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Die Rose, das Heu, das Fieber Zur Geschichtlichkeit der Allergien Christoph Klotter Wird von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin Krankheit naturalistisch-ontologisch gedacht, so sollen hier die Möglichkeiten einer historisch-kulturellen Determiniertheit von Krankheit am Beispiel allergischer Er- krankungsformen mit Hilfe von psychosomatischen Konzepten ( M itscherlich, de Boor) und von einem „histo- risch-strukturalistischen" Ansatz ( Foucault) thematisiert werden. Die Zunahme allergischer Erkrankungen wird auf dem Hintergrund des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses diskutiert. Summary: Whereas scientifically oriented medicine holds a naturalistic-ontologic view of disease, the following paper demonstrates the possibilities of a historical-cultural determinatedness of disease. This is done for the case of allergic diseases using psychosomatic ( M itscherlich, de Boor) and historic-structuralistic ( Foucault) con- cepts. The increase of allergic diseases is discussed with regard to the modern process of civilization. „Die Trennung des Körpers von der Welt ist wie die Insbesondere wurden Frauen mit Rosen der Seele vom Körper" verglichen: sie knospen, erblühen und verblü- hen, und zugleich sind sie gefährlich, weil sie (Novalis) mit ihren „Dornen" stechen und verletzen können. Mit dem aufkommenden Christentum 1. Die Rose wird der Bedeutungshof der Rose umgepolt. und das Rosenfieber Krüssmann begründet dies so: „In der Antike Die Rose hat seit Jahrtausenden in vielen Kul- war die Rose den Göttern der Liebe und des turen eine besondere Beachtung gefunden. Genusses geweiht . . . Während der Anfänge Unbestritten gilt sie als die Königin der Blu- des ersten Christentums lehnte die Kirche men. „Zahllos sind die Sagen und Legenden, in diese Blume, die mit so viel Verschwendung denen Rosen vorkommen; in fast allen Län- und Lasterhaftigkeit verknüpft war, ab, doch dem der nördlichen Halbkugel finden wir sie war ihre Ausrottung und Verehrung unmög- darüber hinaus auch auf Münzen, Wappen, lich. So kam es schließlich im 5. oder 6. Jahr- Fahnen, Siegeln, auf zahllosen Gemälden und hundert dazu, daß die Kirche klug genug war, Kunstgegenständen." (Krüssmann, 1974, S. der „Königin der Blumen" eine religiöse Be- 19) deutung zu unterlegen" (S. 224). Die Rose In der Antike symbolisierte die Rose die wurde nun zum einen Symbol für das von Je- Liebe und das Fest. In Griechenland „wird sus geopferte und vergossene Blut und zum Aphrodite, die Göttin der Liebe, als die Schöp- anderen zu dem der Reinheit und Keuschheit fern der Rosen angesehen. Als Adonis, ihr Ge- der Jungfrau Maria. liebter, auf der Jagd durch einen wilden Eber Mit dem Untergang Roms kommt auch tödlich verwundet wurde, eilte sie hinzu, und die Rosenkultur weitgehend zum Erliegen. aus seinem Blut und ihren Tränen entstanden Nur in den Klostergärten der Benediktiner herrliche, blutrote, duftende Rosen" (Krüss- kann sie ein Schattendasein fristen. Erst von mann, 1974, S.19). Oder. „Wer es sich leisten Karl dem Großen (742-814) wird ihr Anbau konnte, nahm [in Rom] seine Mahlzeiten, läs- per Dekret wieder empfohlen. sig auf Rosen ruhend, ein (berichtet Cicero, der Im 13. Jh. ist die Rose dann wieder allge- diese Mode tadelte)" (Krüssmann, 1974, S. 38). mein bekannt. Mit den Kreuzzügen kommt 22 Psychologie und Geschichte

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Die Rose, das Heu, das FieberZur Geschichtlichkeit der Allergien

Christoph Klotter

Wird von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin Krankheit naturalistisch-ontologisch gedacht, so sollenhier die Möglichkeiten einer historisch-kulturellen Determiniertheit von Krankheit am Beispiel allergischer Er-krankungsformen mit Hilfe von psychosomatischen Konzepten ( M itscherlich, de Boor) und von einem „histo-risch-strukturalistischen" Ansatz ( Foucault) thematisiert werden. Die Zunahme allergischer Erkrankungen wirdauf dem Hintergrund des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses diskutiert.

Summary: Whereas scientifically oriented medicine holds a naturalistic-ontologic view of disease, the followingpaper demonstrates the possibilities of a historical-cultural determinatedness of disease. This is done for the caseof allergic diseases using psychosomatic ( M itscherlich, de Boor) and historic-structuralistic ( Foucault) con-cepts. The increase of allergic diseases is discussed with regard to the modern process of civilization.

„Die Trennung des Körpers von der Welt ist wie die Insbesondere wurden Frauen mit Rosender Seele vom Körper" verglichen: sie knospen, erblühen und verblü-

hen, und zugleich sind sie gefährlich, weil sie(Novalis) mit ihren „Dornen" stechen und verletzen

können.Mit dem aufkommenden Christentum1. Die Rose wird der Bedeutungshof der Rose umgepolt.und das Rosenfieber Krüssmann begründet dies so: „In der Antike

Die Rose hat seit Jahrtausenden in vielen Kul- war die Rose den Göttern der Liebe und desturen eine besondere Beachtung gefunden. Genusses geweiht . . . Während der AnfängeUnbestritten gilt sie als die Königin der Blu- des ersten Christentums lehnte die Kirchemen. „Zahllos sind die Sagen und Legenden, in diese Blume, die mit so viel Verschwendungdenen Rosen vorkommen; in fast allen Län- und Lasterhaftigkeit verknüpft war, ab, dochdem der nördlichen Halbkugel finden wir sie war ihre Ausrottung und Verehrung unmög-darüber hinaus auch auf Münzen, Wappen, lich. So kam es schließlich im 5. oder 6. Jahr-Fahnen, Siegeln, auf zahllosen Gemälden und hundert dazu, daß die Kirche klug genug war,Kunstgegenständen." (Krüssmann, 1974, S. der „Königin der Blumen" eine religiöse Be-19) deutung zu unterlegen" (S. 224). Die Rose

In der Antike symbolisierte die Rose die wurde nun zum einen Symbol für das von Je-Liebe und das Fest. In Griechenland „wird sus geopferte und vergossene Blut und zumAphrodite, die Göttin der Liebe, als die Schöp- anderen zu dem der Reinheit und Keuschheitfern der Rosen angesehen. Als Adonis, ihr Ge- der Jungfrau Maria.liebter, auf der Jagd durch einen wilden Eber Mit dem Untergang Roms kommt auchtödlich verwundet wurde, eilte sie hinzu, und die Rosenkultur weitgehend zum Erliegen.aus seinem Blut und ihren Tränen entstanden Nur in den Klostergärten der Benediktinerherrliche, blutrote, duftende Rosen" (Krüss- kann sie ein Schattendasein fristen. Erst vonmann, 1974, S.19). Oder. „Wer es sich leisten Karl dem Großen (742-814) wird ihr Anbaukonnte, nahm [in Rom] seine Mahlzeiten, läs- per Dekret wieder empfohlen.sig auf Rosen ruhend, ein (berichtet Cicero, der Im 13. Jh. ist die Rose dann wieder allge-diese Mode tadelte)" (Krüssmann, 1974, S. 38). mein bekannt. Mit den Kreuzzügen kommt

22 Psychologie und Geschichte

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Die Rose, das Heu, das Fieber

eine ungewöhnlich schöne Rosenart nach Eu-ropa, die Rosa dalmaszena, mit auffallend ro-ten Blüten und einem sehr starken Duft. Ge-rade mit ihr beginnt die Renaissance der Ro-senkultur, die sich sowohl auf die antiken wiechristlichen Bedeutungen bezieht. So spielte sieeine große Rolle in den Gesängen und denFesten der Minnesänger.

