Elektromagnetische Feldtheorie Vorlesungsskript · Lehrstuhl für Technische Elektrophysik...

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Lehrstuhl für Technische Elektrophysik Technische Universität München Elektromagnetische Feldtheorie Vorlesungsskript Prof. Dr. G. Wachutka 29. November 2011

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Lehrstuhl für Technische ElektrophysikTechnische Universität München

Elektromagnetische FeldtheorieVorlesungsskript

Prof. Dr. G. Wachutka

29. November 2011

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Inhaltsverzeichnis 3

Inhaltsverzeichnis

1 Klassische Kontinuumstheorie des Elektromagnetismus 71.1 Maxwellsche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.2 Energie von elektromagnetischen Feldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.2.1 Elektrische Energiedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.2.2 Magnetische Energiedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.2.3 Allgemeine Bilanzgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.2.4 Energiebilanz des elektromagnetischen Feldes . . . . . . . . . . . 19

1.3 Potentialdarstellung des elektromagnetischen Feldes . . . . . . . . . . . . 211.3.1 Elektromagnetisches Vektor- und Skalarpotential . . . . . . . . . 211.3.2 Maxwellsche Gleichungen in Potentialdarstellung . . . . . . . . . 23

1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.4.1 Grenzflächenbedingung für die normalen Feldkomponenten . . . . 261.4.2 Grenzflächenbedingungen für die tangentialen Feldkomponenten . 29

1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 331.5.1 Das RWP der Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme . . . . . . . . . . . 37

1.5.2.1 Dirichletsches Randwertproblem . . . . . . . . . . . . . 371.5.2.2 Neumannsches Randwertproblem . . . . . . . . . . . . . 381.5.2.3 Gemischtes Randwertproblem . . . . . . . . . . . . . . . 40

1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung . . . . . . 441.5.3.1 Orthogonalentwicklung nach Eigenfunktionen des Laplace-

Operators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441.5.3.2 Lösung mittels Greenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . 471.5.3.3 Konstruktion der Greenfunktion mit Hilfe der Spiegella-

dungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501.5.4 Stationäre Stromverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1.5.4.1 Bilanz- und Transportgleichungen für elektrische Strö-mungsverteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1.5.4.2 Stationäre Strömungsfelder im Drift-Diffusions-Modell . 571.5.4.3 Stationäre Strömungsfelder im Ohmschen Transportmodell 571.5.4.4 Randwertproblem für stationäre Ohmsche Strömungsfelder 58

1.5.5 Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

2 Modellierung elektromagnetischer Vorgänge in technischen Systemen mitKompaktmodellen 632.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit Kirchhoffschen Netzwerken . . . . . . 63

2.1.1 Generelle Modellannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632.1.2 Feldtheoretische Beschreibung der Quasistationarität . . . . . . . 64

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4 Inhaltsverzeichnis

2.1.3 Synthese von Netzwerkmodellen aus funktionalen Blöcken . . . . 652.1.3.1 Funktionale Blöcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.1.3.2 Erstellung eines Kirchhoffschen Netzwerkes . . . . . . . 672.1.3.3 Kirchhoffsche Knotenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . 692.1.3.4 Kirchhoffsche Maschenregel . . . . . . . . . . . . . . . . 70

2.2 Kapazitive Speicherelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712.2.1 Kondensatoranordnungen (Geometrie und Randwertproblem) . . 712.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

2.2.2.1 Beziehung zwischen Elektrodenladungen und -potentialen 732.2.2.2 Darstellung der gespeicherten elektrischen Energie . . . 742.2.2.3 Teilkapazitätskoeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2.3 Induktive Speicherelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802.3.1 Spulenanordnungen (Geometrie und Topologie) . . . . . . . . . . 802.3.2 Induktionskoeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822.3.3 Zusammenhang mit der magnetischen Feldenergie . . . . . . . . . 85

2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre . . . . . . . . . . . 89

2.4.1.1 Wechselspannungsgenerator . . . . . . . . . . . . . . . . 892.4.1.2 Zeigerdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen . . . . . . . 962.4.2.1 Lineare Wechselstrom-Bauelemente . . . . . . . . . . . . 962.4.2.2 Elementare Beispiele für lineare Wechselstrombauelemente 972.4.2.3 Kirchhoffsche Regeln für Wechselstromschaltungen . . . 1022.4.2.4 Einfache Grundschaltungen aus R, L, C . . . . . . . . . 1032.4.2.5 Zusammenfassung zur Wechselstromrechnung . . . . . . 109

2.4.3 Leistung und Effektivwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102.4.3.1 Momentane Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102.4.3.2 Effektivwerte, Wirkleistung . . . . . . . . . . . . . . . . 1112.4.3.3 Leistungsbilanz bei energiespeichernden Bauelementen . 1142.4.3.4 Scheinleistung und Blindleistung . . . . . . . . . . . . . 117

3 Elektromagnetische Wellen in homogenen Medien 1213.1 Grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

3.1.1 Modellannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213.1.2 Differentialgleichungen für Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223.1.3 Wellengleichung für das elektromagnetische Viererpotential . . . . 1243.1.4 Physikalischer Mechanismus für die elektromagnetische Wellen-

ausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1253.2 Homogene Wellengleichung in einer Raumdimension . . . . . . . . . . . . 126

3.2.1 Vereinfachende Modellannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.2.2 Grundlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 1303.3.1 Grundlösungen der vektoriellen Wellengleichung in R

3 . . . . . . . 1303.3.2 Ebene elektromagnetische Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333.3.3 Energiedichte und Leistungsfluss ebener EM-Wellen . . . . . . . . 1353.3.4 Harmonische ebene elektromagnetische Wellen im 3D-Raum . . . 137

3.3.4.1 Linear polarisierte harmonische elektromagnetische Wellen137

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3.3.4.2 Elliptisch polarisierte harmonische elektromagnetische Wel-len . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

3.3.4.3 Komplexe Darstellung harmonischer elektromagnetischerWellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

3.3.5 Darstellung beliebiger EM-Wellen durch harmonische ebene Wellen 1413.3.6 Grundgleichungen in Fourierdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . 1423.3.7 Räumlich gedämpfte ebene elektromagnetische Wellen in Leitern . 146

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1 Klassische Kontinuumstheorie desElektromagnetismus in materiellenMedien

1.1 Maxwellsche Gleichungen

Die Grundgleichungen des Elektromagnetismus lassen sich in einem konsistenten Sys-tem partieller Differentialgleichungen zusammenfassen. Diese werden als „MaxwellscheGleichungen“ bezeichnet und lauten:

div �D = ρ (1.1)

rot �E = −∂ �B

∂t(1.2)

div �B = 0 (1.3)

rot �H = �j + ∂ �D

∂t(1.4)

Die Maxwellschen Gleichungen beschreiben Naturgesetze, die folgende physikalischeAussagen beinhalten:

• Elektrische Felder werden erzeugt

– von einer elektrischen Ladungsverteilung ρ(quasi-statisch, Gl. (1.1))

– oder durch ein schnell zeitveränderliches Magnetfeld ∂ �B

∂t(magnetische Induktion, Gl. (1.2))

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8 1.1 Maxwellsche Gleichungen

• Magnetische Felder werden erzeugt

– durch eine elektrische Stromverteilung �j(quasi-statisch, Gl. (1.4))

– oder durch ein schnell zeitveränderliches elektrisches Feld ∂ �D

∂t(Verschiebungsstrom = „elektrische Induktion“, Gl.(1.4))

• Durch das Faradaysche Induktionsgesetz (1.2) und das Ampère-Maxwellsche Ge-setz (1.4) werden das elektrische Feld und das magnetische Feld in ihrer Zeit-und Ortsabhängigkeit eng miteinander verkoppelt. Man fasst daher �E und �H alsdie beiden Komponenten einer einzigen physikalischen Feldgröße ( �E , �H ) auf, dieals „elektromagnetisches Feld“ bezeichnet wird. Nur im Falle rein statischer

Felder, wenn ∂ �B

∂t= 0 und ∂ �D

∂t= 0 gilt, sind die „elektrische Welt“ und die „ma-

gnetische Welt“ entkoppelt, und nur dann macht es Sinn, das elektrische und dasmagnetische Feld als unabhängige Feldgrößen zu behandeln.

Damit die Maxwellschen Gleichungen ein geschlossenes Differentialgleichungssystem fürdas elektromagnetische Feld ( �E , �H ) ergeben, müssen sie noch um die sogenanntenMaterialgleichungen ergänzt werden. In ihrer einfachsten Forn lauten diese:

�D = ε �E (1.5)

�B = μ �H (1.6)

�j = σ �E (1.7)

Diese Gleichungen sind keine Naturgesetze, sondern phänomenologische Modellglei-chungen mit einem beschränkten Gültigkeitsbereich, der sich aus den zugrundeliegen-den Modellannahmen ergibt (elektrisches Polarisationsmodell, Magnetisierungsmodell,Ohmsches Driftmodell usw.)

Das System (1.1) - (1.7) ist auf einem Gebiet Ω ⊂ E3 zu lösen. Nach entsprechenderSubstitution und Elimination ergibt sich ein geschlossenes System für

(�E , �H

).

Nach Vorgabe von passend gewählten Randwerten auf ∂Ω und Anfangsbedingungen fürt = t0 sind hierdurch alle elektromagnetischen Vorgänge vollständig bestimmt.

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1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

1.2.1 Elektrische Energiedichte

(i) Die elektrische Energie Wel, die im elektrischen Feld einer diskreten Ladungs-verteilung (qi, �r i)i=1, ..., N gespeichert ist, ist gleich der elektrischen Arbeit, diezum Aufbau dieser Ladungsverteilung geleistet werden muss, indem die Ladungenq1, q2, . . . , qN sukzessive aus dem Unendlichen an ihre Positionen �r 1, �r 2, . . . , �r Ngebracht werden. Um die k-te Ladung qk im elektrischen Feld der bereits in Po-sition gebrachten Ladungen q1, . . . , qk−1 an die Stelle �rk zu bewegen, muss dieArbeit

ΔW (k)el = qk · 1

4πε

k−1∑i=1

qi|�r k − �r i|

geleistet werden. Für die gesamte Arbeit ergibt sich dann:

Wel =N∑k=2

ΔW (k)el =

N∑i<k

i,k=1

14πε

qkqi|�r k − �r i| = 1

21

4πε

N∑i�=k

i,k=1

qkqi|�r k − �r i| (1.8)

(ii) Die elektrische Energie, die im elektrischen Feld einer kontinuierlichen Ladungs-verteilung ρ(�r ) gespeichert ist, lässt sich aus Gl. (1.8) dadurch ableiten, dass manρ(�r ) durch eine quasikontinuierliche, diskrete Ladungsverteilung (qi, �r i)i=1, ..., Napproximiert, welche für N → ∞ gegen ρ(�r ) konvergiert:

(qi, �r i)i=1, ..., N → ρ(�r )

Hierbei wird qi um einen Punkt �ri so „verschmiert“, dass die im Volumen d3r umden Punkt �ri enthaltene Ladung dQi(�r) gleich qi ist:

qi = dQi(�ri) = ρ(�ri) d3r

Hieraus ergibt sich für N → ∞ die folgende Substitutionsregel:

N∑i=1

{. . . , �r i, . . .} qi →∫V

{. . . , �r , . . .} ρ(�r ) d3r

wobei das Gebiet V ⊂ E3 so gewählt wird, dass ρ(�r ) außerhalb von V verschwindet.Angewandt auf die Doppelsumme in Gl. (1.8) ergibt sich damit das Doppelintegral

Wel = 18πε

∫V

∫V

ρ(�r )ρ(�r ′)|�r − �r ′| d3r d3r′ (1.9)

(iii) Die elektrische Energie wird nach Gl. (1.9) als Funktional der Feldquellen ρ(�r)dargestellt, also Wel = Wel[ρ]. Wir wollen Wel nun direkt durch die Feldgrößen�E (�r ) und �D (�r ) selbst ausdrücken, was zunächst nur in differentieller Form gelingt.

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10 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

Einer kleinen Änderung der felderzeugenden Ladungsdichte

ρ(�r ) → ρ(�r ) + δρ(�r )

entspricht eine kleine Änderung δWel[ρ, δρ] der Feldenergie, die bezüglich δρ linearapproximiert werden kann. Hierzu betrachtet man

F (α) := Wel [ρ+ αδρ] für α ∈ R

und definiert die 1. Variation von Wel bezüglich δρ als

δWel[ρ, δρ] := ddαWel [ρ+ αδρ]

∣∣∣∣∣α=0

(1.10)

Damit gilt:

Wel [ρ+ δρ] = F (1) = F (0) + dFdα

∣∣∣∣∣α=0

· 1 +O(δρ2

)

= Wel[ρ] + ddαWel [ρ+ αδρ]

∣∣∣∣∣α=0

+O(δρ2

)

= Wel[ρ] + δWel[ρ; δρ] +O(δρ2

)Die explizite Berechnung der differentiellen Änderung der elektrischen Feldenergieergibt:

δWel = ddα

⎛⎝12

14πε

∫V

∫V

(ρ(�r ) + αδρ(�r ))(ρ(�r ′) + αδρ(�r ′))|�r − �r ′| d3r d3r′

⎞⎠∣∣∣∣∣∣α=0

= 12

14πε

∫V

∫V

ddα

((ρ(�r ) + αδρ(�r ))(ρ(�r ′) + αδρ(�r ′))

|�r − �r ′|)∣∣∣∣∣

α=0d3r d3r′

= 12

14πε

∫V

∫V

(ρ(�r ) δρ(�r ′)

|�r − �r ′| + δρ(�r ) ρ(�r ′)|�r − �r ′|

)d3r d3r′

=∫V

⎛⎝ 14πε

∫V

ρ(�r ′)|�r ′ − �r | d3r′

⎞⎠︸ ︷︷ ︸

elektrostatisches Potential Φ(�r )

δρ(�r ) d3r =∫V

Φ(�r ) δρ(�r ) d3r

Hierbei ist Φ(�r ) das von der Ladungsverteilung ρ(�r ) erzeugte Coulomb-Potential.Die differentielle Änderung von Wel lautet also

δWel =∫V

Φ(�r ) δρ(�r ) d3r (1.11)

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1.2.1 Elektrische Energiedichte 11

(iv) Nun können wir δWel durch die Feldgrößen �E bzw. �D ausdrücken:

• δρ verursacht nach dem Gaußschen Gesetz eine Änderung δ �D gemäßdiv δ �D = δρ.

• �E genügt �E = −∇Φ.

• δρ sei eingeschlossen in einer Kugel K(�0 , R).

Damit folgt:

δWel =∫

K(�0 ,R)

Φ(�r ) div δ �D (�r ) d3r

= −∫

K(�0 ,R)

grad Φ(�r )︸ ︷︷ ︸−E(�r )

· δ �D (�r ) d3r +∫

∂K(�0 ,R)

Φ(�r )︸ ︷︷ ︸∼ 1R

δ �D (�r )︸ ︷︷ ︸∼ 1R2

d�a︸︷︷︸∼ R2

Für R → ∞ erhält man damit:

δWel =∫R3

�E · δ �D d3r (1.12)

(v) Dieses Ergebnis lässt sich folgendermaßen interpretieren:Wir nehmen an, das elektrische Feld trägt eine Energiedichte wel(�r ) mit sich, ausder sich die gesamte Feldenergie durch Integration berechnen lässt:

Wel =∫R3

wel(�r ) d3r

Für die 1. Variation folgt dann:

δWel =∫R3

δwel(�r ) d3r

Nehmen wir weiter an, es gebe ein Materialgesetz �D �→ �E ( �D ). Dann ergibt sichdurch Vergleich mit Gl. (1.12):

δwel = �E · δ �D (1.13)

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12 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

ist die lokale differentielle Änderung der Energiedichte des elektrischen Feldes und

wel =�D∫�0

�E ( �D ′) · d �D ′

︸ ︷︷ ︸Wegintegral im �E - �D -Raum

(1.14)

ist die (lokale) Energiedichte des elektrischen Feldes.

(vi) Im Falle eines streng linearen Dielektrikums �D = ε �E , ε = const., ergibt sich durchIntegration

wel =�D∫�0

1ε�D

′· d �D ′ = 1ε

⎡⎢⎣ Dx∫0

D′x dD′

x +Dy∫0

D′y dD′

y +Dz∫0

D′z dD′

z

⎤⎥⎦

= 12ε(D

2x +D2

y +D2z)

das einfache Ergebnis

wel = 12ε

�D2 = ε

2�E

2 = 12�E · �D (1.15)

1.2.2 Magnetische Energiedichte

(i) Die magnetische Energie Wmag, die im Magnetfeld einer Stromverteilung gespei-

chert ist, kann wegen des Verschiebungsstroms ∂�D

∂tim Ampèreschen Gesetz (1.4)

nicht entkoppelt von der elektrischen Energie im �D -Feld betrachtet werden. Wirleiten daher die magnetische Energiedichte aus einer Leistungsbilanz für das gekop-pelte elektromagnetische Feld ( �E , �H ) her. Ausgangspunkt ist die externe Leistung,die dem elektromagnetischen System zugeführt werden muss, um eine Stromver-teilung aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

(ii) Wir betrachten zunächst diskrete Ladungen qk, die sich auf Bahnkurven �rk(t) mitder Geschwindigkeit �v k(t) bewegen. Die zugeführte Leistung wird einer mechani-schen Energiequelle entnommen, die die Ladungen im elektromagnetischen Feld

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1.2.2 Magnetische Energiedichte 13

bewegt. Die Zufuhr an elektromagnetischer Leistung beträgt:

Pelmag = −N∑k=1

�F k(�r k) ·�v k

= −N∑k=1

qk(�E (�r k)+ �v k × �B (�r k)

)·�v k︸ ︷︷ ︸

0

= −N∑k=1

qk �vk · �E (�r k) (= − mechanische Leistung) (1.16)

(iii) Im Falle einer kontinuierlichen Stromverteilung �j (�r ) = ρ(�r )�v (�r ) benutzen wirwieder die Substitutionsregel

N∑k=1

{. . . , �r k, . . .} qk →∫V

{. . . , �r , . . .} ρ(�r ) d3r

und erhalten aus Gl. (1.16)

Pelmag = −∫V

ρ(�r )�v (�r ) · �E (�r ) d3r

woraus folgt:

Pelmag = −∫V

�j (�r ) · �E (�r ) d3r (1.17)

Bemerkung: Ist die Stromverteilung aus verschiedenen Trägersorten zusammenge-setzt, ergibt sich dasselbe Ergebnis.

