angeordaet. Auch dieser Tumor ist aul]erordentlich stark vascularisiert, besonders in seinen zentralen Anteilen. In ihrem Gesamtbild macht die Geschwulst jetzt den Eindruck eines bSsartigen, sehr unreifen, multiformen Spongioblastoms.

Unseren drei beschriebenen F/~llen ist gemeinsam, dab sich bei Gliomen, die bei der ersten Operat ion n icht radikal en t fern t werden konn ten , bei einer spi~teren weiteren Gewebsentnahme bzw. bei der Sektion grund- legende Unterschiede im Gewebsaufbau fanden. Bei den beiden Sektions-

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f/~llen waren diese Unterschiede besonders deutlich in den Gesehwulst- anteilen, die in unmittelbarer Beziehung zum ersten Operationsgebiet standen, bzw. die sich substituierend fiir die entfernten Gewebsstiicke gebildet hatten. In Fall 1 und 3 war eine deutliche Entdifferenzierung zu einem sieher weniger ausreifenden Geschwulstgewebe zu erkennen mit zahlreiehen Teilungsfiguren, unregelm/~l~igen Zellformen, grol~em und vie]gestaltigem Zellreichtum und auch mehrkernigen Zellen. Bei dem

Abb. 5. Fa l l3 . Nr. 3429. Sekt lonsmater ia l . 280fach. Weiger t - I t /~matoxyl in . Deutl ichc :~nderung des Gewebscharakters . S. Text , vg]. Abb. 4.

2. Fall fand sich sogar ein deutlicher ,,Riickschlag" von ausdifferen- zierten, vorwiegend oligodendrocyten/~hnlichen Zellen bei der ersten Entnahme zu embryonalen Zellformen des Neuroepithels mit Differen- zierungstendenz in der Richtung der gliSsen Reihe.

Wie kSnnen nun diese Verschiedenheiten in dem Gewebsaufbau bei jeweils ein und demselben Tumor, der allerdings in seinem Wachstum dureh operative Eingriffe ,,gestSrt" wurde, erkl/~rt werden ? Tooth hat bei 2 F/~llen darauf hingewiesen, da$ gutartige Gliome bei Rezidivopera- tionen bSsartiger waren und ffihrt das auf die Operation zuriiek. Globus dagegen nimmt auf Grund seiner Untersuchungen an, dal~ eher eine Verlangsamung der fortschreitenden Tendenz durch die Operation statt- hat. Allerdings sind seine s/~mtlichen F/~lle zwischen den einzelnen Beobachtungen r6ntgenbestrahlt worden. Ob diese RSntgentiefenbestrah- lungen aber auf die von ihm beschriebenen gewebliehen Ver/~nderungen

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von grS•erem Einflu6 sind, entscheidet er nicht, bezeichnet es aber als zweifelhaft. Von unseren F~llen wurde lediglich der erste rSntgen- tiefenbestrahlt.

Wir gehen mit Globus darin iibcrein, dab die Umwandlungen der Tumoren zu ,,bSsartigeren" Formen mit Hilfe einer embryonalen Tumor- genese verst~ndlich gcmacht werden kSnnen. Unter Zugrundelegung der Ostertagschen Untersuchungen 1 miissen wir annehmen, dab die Tumoren des Zentralnervensystems ihren Ausgangspunkt jeweils yon den Stellen nehmen, an denen im Laufe der Ontogenese physiologisch Verlagerungen und Verschiebungen der urspriinglichen Matrix stattfinden. Unter uns nur ganz vereinzelt bekannten Bcdingungen kann es bei der Entwick- lung zu unter Umstgnden auch nur geringfiigigen (dysontogenetischen) Verlagerungen bzw. zu Liegenbleiben yon Keimmaterial kommen, das aber noch die F~higkeit zu einer weiteren Entwicklung in sich tr~gt. Unter welchen Voraussetzungen es dann allerdings zu einer Blastom- ausbildung kommt, kSnnen wir nich~ sagen. Wie Ostertag schon ver- schiedentlich dargelegt hat, lgl]t sieh die fast mit photographischer Treue immer wiederkehrende Gleichheit bestimmtcr Geschwulstformen des Zen- tralnervensystems kaum anders als durch dysonogenetisehe Momente erkls