Die Rose scheint aber nicht nur Symboldes Positiven gewesen zu sein: „Auf der Synodein Nimes, um 1284, wurde den Juden befohlen,eine Rose an der Brust zu tragen, damit sie vonden Christen zu unterscheiden wären undnicht die gleiche Beachtung erführen"(Krüssmann, 1974, S. 42).

Die Kultivierung und der Anbau der Roseerreichten in der Renaissance einen neuen Hö-hepunkt.

Mit der zunehmenden Verbreitung derDalmaszener-Rose in Europa entstand eineKrankheit, die Rosenfieber genannt wurde.Einer der ersten, der davon berichtet, ist Para-celsus (1493-1541): „dan kan die rosen irengeschmack geben und uns durch iren ge-schmack in ein onmacht füren und der corpusder rosen bleibt ongelezt, also wissent auch einausgehende kraft von den dingen, so sie inmenschen kompt. wiewol das corpus desselbi-gen gifts nit da ist, so ist doch die Bosheit bei-hendig mit einer solchehn schwechi, aber dassie die menschen in ein lange krankheit treiben. . . " (zit. nach Schadewaldt, 1979, Bd. 2, S. 13).

Paracelsus nahm an, daß die Rose an sichnicht giftig sei, aber ihr „geschmack", ihr Duftalso, Schwächung des Körpers und Ohnmachthervorrufen könne.

Was Paracelsus beschreibt, sind aus heuti-ger Sicht Überempfindlichkeitsreaktionenbestimmter Menschen gegen bestimmte Stoffeund Gegenstände. Zur Hervorrufung des Ro-senfiebers reichte zuweilen der Anblick vonRosen schon aus oder das Riechen ihres Dufts.Einige der davon Betroffenen wurden in ihrerBlütezeit krank, ohne direkten Kontakt mit ihrzu haben.

Diese Überempfindlichkeit gegenüber derRose wurde vor dem Beginn der Neuzeit nur inorientalischen Schriften erwähnt, und zwaretwa ab der ersten Jahrtausendwende. Bemer-kenswerterweise scheint es das Rosenfieber inder Antike nicht gegeben zu haben, obwohlauch dort, wie gesagt, die Rose verbreitet undkulturell eingebunden war.

Sind europäische Darstellungen des Ro-senfiebers im 15. Jh. nur sehr vereinzelt zu fin-den, vermehren sich Berichte hierüber im 16.und 17 Jh. sehr stark, im 18. Jh. nehmen dieQuellenangaben zu diesem Phänomen nichtab; im 19. Jh. ist von der Überempfindlichkeitgegenüber der Rose kaum noch die Rede. Un-ter der Annahme, daß die Häufigkeit vonQuellenangaben zum Rosenfieber als Indika-tor für seine reale Ausbreitung genommenwerden kann, ergibt sich demnach ein kurven-förmiger Verlauf des Rosenfiebers in Europa:es entstand im 15. Jh., nahm in den nächstenbeiden Jahrhunderten rapide zu, stagnierte im18.Jh., um dann allmählich wieder zu ver-schwinden.

Das Rosenfieber äußerte sich in vielfältigerWeise. HunnerWolf beschreibt im Jahre 1686eine Anzahl von Symptomen: „There are someto whom the odor of the rose is so harmful thatat times it causes sickness and at other times itaccelerates death. Examples of sudden deathresulting from this cause are found here andthere throughout the annals of medicine. lt isremarkable that from this same cause head-aches, toothaches, sneezing, smothering, fain-ting and eruptions of the blood are directlytraceable. I know a man who suffered a severenasal catarrh as often as he entered a rosegarden when it was in bloom, or whenever hesmelled a rose bud" (zit. nach Abramson, 1948,S. 111-112).

Die Rose wurde also für zahlreicheKrankheitssymptome verantwortlich ge-macht, sogar für Todesfälle. Krüssmann(1974, S. 235) nennt einige bekannte Persön-lichkeiten der Geschichte, die unter Rosen lit-

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Die Rose, das Heu, das Fieber

ten: „Francesco Venerio, ein Doge in Venedig,fühlte sich schlecht, wenn er den Duft einerRose einatmete; wenn er zur Kirche ging,mußten alle Rosen, die sich dort befanden,vorher weggenommen werden . . . Der Kar-dinal Henry de Cordone wurde sogar ohn-mächtig,wenn er Rosenduft einatmete. Undder Ritter de Guise wurde nicht erst dannohnmächtig, wenn er den Duft einatmete,sondern schon, wenn er eine Rose sah! FrancisBacon, der englische Lord Kanzler (1617), ge-riet in Wut, wenn er nur eine Rose sah. Mariavon Medici und Anna von Österreich ertrugenRosen nicht einmal auf Gemälden."

Die Frage, warum es zu einer Überemp-findlichkeit gegenüber Rosen kommt, wurdein der Zeit des Rosenfiebers nicht gestellt. Eswurde als Tatbestand hingenommen. Nur Va-lerianus gibt im Jahre 1678 hierzu einen Hin-weis. Ihm war aufgefallen, daß in Gemäldenmittels des Einfügens von Rosen die darge-stellten Männer der Verweiblichung und derVerweichlichung bezichtigt wurden. Er nimmtalso Bezug auf die Bedeutung der Rose alsSymbol der Frau, der Liebe und des Vergnü-gens. Seine Hypothese ist die, daß die vom Ro-senfieber betroffenen Männer gegen den Sym-bolgehalt der Rose ankämpften, sei es, weil siedirekt davor Angst hatten, sei es, daß sie sichfürchteten, selbst als effeminiert zu gelten.„There was a famous leader of soldiers whowas so opposed to pleasures that he wouldswoon as he perceived the flagrance of roses asthough this were proof that valor, howevermanly, becomes enervated by allurements"(Valerianus, zit. nach Abramson 1948, S. 112).Gerade die „großen Männern" sind davon be-troffen: „For when I was at Rome I saw OliverCaraffa, a Cardinal of great celebrity, whowas forced to withdraw every year at the timethe roses were in bloom and to shut himself upwithin the garden he had at the Quirinal"(s. o.).

Sollte die Interpretation von Valerianusstimmen, würde dies heißen, daß das Auf-kommen des Rosenfiebers als Indiz dafür zu

werten ist, daß mit dem Beginn der Neuzeitdie von der Rose symbolisierten Sachverhalteinsgesamt problematisch geworden sind.

Warum das Rosenfieber verschwunden ist,versucht kein Autor zu erklären. Klar ist nur,daß die Rose als Auslöser von Überempfind-lichkeitsreaktionen im 19. Jh. an Bedeutungsehr stark verloren hat. „The significance of ro-ses rapidly diminished. Thus, in a question-naire which was sent out by George M. Beard,a New York neurologist, in 1879, we findamong 500 replies only five who believed thatroses caused paroxysms" (Abramson, 1948, S.113).