(iv) Mit Hilfe des Ampèreschen Gesetzes rot �H = �j +∂ �D

∂tkann nun �j aus Gl. (1.17) eli-

miniert werden und Pelmag allein durch die Feldgrößen �H /�B und �E /�D dargestelltwerden:

Pelmag = −∫V

rot �H · �E d3r +∫V

�E · ∂�D

∂td3r

︸ ︷︷ ︸∫V

∂wel

∂td3r = dWel

dt

(1.18)

dWel

dt ist die Änderung des rein elektrischen Energieinhalts. Demnach muss die zu

bestimmende Änderung des magnetischen Energieinhalts dWmag

dt enthalten sein

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14 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

im Term:

−∫V

rot �H · �E d3r!=∫V

∂wmag

∂td3r

︸ ︷︷ ︸dWmag

dt

+ Energiefluss aus System durch Berandung ∂V

Für die weitere Umformung benötigen wir die Beziehung

div( �E × �H ) = ∇ · ( �E × �H )

= (∇ × �E ) · �H − (∇ × �H ) · �E

= −∂ �B

∂t· �H − rot �H · �E

wobei das Induktionsgesetz rot �E = −∂ �B

∂tbenutzt wird.

Damit folgt unter Verwendung des Gaußschen Integralsatzes:

−∫V

rot �H · �E d3r =∫V

∂ �B

∂t· �H d3r +

∫V

div( �E × �H ) d3r

=∫V

�H · ∂�B

∂td3r +

∫∂V

(�E × �H

)d�a

Wählt man für das Gebiet V eine Kugel K(�0 , R) um den Ursprung mit Radius Rund lässt R → ∞ gehen, so lässt sich mit Gl. (1.18) die zugeführte elektromagne-tische Leistung Pelmag als Summe von drei Termen darstellen:

Pelmag =∫R3

�E · ∂�D

∂t︸ ︷︷ ︸∂wel

∂t

d3r

︸ ︷︷ ︸dWel

dt

+∫R3

�H · ∂�B

∂t︸ ︷︷ ︸∂wmag

∂t

d3r

︸ ︷︷ ︸dWmag

dt

+ limR→∞

∫|�r |=R

( �E × �H ) · d�a (1.19)

Der erste Term ist nach Gl. (1.12) die Zeitableitung der elektrischen FeldenergiedWel

dt , der analog dazu gebildete zweite Term ist als zeitliche Änderung der ge-

suchten magnetischen Feldenergie dWmag

dt zu interpretieren, und der dritte Termbeschreibt den Leistungsfluss durch die Kugeloberfläche ∂K(�0 , R) nach außen (vgl.Abs. 1.2.4) im Limes R → ∞. Er lässt sich folgendermaßen abschätzen:

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1.2.2 Magnetische Energiedichte 15

Für lokalisierte Ladungen und Ströme gilt für das asymptotische Verhalten dererzeugten Felder

| �E | ∼ 1Rn

und | �H | ∼ 1Rm

mit n = 2 und m = 3 im quasistatischen Fall und n = m = 1 im dynamischen Fall(Wellenausbreitung, siehe Kap. 3). Die Oberfläche von ∂K(�0 , R) wächst mit R2;daher folgt

limR→∞

∫|�r |=R

(�E × �H

)d�a =

⎧⎪⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎪⎩0 (quasistatischer Fall)

total abgestrahlte Leistung (dynamischer Fall)

(v) Aus Gl. (1.19) lassen sich damit folgende Schlüsse ziehen:Die differentielle Änderung der gesamten magnetischen Feldenergie beträgt

δWmag =∫R3

�H (�r ) · δ �B (�r ) d3r (1.20)

Die differentielle Änderung der Energiedichte des magnetischen Feldes ist

δwmag = �H · δ �B (1.21)

woraus sich die Energiedichte des magnetischen Feldes ergibt als

wmag =�B∫�0

�H ( �B ′) · d �B ′

︸ ︷︷ ︸Wegintegral im �H - �B -Raum

(1.22)

(vi) Im Falle eines streng linearen magnetisierbaren Materials mit �B = μ �H ; μ = const.,ergibt sich durch Integration

wmag = μ

�H∫�0

�H′· d �H ′ = μ

2�H

2 = 12�H · �B = 1

2μ�B

2 (1.23)

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16 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

1.2.3 Allgemeine Bilanzgleichung

(i) Viele Gesetze der Physik lassen sich als Bilanzgleichung für eine extensive phy-sikalische Größe X formulieren. Dies ist eine Größe, die eine Volumendichtex(�r , t) dergestalt besitzt, dass zu jedem beliebigen räumlichen Gebiet V ⊂ E3(Kontrollvolumen) der in V enthaltene Mengeninhalt X(V ) als Integral

X(V ) =∫V

x(�r , t) d3r

bestimmt werden kann.

Beispiele für extensive Größen sind

Größe X Volumendichte x

Ladung Q Ladungsdichte ρel

Masse M Massendichte ρM

Teilchenzahl N Konzentration n

Energie W(el,mag) Energiedichte w(el,mag)

(ii) Die extensive Größe X besitze eine Stromdichte �J X(�r , t). Diese hat die Eigen-schaft, dass für eine gegebene differentielle, orientierte Kontrollfläche d�a = �N dadas Skalarprodukt �J X · d�a diejenige Menge der Größe X angibt, die pro Zeitein-heit die Kontrollfläche in Normalenrichtung passiert.Die aus einem Kontrollvolumen V durch seine geschlossene Oberfläche ∂V proZeiteinheit nach außen strömende Menge der Größe X ist dann gegeben durch dasFlussintegral

∫∂V

�J X · d�a .

XJ�

da N da��

XJ�

d a�

V�

V

Abbildung 1.1: Fluss der extensiven Größe X durch ein Kontrollvolumen

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1.2.3 Allgemeine Bilanzgleichung 17

(iii) Die extensive Größe X besitze eine Produktionsrate ΠX(�r , t), die angibt, welcheMenge der Größe X pro Volumeneinheit und Zeiteinheit erzeugt oder vernichtetwird. ΠX > 0 bedeutet Erzeugung, ΠX < 0 bedeutet Vernichtung von X.

(iv) Die im Volumen V enthaltene Menge X(V ) kann sich nur dadurch ändern, dassentweder ein Zufluss (oder Abfluss) durch die Hüllfläche ∂V erfolgt, oder dassinnerhalb von V eine Erzeugung (oder Vernichtung) stattfindet.Damit gilt die Bilanzgleichung in integraler Form

dX(V )dt = −

∫∂V

�J X d�a +∫V

ΠX d3r (1.24)

Das negative Vorzeichen beim Flussintegral kommt daher, dass∫∂V

�J X · d�a > 0

einen Netto-Abfluss bezeichnet, was einer Abnahme von X(V ) entspricht.

(v) Die zeitliche Änderung von X(V ) lässt sich durch die Volumendichte x(�r , t) aus-drücken:

dX(V )dt = d

dt

∫V

x(�r , t) d3r =∫V

∂x

∂t(�r , t) d3r

Eingesetzt in die integrale Bilanzgleichung (1.24) und unter Anwendung das Gauß-schen Integralsatzes auf das Flussintegral ergibt sich:∫

V

∂x

∂t(�r , t) d3r = −

∫V

div �J X(�r , t) d3r +∫V

ΠX(�r , t) d3r

für jedes beliebige Kontrollvolumen V .Damit folgt die allgemeine Bilanzgleichung in differentieller Form:

∂x

∂t= − div �J X + ΠX (1.25)

(vi) Wichtige Beispiele für Bilanzgleichungen im Bereich der Elektrodynamik sind:

• Ladungserhaltung:Mit (1.1) und (1.4) gilt:

0 ≡ div(rot �H ) = div�j + div ∂�D

∂t︸ ︷︷ ︸∂

∂tdiv �D = ∂ρ

∂t

= div�j + ∂ρ

∂t

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18 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

Daraus folgt die Ladungserhaltungsgleichung (oder Ladungskontinuitätsglei-chung):

0 = div�j + ∂ρ

∂t

Die Ladungsgenerationsrate ΠQ verschwindet (ΠQ ≡ 0), weil elektrische La-dungen weder erzeugt noch vernichtet werden können.

• Teilchenbilanz im Halbleiter:Bezeichnen n und p die Teilchendichten der beweglichen Elektronen und Lö-cher in einem Halbleiter und �Jn und �Jp die zugehörigen Teilchenstromdichten,so gilt:

Elektronen: ∂n

∂t= − div �J n +Gn

Löcher: ∂p

∂t= − div �J p +Gp

Die Teilchen-Generations-Rekombinationsraten Gn und Gp sind im allgemei-nen nicht Null, weil durch Elektron-Loch-Paarbildung bzw. Rekombinationdie Zahl der beweglichen Ladungsträger verändert werden kann. Die Ladungs-erhaltung wird hierdurch nicht verletzt.

• Energiebilanz für das elektromagnetische FeldBezeichnet welmag = wel + wmag die Energiedichte des elektromagnetischenFeldes, �J elmag die zugehörige Leistungsflussdichte und Πelmag die dem Feldzugeführte Leistungsdichte, so gilt

∂welmag

∂t+ div �J elmag = Πelmag (1.26)

Im nächsten Abschnitt sollen nun die einzelnen Terme dieser Bilanzgleichungkonkret identifiziert und durch die Feldgrößen ausgedrückt werden.

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1.2.4 Energiebilanz des elektromagnetischen Feldes 19

1.2.4 Energiebilanz des elektromagnetischen Feldes,Poynting-Vektor

(i) Die zeitliche Änderung der elektrischen und magnetischen Energiedichte ist nachGl. (1.13) und (1.21) gegeben als:

∂wel

∂t= �E · ∂

�D

∂tund ∂wmag

∂t= �H · ∂

�B

∂t(1.27)

Damit können wir wegen welmag = wel +wmag den ersten Term in der Energiebilanz(1.26) durch �E /�D und �H /�B ausdrücken. Desweiteren ist nach Gl. (1.17) die demelektromagnetischen Feld zugeführte Gesamtleistung

Pelmag = −∫V

�j · �E d3r

woraus sich für die zugeführte Leistungsdichte ergibt:

Πelmag = −�j · �E (1.28)

(meist tatsächlich negativ, wenn das elektromagnetische Feld in einem Leiter dieVerlustleistungsdichte �j · �E > 0 abgibt)Damit lautet die Energiebilanz des elektromagnetischen Feldes (1.26) nunmehr inkonkreter Form:

�E · ∂�D

∂t︸ ︷︷ ︸∂wel

∂t

+ �H · ∂�B

∂t︸ ︷︷ ︸∂wmag

∂t

+ div �J elmag = −�j · �E (1.29)

(ii) Um die Leistungsflussdichte �J elmag zu identifizieren, berechnen wir unter Verwen-dung des Induktionsgesetzes (1.2) und des Ampèreschen Gesetzes (1.4) den Aus-druck

div(�E × �H

)= rot �E · �H − �E · rot �H = − �H · ∂

�B

∂t− �E · (∂

�D

∂t+�j )

Nach Umstellen der Terme erhält man:

�E · ∂�D

∂t+ �H · ∂

�B

∂t︸ ︷︷ ︸∂welmag

∂t

+ div(�E × �H

)= −�j · �E︸ ︷︷ ︸

Πelmag

(1.30)

Der Vergleich mit Gl. (1.29) legt nahe, den Poynting-Vektor

�S := �E × �H (1.31)

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20 1.2 Energie von elektromagnetischen Feldern

mit der elektromagnetischen Leistungsflussdichte zu identifizieren. Streng genom-men kann man aber aus der Gleichheit div �J elmag = div( �E × �H ) nur folgern, dass�J elmag und �S bis auf ein additives quellenfreies Vektorfeld �S0 übereinstimmen:

�J elmag = �E × �H + �S 0 mit div �S 0 = 0 (1.32)

(iii) Ein illustratives Beispiel liefert der Fall, wenn ein elektrostatisches Feld (z.B.�E = �E0 = const.) und ein magnetostatisches Feld (z.B. �H = �H 0 = const.) vonunabhängigen Quellen (d.h. Ladungen und Strömen) erzeugt werden, also völligentkoppelt sind. Dann kann der Poynting-Vektor auf einen beliebigen konstantenWert �S = �E0 × �H0 = 0 eingestellt werden, obwohl die Leistungsflussdichte �Jelmagüberall verschwindet.

Für die integrale und differentielle Energiebilanz ist dies allerdings völlig unerheb-lich, denn ∫

∂V

�S · d�a =∫V

div �S d3r =∫V

div(�E 0 × �H 0

)d3r = 0

für jedes Kontrollvolumen V .

Der Poynting-Vektor �S = �E × �H kann dann als Leistungsflussdichte interpretiertwerden, wenn �E und �H die miteinander gekoppelten Komponenten eines dynami-schen elektromagnetischen Feldes bilden, das von einer dynamischen Quelle (z.B.Sendeantenne) erzeugt wird, bei der dieselben bewegten Ladungen sowohl das �E -Feld als auch das �H -Feld erzeugen. Dies ist typischerweise bei elektromagnetischenWellen der Fall.

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21

1.3 Potentialdarstellung des elektromagnetischen Feldes

1.3.1 Elektromagnetisches Vektor- und Skalarpotential

(i) Definition und Eigenschaften des Vektorpotentials (allgemein)

• Ein auf einem Gebiet Ω ⊂ R3 definiertes Vektorfeld �U (�r ) besitzt ein Vek-

torpotential �V (�r ), wenn es ein auf Ω differenzierbares Vektorfeld �V (�r ) gibtmit

�U (�r ) = rot �V (�r )

• In diesem Falle gilt:

div �U = div(rot �V ) = 0 in Ω

Kurzbeweis mit Nabla-Kalkül: div(rot �V ) = ∇ · ∇ × �V = 0

• In „sternförmigen“ Gebieten Ω ⊂ R3 gilt auch die Umkehrung

(Satz von Poincaré):

�U (�r ) ist stetig differenzierbar in Ω mit div �U = 0 in Ω⇒ es existiert ein Vektorpotential �V (�r ) auf Ω mit �U = rot �V in Ω

• Das Vektorpotential ist bis auf ein additives Gradientenfeld eindeutig be-stimmt; denn hat man zwei Vektorpotentiale �V und �V ′ zu �U , so gilt:

�U = rot �V = rot �V ′ ⇒ rot(�V − �V ′) = 0 in Ω

Folglich ist �V − �V ′ ein Gradientenfeld, d.h. es existiert ein Skalarfeld χ(�r )auf Ω mit �V − �V ′ = gradχ(�r ).Das heißt, alle Vektorpotentiale zu �U = rot �V haben die Form:

�V ′ = �V − gradχ(�r ) (1.33)

(ii) Elektromagnetisches Vektorpotential:Die Maxwellsche Gleichung (1.3) besagt:

div �B (�r , t) = 0 in R3 × (−∞,∞)

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22 1.3 Potentialdarstellung des elektromagnetischen Feldes

Damit existiert nach dem Satz von Poincaré ein überall definiertes Vektorfeld�A (�r , t) mit:

�B (�r , t) = rot �A (�r , t) (1.34)

�A heißt elektromagnetisches Vektorpotential.

NB: �A ist durch (1.34) nur bis auf ein additives Gradientenfeld eindeutig bestimmt:�A und �A ′ := �A − �∇χ liefern dasselbe �B -Feld. Diese als „Eichfreiheit“ bezeichne-te Eigenschaft wird benutzt, um das Vektorpotential zusätzliche „Eichbedingungen“erfüllen zu lassen.

(iii) Skalares elektromagnetisches Potential:Nach (1.2) gilt:

rot �E = −∂ �B

∂t

(1.34)= − ∂

∂trot �A = − rot ∂

�A

∂t

⇒ rot( �E + ∂ �A

∂t) = 0

Damit ist �E + ∂ �A

∂tein Gradientenfeld; d.h. es existiert ein Skalarfeld Φ(�r , t) mit

�E + ∂ �A

∂t= − grad Φ

Damit erhält man für das elektrische Feld die Darstellung:

�E (�r , t) = − grad Φ(�r , t) − ∂ �A

∂t(�r , t) (1.35)

Φ heißt elektromagnetisches skalares Potential.

NB: (1.35) verallgemeinert die Potentialdarstellung �E = − grad Φ aus der Elek-trostatik auf den zeitabhängigen Fall. Daher wird Φ oft auch (schlampigerweise)elektrisches Potential genannt.

(iv) Eichtransformation:Wird das Vektorpotential gemäß �A ′ := �A − �∇χ „umgeeicht“, so muss auch dasskalare Potential transformiert werden, damit (1.35) gültig bleibt:

∇Φ′ + ∂ �A ′

∂t= ∇Φ′ + ∂ �A

∂t− ∂

∂t∇χ = ∇

(Φ′ − ∂χ

∂t

)+ ∂ �A

∂t

!= ∇Φ + ∂ �A

∂t

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1.3.2 Maxwellsche Gleichungen in Potentialdarstellung 23

Daher muss für Φ′ gelten:

Φ′ − ∂χ

∂t!= Φ + (const.)

Wir erhalten damit folgenden Satz:Die „umgeeichten“ elektromagnetischen Potentiale

�A ′(�r , t) = �A (�r , t) − ∇χ(�r , t) (1.36a)

Φ′(�r , t) = Φ(�r , t) + ∂χ

∂t(�r , t) (1.36b)

liefern für beliebige Eichfunktionen χ(�r , t) dasselbe �E - und �B -Feld wie �A und Φ.Beweis: In (1.34) und (1.35) einsetzen.

1.3.2 Maxwellsche Gleichungen in Potentialdarstellung

(i) Durch Einführen der elektromagnetischen Potentiale(Φ, �A

)sind die homogenen

Maxwellgleichungen

div �B = 0 und rot �E + ∂ �B

∂t= 0

identisch erfüllt. Zur Berechnung von(Φ, �A

)aus den gegebenen Quellen, der La-

dungsverteilung ρ und der Stromdichte �j , werden die inhomogenen Maxwellglei-chungen (1.1) und (1.4) benutzt. Setzt man die Gültigkeit der linearen Material-gleichungen (1.5) und (1.6) voraus, so erhält man durch Einsetzen des Potential-ansatzes (1.34) und (1.35) in die inhomogenen Maxwellgleichungen:

ρ = div �D = div(ε �E

)= − div (ε∇Φ) − ∂

∂tdiv

(ε �A

)

�j = rot �H − ∂ �D

∂t= rot

(1μ

rot �A)

+ ∂

∂t(ε∇Φ) + ∂

∂t

⎛⎝ε ∂ �A∂t

⎞⎠Man hat nun ein 4-komponentiges partielles Differentialgleichungssystem für dieUnbekannten

(Φ, �A

)bei gegebenen Quellen ρ und �j :

div(ε∇Φ) + ∂

∂tdiv(ε �A ) = −ρ (1.37)

rot(

rot �A)

+ ε∂2 �A

∂t2+ ε ∇

(∂Φ∂t

)= �j (1.38)

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24 1.3 Potentialdarstellung des elektromagnetischen Feldes

Ziel ist nun die Entkopplung dieser Gleichungen bezüglich �A und Φ, indem mandiese zusätzlichen „Eichbedingungen“ unterwirft, die durch eine passende Wahlder Eichfunktion χ erfüllt werden.