Wir mtissen annehmen, da~ den Zellen der urspriinglichen Gesehwulst- matrix alle DifferenzierungsmSglichkeiten innewohnen, und dal] sie zu den verschiedensten ausrcifenden Gesehwulstformen ftihren kSnnen, wobei allerdings auch bei ausreifendem Tumor die Multipotenz der Matrix erhalten bleibt. In unseren 3 F~llen fanden wir nun bei der ersten Entnahme ausreifende Tumoren, die in ihrem Aufbau, unter Bertick- sichtigung der Vielgesta]tigkeit der Gliomformen iiberhaupt, nichts Auf- f~lliges zeigten. Nach der Operation nun, bei der in diesen F~llen die eigentliche Tumormatrix nicht, bzw. nur teilweise entfernt werden konnte, bot der an und fiir sich selbe Tumor ein vS]lig anderes Bild. Solange die multipotente Matrix sich selbst iiberlassen war, bildeten sich aus- rcifende relativ gutartige Geschwtilste. Erst nachdem das Wachstum durch die Operation ,,gestSrt" wurde, nahm es eine andere Richtung an. Die Multipotenz der Matrix fiihrte zu einem multiformen, histo- logiseh bSsartigeren Wachstum, besonders in Fall 1 und 3, ws in Fall 2 stcllenweise die Geschwulstzellen weitgehende Xhn]iehkeit mit primitiven Spongioblasten aufweisen.

Welches nun die eigentliehe Ursache fiir diese Andcrung der Wachs- tumsrichtung ist, kSnnen wir nicht entscheiden. Ob das NacMassen der ,,Gewebsspannung" (Cushing-Bailey) die wesent]iche Rolle spielt, oder ob das Bestreben, den operativen Defekt wieder zu ersetzen, zu einer iibersttirzten, vielgestaltigeren Regeneration ffihrt, kSnnen die morpho-

1 Siehe ausfiihrlich in: Anatomie mad Pathologie der raumbeengenden Pro- zesse des Sch/~dels; Neue deutsche Chirurgie; erscheint demngchst.

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~mderung des Gewebseharakters nieht radikal operierter Gliome. 477

logischen Pr~parate nicht aufzeigen. Wit kSnnen nut sagen, dab nach einer operativen ,,StSrung der Korrelation" (Fischer-Wasels) innerhalb des Tumors eine ~ d e r u n g des geweblichen Aufbaues aufgetreten ist, und dab die Multipotenz der Geschwulstmatr~x in neuer Richtung mobili- siert wurde.

Unabh~ngig yon diesen histogenetischen Erwi~gungen weisen unsere Befunde darauf bin, dab such bei anscheinend , ,gutartigem" histo- logischem Befund im Hirnpunkta t und erstem Operationsmaterial die Prognose fiir den weiteren Verlauf des Geschwulstwachstums immer mit erheblichster Vorsicht zu stellen ist.

Zusammenfassung. Bei 3 Fs yon Gliomen wurde im AnschluB an nicht radikal aus-

geffihrte Operationen anl~Blich einer sp~teren histologischen Untersuchung (weitere Operation bzw. Sektion) eine )tmderung des Gewebscharakters eindeutig festgestellt. Die vorher ausreifenden Gewebscharakter zeigenden Geschwfilste waren sparer weitgehend entdifferenziert; in einem Fall erfolgte ein Rfickschlag zu Zelltypen, die primitiven Spongioblasten sehr i~hn]ich waren.

Diese 2i~nderung der Wachstums- und Ausreifungstendenz ist bedingt dutch die Multipotenz der Geschwulstmatrix, die bei der ersten Entnahme natiirlich nicht entfernt werden konnte, sondern viehnehr dutch den Eingriff zur Reaktion auf den gesetzten Defekt gezwungen und damit in ihrer bisherigen Wachstumsart und Richtung gestSrt wurde.

Ffir den den Kliniker unterstiitzenden Pathologen ergibt sich daraus, dab er die MSglichkeit der ~nderung des Gewebscharakters nach einer nichtradikalen Gliomoperation bei der prognostischen Beurteilung des Hirnpunktats , bzw. des ersten Operationsmaterials unter allen Umsts berficksiehtigen muB.

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