Drei Erklärungen bieten sich als Antwortauf die obengestellte Frage an:

1. Die Rose hat allmählich ihre kulturelleBedeutung als Symbol von Weiblichkeit undLiebe verloren.

2. Die Angst vor Effeminierung ist ver-schwunden oder anders verarbeitet worden.

3. Das Rosenfieber war keine eigenstän-dige Krankheit, sondern nur ein Vorläufer desHeufiebers; fälschlicherweise wurde die Roseals auffallende Blume für etwas verantwort-lich gemacht, was tatsächlich anders bedingtwar, in dieser Logik wäre nicht das Rosenfie-ber untergegangen, sondern eine falsche Zu-schreibung.

2. Das HeufieberIm 19. Jh. ist das Heufieber entdeckt worden.Seit dieser Zeit wird das Heu bzw. Gräserpol-len für bestimmte körperliche Symptome ver-antwortlich gemacht. Zwar ist es möglich, eineGeschichte der Wiesen oder der Rasenkulturzu skizzieren, etwa im Sinne einer Kultivie-rung und Veredelung, nicht aber die Ge-schichte ihrer Bedeutung, zumindest keinerexpliziten. Ist die Rose symbolüberladen undetwas Herausragendes, so erscheint das Heubzw. das Gras gerade als ihr Gegenteil: bedeu-tungslos und gemein.

Der englische Arzt Bostock ist der erste,der aufgrund seiner eigenen Betroffenheit eine

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Die Rose, das Heu, das Fieber

ausführliche Beschreibung dieser Erkrankungim Jahre 1819 liefert: „ . . . About the begin-ning or middle of June in every year the follow-ing symptomes make their appearance,with agreater or less degree of violence. A sensationof heat and fulness is experienced in the eyes,first along the edges of the lids, and especiallyin the inner angles, but after some time overthe whole of the ball." Die ungewöhnlich akri-bische und differenzierte Beschreibung derEntzündungserscheinungen seiner Augen wirdnoch sehr lange fortgesetzt, bis er zu anderenKörperregionen übergeht: „After this state ofthe eyes has subsided for a week or ten days, ageneral fulness is experienced in the head, andparticularly about the fore part; to this suc-ceeds irritation of the nose, producing sneez-ing, which occurs in fits of extreme violence,coming an at uncertain intervals. To the sneez-ing are added a further sensation of tightnessof the chest, and a difficulty of breathing, witha general irritation of the fauces and trachea. . . " (zit. nach Schadewaldt, 1979, Bd.2, S. 39und 40).

Bostock hat damit ein Protokoll vonSymptomen des Heufiebers geschrieben, dasauch der heute vom Heufieber Betroffene un-terschreiben könnte, vielleicht aber nicht mitdieser hypochondrisch anmutenden Präzision.

Interessanterweise ist der Begriff „Heufie-ber" nicht von Medizinern, sondern von Laienbzw. Patienten anfangs des 19. Jh. geprägtworden und erst anschließend in die wissen-schaftliche Diskussion eingedrungen.

Bemerkenswert ist auch, daß die Ärzte derdamaligen Zeit, aber auch die Laien keinenZusammenhang zwischen dem Rosen- unddem Heufieber gesehen haben. Beides sprichtdafür, daß Rosen- und Heufieber unterschied-liche Krankheiten gewesen sind.

Außer dem Rosenfieber, will man diesdennoch als Vorläufer bezeichnen, gibt es inder gesamten vorhergehenden medizinischenLiteratur, sei es die griechische, die ägyptischeoder die europäisch-mittelalterliche, keine Be-schreibung von Heufieber oder ähnlichen

Phänomenen. Das Heufieber ist demnach zu-mindest in dem Sinne ein Produkt des 19. Jh.,indem es dort als solches benannt und thema-tisiert wird und indem es in dieser Zeit einemassenhafte Verbreitung gefunden hat.

Die Frage ist nun die, warum gerade im19. Jh. diese Erkrankung entstanden ist.

Die ersten Zeugen dieses neuen Phäno-mens versuchten schon darauf Antworten zufinden. Eine bestand in der Annahme des ,Ei-senbahnfiebers': „Mit dem Aufkommen der Ei-senbahn — die erste deutsche Strecke wurdebekanntlich 1835 zwischen Nürnberg undFürth eröffnet — spielte eine Zeitlang auch das,Eisenbahnfieber` eine Rolle, das sich plötzlichbei offenem Fenster und beim Passieren vonblühenden Wiesen einstellte und nach Verlas-sen der Gegend ebenso schnell wieder aufhö-ren konnte . . . Dieser ,Eisenbahnschnupfen`wurde zuerst auf die ,rasende Geschwindig-keit' oder den Zugwind zurückgeführt .. .Nach Biermer sollte die Erschütterung desReisens daran schuld sein" (Schadewaldt,1979, Bd. 2, S. 71).

Nicht nur die Eisenbahn, sondern die ge-samte Industrialisierung wurde für die Entste-hung und Zunahme des Heufiebers verant-wortlich gemacht, insbesondere die Beschleu-nigung des Lebens, die belastendere Lebens-weise und das Fehlen von Erholungsmöglich-keiten. Es wurde argumentiert, daß besondersempfindliche Menschen den veränderten Le-bensgewohnheiten nicht gewachsen seien. Diebesondere Anfälligkeit sensibler und feinerMenschen wurde u.a. aus dem Umstand gefol-gert, daß Adlige weit mehr als andere Schich-ten vom Heufieber betroffen waren. (Ob dastatsächlich stimmt, kann heute nicht mehr re-konstruiert werden). Auf jeden Fall waren diemeisten Autoren der damaligen Zeit davonüberzeugt, daß es sich beim Heufieber um eineKrankheit der besseren Kreise handelt, alsovom Adel, aber auch von Großbürgern und In-telektuellen. Dem „gemeinenen Volk" wurdesie quasi nicht zugetraut. Vermutlich vor al-lem denen nicht, die mit Gräsern und Heu be-

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Die Rose, das Heu, das Fieber

ruflich zu tun hatten: den Bauern. In dieserDenkweise erscheint das Heufieber als etwaspositiv Widernatürliches, als etwas Luxurier-tes. Diese Krankheit konnte sich quasi nichtjeder leisten.

Eine der der Ärzte des 19. Jh. entgegenge-setzte Interpretation könnte auch zum Schlußkommen, daß das einfache Volk die Ärzte nurnicht aufsuchte, schon gar nicht wegen Sym-ptomen wie Schnupfen. Aber auch wenn demso gewesen ist, daß etwa das Heufieber überdie Bevölkerungschichten gleich verteilt gewe-sen war, ändert das nichts daran, daß damalsHeufieber als fein galt.

Es wurde auch ein Zusammenhang zurNeurose angenommen: es gibt in dieser Hin-sicht verstandene Berichte über Menschen, diebei der bloßen Schilderung von Heufieber-symptomen selbst Heufieberanfälle bekamen,oder vom Lesen eines Berichtes über Heufieberoder von der Betrachtung eines Gemäldes, aufdem ein Heufeld abgebildet war usw.