(ii) Lorenzeichung:

• Seien ε und μ (stückweise) räumlich konstant. Mit einer geeigneten Eichfunk-tion χ lässt sich die Lorenzeichung

div �A + εμ∂Φ∂t

= 0 (1.39)

erfüllen.

• Damit lässt sich �A aus (1.37) eliminieren, und man erhält für das skalarePotential Φ die Wellengleichung

ΔΦ − εμ∂2Φ∂t2

= −ρ

ε(1.40)

• Um auch Gl. (1.38) zu vereinfachen, berechnen wir

rot(rot �A

)= ∇ ×

(∇ × �A

)= ∇(div �A ) − Δ �A

Weiterhin können wir mit Hilfe der Eichbedingung (1.39) die Größe ∂Φ∂t

aus(1.38) eliminieren; man erhält so:

∇(div �A ) − Δ �A + εμ∂2 �A

∂t2+ ∇

(εμ

∂Φ∂t

)︸ ︷︷ ︸−∇(div �A )

= �j μ

Daraus folgt nun auch für das Vektorpotential �A die Wellengleichung:

Δ �A − εμ∂2 �A

∂t2= −μ�j (1.41)

Man hat somit eine vollständige Entkoppelung der Bestimmungsgleichungenfür die elektromagnetischen Potentiale

(Φ, �A

)erreicht, die nun beide der

strukturell gleichen Differentialgleichung genügen. Dies spiegelt sich in fol-

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1.3.2 Maxwellsche Gleichungen in Potentialdarstellung 25

dender Kompaktschreibweise wieder:

(Δ − εμ∂2

∂t2)︸ ︷︷ ︸

Wellenoperator

⎛⎜⎝Φ�A

⎞⎟⎠ = −⎛⎜⎝ρ/εμ�j

⎞⎟⎠ (1.42)

• Drückt man in einem kartesischen Koordinatensystem das Vektorpotential �Adurch seine kartesischen Komponenten (A1, A2, A3)T aus, so kann man dievierkomponentige Größe (Φ/c, A1, A2, A3)T (mit c := 1/√εμ) bilden („Vie-rerpotential“).Zudem kann man ρ und �j zu einer „Viererstromdichte“ (ρc, j1, j2, j3)T zusam-menfassen. Alle vier Komponenten des Viererpotentials bzw. Viererstromshaben dieselbe physikalische Einheit (V s

mbzw. A/m2) und werden in der

Wellengleichung (1.42) gleich behandelt. Jede Komponente des Viererstromsist Quelle für die entsprechende Komponente des Viererpotentials. Diese 4-dimensionale Betrachtungsweise entspricht dem Vorgehen in der speziellenRelativitätstheorie (4-dimensionale Raum-Zeit).

(iii) Coulombeichung:Diese Eichung zielt auf eine Zerlegung des elektrischen Feldes in eine quasistatischeund eine hochfrequente wellenartige Komponente.

• Seien ε, μ (stückweise) räumlich konstant. Mit einer passend gewählten Eich-funktion χ lässt sich die Coulombeichung (oder optische Eichung) erfül-len:

div �A = 0 (1.43)

• Mit dieser Eichbedingung vereinfacht sich Gl. (1.37) zur Poissongleichung:

div(ε∇Φ) = −ρ(�r , t) (1.44)

Sie ist instantan bezüglich der Zeit t und sieht formal aus wie im elektrostati-schen Fall, obwohl Φ(�r , t) das elektromagnetische Skalarpotential ist. Diesesfolgt dem zeitlichen Verlauf der felderzeugenden Ladung ρ(�r , t) ohne Verzöge-rung (ohne „Retardierung“), kann also keine Wellenausbreitung beschreiben.

• Mit der Eichbedingung div �A = 0 vereinfacht sich (1.38) zu:

Δ �A − εμ∂2 �A

∂t2= −μ

(�j − ε

∂t(∇Φ)

)︸ ︷︷ ︸

�j t

(1.45)

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26 1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen

Dies ist eine Wellengleichung für das Vektorpotential �A mit der transversalenStromdichte �j t := �j − ε

∂t(grad Φ).

Diese ist divergenzfrei (zum Beweis bilde man die Diverganz von Gl. (1.38)),stellt also ein reines Wirbelfeld dar, zu dem neben der Stromdichte �j auch dieZeitableitung der Ladungsdichte ρ beiträgt, indem man die Lösung der Pois-songleichung (1.44) auf der rechten Seite von (1.45) einsetzt. Die Lösungen�A beschreiben die wellenartige Ausbreitung des elektromagnetischen Feldesmit Retardierungseffekt.

1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen

Wir nehmen an, dass zwar in zusammenhängenden räumlichen Gebieten die linearenMaterialgesetze (1.5)-(1.7) stückweise gültig sind, dass aber die Materialkoeffizientenε, μ und σ entlang von Grenzflächen zwischen benachbarten Gebieten unstetig ihrenWert ändern. Das elektrische und das magnetische Feld sind dann an diesen Grenzflä-chen nicht differenzierbar und einzelne ihrer Komponenten sind nicht einmal mehr stetig.Stattdessen gelten beim Übergang über eine Materialgrenze für die normalen und dietangentialen Feldkomponenten gewisse Übergangsbedingungen, die im folgenden disku-tiert werden.

1.4.1 Grenzflächenbedingung für die normalen Feldkomponenten

(i) Das Vektorfeld �U (�r ) erfülle in benachbarten Gebieten Ω1 und Ω2 aus zwei ver-schiedenen Materialien 1© und 2© die Differentialgleichung:

div �U = γ (1.46)

mit einer gewissen stetigen und beschränkten Volumendichte γ(�r ).

Beispiele hierfür sind div �D = ρ oder div �B = 0.

An der Grenzfläche Σ zwischen den beiden Gebieten Ω1 und Ω2 existiere eineGrenzflächendichte ν(�r ) der durch γ(�r ) beschriebenen extensiven Größe (ist z.B.γ = ρ = Raumladungsdichte, so ist ν = σ die Oberflächenladungsdichte). Ander Grenzfläche kann �U nicht differenziert werden und deshalb kann Gl. (1.46)nicht verwendet werden. Stattdessen gilt für ein Kontrollvolumen V , welches dieGrenzfläche Σ schneidet, V ∩ Σ = ∅ (vgl. Abb. 1.2), die integrale Beziehung

∫∂V

�U · d�a =∫V

γ d3r +∫

V ∩Σ

ν da (1.47)

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1.4.1 Grenzflächenbedingung für die normalen Feldkomponenten 27

V�

2�

V ��

1�

Abbildung 1.2: Grenzfläche Σ zwischen verschiedenen Materialbereichen und Kontroll-volumen V zur Ableitung der Sprungbedingung

(ii) Für einen Punkt �r 0 ∈ Σ auf der Grenzfläche sei �N (�r 0) die Oberflächeneinheits-normale, die vom Material 1© zum Material 2© zeigt. Z sei ein kleines zylin-derförmiges Kontrollvolumen, dessen Stirnflächen A1 und A2 in den Gebieten Ω1und Ω2 liegen, wobei A1 und A2 kongruent zur Schnittfläche Σ ∩ Z gewählt sind(vgl. Abb. 1.3). Der Abstand von A1 und A2 sei Δh und entspricht der Höhe desZylindermantels M .

1�

1A

0r ���

2�

h�

2A

0( )N r

Kontrollvolumen Z

Abbildung 1.3: Zylindrisches Kontrollvolumen

Gl. (1.47) hat nun die spezielle Form∫A1

�U · d�a +∫A2

�U · d�a +∫M

�U · d�a =∫Z

γ d3r +∫

Z∩Σ

ν da

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28 1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen

Bezeichnet |A| den Flächeninhalt von Z ∩ Σ, so ist |A1| = |A2| = |A|.Für Δh → 0 verschwinden

∫M

�U · d�a und∫Z

γ d3r; die verbleibenden Integrale

ergeben mit Hilfe des Mittelwertsatzes

lim�r →�r 0�r ∈Ω1

(−�U (�r ) · �N (�r 0)

)|A| + lim

�r →�r 0�r ∈Ω2

�U (�r ) · �N (�r 0)|A| = ν(�r 0)|A|

Mit der Definition�U j · �N (�r 0) := lim

�r →�r 0�r ∈Ωj

�U (�r ) · �N (�r 0)

für die einseitigen Grenzwerte der Normalkomponenten von �U erhalten wir diegesuchte Sprungbedingung

�U 2 · �N − �U 1 · �N = ν auf Σ�N zeigt von 1© nach 2© (1.48)

(iii) Wir wenden nun die obige Aussage auf die dielektrische Verschiebung �D an. Mit�U = �D , γ = ρ =Raumladungsdichte, ν = σint = Grenzflächenladungsdichte lautetdie Sprungbedingung für �D :

�D 2 · �N − �D 1 · �N = σint auf Σ( �N weist von 1© nach 2©)

(1.49)

Der Sprung in der Normalkomponente von �D längs Σ ist gleich der Grenzflächen-ladungsdichte σint auf Σ.

Speziell gilt bei verschwindender Grenzflächenladungsdichte:

Falls σint = 0 ⇒ �D 1 · �N = �D 2 · �N auf Σ“Normalkomponente von �D ist stetig”

(1.50)

(iv) Die magnetische Induktion erfüllt überall die Bedingung div �B = 0. Es gibt wedereine Volumendichte γ noch eine Grenzflächendichte ν, also �U = �B , γ = ν = 0.Damit folgt als Sprungbedingung für �B :

�B 1 · �N = �B 2 · �N auf Σ“Normalkomponente von �B ist stetig”

(1.51)

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1.4.2 Grenzflächenbedingungen für die tangentialen Feldkomponenten 29

1.4.2 Grenzflächenbedingungen für die tangentialenFeldkomponenten

(i) Das Vektorfeld �U (�r ) erfülle in benachbarten Gebieten Ω1 und Ω2 aus verschiedenenMaterialien 1© und 2© die Differentialgleichung

rot �U = �J + �V (1.52)

mit einer stetigen Flussdichte �J und einem beschränkten Vektorfeld �V (�r ).

Beispiele hierfür sind rot �H = �j + ∂ �D

∂toder rot �E = �0 − ∂ �B

∂t.

Auf der Grenzfläche Σ zwischen den beiden Gebieten Ω1 und Ω2 existiere eineGrenzflächenflussdichte �ν (�r ) der durch �J beschriebenen extensiven Größe (istz.B. �J = �j die elektrische Stromdichte, so ist �ν = �i die elektrische Oberflächen-stromdichte).Diese Grenzflächenflussdichte ist ein Vektorfeld, das stets in der Tangentialebenevon Σ verläuft.

A�

n�

2�

A�

1�

A

Abbildung 1.4: Grenzfläche Σ zwischen verschiedenen Materialbereichen und Kontroll-fläche A zur Ableitung der Sprungbedingung.

An der Grenzfläche kann �U nicht differenziert werden und deshalb kann die dif-ferentielle Formulierung (1.52) nicht verwendet werden. Stattdessen gilt für eineKontrollfläche A mit positiv orientierter Randkurve C = ∂A, welche die Grenzflä-

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30 1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen

che Σ schneidet (vgl. Abb. 1.4), die integrale Beziehung

∫∂A

�U d�r =∫A

�J d�a +∫A

�V d�a +∫

A∩Σ

�ν ·�n ds (1.53)

wobei �n die orientierte Oberflächennormale von A bezeichnet ( d�a = �n da) undds das differentielle Linienelement entlang der Schnittlinie von A mit Σ (d.h. derKurve A ∩ Σ).

(ii) Für einen Punkt �r 0 ∈ Σ auf der Grenzfläche sei �N (�r 0) = �N die vom Material1© zum Material 2© weisende Oberflächennormale und �t (�r 0) = �t ein Tangential-

vektor an Σ. Wir betrachten nun eine kleine rechteckige Kontrollfläche A, die aufder Tangentialebene senkrecht steht und �r 0 als Mittelpunkt hat (Abb. 1.5). Diebeiden Kanten γ1 und γ3 haben die Kantenlänge Δl und verlaufen parallel zu �tin den Gebieten Ω2 und Ω1, die beiden Kanten γ2 und γ4 haben die KantenlängeΔb und verlaufen parallel zu N teilweise in Ω1 und teilweise in Ω2. Mit dem inAbb. 1.5 definierten Umlaufsinn hat das Rechteck A die orientierte Oberflächen-normale �n = �N × �t .

2N b � � ��

b�

4N b � ��

3t l � � ��

1t l � ��

l�

t�

0r�

�1

2

N�

Abbildung 1.5: Rechteckige Kontrollfläche senkrecht zur Grenzfläche Σ

Gl. (1.53) hat nun die spezielle Form:

4∑i=1

∫γi

�U d�r =∫A

(�J + �V

)·�n da+

∫Σ∩A

�ν ·�n ds

Mit Hilfe des Mittelwertsatzes lassen sich die einzelnen Integrale wie folgt aus-drücken:

�U (�r 1) ·�tΔl − �U (�r 3) ·�tΔl + �U (�r 4) · �N Δb− �U (�r 2) · �N Δb=(�J (�r ∗

0) + �V (�r ∗0))

·�nΔlΔb+ �ν (�r ∗∗0 ) ·�nΔl

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1.4.2 Grenzflächenbedingungen für die tangentialen Feldkomponenten 31

wobei �r i Stützpunkte auf γi und �r ∗0 sowie �r ∗∗

0 Stützpunkte auf A bzw. Σ ∩ Abezeichnen. Im Limes Δb → 0 verschwinden alle Terme proportional zu Δb; nachDivision durch Δl und anschließender Grenzwertbildung Δl → 0 verbleiben dieTerme

lim�r →�r 0�r ∈Ω2

�U (�r ) ·�t (�r 0) − lim�r →�r 0�r ∈Ω1

�U (�r ) ·�t (�r 0) = �ν (�r 0) ·�n (�r 0)

Mit der Definition�U j ·�t (�r 0) := lim

�r →�r 0�r ∈Ωj

�U (�r ) ·�t (�r 0)

für die einseitigen Grenzwerte der Tangentialkomponenten von �U erhalten wirschließlich die gesuchte Sprungbedingung:

�U 2 ·�t − �U 1 ·�t = �ν ·�n auf Σ (1.54)

(iii) Wir wollen die rechte Seite von Gl. (1.54) noch etwas vereinfachen. Wegen�n = �N × �t gilt:

�ν ·�n = �ν ·(�N × �t

)=(�ν × �N

)·�t

Damit lautet die Sprungbedingung:

�U 2 ·�t − �U 1 ·�t =(�ν × �N

)·�t

für jeden Tangentialvektor �t(1.55)

Die in dieser Gleichung auszurechnende Projektion auf die Tangentialebene derGrenzfläche kann noch eleganter ausgedrückt werden. Der Projektor auf die Tan-gentialebene lautet:

Π �X = �X − ( �N · �X ) · �N = − �N × ( �N × �X )

(siehe Abb. 1.6)

Es gelten nun folgende Äquivalenzen:

�X ·�t = 0 für alle �t⊥ �N (d.h. für alle Tangentialvektoren)

⇔ Π �X = 0 ⇔ �N ×(�N × �X

)= 0 ⇔ �N × �X = 0

Die letzte Äquivalenz gilt wegen − �N × �X = �N ×(�N ×

(�N × �X

))

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32 1.4 Feldverhalten an Materialgrenzen

N�

X�

X��

( )N NX� � �

Abbildung 1.6: Projektor auf die Grenzflächentangentialebene

Damit lässt sich Gl. (1.55) folgendermaßen umformen:

�U 2 ·�t − �U 1 ·�t = (�ν × �N ) ·�t für alle �t ⊥ �N ⇔

�N × �U 2 − �N × �U 1 = �N × (�ν × �N ) = �ν ( �N · �N︸ ︷︷ ︸1

) − �N ( �N ·�ν︸ ︷︷ ︸0

) = �ν

Hierbei wird benutzt, dass die Grenzflächenflussdichte �ν stets tangential zu Σverläuft.Damit erhalten wir nun die Sprungbedingung in der kompakten Formulierung

�N × �U 2 − �N × �U 1 = �ν auf Σ( �N zeigt von 1© nach 2©)

(1.56)

(iv) Ausgehend vom Induktionsgestz rot �E = −∂ �B

∂twenden wir nun obige Aussage auf

das elektrische Feld �E an. Mit �U = �E , �J = 0, �V = −∂ �B

∂tund �ν = 0 lautet die

Sprungbedingung für �E :

�E 1 × �N = �E 2 × �N auf Σbzw. �E 1 ·�t = �E 2 ·�t auf Σ

“Tangentialkomponente von �E ist stetig”

(1.57)

(v) Beim Magnetfeld �H gehen wir vom Ampèreschen Gesetz rot �H = �j + ∂ �D

∂taus

und lassen die Existenz einer Grenzflächenstromdichte �i zu.

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33

Mit �U = �H , �J = �j , �V = ∂ �D

∂tund �ν = �i lautet die Sprungbedingung für �H

dann:�N × �H 2 − �N × �H 1 =�i auf Σ( �N zeigt von 1© nach 2©)

(1.58)

Speziell gilt bei verschwindender Stromdichte �i = 0:

�H 1 × �N = �H 2 × �N auf Σbzw. �H 1 ·�t = �H 2 ·�t auf Σ

“Tangentialkomponente von �H ist stetig”

(1.59)

1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Mit Hilfe des elektrischen Potentials lässt sich die Berechnung elektrostatischer Felderauf die Berechnung einer skalaren Feldgröße Φ(�r ) zurückführen. Im Falle der Coulomb-Eichung gilt dies sogar für das elektromagnetische Skalarpotential Φ(�r , t) (vgl. Gl. (1.44)).Es ist daher zweckmäßig, sich mit einigen Grundtatsachen und Lösungsmethoden derPotentialtheorie zu beschäftigen.

1.5.1 Das Randwertproblem der Elektrostatik: Rand- undGrenzflächenbedingungen

(i) In einem dielektrischen Medium gelten im elektrostatischen Fall die Beziehungen�D = ε �E , �E = −∇Φ, div �D = ρ. Die elektrische Permittivität wird als einepositive (stückweise) differenzierbare Ortsfunktion ε(�r ) angenommen. Setzt mandiese Gleichungen ineinander ein, so gelangt man zur Poissongleichung

div(ε(�r )∇Φ) = −ρ (1.60)

Typischerweise ist diese partielle Differentialgleichung in einem Gebiet Ω ⊂ R3 zu

lösen. Für die Eindeutigkeit der Lösung müssen auf dem Rand ∂Ω Rand- bzw.Grenzflächenbedingungen formuliert werden.

(ii) In elektrisch leitenden Medien gilt bei elektrostatischen Problemstellungen die For-derung �j = 0, und da bei ohmschen Leitern �j = −σ∇Φ gilt, folgt hieraus:

∇Φ = 0

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34 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Hieraus können wir schließen:

Φ(�r ) = const. auf Leitern (1.61)

(iii) Grenzflächenbedingungen für das elektrische Potential an Materialgren-zen:Wenn zwei Gebiete Ω1 und Ω2 mit unterschiedlichen Materialeigenschaften (Per-mittivität ε1 = ε2 bzw. Leitfähigkeit σ1 = σ2) an einer gemeinsamen GrenzflächeΣ miteinander verbunden sind (Abb. 1.7), muss die Tangentialkomponente des�E -Feldes längs Σ stetig sein: �E 1 ·�t = �E 2 ·�t für jeden Tangentialvektor �t(vgl.Gl.(1.57)). Wegen �E = −∇Φ ist dann aber zu fordern, dass die Tangenti-alkomponente von ∇Φ längs Σ stetig ist. Durch Integration von �t · ∇Φ in eineminfinitesimalen Abstand „links“ und „rechts“ von Σ folgt dann:

Φ ist längs Materialgrenzen stetig

.

1

2 0

r�

1

2

t�

n�

2�

1�

Abbildung 1.7: Tangenten- und Normalenvektor an einer Materialgrenzfläche Σ zwischenzwei Dielektrika

(iv) Grenzflächenbedingungen für die Normalenableitung des Potentials:An einer Materialgrenze mit einem Sprung der Permittivität (ε1 = ε2) gilt nachGl. (1.49) für die Normalkomponente der dielektrischen Verschiebung die Sprung-bedingung �D 2 ·�n − �D 1 ·�n = σint, wobei σint eine auf der Grenzfläche Σ lokalisierteFlächenladungsdichte bezeichnet. Wegen �D = −ε∇Φ führt dies auf eine Sprung-bedingung für die Normalenableitung des Potentials:

ε1∂Φ∂n

∣∣∣∣∣1

− ε2∂Φ∂n

∣∣∣∣∣2

= σint auf Σ (1.62)

wobei∂Φ∂n

∣∣∣∣∣j

:= lim�r →�r 0�r ∈Ωj

�n (�r 0) · ∇Φ(�r ) (j = 1, 2)

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1.5.1 Das RWP der Elektrostatik 35

den jeweils einseitigen Grenzwert der Richtungsableitung von Φ entlang der vonΩ1 zu Ω2 weisenden Grenzflächen-Normalen �n bezeichnet.

(v) Einen Sonderfall stellt die Situation dar, wenn das Material 1© ein Leiter ist,während das Material 2© ein dielektrischer Isolator ist (Abb. 1.8). Im Leiter

.

E�

E�

E�

n�

.

.

.

0r�

� � const.

Leiter

Isolator

1

2

Abbildung 1.8: Leiter und Isolator mit gemeinsamer Grenzfläche

verschwindet das �E -Feld, hat also an seinem Rand die Tangentialkomponente�E 1 ·�t = 0. Wegen der Stetigkeitsbedingung (1.57) hat dann das �E -Feld auchkeine Tangentialkomponente im Grenzwert von der Seite des Isolators: �E 2 ·�t = 0.Der einseitige Grenzwert des Potentialgradienten hat somit nur eine Normalkom-ponente

−∇Φ|2 = �E 2 ⊥ Leiteroberfläche

dessen Größe sich aus der Grenzflächenladungsdichte σint auf der LeiteroberflächeΣ ergibt:Nach Gl. (1.49) gilt �D 2 ·�n = σint und wegen �D 2 = − ε2 ∇Φ|2 schließlich

ε2∂Φ∂n

∣∣∣∣∣2

= −σint auf Σ (1.63)

(vi) Ein zweiter Sonderfall liegt vor, wenn zwei dielektrische Isolatoren 1© und 2©aneinander grenzen, ohne dass auf der Grenzfläche Σ eine Oberflächenladung exis-tiert (Abb. 1.9). In dieser Situation sind die Tangentialkomponente von �E und dieNormalkomponente von �D längs Σ stetig:

�E 1 ·�t = �E 2 ·�t und �D 1 ·�n = �D 2 ·�n

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36 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Substituiert man �D j = εj �E j (j = 1, 2) und dividiert die zweite Gleichung durchdie erste, so erhält man:

1ε1

·�E 1 ·�t�E 1 ·�n = 1

ε2·�E 2 · t�E 2 ·�n (1.64)

.n�

0r�

1

22 2( )D E

� �

1 1( )D E

� �

1�

2�

Abbildung 1.9: Feldlinienknick an Materialgrenze

Bezeichnen α1 und α2 die Winkel, welche die Feldlinien mit der Oberflächen-normalen der Grenzfläche Σ in den Gebieten Ω1 und Ω2 einschließen, so gilt(vgl. Abb. 1.10)

tanαj =�E j ·�t�E j ·�n

Eingesetzt in Gl. (1.64) ergibt sich das „Brechungsgesetz für elektrische Feld-linien“

tanα1

tanα2= ε1

ε2(1.65)

E t��

E n��

Abbildung 1.10: Feldzerlegung an Materialgrenze

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1.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme 37

1.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme

In elektrotechnischen Problemstellungen sucht man Lösungen Φ der Poissongleichung(1.60) auf einem beschränkten Gebiet Ω ⊂ R

3, die auf dem Rand ∂Ω bestimmte Vorga-ben (Randbedingungen) erfüllen. Diese Aufgabenstellung wird als Randwertproblembezeichnet. Die Randbedingungen lassen sich in drei Gruppen unterteilen: Vorgabe derPotentialwerte auf ∂Ω (Dirichlet-Problem), Vorgabe der Normalenableitung ∂Φ/∂n auf∂Ω (Neumann-Poblem) oder Vorgabe einer Linearkombination von beiden (gemischtesRandwertproblem).

1.5.2.1 Dirichletsches Randwertproblem

(i) Die mathematische Problemstellung lautet: Zu lösen ist die Poissongleichungdiv(ε∇Φ) = −ρ auf einem zusammenhängenden, beschränkten Gebiet Ω ⊂ R

3 mitglattem (lipschitz-stetigem) Rand ∂Ω, auf dem die Lösung Φ einen vorgegebenenVerlauf ΦD(�r ) annimmt: Φ(�r ) = ΦD(�r ) für alle �r ∈ ∂Ω.Die Kurzform dieses Dirichletschen Randwertproblems lautet:

[Dir-RWP] div(ε∇Φ) = −ρ auf Ω und Φ|∂Ω = ΦD (1.66)

(ii) Das so formulierte Randwertproblem ist mathematisch korrekt gestellt. Es gilt derfolgende Existenz- und Eindeutigkeitssatz:

Satz: Für ε ∈ C1(Ω) mit 0 < c0 ≤ ε(�r ), ρ ∈ C(Ω) undΦD ∈ C(∂Ω) hat [Dir-RWP] eine eindeutig bestimmte klassischeLösung Φ ∈ C2(Ω) ∩ C1(Ω).

(iii) Bemerkung: Ein Gebiet Ω mit den unter (i) beschriebenen Regularitätseigenschaf-ten wird als „Normalgebiet“ bezeichnet. Es hat die wesentliche Eigenschaft, dassder Integralsatz von Gauß angewendet werden darf.

(iv) Ein typisches Beispiel für ein Dirichlet-RWP ist die Mehrelektroden-Kondensatoranordnung. Hier schließen N + 1 leitende GebieteΩ0, Ω1, . . . , ΩN ein dielektrisches Gebiet Ω ein (vgl. Abb. 1.11). Nach Gl. (1.61)sind alle ∂Ωj Äquipotentialflächen mit konstantem Potentialwert Vj.

Das Dielektrikum zwischen den Kondensatorelektroden ∂Ωj sei elektrisch neutral;d.h. es besitzt keine Raumladung: ρ ≡ 0. Das Randwertproblem besteht darin,zu gegebenen Potentialwerten (V0, V1, . . . , VN) ∈ R

N+1 auf den Elektroden daselektrische Potential Φ(�r ) im Dielektrikum Ω zu bestimmen.

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38 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

n�

n�

n�

n�

n� �

0��

3��

3�2

2��

1��

1�

n�

n��

( )r �

Abbildung 1.11: Mehrelektroden-Kondensatoranordnung

In Kurzform lautet die Problemstellung:

[V-RWP] div(ε∇Φ) = 0 in Ω und Φ|∂Ωl= Vl (l = 0, 1, . . . , N) (1.67)

Die Lösbarkeit dieses Randwertproblems garantiert der

Satz: [V-RWP] hat eine durch V = (V0, V1, . . . , VN) eindeutig bestimm-te, klassische Lösung Φ(�r ).

1.5.2.2 Neumannsches Randwertproblem

(i) Die mathematische Problemstellung lautet hier: Zu lösen ist die Poisson-gleichung div(ε∇Φ) = −ρ auf einem zusammenhängenden, beschränkten GebietΩ ⊂ R

3 mit glattem (lipschitz-stetigem) Rand ∂Ω, auf dem die Normalenablei-tung der Lösung ∂Φ

∂n(�r ) := �n · �∇ Φ(�r ) (mit �n = äußere Normale auf ∂Ω) einen

vorgegebenen Wert FN(�r ) annimmt.

Die Kurzform dieses Neumannschen Randwertproblems lautet:

[Neu-RWP] div(ε∇Φ) = −ρ auf Ω und ∂Φ∂n

∣∣∣∣∣∂Ω

= FN (1.68)

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1.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme 39

NB: De facto entspricht die Neumann-Randbedingung der Vorgabe einer Ober-flächenladungsdichte σ(�r ) = − �D (�r ) ·�n (�r ) = ε

∂Φ∂n

(�r ) (�r ∈ ∂Ω). Diese mussjedoch eine notwendige Voraussetzung erfüllen:

−∫Ω

ρ d3r =∫Ω

div(ε∇Φ) d3r =∫∂Ω

ε ∇Φ · d�a︸︷︷︸�n da

=∫∂Ω

ε∂Φ∂n

da =∫∂Ω

εFN da (1.69)

Insbesondere ist im Falle verschwindender Raumladung (ρ ≡ 0) die Bedingung∫∂Ω

εFN da != 0 notwendig für die Lösbarkeit des Randwertproblems.

Die Bedingung (1.69) hat eine sehr anschauliche Interpretation:

∫Ω

ρ d3r = −∫∂Ω

ε∂Φ∂n

da =∫∂Ω

�D · d�a =

⎧⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎩

Q(Ω) = in Ω eingeschlossene Ladung

−∫∂Ω

σ da = gesamte OF-Ladung auf ∂Ω

Die Oberflächenladung auf ∂Ω kompensiert also genau die in Ω eingeschlosseneLadung, so dass die gesamte Anordnung nach außen elektrisch neutral ist. Diegesamte Feldenergie ist somit im Inneren von Ω enthalten.

(ii) Das so formulierte Randwertproblem ist mathematisch korrekt gestellt. Es gilt derfolgende Existenz- und Eindeutigkeitssatz:

Satz: Für ε ∈ C1(Ω) mit 0 < c0 ≤ ε(�r ), ρ ∈ C(Ω), FN ∈C(∂Ω) mit

∫∂Ω

εFN da = −∫Ω

ρ d3r hat [Neu-RWP] eine bis auf

eine additive Konstante eindeutig bestimmte klassische LösungΦ ∈ C2(Ω) ∩ C1(Ω)

(iii) Ein mit dem Neumannschen-RWP eng verwandtes Problem bietet die in § 1.5.2.1bereits betrachtete Mehrelektroden - Kondensatoranordnung, wobei aber nun dieauf den Elektroden ∂Ωl befindlichen Gesamtladungen Ql vorgegebenen werden.Das Randwertproblem besteht also darin, zu gegebenen Ladungen(Q0, Q1, Q2, ..., QN) ∈ R

N+1 auf den Elektroden das elektrische Potential Φ(�r ) imDielektrikum Ω zu bestimmen. Die Lösbarkeitsbedingung (1.69) lässt sich hierbei

als LadungsneutralitätsbedingungN∑l=0

Ql = 0 ausdrücken.

In Kurzform lautet die Problemstellung:

[Q-RWP] div(ε∇Φ) = 0 in Ω und∫∂Ωl

ε∂Φ∂n

da = Ql für l = 0, 1, ..., N (1.70)

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40 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Die Lösbarkeit dieses Randwertproblems gewährleistet der

Satz: [Q-RWP] hat eine durch die Vorgabe von

Q = (Q0, Q1, ..., QN) ∈ RN+1 mit

N∑l=0

Ql = 0 bis auf eine additive

Konstante eindeutig bestimmte Lösung Φ(�r ).

1.5.2.3 Gemischtes Randwertproblem, Randbedingung dritter Art

(i) Die mathematische Problemstellung lautet hier: Zu lösen ist die Poissonglei-chung div(ε∇Φ) = −ρ auf einem Normalgebiet Ω ⊂ R

3, so dass auf dessen Rand∂Ω für gegebene Koeffizientenfunktionen α(�r ) und β(�r ) die Linearkombinationα(�r )Φ(�r ) + β(�r )∂Φ

∂n(�r ) einen vorgegebenen Wert F (�r ) annimmt.

Dabei müssen an α, β und F gewisse Forderungen gestellt werden, damit die Lös-barkeit gewährleistet ist. Diese sollen anhand der folgenden Beispiele abgeleitetwerden.

(ii) Ein erstes Beispiel stellt ein realer elektrischer Kontakt mit ohmschem Kontakt-widerstand dar (Abb. 1.12). Der Kontakt ist eine dünne Schicht der Dicke d undelektrischer Leitfähigkeit σ∂Ω, welche ein leitendes Gebiet Ω (z.B. Bauelement) derLeitfähigkeit σΩ mit der Außenfläche des Kontakts (=„Klemme“) verbindet. BeideSeiten der Kontaktschicht sind Äquipotentialflächen mit Potentialwerten Φin ander Innenseite und ΦKlemme an der Außenseite. Innerhalb der Kontaktschicht hatdas Potential einen linearen Verlauf; die elektrische Feldstärke hat den konstantenWert �E = 1

d(Φin − ΦKlemme) �n , wobei �n die äußere Normale auf ∂Ω bezeichnet.

.

��

���

d

in�

n�

KlemmeI

Klemme�

Klemme�

��

in�

( )s�

n r s� �� �

d0

Abbildung 1.12: Realer elektrischer Kontakt mit Kontaktwiderstand

Mit dem Ohmschen Gesetz �j = σ �E = −σ∇Φ und der Bedingung, dass die elek-trische Stromdichte beim Übergang von Ω in die Kontaktschicht stetig ist, folgt

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1.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme 41

folgende gemischte Randbedingung für das elektrische Potential:

IKlemme = �j ·�n = − σΩ∂Φ∂n

∣∣∣∣∣∂Ω

(!)= σ∂ΩΦin − ΦKlemme

d= γel(Φin − ΦKlemme) (1.71)

wobei σ∂Ω

d= γel als Übergangsleitwert bezeichnet wird und ΦKlemme einen vorge-

gebenen Wert besitzt. Durch Division mit σΩ erhält man aus (1.71) die üblicheForm einer gemischten Randbedingung für Φ auf der Übergangsfläche ∂Ω:

(γel

σΩΦ + ∂Φ

∂n

)∣∣∣∣∣∂Ω

= γel

σΩ︸︷︷︸hel ≥ 0

ΦKlemme auf ∂Ω (1.72)

Mit dem Übergangskoeffizienten hel := γel

σΩlässt sich diese noch kürzer formulieren:

∂Φ∂n

= hel(ΦKlemme − Φ) auf ∂Ω (1.73)

Man beachte, dass der Übergangskoeffizient hel eine positive Größe ist; dies ge-währleistet, dass der Klemmenstrom in Richtung des elektrischen Feldes fließt undstellt eine Lösbarkeitsbedingung für das gemischte Randwertproblem dar!

Mit Hilfe des Übergangskoeffizienten kann man zwischen Dirichletschen und Neu-mannschen Randbedingungen „interpolieren“:Für hel = 0 folgt die homogene Neumann-Randbedingung ∂Φ

∂n= 0 (isolierender

Rand),für hel → ∞ folgt die Dirichlet-Randbedingung Φ = ΦKlemme (idealer ohmscherKontakt).

(iii) Als zweites Beispiel betrachten wir den Wärmetransport durch Wärmeleitung ineinem Festkörper. Die Wärmestromdichte �J Q fließt dabei in Richtung des negati-ven Gradienten der Temperatur T :

�J Q = −κ∇T (1.74)

wobei κ die spezifische Wärmeleitfähigkeit bezeichnet. Dieses „ Fouriersche Gesetzder Wärmeleitung“ ist das thermische Analogon zum Ohmschen Gesetz.

Die thermische Energie gehorcht einer Bilanzgleichung der allgemeinen Form (1.25);bei stationärem Wärmefluss lautet sie:

div �J Q = ΠQ (1.75)

wobei ΠQ(�r ) die lokale Wärmeproduktionsrate („Heizleistungsdichte“) bezeichnet.

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42 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Mit �J Q aus Gl. (1.74) ergibt sich eine Poissongleichung für die Temperatur T :

div(κ∇T ) = −ΠQ (1.76)

Diese ist auf einem Gebiet Ω ⊂ R3 zu lösen, über dessen Rand ∂Ω (oder Teile

davon) die Wärme über thermische Kontakte „nach außen“ abfließen kann.

Das thermische Kontaktmodell ist analog zum elektrischen Kontaktmodell (sie-he vorheriger Abschnitt) gebildet: Der Kontakt ist eine dünne Schicht entlang∂Ω der Dicke d und der thermischen Leitfähigkeit κ∂Ω, welche das wärmelei-tende Gebiet Ω mit der Außenfläche des Kontakts verbindet. Beide Seiten derKontaktschicht sind Isothermen mit Temperaturwerten Tin an der Innenseite undText an der Außenseite. Innerhalb der Kontaktschicht hat das Temperaturprofileinen linearen Verlauf; der negative Temperaturgradient hat den konstanten Wert−∇T = 1

d(Tin − Text) �n , wobei �n die äußere Normale auf ∂Ω bezeichnet.

.

��

QJ�

d

���

n�

Q QJ n I� ��

inT

T�

extT

n r s� �� �

d0

Abbildung 1.13: Thermischer Übergang durch eine Grenzschicht

Mit dem Fourierschen Gesetz �J Q = −κ∇T und der Bedingung, dass die Wärme-stromdichte beim Übergang von Ω in die Kontaktschicht stetig ist, folgt folgendegemischte Randbedingung für die Temperatur:

IQ = �J Q ·�n = −κΩ · ∂T∂n

∣∣∣∣∣∂Ω

(!)= κ∂ΩTin − Text

d= K (Tin − Text) (1.77)

wobei κΩ und κ∂Ω die Wärmeleitfähigkeiten im Gebiet Ω und in der Kontaktschichtbezeichnen und K := κ∂Ω

dden Wärmeübergangskoeffizienten („K-Wert“) darstellt.