„Für die Neurose sprach ferner die Beob-achtung, daß das Heufieber in dieser zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts eine Art ‚Mode-krankheit` geworden war, wohl in erster Liniedeshalb, weil allmählich die Vermutung, daßsogenannte ,bessere Kreise' bevorzugt von demLeiden befallen würden, auch bei Laien be-kannt geworden sein dürfte" (Schadewaldt,1979, Bd. 2, S. 80-81). Diese InterpretationSchadewaldts könnte noch erweitert werdenum die Annahme, daß es vielleicht im 19. Jh.als schick galt, auf die äußere Natur überemp-findlich zu reagieren, um damit den Abstandzu signalisieren, den man einerseits zur gemei-nen Naturbearbeitung, andererseits zur eige-nen inneren Natur hatte.

All die erwähnten Erklärungsansätze zumHeufieber konnten sich nicht halten. Durch dieFortschritte in der medizinisch-naturwissen-schaftlichen Forschung wurde das Heufieberals eine Überempfindlichkeitsreaktion gegenGräserpollen, die auf dem Luftweg in dieAtemwege eintreten, identifiziert. Ende des 19.Jh. setzte sich diese Erklärung allmählich

durch, und am Anfang des 20. Jh. wurde dasHeufieber der Krankheitsgruppe der Allergienzugeordnet. Aus der Vielzahl der Hypothesenzur Ätiologie des Heufiebers ging also als „Sie-ger" eine bestimmte medizinische Erklärunghervor. All die anderen Hypothesen, die psy-chische und soziale Faktoren berücksichtigten,wurden verworfen. Damit wurde das Heufie-ber aus einem sozio-psychosomatischen Zu-sammenhang herausgenommen und auf reinorganische Prozesse reduziert.

Mit einer kurzen Skizzierung der im 19. Jh.vorhandenen Theorien über die Ätiologie desHeufiebers konnte die Frage noch nicht be-antwortet werden, warum das Heufieber da-mals neu entstand bzw. sich so stark ausge-breitet hat. Aus einer medizinischen Perspek-tive ist diese Frage am wenigsten beantwort-bar, deshalb sollen nun bestimmte psychoso-matische Theorien herangezogen werden, dieErklärungsansätze für die Zunahme psycho-somatischer Erkrankungen seit Anfang des 19.Jh. anbieten.

3. Die Zivilisation alsUrsache der Zunahmeallergischer Erkrankungen

Bevor im weiteren Gründe für die Zunahmeallergischer Erkrankungen genannt werden,muß noch eine Begriffsklärung geleistet wer-den: Was sind Allergien im medizinischen undpsychosomatischen Sinne?

Der Begriff „Allergie" ist 1906 von demWiener Pädiater Pirquet geprägt worden, umdas klinische Phänomen zu kennzeichnen, daßPatienten bei erneutem Kontakt mit einemSerum — etwa bei der Pockenimpfung — uner-warteterweise anders als bei der vorherigenVerabreichung reagierten. Dieser Name hatsich trotz der „babylonischen Sprachverwir-rung auf dem Gebiet der allergischen No-menklatur . . . " (Schadewaldt, 1979, Bd. 1, S. 3)als Überbegriff für das Gesamt der Überemp-findlichkeitserscheinungen im Laufe der Jahredurchgesetzt.

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Die Rose, das Heu, das Fieber

Im medizinischen Sinne versteht manheute unter Allergie eine „spezifische Ände-rung der Immunitätslage im Sinne einerkrankmachenden Überempfindlichkeit" (Ringu. Ahlhorn, 1983, S. 14). Wesentlich dabei ist,daß die Überempfindlichkeit gegenüber Stof-fen besteht, die dem „normalen" Organismusnichts anhaben können.

Ein allergisches Krankheitsbild, das Heu-fieber, wurde schon vorgestellt, andere heutebekannte Allergien sind Anaphylaxie, Asthmabronchiale, Rhinopathia vasomotoria, Mi-gräne, Urtikaria, Quincke-Ödem.

Das Problem der Mediziner besteht darin,daß sie zwar die für die Allergie verantwortli-chen physiologischen Abläufe immer besserbeschreiben können, aber keine Antwort bis-her auf die Frage gefunden haben, warum eseigentlich zu einer Allergie kommt. Der Aller-gologie ist es also nicht gelungen, „die allergi-schen Phänomene auf eine alles erklärendeletzte Grundtatsache zurückzuführen" (Scha-dewaldt, 1979, Bd. 1, S. VIII). (Die letzte Ursa-che finden zu wollen, das ist natürlich einMythos, der zumindest bei der Erforschung desMenschen nicht eingelöst werden kann.)

Von dieser von der Medizin nicht auszufül-lenden Wissenslücke haben psychosomati-sche Theorien quasi Platz ergriffen.

Wie dies geschehen ist, soll am Beispiel desKonzepts von De Boor (1965), der ein psy-choanalytisches Standardwerk über die Psy-chosomatik der Allergien geschrieben hat, ver-anschaulicht werden: „Die psychosomatischeForschung und insbesondere die psychoanaly-tische Forschung ist auf Grund ihrer Beobach-tungen zu der Ansicht gelangt, daß bestimmteStoffe erst dadurch zu Allergenen werden, daßsie für das Individuum auf dem Weg über un-bewußte Assoziationen, unbewußte Bedeu-tungsstiftungen, pathogenen Charakter be-kommen" (S. 35). Und: „Emotionalität, unbe-wußte Bedeutungsstiftung, affektive Span-nung, psychoanalytisch ausgedrückt: Konflikt-erleben, die Art von Objektbesetzungen undAbwehrformen sind Voraussetzungen, die wir

beim Auftreten von allergischen Reaktionenbeobachten können" (S. 36). Zentral ist also imSinne De Boors, daß das Allergen für den Al-lergiker bedeutungstragend ist — etwa dieKatzenhaarallergie steht für die Abwehr vonSchwangerschaftswünschen — und daß prin-zipiell allergische Erkrankungen im Zusam-menhang mit neurotischen Konflikten zusehen sind. Allergen wie Allergie werden in ei-nen Sinnzusammenhang eingebettet. Wäh-rend für die naturwissenschaftlich orientierteMedizin Allergien pures organismisches Ge-schehen darstellen, wird sie auf diese Weise andie menschliche Subjektivität angeschlossen:keine Allergie ohne (unbewußte) menschlicheIntention und Sinn. De Boor unterstützt mitdiesem psychosomatischen Krankheitskon-zept die Annahme der Souveränität dermenschlichen Psyche: sie kann über den Kör-per und damit auch über körperliche Erkran-kungen verfügen.

Nach dieser notwendigen Begriffsbestim-mung kann nun auf das Problem der Zu-nahme allergischer Erkrankungen im 19. und20. Jh. eingegangen werden.

Gute epidemiologische Studien über Al-lergien gab es im 19. Jh. nicht, erstaunlicher-weise fehlen auch aktuelle. Daß aber Allergienin den letzten beiden Jahrhunderten stark zu-genommen haben, ist der allgemeine Ein-druck. De Boor (1965) zitiert eine Untersu-chung, wonach 24 von 26 befragten Allergo-logen von der zunehmenden Ausbreitungüberzeugt sind (S. 38). Ring und Ahlhorn(1983, S. 13) oder Fuchs (1967, S. 544) kom-men zu dem gleichen Befund.

Von medizinischer Seite gibt es zu demWarum der Zunahme wenig Hinweise. Fuchs,ein Allergologe, (1967, S. 544) vermutet, daßdie wachsende Umweltverschmutzung, all-gemeine Überforderung des Organismus, ein-genommene Schadstoffe wie Alkohol und Ni-kotin die die Zunahme bedingenden Faktorenseien.