Die Außentemperatur Text hat einen vorgegebenen Wert. Durch Division mit κΩerhält man aus (1.77) die übliche Form einer gemischten Randbedingung für dieTemperatur T auf der Übergangsfläche ∂Ω:

(K

κΩT + ∂T

∂n

)∣∣∣∣∣∂Ω

= K

κΩ︸︷︷︸hth � 0

Text auf ∂Ω(1.78)

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1.5.2 Klassifikation der Potential-Randwertprobleme 43

Mit dem normierten Wärmeübergangskoeffizienten hth := K

κΩlässt sich diese Rand-

bedingung noch kompakter formulieren:

∂T

∂n= hth(Text − T ) auf ∂Ω (1.79)

Man beachte, dass auch in diesem Fall der Übergangskoeffizient hth eine positiveGröße ist; dies gewährleistet, dass der Wärmestrom von der höheren zur niedri-geren Temperatur fließt und stellt eine Lösbarkeitsbedingung für das gemischteRandwertproblem dar!

Mit Hilfe des Wärmeübergangskoeffizienten kann man auch hier zwischen zwei ex-tremen Situationen interpolieren:Für hth = 0 folgt die homogene Neumann-Randbedingung ∂T

∂n= 0 (völlige ther-

mische Isolation),für hth → ∞ folgt die Dirichlet-Randbedingung T = Text (Anschluss an ein Wär-mereservoir („Wärmesenke“) mit fester Temperatur Text).

(iv) Die generische Kurzform eines gemischten Randwertproblems (oder Randwert-problems dritter Art) lautet somit folgendermaßen:

Sei Ω ⊂ R3 ein Normalgebiet (zusammenhängend, beschränkt, mit lipschitz-stetigem

Rand ∂Ω). Finde eine Lösung Φ des Problems

[Mix-RWP] div(σ∇Φ) = −Π auf Ω und(∂Φ∂n

+ hΦ)∣∣∣∣∣

∂Ω= F auf ∂Ω (1.80)

Aus physikalischen und mathematischen Gründen ist hierbei zu fordern:

σ > 0 und h ≥ 0

(v) Das oben formulierte Randwertproblem ist mathematisch korrekt gestellt. Es giltder folgende Existenz- und Eindeutigkeitssatz:

Satz: Für σ ∈ C1(Ω) mit 0 < c0 ≤ σ(�r ), Π ∈ C(Ω), h ∈ C(∂Ω) mith ≥ 0, h = 0, und F ∈ C(∂Ω) hat [Mix-RWP] eine eindeutigbestimmte klassische Lösung Φ ∈ C2(Ω) ∩ C1(Ω).

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44 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung

Um ein auf der Poissongleichung basierendes Randwertproblem konkret zu lösen, gibt esneben computergestützten numerischen Techniken auch traditionelle analytische Verfah-ren, die -für hinreichend einfache Geometrien- eine explizite Lösung liefern. Im folgendensoll für drei dieser Verfahren ein kurzer Abriss gegeben werden.

1.5.3.1 Orthogonalentwicklung nach Eigenfunktionen des Laplace-Operators(Spektraldarstellung)

(i) Wir legen (exemplarisch) folgende Problemstellung zugrunde:Wir betrachten ein Normalgebiet Ω ⊂ R

3, das aus dielektrischem Material der Per-mittivität ε ∈ C1(Ω) besteht, mit 0 < c0 ≤ ε(�r ). Der Rand ∂Ω besteht aus Teilen∂Ω(D), auf denen das Potential vorgegebenen ist (Dirichletsche Randbedingung:Φ|∂Ω(D) = ΦD), und davon disjunkten Teilen ∂Ω(N), auf denen die Oberflächenla-dungsdichte σN und damit die Normalenableitung des Potentials vorgegeben ist

(Neumannsche Randbedingung: ε ∂Φ∂n

∣∣∣∣∣∂Ω(N)

= σN). Damit die Lösung der Poisson-

gleichung eindeutig ist (vgl. §1.5.2.2), muss zumindest auf einem Teil des Randesdas Potential gegeben sein, d.h. ∂Ω(D) = ∅.In Kurzform lautet die Problemstellung dieses gemischten Randwertproblems so-mit:

[M-RWP] div(ε∇Φ) = −ρ in Ω

mit Φ|∂Ω(D) = ΦD und ε∂Φ∂n

∣∣∣∣∣∂Ω(N)

= σN ,

wobei ∂Ω = ∂Ω(D) ∪ ∂Ω(N), ∂Ω(D) ∩ ∂Ω(N) = ∅, ∂Ω(D) = ∅

(1.81)

Um die eindeutige Lösung dieses Randwertproblems zu konstruieren, gehen wir indrei Schritten vor.

(ii) Lösungsschritt 1:Man konstruiere zunächst eine auf Ω definierte, hinreichend glatte FunktionΦ(0) ∈ C2(Ω) ∩ C1(Ω), welche die inhomogenen Randbedingungen erfüllt:

Φ(0)∣∣∣∂Ω(D) = ΦD und ε

∂Φ(0)

∂n

∣∣∣∣∣∂Ω(N)

= σN .

Für die Lösung Φ von [M-RWP] macht man dann den Ansatz Φ = Φ(0) + ϕ.Die Funktion ϕ ist dann eine Lösung des modifizierten Randwertproblems mit

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1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung 45

homogenen Randbedingungen:

div (ε∇ϕ) = −ρ− div(ε∇Φ(0)

)=: −f in Ω

ϕ|∂Ω(D) = 0, ∂ϕ

∂n

∣∣∣∣∣∂Ω(N)

= 0(1.82)

(iii) Lösungsschritt 2:Die Lösung ϕ des Randwertproblems (1.82) kann man aus den Eigenfunktionenbν(�r ) und Eigenwerten λν ∈ C des Differentialoperators − div(ε∇ . ) aufbauen.Letztere sind die Lösungen des Eigenwertproblems

− div(ε∇bν) = λνbν in Ω

mit bν |∂Ω(D) = 0 und ∂bν∂n

∣∣∣∣∣∂Ω(N)

= 0(1.83)

Für beschränkte, zusammenhängende Gebiete Ω mit glattem Rand (Normalgebie-te) haben Eigenwerte und Eigenfunktionen folgendene Eigenschaften:

a) Das Spektrum {λν |ν = 1, ...,∞} ist diskret und alle Eigenwerte sind striktpositiv: λν > 0. Man kann sie als aufsteigende Folge 0 < λ1 ≤ λ2 ≤ λ3 ≤ . . .anordnen.

b) Die Eigenfunktionen {bν}ν∈N können orthonormal im Funktionenraum L2(Ω)gewählt werden. Hierbei ist das Skalarprodukt zweier Funktionen f, g ∈ L2(Ω)definiert als

< f |g >:=∫Ω

f(�r )∗g(�r ) d3r (1.84)

Die orthonormierten Eigenfunktionen bν erfüllen also die Bedingungen

< bμ|bν >=∫Ω

bμ(�r )∗bν(�r ) d3r = δμν (1.85)

mit dem Kroneckerschen Deltasymbol δμν .

c) Die Eigenfunktionen {bν}ν∈N sind vollständig; d.h. jede Funktion ϕ ∈ L2(Ω)lässt sich bezüglich des Skalarproduktes (1.84) nach b1, b2, b3, . . . entwickeln:

ϕ =∞∑ν=1

ανbν mit αν =< bν |ϕ > (1.86)

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46 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Diese Beziehung lautet explizit:

∀ϕ∈L2(Ω)

ϕ(�r ) =∞∑ν=1

bν(�r )∫Ω

bν(�r ′)∗ϕ(�r ′) d3r′

=∫Ω

∞∑ν=1

bν(�r )bν(�r ′)∗

︸ ︷︷ ︸Deltafunktion δ(�r − �r ′)

ϕ(�r ′) d3r′

woraus man die Vollständigkeitsrelation der Eigenfunktionen ableiten kann:

∞∑ν=1

bν(�r )bν(�r ′)∗ = δ(�r − �r ′) (1.87)

(iv) Lösungsschritt 3:Für eine gegebene rechte Seite f des Randwertproblems (1.82) konstruieren wir

nun die Lösung ϕ mit dem Ansatz ϕ(�r ) =∞∑ν=1

ανbν(�r ), wobei die Entwicklungs-

koeffizienten αν noch zu bestimmen sind. Die homogenen Randbedingungen für ϕwerden identisch erfüllt, weil sie von allen Basisfunktionen bν erfüllt werden (vgl.(1.83)). Es bleibt also noch die Poissongleichung zu lösen. Setzt man in diese denobigen Ansatz ein, so folgt:

f!= − div(ε∇ϕ) =

∞∑ν=1

αν [− div(ε∇bν)︸ ︷︷ ︸λνbν

] =∞∑ν=1

ανλνbν

Das Skalarprodukt dieser Gleichung mit bμ ergibt

< bμ|f >=∞∑ν=1

ανλν < bμ|bν >︸ ︷︷ ︸δμν

= αμλμ

Hieraus erhält man die Entwicklungskoeffizienten αμ als

αμ = < bμ|f >λμ

= 1λμ

∫Ω

bμ(r)∗f(�r )d3r

Damit lautet die Lösung des RWP (1.82)

ϕ(�r ) =∞∑ν=1

< bν |f >λν

bν(�r ) (1.88)

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1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung 47

Durch Vertauschen von Summation und Integration folgt hieraus die alternativeDarstellung:

ϕ(�r ) =∫Ω

∞∑ν=1

bν(�r ) 1λνbν(�r ′)∗

︸ ︷︷ ︸Greenfunktion G(�r , �r ′)

f(�r ′) d3r′(1.89)

Diese Gleichung kann man als linearen Integraloperator f �→ ϕ auffassen, der jederrechten Seite des RWP (1.82) die Lösung ϕ zuordnet. Dieser Integraloperator istalso der Umkehroperator zum Differentialoperator − div(ε∇ . ); sein IntegralkernG(�r , �r ′) wird als Greenfunktion des RWP (1.82) bezeichnet. Die Spektraldar-stellung

G(�r , �r ′) =∞∑ν=1

bν(�r ) 1λνbν(�r ′)∗ (1.90)

bietet eine konkrete Möglichkeit, die Greenfunktion zu berechnen. Deren definie-rende Eigenschaften und weitere Möglichkeiten, sie zu bestimmen, werden im fol-genden diskutiert.

1.5.3.2 Lösung mittels Greenfunktion

(i) Die Greenfunktion G(�r , �r ′) für das in (1.81) definierte exemplarische Randwert-problem [M-RWP] ist definiert als die Lösung des reduzierten Randwertproblems(1.82) mit homogenen Randbedingungen und rechter Seite f(�r ) = δ(�r −�r ′) („Ein-heits - Punktladung“ am Ort �r ′). Die definierende Beziehung lautet also:

div�r (ε(�r )∇�rG(�r , �r ′)) = −δ(�r − �r ′) in Ω

mit G(�r , �r ′) = 0 für �r ∈ ∂Ω(D)

und ∂G(�r , �r ′)∂n

= 0 für �r ∈ ∂Ω(N)

(1.91)

Die Ortsableitungen sind hierbei im Distributionssinn zu verstehen („verallgemei-nerte Ableitung“).

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48 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

(ii) Ist ϕ die Lösung des RWP (1.82), so gilt:

ϕ(�r ) =∫Ω

δ(�r − �r ′)ϕ(�r ′) d3r′

= −∫Ω

divr ′ (ε ∇�r ′G(�r ′, �r ))ϕ(�r ′) d3r′

=∫Ω

ε ∇�r ′G(�r ′, �r ) · ∇�r ′ϕ(�r ′) d3r′ −∫

∂Ω(D)

ε ∇�r ′G(�r ′, �r ) ϕ(�r ′)︸ ︷︷ ︸0

d�a ′

−∫

∂Ω(N)

ε �n · ∇�r ′G(�r ′, �r )︸ ︷︷ ︸0

ϕ(�r ′) da′

= −∫Ω

G(�r ′, �r ) divr ′(ε ∇�r ′ϕ(�r ′))︸ ︷︷ ︸−f(�r ′)

d3r′ +∫

∂Ω(D)

G(�r ′, �r )︸ ︷︷ ︸0

ε(�r ′) �n · ∇�r ′ϕ(�r ′) da′

+∫

∂Ω(N)

G(�r ′, �r ) ε(�r ′) �n · ∇�r ′ϕ(�r ′)︸ ︷︷ ︸0

da′

=∫Ω

G(�r ′, �r )f(�r ′) d3r′ =∫Ω

G(�r , �r ′)f(�r ′) d3r′

Bei der letzten Gleichheit wurde verwendet, dass die Greenfunktion symmetrischbezüglich einer Vertauschung von �r und �r ′ ist: G(�r , �r ′) = G(�r ′, �r ). Dies ist auchaus Gl. (1.90) ersichtlich (man beachte, dass G(�r , �r ′) reellwertig ist). Als Ender-gebnis erhalten wir also diesselbe Aussage wie in Gl. (1.89):

ϕ(�r ) =∫Ω

G(�r , �r ′)f(�r ′) d3r′

löst das Randwertproblem (1.82)

(iii) Kennt man die Eigenfunktionen und Eigenwerte von − div(ε∇ . ), so gilt nach(1.89) die Spektraldarstellung:

G(�r , �r ′) =∞∑ν=1

bν(�r ) 1λν

bν(�r ′)∗

Für unbeschränkte Gebiete Ω gilt eine analoge Darstellung, aber das Spektrumder Eigenwerte bildet eine kontinuierliche Menge Σ ⊂ R

+, und deshalb muss diediskrete Summe durch ein Integral ersetzt werden:

∞∑ν=1

(. . . , bν , λν , . . .) →∫k∈Σ

(. . . , bk, λk, . . .) dμ(k)

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1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung 49

(iv) Als einfaches Beispiel wollen wir die Spektraldarstellung der Greenfunktion fürden Quader Ω = (0, L1) × (0, L2) × (0, L3) mit homogenen Dirichletbedingungenund konstanter Permittivität ε = const. berechnen. Das Randwertproblem lautetin diesem Fall:

−Δϕ = 1εf =: f in Ω mit ϕ|δΩ = 0 (1.92)

Die Geometrie des Problems legt es nahe, die Eigenfunktionen in kartesischenKoordinaten �r = x1�e 1 + x2�e 2 + x3�e 3 zu bestimmen und einen Separationsansatz

b(�r ) = b1(x1) · b2(x2) · b3(x3)

zu machen.Wegen Δ = ∂2

∂x21

+ ∂2

∂x22

+ ∂2

∂x23

lautet dann das Eigenwertproblem:

−Δb = −b′′1 b2 b3 − b1 b

′′2 b3 − b1 b2 b

′′3

!= λ b1 b2 b3

Hieraus folgt durch Division mit b1 b2 b3:

−b′′1(x1)b1(x1)

− b′′2(x2)b2(x2)

− b′′3(x3)b3(x3)

= λ ∈ R

Da jeder der Summanden nur von einer der Koordinaten x1, x2, x3 alleine abhängt,muss er für sich eine Konstante sein:

−b′′1(x1)b1(x1)

= λ1; − b′′2(x2)b2(x2)

= λ2; − b′′3(x3)b3(x3)

= λ3

Damit genügt jede Funktion bi(xi) der Differentialgleichung

b′′j (xj) + λjbj(xj) = 0 (j = 1, 2, 3)

Deren allgemeine Lösung lautet

bj(xj) = Aj sin(kjxj) +Bj cos(kjxj) mit kj =√λj

Um die Randbedingungen auf ∂Ω zu erfüllen, muss gelten:

bj(0) = 0 ⇒ Bj = 0

bj(Lj) = 0 ⇒ kjLj = njπ mit nj ∈ N

Damit gilt kj = njπ/Lj (nj ∈ N). Die Eigenwerte sind dann

λn1n2n3 = λ1 + λ2 + λ3 =(n1π

L1

)2+(n2π

L2

)2+(n3π

L3

)2(1.93)

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50 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

und die Faktoren der Eigenfunktionen lauten:

bj(xj) = Aj sin(nj

π

Ljxj

)(1.94)

Die Normierung der Eigenfunktionen erfolgt faktorweise:

1 !=Lj∫0

bj(xj)2 dxj = A2j

Lj∫0

sin2(nj

π

Ljxj

)dxj = A2

j

Lj2

woraus folgt:

Aj =√

2Lj

Damit lauten die Eigenfunktionen:

bn1n2n3(�r ) = (2) 32√

L1L2L3

3∏j=1

sin(nj

π

Ljxj

); nj ∈ N

(1.95)

Die Greenfunktion ist schließlich gegeben als

G(�r , �r ′) =∑

n1,n2,n3∈N

bn1n2n3(�r ) 1λn1n2n3

bn1n2n3(�r ′) (1.96)

Eingesetzt in Gl. (1.89) erhält man eine Darstellung der Lösung des RWP (1.92)als diskrete Fourier-Reihe.

1.5.3.3 Konstruktion der Greenfunktion mit Hilfe der Spiegelladungsmethode

(i) Eine rein geometrische Konstruktion der Greenfunktion leistet die Spiegelladungs-methode, wenn das betrachtete Gebiet Ω von einer oder einigen wenigen ebe-nen leitenden Randflächen begrenzt wird (z.B. Halbraum oder Winkelraum). Aus-gangspunkt ist hierbei die Greenfunktion zur Poissongleichung im unbeschränktenhomogenen Raum Ω = R

3, die sogenannte Vakuum-Greenfunktion.

(ii) Herleitung der Vakuum-Greenfunktion:Eine Punktladung Q bei �r 0 erzeugt im unbeschränkten Raum mit konstanter Per-mittivität ε0 das Potential

ϕ(�r ) = Q

ε0· 14π · 1

|�r − �r 0| (1.97)

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1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung 51

Dieses erfüllt im Unendlichen die homogene Dirichlet-Randbedingung

lim|�r |→∞

ϕ(�r ) = 0 (1.98)

Dies bedeutet, dass das Coulomb-Potential (1.97) die Poissongleichung (im Distri-butionssinn) löst:

− div(ε0∇ϕ) = −Q Δr

(1

4π1

|�r − �r 0|)

= Q δ(�r − �r 0)︸ ︷︷ ︸Punktladungsdichte

(1.99)

Durch Vergleich mit (1.91) erkennt man, dass

GVac(�r , �r ′) = 14πε0

1|�r − �r ′| (1.100)

die Greenfunktion zur Poissongleichung in Ω = R3 mit der Randbedingung (1.98)

darstellt. Das heißt, dass (im Sinne einer Distributionsableitung) gilt:

Δr

(1

4π1

|�r − �r ′|)

= −δ(�r − �r ′) (1.101)

In der Tat wird die Poissongleichung Δϕ = − ρ

ε0im gesamten R

3 gelöst durch dasCoulomb-Integral

ϕ(�r ) =∫R3

GVac(�r , �r ′)ρ(�r ′) d3r′ = 14πε0

∫R3

ρ(�r ′)|�r − �r ′| d3r′ (1.102)

(iii) Aus der Vakuum-Greenfunktion (1.100) lässt sich die Greenfunktion für den Halb-raum mit ideal leitendem Rand konstruieren (siehe Abb. 1.14).

Das dielektrische Gebiet ist der Halbraum

Ω = H := {�r = �r || + z�n | �r || ·�n = 0; z > 0},

dessen Rand von der Ebene

∂H = {�r = �r || | �r || ·�n = 0; z = 0}

gebildet wird. Hierbei ist �n der Normalenvektor der Ebene ∂H. Die Permittivitätε sei im Halbraum H konstant. Der unterhalb der Randfläche liegende Halbraumz ≤ 0 sei ein (idealer) metallischer Leiter, der zusammen mit der Ebene ∂H einÄquipotentialgebiet mit konstantem Potential bildet, das auf den Wert Φ(�r ) = 0gesetzt werden kann. Um die Greenfunktion für den Halbraum H zu bestimmen,wird eine Punktladung Q an den Ort �r Q ∈ H gesetzt und das von Q erzeugtePotential bestimmt.

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52 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Reales Problem Ersatzproblem

. 0const� � �

Ebene H�

0

r�

x

H

Qr��

Qr�

xn�

Qr� Q

*H

r�

n�

Q

Q�

metallischer Halbraum

Abbildung 1.14: Punktladung vor metallischem Halbraum

Statt dieses reale Problem zu lösen, betrachten wir aber ein Ersatzproblem, indemwir das Dielektrikum über ∂H hinaus nach unten fortsetzen (mit gleicher Permit-tivität ε wie in H). In dieses virtuelle Dielektrikum wird am Punkt �r ∗

Q, der durchSpiegelung des Punktes �r Q an der Ebene ∂H entsteht, eine virtuelle Gegenladung−Q plaziert. Ladung und Gegenladung erzeugen im Halbraum H das elektrischePotential

ΦH(�r ) = Q

4πε

[1

|�r − �r Q| − 1|�r − �r ∗

Q|]

für �r ∈ H (1.103)

Dieses Potential zum Ersatzproblem stimmt im Halbraum H mit dem Potentialdes realen Problems überein. Denn es erfüllt zum einen die Poissongleichung in Hmit der Ladung Q am Ort �r Q als Quelle, da mit (1.101) gilt:

div(ε ∇ΦH) = Q · Δ�r

(1

4π1

|�r − �r Q|)

−Q · Δ�r

(1

4π1

|�r − �r ∗Q|)

= −Qδ(�r − �r Q) + Qδ(�r − �r ∗Q)︸ ︷︷ ︸

= 0 für �r ∈ H

(Man beachte: Da für �r ∈ H stets �r = �r ∗Q gilt, liefert die zweite Deltafunktion in

H keinen Beitrag.)Zum anderen erfüllt ΦH auch die Randbedingung auf ∂H:Für �r ∈ ∂H gilt |�r − �r Q| = |�r − �r ∗

Q|, und damit ist ΦH(�r ) = 0 für �r ∈ ∂H.

Die Greenfunktion für den Halbraum GH(�r , �r ′) erhalten wir aus Gl. (1.103),indem wir Q = 1 und �r Q = �r ′ setzen. Bezeichnen wir die Spiegelung an der Ebene∂H mit S:

�r = �r || + z�n �→ �r ∗ = S�r := �r || − z�n

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1.5.3 Analytische Lösungsverfahren für die Poissongleichung 53

so lautet die Greenfunktion

GH(�r , �r ′) = 14πε

[1

|�r − �r ′| − 1|�r − S�r ′|

](1.104)

Für beliebige Ladungsverteilungen ρ(�r ), �r ∈ H ist

Φ(�r ) =∫H

GH(�r , �r ′)ρ(�r ′) d3r′ (1.105)

die Lösung des Potentialproblems in H. Explizit lautet dieses Integral

Φ(�r ) = 14πε

⎡⎣ ∫H

ρ(�r ′)|�r − �r ′| d3r′ −

∫H

ρ(�r ′)|�r − S�r ′| d3r′

⎤⎦(siehe Abb. 1.15)

Reales Problem Ersatzproblem

Metall

( )r��

0��

H

gespiegelt

( )r��

*( )r���

Abbildung 1.15: Ladungsspiegelungsprinzip beim Halbraum-Problem

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54 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

(iv) In analoger Weise lässt sich die Spiegelladungsmethode auf einen Viertelraum(90◦- Winkelraum) mit metallischer Begrenzung anwenden (Abb. 1.16).

ErsatzproblemReales Problem

�� ���r const.= 0

Q

W

Q

y

x

-Q+Q

-Q

W�

Qr�

O O

Qr�

1 QS r

2 QS r

3 QS r

Abbildung 1.16: Punktladung vor metallischem 90◦- Winkelraum

Der Viertelraum W habe eine konstante Permittivität ε. Zwei Halbebenen bildenden Rand ∂W , auf dem das Potential der Randbedingung Φ∂W = 0 genügen muss.Um diese zu erfüllen, wird die reale Punktladung Q am Ort �rQ dreimal gespiegeltan die Punkte S1�r Q, S2�r Q und S3�r Q mit der Ladung −Q, +Q und −Q (sieheAbb. 1.16). Das Potential zum Ersatzproblem lautet dann:

ΦW (�r ) = Q

4πε

[1

|�r − �r Q| − 1|�r − S1�r Q|

+ 1|�r − S2�r Q| − 1

|�r − S3�r Q|]

für �r ∈ W

(1.106)

Es stimmt im Winkelraum W mit dem Potential des realen Problems überein, wieman analog zum Halbraumproblem beweisen kann. Insbesondere erfüllt ΦW dieRandbedingung ΦW (�r ) = 0 für �r ∈ ∂W , weil sich für �r ∈ ∂W jeweils zwei dervier Terme in Gl. (1.106) paarweise kompensieren.Die Greenfunktion für den Winkelraum GW (�r , �r ′) erhält man aus Gl. (1.106),indem man Q = 1 und �r Q = �r ′ setzt. Sie lautet

GW (�r , �r ′) = 14πε

3∑n=0

(−1)n|�r − Sn�r ′| (1.107)

wobei S0�r = �r die identische Abbildung bezeichnet.

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1.5.4 Stationäre Stromverteilung 55

1.5.4 Stationäre Stromverteilung

Auf ein Potentialproblem führt auch die Berechnung stationärer Stromverteilungen inleitenden Materialien. Die bereits dargestellten theoretischen Aussagen und Lösungsme-thoden der Potentialtheorie können hierauf in analoger Weise übertragen werden.

1.5.4.1 Bilanz- und Transportgleichungen für elektrische Strömungsverteilungen

(i) Ladungsbilanz: Wie bereits in § 1.2.3 diskutiert wurde, erhält man aus (1.1) und(1.4) die Beziehung:

0 = div(rot �H ) = div�j +∂(div �D

)∂t

= div�j + ∂ρ

∂t.

Die Ladungserhaltungsgleichung

div�j + ∂ρ

∂t= 0 (1.108)

bildet die Grundlage für die Theorie elektrischer Strömungen.

(ii) Transportmodell für die beweglichen LadungsträgerUm ein geschlossenes Gleichungssystem zu erhalten, muss die Stromdichte �j durchdie sie treibenden Kräfte ausgedrückt werden. In einem Leiter oder Halbleiter kannman zumeist in guter Näherung vom Drift-Diffusions-Modell ausgehen.

Wir nehmen an, dass das elektrische Strömungsfeld aus K verschiedenen Sortenvon Ladungsträgern zusammengesetzt ist, welche die spezifische Ladung qα, Be-weglichkeit μα und Teilchendichte nα besitzen. Die Trägersorte α trägt dann mitder Partialstromdichte

�j α = |qα|nαμα �E − qαDα∇nα (1.109)

zum gesamten Stromfluss bei. Der erste Term bezeichnet den Driftstrom im elektri-schen Feld �E (vgl. Vorlesung Elektrizität und Magnetismus §2.2.2) und führt zumOhmschen Gesetz. Dieser Transportmechanismus ist in Metallen dominant. Derzweite Term bezeichnet den Diffusionsstrom. Dieser fließt immer in Richtung desnegativen Konzentrationsgradienten −∇nα. Seine Intensität ist durch den Diffusi-onskoeffizienten Dα > 0 gegeben; dieser Zusammenhang wird auch als FickschesDiffusionsgesetz bezeichnet. Der Diffusionsstrom ist insbesondere in Halbleiter-bauelementen wie Dioden und Bipolartransistoren relevant. In diesem Fall hat manzwei Trägersorten, nämlich die Leitungselektronen (α = n) und die Defektelektro-nen (Löcher, α = p).

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56 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

Wir nehmen weiterhin an, dass das elektrische Feld keine durch das Induktionsge-setz rot �E = −∂ �B

∂tinduzierten Wirbelfelder enthält und damit keine Wirbelströme

vorhanden sind. Für ∂ �B∂t

= 0 folgt rot �E = 0, und damit ist das �E -Feld ein reinesGradientenfeld:

�E = −∇ΦDamit kann man die Partialstromdichte �j α als Summe zweier Gradienten darstel-len:

�j α = − (|qα|nαμα∇Φ + qαDα∇nα) (1.110)

Der DiffusionskoeffizientDα und die Beweglichkeit μα sind über die „Einsteinrelati-on“ Dα = kT

|qα|μα miteinander verknüpft. Mit Hilfe des elektrochemischen Potentials(oder Quasiferminiveaus)

Φα := Φ + kT

qαln nαn0

(1.111)

lässt sich daher die Partialstromdichte �j α in kompakter Form darstellen als

�j α = −σα∇Φα (1.112)

wobei σα := |qα|μαnα die spezifische elektrische Leitfähigkeit der Trägersorte αbezeichnet.Die Gesamtstromdichte ergibt sich schließlich als

�j =K∑α=1

�j α (1.113)

und die zugehörige Raumladungsdichte ist

ρ =K∑α=1

qαnα (1.114)

(iii) Detaillierte Bilanzgleichungen:Wie im Abschnitt 1.2.3 (vi) diskutiert wurde, genügen die Teilchen jeder Träger-sorte α einer Teilchenbilanzgleichung (vgl. (1.25)):

∂nα∂t

= − 1qα

div�j α +Gα (α = 1, ..., K) (1.115)

wobei Gα die Generations-Rekombinationsrate der Spezies α bezeichnet. Man be-achte, dass 1

qα�j α die Teilchenstromdichte der Spezies α ist. Damit die detaillier-

ten Bilanzen (1.115) mit der Ladungserhaltungsgleichung (1.108) verträglich sind,

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1.5.4 Stationäre Stromverteilung 57

muss wegen (1.113) und (1.114) gelten:

0 = div�j + ∂ρ

∂t=

K∑α=1

(div�j α + qα

∂nα∂t

)=

K∑α=1

qαGα, also

K∑α=1

qαGα = 0 (1.116)

1.5.4.2 Stationäre Strömungsfelder im Drift-Diffusions-Modell

Bei stationären Strömungen gilt ∂nα∂t

= 0. Mit der Stromrelation (1.112) eingesetzt in(1.115) erhalten wir ein System partieller Differentialgleichungen für die elektrochemi-schen Potentiale Φα:

div (σα∇Φα) = −qαGα (1.117)

das zusammen mit der Poissongleichung für das elektrische Potential Φ

div (ε∇Φ) = −ρ = −K∑α=1

qαnα (1.118)

zu lösen ist. Die Trägerkonzentrationen nα werden hierbei mit Hilfe von (1.111) ausΦα und Φ berechnet, die gesuchten Stromdichten mit Hilfe von (1.112). Das gekoppelteSystem von Differentialgleichungen (1.117) und (1.118) ist auf einem Gebiet Ω ⊂ R

3

(=Bauelement) mit geeignet gewählten (gemischten) Randbedingungen zu lösen.

1.5.4.3 Stationäre Strömungsfelder im Ohmschen Transportmodell

(i) Dielektrische RelaxationDen einfachsten Fall stellt ein metallischer Leiter dar, in dem ein rein OhmscherLadungstransport mit nur einer einzigen Trägersorte (Elektronen) erfolgt. Es giltalso das einfache Ohmsche Gesetz

�j = σ �E = −σ∇Φ. (1.119)

Gleichzeitig gelten natürlich die Materialgleichung �D = ε �E , das Gaußsche Gesetzdiv �D = ρ, sowie die Ladungserhaltungsgleichung (1.108). Ineinander eingesetztergibt sich bei konstant angenommener Leitfähigkeit σ und Permittivität ε dieBeziehung

∂ρ

∂t= − div�j = − div

ε�D)

= −σ

εdiv �D = −σ

ερ,

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58 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

also∂ρ

∂t= −σ

ερ mit σ

ε= constans (1.120)

Wird der elektrisch neutrale stationäre Gleichgewichtszustand durch eine loka-le Ladungsfluktuation Δρ(t, �r ) gestört, so folgt durch zeitliche Integration von(1.120):

Δρ(t, �r ) = Δρ(t0, �r ) exp(

−t− t0τR

)(1.121)

wobeiτR := ε

σ(1.122)

als dielektrische Relaxationszeit bezeichnet wird.

Typische Werte für τR sind:

• Metall: τR ≈ 10−15 s = 1 fs

• Halbleiter: τR ≈ 10−12 . . . 10−4 s

• Isolator: τR = 104 . . . 106 s ≈ 10 Tage

(ii) Quasistationäre NäherungIn einem Metall ist die Relaxationszeit so kurz, dass alle zeitlichen Vorgänge, diefür die technische Anwendung von Interesse sind (Schalten, Ladungsverschiebungetc.), langsam ablaufen im Vergleich zu τR. Deshalb kann man auf der technischrelevanten Zeitskala (μs, ns) die Ausbildung einer Raumladung meistens vernach-lässigen:

∂ρ

∂t≈ 0 (1.123)

Dies nennt man quasistationäre Näherung.

1.5.4.4 Randwertproblem für stationäre Ohmsche Strömungsfelder

Gemäß der Ladungserhaltungsgleichung (1.108) bleibt in der quasistationären Näherungnur noch das stationäre Strömungsproblem

div�j = 0 (1.124)

zu lösen. Mit dem Ansatz (1.119) einer Potentialströmung gelangen wir so zu einerhomogenen Poissongleichung für das elektrische Potential:

div(σ(�r )∇Φ) = 0 (1.125)

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1.5.5 Korrespondenz 59

1��

2��

n��

n�

div 0j ��

Kontakt

( )r��

j E�����

Abbildung 1.17: Stromführendes Gebiet begrenzt von elektrischen Kontakten undisolierenden Randstücken

Diese ist auf einem Gebiet Ω ⊂ R3 zu lösen, auf dessen Rand ∂Ω folgende Randbedin-

gungen gestellt werden:

Der Rand ∂Ω enthält potentialgesteuerte Kontakte (Klemmen) ∂Ω1, ∂Ω2, ..., ∂ΩN , aufdenen die Potentialwerte

Φ|∂Ωj= Vj (j = 1, ..., N)

vorgegeben sind. Die übrigen Randflächenstücke sind elektrisch isolierend,d.h. �j ·�n = −σ∂Φ

∂n= 0, wobei �n die äußere Normale auf ∂Ω bezeichnet. Dies führt auf

die homogene Neumannsche Randbedingung

∂Φ∂n

= 0 auf ∂Ω\⎛⎝ N⋃j=1

∂Ωj

⎞⎠Insgesamt ist also ein gemischtes Randwertproblem zu lösen, wie es bereits im Abschnitt1.5.2 behandelt wurde (vgl. Gl. (1.80)).

1.5.5 Korrespondenz zwischen Elektrostatik, stationärenelektrischen Strömen, Magnetostatik und stationäremWärmefluss

Die feldtheoretische Beschreibung von Problemstellungen in der Elektrostatik, bei statio-närem elektrischem Stromfluss, in der Magnetostatik und bei stationärem Wärmeflussfolgt völlig analogen Grundgleichungen (Bilanzgleichungen und gradientengetriebenenFlussgrößen). Diese Korrespondenzen sind in folgender Tabelle zusammengestellt. Sieerlauben es, generische mathematische Lösungsmethoden (wie z.B. Lösen der Poisson-

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60 1.5 Das Randwertproblem der Potentialtheorie

gleichung) auf jedes der vier genannten Problemfelder in analoger Weise anzuwenden.

Aus der mathematischen Struktur der feldtheorethischen Beschreibung lässt sich ei-ne Netzwerkbeschreibung mit konzentrierten Netzwerkelementen ableiten. Das Ergeb-nis ist ein Kirchhoffsches Netzwerk mit geeignet gewählten „Across-Größen“ (Knoten-Potentialen) und „Through-Größen“ (Zweigströmen), die den Kirchhoffschen Gesetzen(Knoten- und Maschenregel) genügen. Die in der Tabelle aufgelisteten Korrespondenzenermöglichen es, elektrische Netzwerke auf magnetische Kreise, dielektrische Netzwerkeoder thermische Netzwerke in analoger Weise abzubilden und damit die Methoden derNetzwerktheorie gleichermaßen anzuwenden.

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1.5.5 Korrespondenz 61

Elek

tros

tatik

stat

ionä

reel

ekt.

Strö

mun

gen

Mag

neto

stat

ikst

atio

näre

rW

ärm

eflus

s

Kon

tinuu

msd

arst

ellu

ng

Kor

resp

ond.