Die Erklärungen von Psychosomatikern,die sich damit beschäftigt haben (es sind nicht

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Die Rose, das Heu, das Fieber

viele), sind insofern reichhaltiger, weil sie dieVeränderungen der gesellschaftlichen Bedin-gungen und der menschlichen Persönlichkeitzusätzlich mit einbeziehen. "Die Krankheit desMenschen muß wie jede andere seiner Lebens-bewegungen in einen Zusammenhang mit derGeschichtlichkeit einer individuellen Existenzstehen, sie muß im Gegensatz zur Krankheitder übrigen Lebewesen als überdeterminiertgelten" (Mitscherlich, 1983, a, S. 84). Und: „Ichglaube, daß es deshalb nicht erlaubt ist, beiKrankheiten, die eine so geschichtsbezogeneAusbreitung erfahren haben wie die allergi-schen, eine Pathogenese zu erwägen, die nichtPersönlichkeitsanalyse und Kulturanalyse ineiner medizinischen Anthropologie vereint"(Mitscherlich, 1983, c, S. 349).

Die Abhängigkeit psychosomatischer Er-krankungen von gesellschaftlich-historischenProzessen ist den Psychosomatikern auch inso-fern präsenter, weil die Störung, mittels dererdie erste fundierte psychosomatische Theorievon Freud entwickelt wurde, nämlich dieKonversionshysterie, in den hochindustriali-sierten Ländern quasi verschwunden ist; nichtdie Hysterie mit einer vorwiegend psychischenSymptomatik, aber die mit den klassischensomatischen Symptomen wie Lähmung, Seh-störungen, Ohnmachtsanfälle etc.

Ein gewichtiger Grund des Verschwindensist im Rahmen der psychoanalytischen Theo-rie relativ leicht zu eruieren: die sexuellen Ta-buschranken sind in den letzten einhundertJahren rapide gefallen; der neurotische Kon-flikt ist so, da die Realität und das Über-Ichdie sexuellen Triebschranken mehr zulassen,schwächer geworden. Die Konversion von psy-chischen Erregungssummen in körperlichesGeschehen braucht in diesem Ausmaß nichtmehr stattzufinden.

Mitscherlich begründet die Zunahme derAllergien folgendermaßen: Verantwortlichmacht er nicht die anwachsende Umweltver-schmutzung, sondern die „Aufhebung einerRücksicht auf den physiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus", „die Rücksichtslosigkeit,

mit der sich Arbeitsformen über die Gelegen-heiten eines physiologischen Ausgleichs bei derArbeit hinwegsetzen", „die rapide Zunahmemannigfaltiger Stimulantien fast für jeder-mann" (Mitscherlich, 1983, c, S. 349).

Wichtiger erscheint ihm noch folgendeVeränderung. „ . . . daß der Mensch unsererZivilisation in ein steigendes protektionisti-sches Abhängigkeitsverhältnis und gleichzei-tig in eine steigende Schutzlosigkeit geraten istund daß zwischen diesen gegenläufigen Ent-wicklungen ein unauflösbarer Zusammen-hang besteht und eine unausweichliche Bela-stung aus ihr entsteht" (Mitscherlich, 1983 b, S.333). Das ist eine verbrämte Kapitalismus-kritik; der Mensch in diesem System: einge-bunden in das industrielle Räderwerk undgleichzeitig freigesetzt in eine Welt, in derkeine allgemeinen Werte mehr gelten. In ei-nem anderen Aufsatz — auch überAllergien — verweist er noch auf eine weitereDeterminante der gesellschaftlichen Umwäl-zung, die zum Anstieg der Allergien beigetra-gen hat: „Die Mutter unserer Zeit ist schon oftaus der Familie durch Beruf und Lebensum-stände entfremdet und mit Sorgen und An-sprüchen belastet, die es ihr nicht möglich ma-chen, physisch und psychisch dem Kind jenestetige Anteilnahme zu geben, die es zu einerberuhigten Sammlung seiner Welterfahrungbraucht. Ist diese primäre Lebenseinheit zwi-schen Mutter und Kind vital gestört, so kön-nen die Reaktionen auf der Seite des Kindes,seinem unentfalteten Wesen entsprechend,nur ‚vegetativer' Art sein (Mitscherlich, 1983, c,S. 346).

Halliday (1984) argumentiert, wenn erGründe für die Zunahme psychosomatischerErkrankungen im 20. Jh. sucht, anders als Mit-scherlich, hat aber letztlich die gleiche Ursa-che vor Augen: die industriell-kapitalistischeWelt: „Ein Ansteigen der psychosomatischenNeuerkrankungen kann deshalb verursachtsein durch eine Veränderung der Umwelt a) inder Kindheit, in der die emotionale Entwick-lung sowohl extensiv als auch intensiv in zu-

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nehmendem Maße vor allem in den prägenita-len Phasen frustriert wird und/oder b) einerVeränderung der Erwachsenenwelt von derArt, daß immer häufiger sowohl extensive alsauch intensive störende emotionale Reaktio-nen wie Angst, Unsicherheit, Erschöpfung,Ärger, Isolierung und dergleichen provoziertwerden" (S. 159).

In einem Punkt widersprechen sich Mit-scherlich und Halliday deutlich: während Mit-scherlich die mangelnde „stetige Anteilnah-me" der Mutter als Ursache der Zunahme derAllergien ansieht, erachtet Halliday dies alspositiven Faktor für die gesunde Entwicklungdes Kindes: „Nicht vor der dritten (der genita-len) Phase der Kindheit scheint es eine größereFrustration der emotionalen Entwicklung ge-geben zu haben, und das fand statt, indemman das Kind ignorierte . . . " (S. 161).

De Boor (1965) nimmt die ArgumentationMitscherlichs auf, fügt aber noch einen ande-ren Aspekt hinzu: Er geht davon aus, daß derzentrale Konflikt der Allergiker bei den ag-gressiven Triebimpulsen liege, die weder dasKleinkind noch der Erwachsene in der zivili-sierten Welt realisieren können: „Auf der an-deren Seite haben Eltern offensichtlich einewachsende Überempfindlichkeit und Tole-ranzschwäche gegenüber den vitalen und na-türlichen aggressiven Bedürfnissen ihrer Kin-der entwickelt. Sie haben in wachsender Aus-breitung einfach Angst auch vor den norma-len, gesunden kindlichen Aggressionsäuße-rungen, die sie als unzivilisiert und patholo-gisch erleben . . . " (S. 54). Die Folge davon sei,daß die aggressiven Triebregungen unter-drückt und somit auf einem infantilen Niveauverblieben.

Ein Modell, wie die angenommene Zu-nahme allergischer Erkrankungen erklärt wer-den kann, zeichnet sich ab: veränderte gesell-schaftliche Bedingungen (Industrialisierung,Kapitalismus) führen unmittelbar oder ver-mittelt über veränderte Sozialisationsbedin-gungen zu veränderten Pesönlichkeitsorgani-

sationen und damit zu allergischen Er-krankungen.

Die Schuld an der Zunahme der Allergienwird also den kapitalistischen Arbeitsbedin-gungen, einer veränderten Mutter-Kind-Beziehung und der nicht mehr möglichen Rea-lisierung kindlicher, aggressiver Triebimpulsezugeschrieben.