Feld

größ

en(� D

,ε,� E

)(� j,σ,� E

)(� B

,μ,� H

)(� J

Q,κ,−

∇T)

(Con

t)di

v� D

div�j

=0

div� B

=0

div� JQ

=ΠQ

(Pot

)ro

t� E=

0ro

t� E=

0ro

t� H

=� j

(=0)

rot∇

T=

0

trei

bend

eK

raft

� E=

−∇Φ

el� E

=−∇

Φel

� H=

−∇Φ

mag

−∇T

Flus

sgrö

ße� D

=−ε

∇Φel

� j=

−σ∇Φ

el� B

=−μ

� ∇Φ

mag

� JQ

=−κ

∇T(P

ot)

in(C

ont)

div(ε∇

Φel)=

−ρdi

v(σ

∇Φel)=

0di

v(μ

∇Φm

ag)=

0di

v(κ

∇T)=

−ΠQ

Net

zwer

kdar

stel

lung

„Acr

oss“

-Grö

ßeel

ektr

ische

elek

trisc

hem

agne

tisch

eTe

mpe

ratu

rgef

älle

ΔT

Span

nung

USp

annu

ngU

Span

nung

Vm

U=

Φ+ el

−Φ

− elU

+ el−

Φ− el

Vm

+ mag

−Φ

− mag

ΔT

=T

heis

s−T

kalt

„Thr

ough

“-G

röße

diel

ektr

ische

rel

ektr

ische

rm

agne

tisch

erW

ärm

estr

omFl

uss

Stro

mFl

uss

ΦD

=∫ A

� Dd�a

I=∫ A

� jd�a

ΦB

=∫ A

� Bd�a

Q=∫ A

� JQd�a

linea

res

Mat

eria

lges

etz

U=R

D·Φ

DU

=R

el·I

Vm

=R

m·Φ

BΔT

=R

th·Q

Kirc

hhoff

sche

sdi

elek

trisc

hes

elek

trisc

hes

mag

netis

cher

ther

misc

hes

Net

zwer

kN

etzw

erk

Net

zwer

kK

reis

Net

zwer

k

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63

2 Modellierung elektromagnetischerVorgänge in technischen Systemenmit Kompaktmodellen

2.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit KirchhoffschenNetzwerken

Für viele technische Anwendungen (Geräte, Schaltungen, ...) ist eine kontinuumstheore-tische Beschreibung mit Hilfe der Maxwellschen Feldtheorie viel zu aufwendig, um ihreFunktion praxisrelevant darzustellen. Stattdessen genügt eine vereinfachte Modellierungmit sehr viel weniger Zustandsvariablen (typischerweise Klemmenspannungen und Strö-men in äquivalenten Netzwerken). Durch eine derartige „Ordnungsreduktion“ dürfenaber die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien und Gesetze nicht verletzt werden.So muss beispielsweise eine Netzwerkdarstellung mit Kompaktmodellen für die Netzwer-kelemente die Erhaltungssätze für Ladung und Energie exakt erfüllen; man spricht dannvon einer flusserhaltenden Diskretisierung.

2.1.1 Generelle Modellannahmen

Damit eine Systembeschreibung mit Hilfe von Kompaktmodellen in einem äquivalentenNetzwerk eine physikalische Grundlage hat, müssen einige Voraussetzungen gegebensein:

(i) Das technische System besteht aus räumlich begrenzten Funktionsblöcken,die über wohldefinierte lokalisierte Schnittstellen (z.B. leitende Verbindungenoder geführte elektromagnetische Felder) miteinander wechselwirken.

(ii) Die elektrischen und magnetischen Felder sind nur quasistationär zeitveränder-lich, d.h. sie werden ohne Retardierungseffekt von Klemmenströmen und -span-nungen zeitgleich gesteuert. Dies impliziert, dass keine elektromagnetische Wellen-ausbreitung in und zwischen den Funktionsblöcken stattfindet (Konzentriertheits-hypothese). Eine hinreichende Bedingung hierfür ist (vgl. 3. Kapitel):

Wellenlänge der EM-Welle λ � Abmessung des Systems d

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64 2.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit Kirchhoffschen Netzwerken

Rechnet man diese Bedingung mit Hilfe der Beziehung c = λν (Lichtgeschwindig-keit c = 3 × 108m

s) auf die Frequenz ν der Welle um, so findet man die Werte:

Frequenz ν 50Hz 300kHz 100MHz 1GHz 1THz

Wellenlänge λ 6000km 1km 3m 30cm 0,3 mm

2.1.2 Feldtheoretische Beschreibung der Quasistationarität

(i) Wir nehmen vereinfachend ein Medium mit konstanter Permittivität ε und Permea-bilität μ an. Das elektromagnetische Feld wird in Potentialdarstellung�E = −∇Φ − ∂

∂t�A und �B = rot �A mit Coulombeichung div �A = 0 dargestellt

(vgl. Abs. 1.3.2):Dann gilt (vgl. (1.44) und (1.45)):

div �D = ρ ⇒ ΔΦ = −ρ

ε(2.1)

rot �H = �j + ∂ �D

∂t⇒ Δ �A − εμ

∂2 �A

∂t2= −μ

(�j − ε

∂t(∇Φ)

)(2.2)

Die Ausbildung elektromagnetischer Wellen wird unterdrückt, indem in Gl. (2.2)der Term εμ ∂2

∂t2�A = 0 gesetzt wird. Dies entspricht einer Näherung des Ver-

schiebungsstromes

∂ �D

∂t= −ε

⎡⎣ ∂∂t

(∇Φ) + ∂2 �A

∂t2

⎤⎦ ≈ −ε ∂∂t

(∇Φ) (2.3)

d.h. der magnetisch induzierte Anteil wird vernachlässigt!

(ii) Als Konsequenz dieser Näherung genügen die elektromagnetischen Potentiale (Φ, �A )nunmehr den Bestimmungsgleichungen

ΔΦ(�r , t) = −1ερ(�r , t) (2.4)

Δ �A (�r , t) = −μ[�j (�r , t) − ε

∂t(∇Φ(�r , t))

](2.5)

Dies bedeutet:

(Φ, �A ) und damit ( �E , �B ) sind nur noch vom momentanen zeitlichen Wertder Quellgrößen ρ(�r , t) und �j (�r , t) (sowie der Randwerte) abhängig

⇒ alle Feldgrößen sind quasistationär!

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2.1.3 Synthese von Netzwerkmodellen aus funktionalen Blöcken 65

(iii) Die quasistationäre Näherung (2.4)/(2.5) ist verträglich mit dem Ladungserhal-tungssatz. Denn wegen der Coulomb-Eichung div �A = 0 gilt:

0 = Δ(div �A ) = div(Δ �A ) = −μ(

div�j − ε∂

∂t(ΔΦ)

)= −μ

(div�j + ∂ρ

∂t

),

alsodiv�j + ∂ρ

∂t= 0 (2.6)

2.1.3 Synthese von Netzwerkmodellen aus funktionalen Blöcken

Ziel der Kompaktmodellierung (oder Makromodellierung) ist es, eine feldtheoretischbeschriebene Struktur mit realer dreidimensionaler Geometrie durch ein äquivalentesKirchhoffsches Netzwerk so darzustellen, dass die Funktion der Struktur in ihrem Klem-menverhalten realitätsgetreu wiedergegeben wird.

Kirchhoffsches Netzwerk

Reale 3DStruktur

Kontinuums-modelle

Kompakt-Modellierung

Abbildung 2.1: Kompaktmodellierung

Hierzu sind die im Folgenden beschriebenen Voraussetzungen nötig.

2.1.3.1 Funktionale Blöcke

Wir nehmen an, dass sich das zu modellierende System aus räumlich begrenzten funk-tionalen Blöcken aufbauen lässt, die als mehrpolige elektrische Bauelemente dar-gestellt werden können.Das bedeutet:

• Ladungsaustausch (Stromfluss) mit anderen Bauelementen erfolgt über disjunkte,lokalisierte Randflächen A1, .., AN (N ≥ 2) (= Kontakte oder Klemmen)

• Kontakte sind Äquipotentialflächen (-gebiete). Daher ist es sinnvoll, Klemmen-potentiale Φk = Φ|Ak

(k = 1, ..., N) zu definieren.

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66 2.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit Kirchhoffschen Netzwerken

• Das Bauelement als Ganzes ist elektrisch neutral (d.h. Gesamtladung Q = 0).Hieraus folgt:

0 = dQdt =

∫B

∂ρ

∂td3r = −

∫B

div�j d3r = −∫∂B

�j · d�a = −N∑k=1

∫Ak

�j · d�a

Die (auslaufend gerichteten) Klemmenströme

Ik :=∫Ak

�j · d�a (2.7)

erfüllen daher die integrale Stromerhaltungsgleichung

N∑k=1

Ik = 0 (2.8)

• Das Klemmenverhalten der Bauelemente ist darstellbar in Form eines differential-algebraischen Gleichungssystems („Kompaktmodell“)

F (U, I, U , I) = 0 (2.9)

Hierbei bedeuten

U = (Φ1 − Φ0,Φ2 − Φ0, ...,ΦN − Φ0) KlemmenspannungenΦ0 = Bezugspotential („Nullpunkt“)I = (I1, I2, ...IN) Klemmenströme

Derartige Kompaktmodelle sind prinzipiell aus einem Kontinuumsmodell ableitbar.

Typische Beispiele sind:

– Resistiver Zweipol (Eintor):

Kennlinie I1 = f(U12) mit U12 = Φ1 − Φ2

– Kapazitives Eintor:

I1 = C(U12) · dU12

dt (nichtlinearer Kondensator)

– Induktives Eintor:

U12 = L(I1) · dI1

dt (nichtlineare Induktivität)

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2.1.3 Synthese von Netzwerkmodellen aus funktionalen Blöcken 67

2.1.3.2 Erstellung eines Kirchhoffschen Netzwerkes

(i) Die elektrische Verknüpfung der Kompaktmodelle der Bauelemente zu einem Sy-stemmodell (Schaltung bzw. Netzwerk) geschieht über Knoten und Zweige.

� �2

Kr� � ��

j�

��

�� �� 1K

�K�

2K

KI

� �2,I K K � �1

,I K K

1KK

A B

A B

Knoten K

2K

� � Kr� � ��

� �1

Kr� � ��

Abbildung 2.2: Übergang vom Kontinuumsmodell zu einer diskreten Netzwerk-beschreibung

Auch hierfür müssen gewisse Voraussetzungen in der realen Bauelementstrukturerfüllt sein.

(ii) Erforderliche Eigenschaften von (physikalischen) Knoten:

• Ein Knoten ist eine ideal leitende Verbindung zwischen M Kontakten. Füreinen „echten“ Knoten mit Stromverzweigung gilt M ≥ 3. Ein Knoten ist einÄquipotentialgebiet; daher kann ihm ein definierter Potentialwert ΦK zuge-ordnet werden.Notation: K := Menge aller Knoten im Netzwerk

• Knoten sind zumeist ladungsneutral. Für die auf einem Knoten gespeicherteLadung QK gilt: QK = 0 für K ∈ K

• Eine Ausnahme bilden „speichernde Knoten“ (= Elektroden) in mehrpoligenkapazitiven Speicherelementen. Diese können eine Ladung QK = 0 tragen(vgl. Abs. 2.2), wenn gleichzeitig andere Elektroden die Gegenladung tragen:∑

K∈KQK = 0 (2.10)

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68 2.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit Kirchhoffschen Netzwerken

(iii) Erforderliche Eigenschaften von Zweigen:

• Gerichtete Zweige (K1, K2) ∈ K × K bezeichnen einen möglichen Strompfadvom Knoten K1 zum Knoten K2.Notation: Z := Menge aller Zweige im Netzwerk ⊂ K × K

• Der in Bauelementen und Verdrahtung räumlich verteilt fließende Strom�j (�r , t)wird als linienförmig konzentrierter, gerichteter Zweigstrom I(K1, K2) fluss-erhaltend zwischen den Knoten K1 und K2 transportiert. Dies ist eine Kon-sequenz des Klemmenstrom-Erhaltungssatzes (2.8) und der KirchhoffschenKnotenregel.

• Jedem Zweig (K1, K2) ∈ Z muss man eine am Zweig anliegende gerichteteZweigspannung

U(K1, K2) :=K2∫K1

�E · d�r (2.11)

zuordnen können. Da das elektrische Feld �E = −∇Φ − ∂∂t�A neben dem

Gradientenfeld −∇Φ auch das magnetisch induzierte Wirbelfel �E ind = − ∂∂t�A

enthält, hängt die induzierte Spannung

Uind(K1, K2) :=K2∫K1

�E ind · d�r = −K2∫K1

∂ �A

∂t· d�r (2.12)

von der Wahl des physikalischen Integrationsweges von K1 nach K2 ab(= Strompfad des Zweigstromes). Nur wenn dieser eindeutig festliegt (z.B.linienförmige Leiterschleife von K1 nach K2), ist Uind(K1, K2) eindeutig defi-niert und ein Netzwerk-Ansatz zulässig. In diesem Fall gilt:

U(K1, K2) = −K2∫K1

∇Φ · d�r −K2∫K1

∂ �A

∂t· d�r

= ΦK1 − ΦK2 + Uind(K1, K2)

(2.13)

Ohne Induktionseffekt gilt die vereinfachte Darstellung

U(K1, K2) = ΦK1 − ΦK2 (2.14)

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2.1.3 Synthese von Netzwerkmodellen aus funktionalen Blöcken 69

2.1.3.3 Kirchhoffsche Knotenregel

Für einen Knoten K ∈ K sei N (K) = {K ′ ∈ K | (K,K ′) ∈ Z} die Menge seinerNachbarknoten im Netzwerk.

� �1,I K K

� �2,I K K

� �3,I K K

� �,N

I K K

� �1,A K K

� �2,A K K

� �3,A K K

� �,N

A K K

K

Abbildung 2.3: Realer physikalischer Knoten in einem Netzwerk

Wird der reale physikalische Knoten K in ein Kontrollvolumen V eingeschlossen, soströmen durch dessen Hüllfläche ∂V die Zweigströme I(K,K ′) zu den NachbarknotenK ′ ∈ N (K) durch disjunkte Teilflächenstücke A(K,K ′) ⊂ ∂V :

I(K,K ′) =∫

A(K,K′)

�j ·�n da (�n = äußere Normale) (2.15)

Bei ladungsspeichernden Knoten ist

QK(t) =∫V

ρ (�r , t) d3r

die im Knoten befindliche elektrische Ladung.Wegen des Ladungserhaltungssatzes div�j + ∂ρ

∂t= 0 folgt:

dQK

dt =∫V

∂ρ

∂td3r = −

∫V

div�j d3r = −∫∂V

�j · d�a = − ∑K′∈N (K)

∫A(K,K′)

�j · d�a = − ∑K′∈N (K)

I(K,K ′),

also ∑K′∈N (K)

I(K,K ′) = − dQK

dt (2.16)

(Kirchhoffsche Knotenregel für speichernde Knoten)

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70 2.1 Flusserhaltende Diskretisierung mit Kirchhoffschen Netzwerken

Bei nichtspeichernden Knoten gilt die vereinfachte Version:

∑K′∈N (K)

I(K,K ′) = 0 (2.17)

(Kirchhoffsche Knotenregel für nichtspeichernde Knoten)

2.1.3.4 Kirchhoffsche Maschenregel

Eine Masche (oder Schleife) M ist eine geschlossene Knotenfolge längs Zweigen imNetzwerk (Abb. 2.4):

M = {(K0, K1), (K1, K2), ..., (KN−1, KN), (KN , K0)}

0 1NK K

��

X

X

X

X X

� �2 3U K K

NK

1K

2K

3K

Abbildung 2.4: Masche in einem Kirchhoffschen Netzwerk

Im realen physikalischen System entspricht einer Masche eine geschlossene Kurve, dielängs physikalischer Strompfade (=Zweige) über die physikalischen Knoten führt. Zumelektrischen Feld entlang der Masche �E = −∇Φ − ∂

∂t�A trägt gegebenenfalls auch das

magnetisch induzierte Wirbelfeld �E ind = − ∂∂t�A bei.

Das Linienintegral über �E entlang der physikalischen Masche ergibt abstrakt im Netz-werk: ∫

M

�E · d�r =N∑j=0

Kj+1∫Kj

�E · d�r =N∑j=0

U(Kj, Kj+1),

wobei KN+1 := K0 gesetzt wird.

Andererseits gilt in der realen Struktur:∫M

�E · d�r = −∫

M∇Φ · d�r +

∫M

�E ind · d�r = 0 + Uind(M)

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71

mit der in der Masche induzierten Spannung

Uind(M) =∫

M

�E ind · d�r = − ddt

⎛⎝ ∫M

�A · d�r⎞⎠ (2.18)

Damit gilt:N∑j=0

U(Kj, Kj+1) = Uind(M) (2.19)

(Kirchhoffsche Maschenregel mit eingeprägter (induktiver) Spannungsquelle)

NB! (2.19) ist nur dann sinnvoll in einem Netzwerk anwendbar, wenn Uind(M) durch kon-zentrierte Bauelemente (wie z.B. Spulen) erzeugt wird, deren Verhalten allein durch dieZweigströme I(K,K ′) und Zweigspannungen U(K,K ′) im Netzwerk modelliert werdenkann (vgl. Abs. 2.3).

2.2 Kapazitive Speicherelemente

Das Konzept der Kompaktmodellierung soll im Folgenden an energiespeichernden Bau-elementen wie Kondensator- oder Spulenanordnungen konkret angewandt werden.

2.2.1 Kondensatoranordnungen (Geometrie und Randwertproblem)

(i) Randwertproblem:Wir betrachten eine Mehrelektroden-Kondensatoranordnung wie in §1.5.2.1 (iii)dargestellt: Leitende Gebiete Ωl (l = 0, . . . , N) schließen ein dielektrisches GebietΩ ein. ∂Ωl sind Äquipotentialflächen mit den Potentialwerten Vl.

Das Dielektrikum zwischen den Elektroden ∂Ωl sei elektrisch neutral, d.h. es trägtkeine Raumladung: ρ = 0. Die Aufgabe besteht darin, zu gegebenen Potentialwer-ten (V0, V1, . . . , VN) ∈ R

N+1 auf den Elektroden zunächst das elektrische PotentialΦ(�r ) und hieraus das elektrische Feld �E = −∇Φ im Dielektrikum Ω zu bestim-men, um dann die auf den Elektroden befindlichen Ladungen (Q0, Q1, . . . , QN)zu berechnen. Als erster Schritt ist also das bereits in (1.67) formulierte Randwert-problem zu lösen:

[V-RWP] div(ε∇Φ) = 0 in Ω und Φ|∂Ωl= Vl (l = 0, 1, . . . , N) (vgl. (1.67))

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72 2.2 Kapazitive Speicherelemente

n�

n�

n�

n�

1�

1��

N��

2�

2��

N�

Abbildung 2.5: Mehrelektroden-Kondensatoranordnung

(ii) Konstruktion des Potentials aus Grundlösungen:Die Lösung zu [V-RWP] lässt sich als Linearkombination von N+1 GrundlösungenΦ0(�r ),Φ1(�r ), . . . , ΦN(�r ) darstellen, die folgendermaßen definiert sind:

div(ε∇Φk) = 0 in Ω und Φk|∂Ωl= δkl =

⎧⎨⎩1 k = l

0 k = l(2.20)

Die Lösung Φ(�r ) zu [V-RWP] mit der Potentialvorgabe (V0, V1, . . . , VN) hat danndie Form

Φ(�r ) =N∑k=0

VkΦk(�r ) (2.21)

Beweis: div(ε∇Φ) = div(ε ∇

(N∑k=0

VkΦk

))=

N∑k=0

Vk div (ε ∇Φk)︸ ︷︷ ︸0

= 0

Φ|∂Ωl=

N∑k=0

Vk Φk|∂Ωl︸ ︷︷ ︸δkl

= Vl q.e.d.