4. Modelle der Geschichts-schreibung von Allergien

Bislang wurden zwei Themenkomplexe ausder Geschichte der Allergien herausgegriffenund vorgestellt:

—die Entwicklung des Rosen- und des Heu-fiebers und deren möglicher Zusammen-hang;

—Gründe für die Zunahme allergischer Er-krankungen im 19. und 20. Jahrhundert.

Unter Zuhilfenahme dieser beiden Aus-schnitte soll nun gezeigt werden, wie die Ge-schichte der Allergien geschrieben wird, wasdaran problematisch sein kann und wie sieanders konzipiert werden kann.

4.1 Kontinuität/Diskontinuität vomRosen- und vom Heufieber

Das wichtigste Werk zur Geschichte der Al-lergien stammt von dem MedizinhistorikerHans Schadewaldt: Geschichte der Allergie(1979). Es ist ein außerordentlich umfassen-des — vierbändiges — Werk, geschrieben miteiner ungewöhnlichen Akribie.

Ausführlich beschäftigt er sich auch mitder Frage, ob das Rosenfieber als Vorläuferdes Heufiebers anzusehen ist bzw. ob das Ro-senfieber im Grunde Heufieber gewesen, ihmaber der falsche Name gegeben worden ist.„Obwohl das Heufieber zu den von der Medi-zingeschichtsschreibung am gründlichstenstudierten allergischen Erkrankungen gehört..., ist es bis heute eine Streitfrage geblieben,ob es sich dabei um ein im 19. Jahrhundert neu

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auftretendes Leiden oder eine schon seit Jahr-hunderten bekannte Krankheit gehandelthabe" (Schadewaldt, Bd. 2, S. 3). Für beide Po-sitionen führt er Argumente und Quellen auf,um sich dann doch für eine zu entscheiden:„Dabei stellt sich natürlich nicht nur für denMedizinhistoriker, sondern auch für den mo-dernen Allergologen die Frage, inwieweit essich hier um eine wirkliche, durch die Rosenb-lüte ausgelöste Erkrankung gehandelt hatoder inwieweit nur die durch ihre Schönheitund den Duft imponierende Blüte als Verursa-cher eines Leidens beschuldigt wurde, dereneigentliche Ätiologie verborgen war. Es dürftekeine besondere Fantasie dazu gehören, sichklar zu machen, daß die Rose im Gegensatz zuden wenig ansehnlichen und z.T. als Unkrautbetrachteten Gräsern das Interesse der Ärztein jenen Zeiten viel eher auf sich lenkenkonnte" (Schadewaldt, 1979, Bd. 2, S. 9). Einefalsche Attribuierung ist sicher nicht auszu-schließen. Auch besitzt das Rosen- und dasHeufieber zum Teil die gleiche Symptomatik.Dennoch ist Schadewaldts Argumentationnicht sehr überzeugend; denn:—in allen Quellenangaben wird eindeutig die

Rose als Auslöser der Überempfindlich-keitsreaktionen genannt;

—wenn allein der Anblick der Rose ausreicht,um das Rosenfieber zu erzeugen, so ist esganz offensichtlich, daß kein anderer Aus-löser in Frage kommt;

—es werden auch Fälle berichtet, in denen ro-senhaltige Arzneimittel der Auslöser wa-ren, ohne daß der jeweilige Patient wußte,woraus die Arznei gemacht war, er aberaufgrund des entstehenden Rosenfiebersauf die Zusammensetzung der Arzneischließen konnte;

— viele Symptome des Rosenfiebers, wie etwaOhnmachtsanfälle, kommen beim Heufie-ber nicht vor,

—ein Zusammenhang zwischen den beidenErkrankungen wurde von Zeitgenossen desaufkommenden Heufiebers nicht ange-nommen.

Für die Annahme, das Rosenfieber als Vorläu-fer zu betrachten, hat sich Schadewaldt ver-mutlich aufgrund seines Krankheitskonzeptsentschieden. Rothschuh, ein anderer Medizin-historiker, würde dieses Konzept als „Natura-lismus" bezeichnen: „Die meisten Konzeptevon Krankheit im Abendland, zumal in derNeuzeit, stützen sich mit ihrer Phänomenolo-gie und Erklärung auf bestimmte Ansichtenvon der körperlichen Natur des Menschen undvon der sie unmittelbar beeinflussenden natür-lichen Umwelt. Hier werden Krankheitsverur-sachung und -verlauf aus Naturzusammen-hängen — naturalistisch — interpretiert" (Roth-schuh, 1978, S. 16). Der medizinische „Natura-lismus" ist ein Teil dessen, was der Medizinhi-storiker Lichtenthaeler (1982, S. 54) als „un-bewußte Metaphysik" der Medizingeschichts-schreibung bezeichnet; er meint damit eine na-turalistische, progressistische, rationalistischeund positivistische. Schadewaldt würde sichvermutlich gegen die Kennzeichnung seinerArbeit als positivistisch verwahren, weil er sei-nerseits die Positivisten unter den Medizinhi-storikern kritisiert: die anderen Kennzeich-nungen treffen aber für ihn zu: Allergie wirdvon ihm als ausschließlich „natürliche" begrif-fen, die keinen gesellschaftlich-historischenVeränderungen unterliegt; deshalb versucht erdas Rosen- und das Heufieber als letztlichidentische Krankheit zu begreifen; aufgrunddes Erkenntnisfortschritts der medizinischenWissenschaft glaubt er, das Rosenfieber unterdas Heufieber restlos subsumieren zu können.

Hierzu ist noch eine andere Operationvonnöten, nämlich die der Ausgrenzung alldieser Krankheitsberichte und Krankheits-phänomene, die dem Erscheinungsbild desHeufiebers offensichtlich nicht entsprechen,indem diese als neurotisch/hysterisch bezeich-net werden. Schadewaldt folgt darin der Ar-gumentation von Abramson: „On the onehand, unusual and bizarre clinical reactions tothe rose were described, where the patient wasaffected either by the sight or by the odor ofroses. These peculiar reactions were general in

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nature, e.g., fainting, and hardly connected ex-plicitly with allergic rhinitis as we know it to-day. On the other hand, local nasal and ocularsymptoms occurred during the time when ro-ses were in bloom. These symptoms were simi-lar to hay fever as we know it today" (1948,S.110).

Dieses Vorgehen ist nicht unproblema-tisch: das Phänomen „Rosenfieber" wird sozu-sagen getilgt, indem es in Heufieber und psy-chische Störungen aufgeteilt wird; nosologi-sche Kategorien des 20. Jh. werden an ge-schichtliche Phänomene angelegt, um dann zuAussagen zu kommen, die schon im Procederevorweggenommen sind: geschichtliche Ereig-nisse seien nichts anderes, als das, was wirheute schon kennen. Damit geht der Blick fürdas Besondere am Rosenfieber verloren, etwasein bemerkenswerter zeitlicher Verlauf oderaber der Zusammenhang zwischen dieserKrankheit und der Rose als Symbol.Psychosomatische Ansätze gehen in der Re-gel wie die Mediziner von einem geschichtsun-abhängigen Organismus aus, der allerdings inder Wechselwirkung mit einer auch ontolo-gisch konzipierten Psyche gesehen wird.

Wenige, wie Mitscherlich oder De Boor,sehen den Menschen und seine Krankheiten inAbhängigkeit von gesellschaftlich-histori-schen Bedingungen. Zwar haben diese zumVerhältnis von Rosen- und Heufieber nichtsgesagt oder geschrieben, aber in ihrem Sinnekönnte eine Eigenständigkeit des Rosen- wieauch des Heufiebers angenommen werden.Und zwar deshalb, weil sie Krankheiten in ei-nem Sinnzusammenhang sehen, z. B. derart,daß ein Stoff erst dann zu einem Allergenwird, wenn es vom Allergiker mit einer (unbe-wußten) Bedeutung versehen wird. Die Ana-lyse des Rosenfiebers würde also vom Symbol-gehalt der Rose ausgehen.

So könnte auch gefragt werden, warum abdem 19. Jh. auf einmal das Heu und das Grasals Allergene „gewählt" werden. Das Rosen-fieber wäre insofern eine eigenständige Er-krankung, als der Symbolgehalt der Rose Be-

standteil des intrapsychischen Konfliktge-schehens ist. Konflikte um Liebe und Sexuali-tät wären aus heutiger Sicht jedoch eher ödi-palen Störungen zuzurechnen, hingegen wer-den im heutigen psychoanalytischen Ver-ständnis Allergien ganz allgemein auf jedenFall den präödipalen Störungen zugeordnet.Auch deshalb kann das Rosenfieber in dieserSichtweise dem Komplex der Allergien nichteinfach untergeordnet werden.

4.2 Foucaults GenealogieEin ganz anderer, zunächst vielleicht exotischanmutender Zugang zum Problem der Kon-tinuität/Diskontinuität vom Rosen- und Heu-fieber läßt sich dem Werk Foucaults entneh-men, insbesondere dem Aufsatz Nietzsche,die Genealogie, die Historie aus dem Jahre1974, in der er in Anlehnung an Nietzsche diegenealogische Methode der historischen ge-genüberstellt. „Die Genealogie verhält sich zurHistorie nicht wie die hohe (und tiefe) Sicht desPhilosophen zum Maulwurfsblick der Gelehr-ten, vielmehr steht sie im Gegensatz zur me-tahistorischen Entfaltung der idealen Bedeu-tungen und unbegrenzten Teleologen. Siesteht im Gegensatz zur Suche nach dem ,Ur-sprung`."

Man kann sagen, daß Schadewaldt mitmetahistorischen Begriffen die Geschichte derAllergien geschrieben hat: sie ist teleologisch,weil sie von einer Geschichte des wissenschaft-lichen Fortschritts berichtet, weil die Ge-schichte der Allergien als ein kontinuierlicherErkenntnisprozeß hin zur Wahrheit beschrie-ben wird; somit ist die Suche nach dem „Ur-sprung" allergischer Erkrankungen das zent-rale Anliegen; im medizinischen Verständniswird der „Ursprung" allerdings nicht in derGeschichte, sondern im menschlichen Körpergesucht.

Foucault beschreibt die Implikationen derSuche nach dem „Ursprung" und weswegensie problematisch ist: „Vor allem, weil damitdie Suche nach dem genau abgegrenzten We-

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sen der Sache gemeint ist, die Suche nach ihrerreinsten Möglichkeit, nach ihrer in sich gekehr-ten Identität, nach ihrer unbeweglichen undallem Äußeren, Zufälligen und Zeitlichen vor-hergehenden Form.

Das ist präzise formuliert der Erkenntnis-wille der Mediziner, der sich in die Frage klei-den läßt: was ist eine Allergie? Selbstredend istdie Frage nach dem Wesen von Allergien aucheine notwendige und legitime; ohne ihre an-satzweise Beantwortung gäbe es u.a. keine an-gemessenen medizinischen Behandlungsmög-lichkeiten. Problematisch ist nicht die medizin-ische Wissenschaft, sondern ihr Quasi-Mono-pol der Erklärung von Allergien. Ein geschicht-licher Zugang zu Allergien wird damit erheb-lich eingeengt, bestimmte Fragen könnennicht mehr gestellt werden, wie: Welche ver-schiedenen historischen Szenen lassen sich be-schreiben, in denen Allergien eine Rolle spiel-ten? An welche historischen Ereignisse sind Al-lergien gekoppelt? Wie haben sich Allergiengeändert?

Eine Genealogie der Allergien würde vondem ausgehen: „Daß es hinter den Dingen ‚et-was ganz anderes' gibt: nicht ihr wesenhaftesund zeitloses Geheimnis, sondern das Ge-heimnis, daß sie ohne Wesen sind oder daß ihrWesen Stück für Stück aus Figuren, die ihmfremd waren, aufgebaut worden ist" (S. 86).Die Figuren nachzuzeichnen, die je spezifischhistorischen Anordnungen, in denen Allergieneine Rolle spielten, zu rekonstruieren, muß dieAufgabe der Genealogie der Allergien sein.

Einer genealogischen Herangehensweisewiderspräche es so, das heutige Verständnisvon Allergien auf die Geschichte zurückzupro-jizieren: „Das tröstliche Spiel der Wiederer-kennungen ist zu sprengen. Wissen bedeutetauch im historischen Bereich nicht ,wiederzu-finden' und vor allem nicht ,uns wiederzufin-den"' (S. 97).

Eine Genealogie der Allergien ist nichtmöglich mit der medizinisch-naturalistischenVorstellung eines ahistorischen Körpers. Die-sem setzt Foucault den des Leibes entgegen.

„Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein(während die Sprache sie notiert und die Ideensie auflösen). Am Leib löst sich das Ich auf (dassich eine substantielle Einheit vorgaukelnmöchte) . . . Als Analyse der Herkunft steht dieGenealogie also dort, wo sich Leib und Ge-schichte verschränken. Sie muß zeigen, wie derLeib von der Geschichte durchdrungen ist undwie die Geschichte am Leib nagt" (S.92).

Nicht der Zusammenhang von Seele undKörper — das wäre Psychosomatik — sondernvon Welt und Leib ist das, worauf Foucaultsein Augenmerk richtet. Allergien wären so einEreignis, das aus dem Zusammentreffen vongeschichtlichen Ereignissen und dem Leib ent-steht. Der Leib und seine Krankheiten wärendann etwas, woran sich die Welt nicht ab-bildet, das aber durch die Geschichte hindurchgeht und von dieser beeinflußt wird. Allergienerscheinen so nicht mehr als Symptom einerzugrundeliegenden körperlichen Störung, aberauch nicht als das eines zugrundeliegendenpsychischen Konflikts, sondern als Prägungendurch den geschichtlichen Prozeß.

4.3 Geschichte der Allergien und derProzeß der Zivilisation

Die Zunahme der Allergien im 19. und 20. Jh.wurde von Mitscherlich und De Boor zivilisa-tionskritisch interpretiert. Auch das Aufkom-men des Rosen- wie des Heufiebers läßt sichansatzweise auf dem Hintergrund des Zivilisa-tionsprozesses besser verstehen.

Norbert Elias (1969) hat eine wichtigeAnalyse zur Geschichte der Zivilisation gelie-fert, die bemerkenwerterweise bisher kaumEingang in die psychosomatische Forschunggefunden hat, obwohl sie hierzu relevant er-scheint. Er beschreibt den Prozeß der Zivilisa-tion als einen der ständig zunehmenden gesell-schaftlichen Differenzierung und Integration,an dessen Ende der affektkontrollierte, selbst-distanzierte und gepanzerte Mensch steht, dersich als homo clausus erfährt, der sich nichtmehr ausleben kann, sondern sich übt in Ver-

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nunft und selbst auferlegtem Zwang. DieserProzeß wird von Elias als notwendiger darge-stellt. Insofern sind die menschlichen „Verlu-ste" unausweichliche, die er jedoch als nicht zuhoch einschätzt: „In Wirklichkeit ist das Resul-tat des individuellen Zivilisationsprozesses nurin relativ wenig Fällen, nur an den Rändernder Streuungskurve ganz eindeutig ungünstigoder günstig. Die Mehrzahl der Zivilisiertenlebt zwischen diesen Extremen auf einer mitt-leren Linie" (Bd. 2, S.335).

Vermutlich hat Elias die „Unkosten" desZivilisationsprozesses zu niedrig eingeschätzt.Der Preis, den die zivilisierten Menschen für ihrhohes Ausmaß an Selbstkontrolle bezahlenmüssen, löst nicht nur an den „Rändern derStreuungskurve Unbehagen aus: „Seit RenéSpitz wissen wir, daß der Körper abstirbt,wenn ihm belebende Beziehungen zu anderenMenschen fehlen. ,Hospitalismus`, das habenwir inzwischen auch hinzugelernt, ist nicht nureine individuelle Krankheit, sondern auch einekrankhafte Tendenz unserer gesamten gesell-schaftlichen Organisation des Lebens . . . "(Zur Lippe, 1982, S. 25).

Zur Lippe formuliert da etwas, was immermehr Menschen fühlen und denken: da die Ge-sellschaft krank ist, werden wir auch immerkränker.

Im Sinne Elias' könnte das Rosenfieber,das etwa mit dem Beginn der Neuzeit ent-standen ist, verstanden werden als ein Resultatder beginnenden Affektkontrollierung. Mit derSelbstdisziplinierung begannen die Liebe, dasVerhältnis zu Frauen und die Ausschweifun-gen problematisch zu werden. Für Elias wirddie Zivilisierung von der Oberschicht getragenund vorangetrieben. Insofern ist es nicht ver-wunderlich, daß gerade die „großen Männer",wie Valerianus meint, vom Rosenfieber betrof-fen waren.

Das Heufieber könnte interpretiert werdenals Indiz für ein neues Stadium des Zivilisa-tionsprozesses: im negativen Sinne so, daß imLaufe der Zivilisation der Kontakt zur äuße-ren wie zur inneren Natur tendenziell verlo-

rengegangen ist und eine Folge davon ebendas Heufieber darstellt; im positiven Sinne so,daß die Modekrankheit Heufieber quasi alsOrden an die Brust geheftet wurde, um zu zei-gen, wie wenig man noch mit den gemeinen„natürlichen Dingen" zu tun hat. Heufieberwäre damit ein Zeichen des feinen, zivilisier-ten, „künstlichen" Menschen gewesen.

Die Erklärungsversuche der Psychosoma-tiker für die Zunahme allergischer Erkran-kungen im 19. und 20. Jh. lassen sich gut in dieZivilisationsanalyse Elias' einfügen. Z.B. wirdsich die Überlegung De Boors, daß die Zu-nahme der Allergien auf die gesellschaftlichsanktionierten, wenig realisierbaren Aggres-sionsimpulse und daraus folgenden Konfliktezurückzuführen ist, plausibler auf dem Hin-tergrund der Theorie von Elias darstellen; dennihm zufolge werden dem einzelnen zivilisierten,Menschen gerade spontane Aggressionsäuße-rungen nicht mehr zugestanden.

Auch die Argumente Mitscherlichs lassensich in bestimmter Weise mit Elias besser ver-stehen: die Fremd- und Selbstbeherrschungder inneren Natur des Menschen ist zu weitgegangen; die ihr zugefügte Rücksichtslosig-keit schlägt sich nieder in psychosomatischenErkrankungen.

Im Sinne Elias' ist das, was Halliday be-schreibt, nämlich die zunehmende elterlicheKontrolle der frühkindlichen Entwicklung,notwendig; ohne sie gelingt scheinbar die indi-viduelle Zivilisierung nicht. Sie wird offensicht-lich erreicht — und das erwähnt Hallidayauch — über etwa die zeitlich festgelegte Ver-sorgung des Kleinkindes mit Nahrung, an-statt, wie es früher üblich war, dem Kind danndie Brust zu geben, wenn es sie wünscht;ebenso über die Verarmung des affektiven undtaktilen Kontakts mit dem Kind.

Diese Veränderung des Erziehungsstilswird vielfach bestätigt und kritisiert, z.B. vonMontagu (1982). Seine zentrale Aussage lau-tet, daß in unserem Kulturkreis systematischder Körperkontakt, insbesondere im Umgangmit Kleinkindern, vermieden wird. Er weist

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nach, wie sich im 19. Jh. die professionellenStimmen vermehrt haben, die den Mütternvon allzu viel Zuwendung und Verwöhnungihrer Kinder abgeraten haben. Eine bemer-kenswerte Parallele ergibt sich hierbei zuTheweleits (1977) Analyse des faschistischenMannes. Dieser wird von ihm verstanden alsim Sinne Mahlers (1972) psychisch nicht zuEnde geboren. Loslösung und individuationseien gänzlich mißlungen. Den Grund hierfürsieht Theweleit darin, daß diese Männer alsKinder völlig unzureichenden taktilen Kon-takt mit ihren Eltern hatten. Ein Körper-Ichkonnte sich nicht entwickeln.

Ganz unterschiedliche Untersuchungengelangen also zu einem ähnlichen Ergebnis:vom 19. zum 20. Jh. hat sich der elterliche Er-ziehungsstil dahingehend geändert, daß denKindern taktile und affektive Zufuhr entzo-gen worden ist, um — und das ist die Vermu-tung — den realitätsgerechten zivilisierten Men-schen zu schaffen. Ein Preis hierfür ist offen-sichtlich die rapide Zunahme der Allergien.

5. AusblickVier Geschichtsschreibungsmodelle wurdenbisher vorgestellt: das medizinische, das psy-chosomatische und die Konzeptionen vonElias und Foucault. Das medizinische hat sichals wenig geeignet erwiesen; bei den drei ande-ren Konzepten ist die Frage nach ihrer Rele-vanz noch relativ unbeantwortet.

Vorgestellt wurden sie als Möglichkeitenzur Geschichtsschreibung von Allergien. DieAuslotung dieser Konzepte steht noch aus;welches brauchbarer ist, kann noch nicht ge-sagt werden. Klar zumindest ist, daß sie sichwidersprechen. Können die psychosomati-schen Ansätze und das von Elias noch als ähn-liche und integrierbare betrachtet werden, soverfolgt Foucault einen diesen entgegenge-setzten Weg: Abkehr von dem Denken der Ge-schichte als kontinuierlichem, linienförmigenProzeß, Abkehr von der Suche nach dem Ur-sprung und dem Wesen der Dinge.

Welches der konträren Konzepte „richti-ger" ist, scheint eine müßige Frage zu sein.Was hingegen interessant erscheint, ist dieAuslotung dieser Konzepte in der empirisch-historischen Arbeit.

Die hier vorgeschlagene Forschungsstra-tegie beinhaltet also keine voreilige Festlegungauf einen theoretischen Ansatz, sondern denGebrauch mehrerer und unterschiedlicher.

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Der AutorDipl-Psych. Christoph Klotter.Anschrift: Schöneberger Ufer 55, 1000 Berlin30

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