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2.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix 73

2.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix

2.2.2.1 Beziehung zwischen Elektrodenladungen und -potentialen

(i) Die auf der Elektrode ∂Ωk befindliche Ladung Qk lässt sich mit dem GaußschenSatz folgendermaßen aus Φ(�r ) berechnen:

Qk =∫∂Ωk

�D ·�n da = −∫∂Ωk

ε�n · ∇Φ da = −N∑l=0

Vl

∫∂Ωk

ε�n · ∇Φl da

︸ ︷︷ ︸=: −Ckl

=N∑l=0

CklVl

Man beachte, dass �n hierbei die von Ωk ins Innere von Ω weisende Oberflächennor-male auf ∂Ωk bezeichnet (vgl. Abb. 2.5). Wir erhalten somit eine lineare Beziehungzwischen den Elektrodenladungen und -potentialen:

Qk =N∑l=0

CklVl (2.22)

wobei

Ckl := −∫∂Ωk

ε�n · ∇Φl da (k, l = 0, . . . , N) (2.23)

als Maxwellsche Kapazitätskoeffizienten bezeichnet werden. Diese hängen of-fenkundig nur von der Permittivität ε und der Geometrie der Elektrodenanordnungab.

(ii) Die Kapazitätskoeffizienten Ckl lassen sich auf eine einfachere, symmetrische Formbringen:

Ckl = −∫∂Ωk

ε∇Φl ·�n da =N∑j=0

∫∂Ωj

Φk|∂Ωj︸ ︷︷ ︸δkj

ε ∇Φl · (−�n ) da︸ ︷︷ ︸d�a

=∫∂Ω

Φkε ∇Φl · d�a

=∫Ω

div(Φkε ∇Φl) d3r =∫Ω

∇Φkε ∇Φl d3r +∫Ω

Φk div(ε ∇Φl)︸ ︷︷ ︸= 0

d3r

wobei hier d�a = −�n da das nach außen orientierte Oberflächenelement des GebietesΩ darstellt.

Wir erhalten also

Ckl =∫Ω

∇Φk ε ∇Φl d3r (2.24)

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74 2.2 Kapazitive Speicherelemente

Offenkundig ist die Matrix Ckl symmetrisch:

Ckl = Clk (2.25)

2.2.2.2 Darstellung der gespeicherten elektrischen Energie

(i) Mit Hilfe der Kapazitätskoeffizienten Ckl lässt sich die in einer Kondensatoran-ordnung gespeicherte elektrische Energie Wel durch die Klemmenpotentiale Vl aus-drücken.

Nach (1.15) gilt:

Wel = 12

∫Ω

�E ε �E d3r = 12

∫Ω

∇Φ ε ∇Φ d3r(2.21)= 1

2

N∑k=0

N∑l=0

∫Ω

Vk∇Φk ε ∇ΦlVl d3r

= 12

N∑k=0

N∑l=0

Vk

∫Ω

∇Φk ε ∇Φl d3r Vl = 12

N∑k=0

N∑l=0

Vk Ckl Vl

Die gespeicherte Energie ist somit ein quadratischer Ausdruck der Klemmenpoten-tiale:

Wel = 12

N∑k,l=0

Vl Clk Vk = 12 V T C V (2.26)

mit der Maxwellschen Kapazitätsmatrix

C = (Ckl) =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

C00 C01 · · · C0N

C10 C11 · · · C1N... ... . . . ...

CN0 CN1 · · · CNN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠

und dem Vektor der Klemmenpotentiale

V :=

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

V0

V1...

VN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠

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2.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix 75

(ii) Die Energie Wel ist stets positiv: Wel ≥ 0. Daher ist die (wegen (2.25) symmetri-sche) Kapazitätsmatrix C positiv semi-definit:

C = CT und V T C V ≥ 0 ∀ V ∈ RN+1

(iii) Fasst man Wel als Funktion der unabhängigen Variablen V = (V0, V1, . . . , VN)Tauf, so folgt aus (2.26):

∂Wel

∂Vk= 1

2

(N∑l=0

CklVl +N∑l=0

VlClk

)(2.25)=

N∑l=0

CklVl(2.22)= Qk

∂Wel

∂Vk= Qk bzw. ∂Wel

∂V= Q (2.27)

mit dem Vektor der Elektrodenladungen

Q :=

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

Q0

Q1...

QN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠Die lineare Beziehung zwischen Q und V (2.22) lautet dann in Matrixschreibweise

Q = C V (2.28)

Differenziert man (2.27) ein weiteres Mal nach V , so erhält man

∂2Wel

∂Vk∂Vl= Ckl bzw. ∂2Wel

∂V ∂V= C (2.29)

Ist die Funktion Wel = Wel(V ) bekannt, so kann man also aus (2.29) die Maxwell-sche Kapazitätsmatrix durch zweimaliges Differenzieren nach V bestimmen.

(iv) Da für ein gegebenes elektrisches Feld �E (�r ) das dazugehörige elektrische PotentialΦ(�r ) nur bis auf eine Konstante c ∈ R eindeutig bestimmt ist, erzeugen die Po-tentialvorgaben V und V + c e mit e := (1, 1, . . . , 1)T ∈ R

N+1 dasselbe �E -Feld imDielektrikum Ω und damit dieselben Elektrodenladungen Q. Es muss also gelten:

Q = C V = C(V + c e) = C V + c C e

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76 2.2 Kapazitive Speicherelemente

Hieraus folgt:

C e = 0 bzw.N∑l=0

Ckl = 0 (2.30)

(d.h. alle Zeilensummen von C sind Null.)

Wegen der Symmetrie C = CT gilt dann auch

eT C = 0 bzw.N∑k=0

Ckl = 0 (2.31)

(d.h. alle Spaltensummen von C sind Null.)

Hieraus ergibt sich als wichtige Konsequenz für die Gesamtladung Qtot =N∑k=0

Qk

der Kondensatoranordnung:

Qtot =N∑k=0

Qk = eT Q = eT C︸ ︷︷ ︸= 0

V = 0

alsoN∑k=0

Qk = 0 (2.32)

Dies ist die Lösbarkeitsvoraussetzung des zum Randwertproblem [V-RWP] dualenRandwertproblems [Q-RWP] (vgl. (1.70)), bei dem die Elektrodenladungen Q stattV als unabhängige Daten vorgegeben werden.

(v) Es ist instruktiv, den einfachsten Fall eines Kondensators mit zwei Elektroden(N = 1) zu betrachten. Wegen (2.30) und (2.31) hat die Maxwellsche Kapazitäts-matrix die Gestalt

C =

⎛⎜⎝ C −C−C C

⎞⎟⎠ mit C = C00 > 0 (2.33)

Die gespeicherte Energie ergibt sich zu

Wel = 12(V0CV0 + V1CV1 − V1CV0 − V0CV1)

= 12(V0 − V1)C(V0 − V1) = 1

2CU2

wobei U := V0−V1 die elektrische Spannung zwischen den zwei Elektroden bezeich-

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2.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix 77

net. Dies ist die üblicherweise verwendete Darstellung. Für die Elektrodenladungengilt:

Q0 = C(V0 − V1) = C ·UQ1 = C(V1 − V0) = −C ·U

(vi) Die Grundlösungen Φ0(�r ),Φ1(�r ), . . . , ΦN(�r ) sind nicht linear unabhängig. Viel-mehr erfüllen sie folgende Summenregel:

Das [V-RWP] mit V = e hat die Lösung Φ(�r ) ≡ 1. Hieraus folgt:

1 = Φ(�r ) =N∑k=0

Vk︸︷︷︸1

Φk(�r ) =N∑k=0

Φk(�r )

Also gilt mit (2.21)N∑k=0

Φk(�r ) = 1

bzw. Φ0(�r ) = 1 −N∑k=1

Φk(�r )(2.34)

Die Funktionen Φ1(�r ),Φ2(�r ), . . . , ΦN(�r ) bilden hingegen eine Basis des (affinen)Lösungsraumes. Für die Potentialvorgabe V ∈ R

N+1 lautet das zugehörige Poten-tial:

Φ(�r ) = V0 +N∑k=1

(Vk − V0)Φk(�r ) (2.35)

Dabei ist Uk,0 = Vk − V0 die Spannung zwischen ∂Ωk und ∂Ω0, und V0 kann alsReferenzwert für das Potential betrachtet werden.

(vii) Wie Gl.(2.30) und (2.31) zeigen, ist die Kapazitätsmatrix C nicht invertierbar(d.h. man kann aus den Ladungen Q nicht die Elektrodenpotentiale V eindeu-tig bestimmen). Diese Unbestimmtheit lässt sich aber beseitigen, indem man inÜbereinstimmung mit Gl. (2.35) die Spannungen Ul,0 = Vl − V0 als vorgegebe-ne Klemmengrößen betrachtet (bei festgehaltenem Referenzwert V0). Für die La-dungsberechnung erhält man so die Beziehung

Q = C(V − V0 e) ⇒ Qk =N∑l=0

Ckl (Vl − V0)︸ ︷︷ ︸= 0 für l = 0

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78 2.2 Kapazitive Speicherelemente

und damit

Qk =N∑l=1

Ckl Ul,0 (k = 1, . . . , N) (2.36)

Führt man die um die nullte Zeile und Spalte abgeschnittene reduzierte Kapazi-tätsmatrix

C =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

C11 C12 . . . C1N

C21 C22 C2N... . . . ...

CN1 CN2 . . . CNN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠(2.37)

sowie die reduzierten Ladungs- und Spannungsvektoren

Q =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝Q1...

QN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠ und U0 =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝U1,0

...

UN,0

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠ =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝V1 − V0

...

VN − V0

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠ (2.38)

ein, so lautet (2.36) nun

Q = C U0 (2.39)

mit der invertierbaren Matrix C.

Die gespeicherte Energie Wel lässt sich ebenfalls durch die reduzierte Kapazitäts-matrix C und die Klemmenspannung U0 ausdrücken:

Wel = 12 V TC V = 1

2 (V − V0 e)TC V = 12 (V − V0 e)TQ

= 12

N∑l=0

(Vl − V0)Ql = 12

N∑l=1

Ul,0 Ql = 12 UT

0 Q = 12 UT

0 C U0

Also gilt:

Wel = 12 UT

0 C U0 = 12

N∑k,l=1

Uk,0 Ckl Ul,0 (2.40)

und

Wel = 12 UT

0 Q = 12

N∑k=1

Uk,0 Qk (2.41)

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2.2.2 Maxwellsche Kapazitätsmatrix 79

2.2.2.3 Teilkapazitätskoeffizienten

Eine Mehrelektroden-Kondensatoranordnung kann auch als Netzwerk von kapazitivenZweipolen (Eintoren) dargestellt werden (Abb. 2.6). Hierzu führt man die elektrischenSpannungen Ukl := Vk − Vl zwischen den Elektroden ∂Ωk und ∂Ωl ein.

Abbildung 2.6: Teilkapazitätskoeffizienten

Es gilt dann:N∑l=0

Ckl Ukl =N∑l=0

Ckl︸ ︷︷ ︸= 0

Vk −N∑l=0

Ckl Vl = −Qk

Man definiert nun die Teilkapazitätskoeffizienten als

Kkl := −Ckl (k, l = 0, . . . , N ; nur k = l wird benötigt) (2.42)

und erhält

Qk =N∑

l=0l�=k

Kkl Ukl (2.43)

Anschaulich bedeutet diese Gleichung, dass die auf dem Netzwerkknoten k befindlicheLadung Qk in N additive Teilladungen Qkl = Kkl Ukl (l = 0, . . . , N ; l = k) aufgespal-ten wird; jede Teilladung Qkl wird einem zweipoligen Kondensator mit der KapazitätKkl = −Ckl zugeordnet, der zwischen die Knoten k und l als Zweigelement plaziertwird.

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80 2.3 Induktive Speicherelemente

2.3 Induktive Speicherelemente

2.3.1 Spulenanordnungen (Geometrie und Topologie)

(i) Grundkonfiguration:Induktive Bauelemente bestehen typischerweise aus fast geschlossenen stromdurch-flossenen Leiterschleifen, die ein zeitveränderliches Magnetfeld erzeugen. Dieseswirkt über das Induktionsgesetz auf die Leiterschleifen zurück, in denen es ei-ne elektrische Spannung induziert, die wiederum einen induzierten Strom treibenkann. Um die magnetische Feldenergie zu konzentrieren, platziert man im Inne-ren der Leiterschleife (meist Spulen mit vielen Windungen) ein magnetisierbaresMaterial mit großer Permeabilität.

..

. . .1( )u t�

2( )u t�

( )N

u t�

N NC S� �

1S

1 1C S� �

1da�

1( )i t

1t�1

( )r s�

1

1( )

drt s

ds

2( )i t

( )N

i t

2 2C S� �

Abbildung 2.7: Spulenanordnung

Im Folgenden betrachten wir daher N ruhende, drahtförmige LeiterschleifenCk (k = 1, 2, ..., N), welche orientierte Flächen Sk einschließen (Ck = ∂Sk) unddurch die ein zeitveränderlicher Strom ik(t) fließt. Dieser wird einerseits von derSpeisespannung uk(t) an den Klemmen der Schleife Ck getrieben, andererseits abervon der induzierten Spannung uind,k(t). Hat die Schleife Ck den ohmschen Innen-widerstand rk, so gilt:

uk(t) = −uind,k(t) + rkik(t) (2.44)

Um die Orientierung der Zählpfeile von uk(t) und uind,k(t) zu verstehen, betrachtenwir zwei spezielle Situationen.

(ii) Spule als Generator:Wir betrachten eine ideale (d.h. widerstandslose) Spule mit w Windungen, derenInneres von einem homogenen zeitveränderlichen Magnetfeld

�B (t) = B(t)�e z

erfüllt ist. Die Spule stellt eine orientierte Leiterschleife C dar, die eine orientier-te “wendeltreppenförmige” Fläche S einschließt, welche durch “Verkettung” vonw gleichartigen Flächenstücken S0 entsteht, die jeweils einer einfachen Spulenwin-dung entsprechen. Wir nehmen an, dass die orientierte Flächennormale von S0 und

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2.3.1 Spulenanordnungen (Geometrie und Topologie) 81

�B in dieselbe Richtung weisen; dann wird jede Windungsfläche S0 vom magneti-schen Fluss

Φ(S0) =∫S0

�B · d�a = |S0| ·B(t)

durchsetzt, wobei |S0| den Flächeninhalt von S0 bezeichnet.

Windungenw

LR

i

indu

i

G

B�

i

LR

indu

Abbildung 2.8: Spule als Generator

Nach dem Induktionsgesetz wird in der Spule eine elektrische Spannung uind(t)induziert:

uind(t) = − ddtΦ(S) = −w d

dtΦ(S0) = −w|S0| dBdt

(2.45)

Hierbei ist der Zählpfeil der induzierten Spannung an den Klemmen der Spulegleichorientiert mit dem Umlaufsinn der Leiterschleife C und damit auch mit demZählpfeil des Spulenstroms I, der fließt, wenn die Spule als Generator zum Betrei-ben einer äußeren Last RL verwendet wird. Die Spule fungiert in dieser Situationals (ideale) Spannungsquelle mit der Ausgangsspannung uind(t) (siehe Abb. 2.8).

(iii) Spule als Verbraucher:Schließt man an die Klemmen der oben betrachteten (widerstandslosen) Spule eineäußere Spannungsquelle mit zeitveränderlicher Spannung u(t) an, so fließt durchdie Spule ein Strom i(t). Behält man die Zählrichtung des Stromes i(t) in der Spulebei, so muss der Zählpfeil von u(t) gegengleich zu dem von uind(t) sein, weil dieSpule nun als Verbraucher fungiert (siehe Abb. 2.9): u(t) = −uind(t).

Lu

ii

u

indu

B�

Abbildung 2.9: Spule als Verbraucher

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82 2.3 Induktive Speicherelemente

Der Spulenstrom i(t) erzeugt nach dem Ampèreschen Gesetz (1.4) im Spuleninne-ren ein Magnetfeld B(t) proportional zu i(t):

B(t) = c · i(t) mit c = constans

wobei i(t) von u(t) getrieben wird. Eingesetzt in die Beziehung (2.45) erhalten wir

u(t) = −uind(t) = ddtΦ(S) = w|S0| dB

dt = w|S0|c︸ ︷︷ ︸=: L

· didt

oder in Kurzform

u(t) = Ldidt

(2.46)

Die Größe L heißt (Eigen-)Induktivität der Spule und charakterisiert ihr Klem-menverhalten im Sinne eines Kompaktmodells.

2.3.2 Induktionskoeffizienten

(i) Um das Klemmenverhalten einer Spulenanordnung zu beschreiben, machen wirfolgende vereinfachende Modellannahmen:

a) Alle Spulen sind ortsfest, der geometrische Aufbau ist starr und zeitunab-hängig. Die induzierten Spannungen werden in diesem Fall allein von derZeitableitung des �B -Feldes verursacht (Ruheinduktion).

b) Die Spulenströme ik(t) ändern sich mit der Zeit so langsam (d.h. niederfre-quent), dass die quasistationäre Näherung angewendet werden darf (vgl.Abs. 2.1.2). Die Antennenwirkung von Spulen und Wellenausbreitung werdenvernachlässigt. Die in den Spulen Ck fließenden Stromdichten�jk(�r , t) erzeugenMagnetfelder �Hk(�r , t), die unter Vernachlässigung des VerschiebungsstromsLösungen der stationären Ampèreschen Beziehung

rot �Hk(�r , t) = �jk(�r , t) (2.47)

sind. Damit sind das Magnetfeld und die hiervon induzierten Spannungenzeitgleich mit den erzeugenden Strömen verknüpft (keine Retardierungseffek-te).

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2.3.2 Induktionskoeffizienten 83

(ii) Stellt man das von der Spulenstromdichte �jk(�r , t) erzeugte Magnetfeld �Hk(�r , t)über ein Vektorpotential �Ak(�r , t) dar gemäß �Hk = 1

μrot �Ak, so genügt (in Coulomb-

Eichung div �Ak = 0) das Vektorpotential der (vektoriellen) Poissongleichung

Δ �Ak(�r , t) = −μ�jk(�r , t) (2.48)

Diese Gleichung entspricht Gl. (2.5), wenn Raumladungseffekte vernachlässigt wer-den.Falls sich die Spulenanordnung (näherungsweise) in einem unendlich ausgedehntenMedium mit Permeabilität μ befindet, kann man die Poissongleichung (2.48) mitHilfe der Vakuum-Greenfunktion (vgl. Abs. 1.5.3, Gl. (1.100))

G(�r , �r ′) = 14π

1|�r − �r ′|

lösen und erhält:

�Ak(�r , t) = μ

∫R3

�jk(�r ′, t)|�r − �r ′| d3r′ (2.49)

(iii) Die dreidimensionalen Stromdichten �jk(�r , t) müssen nun durch die Spulenströmeik(t) und die Geometrie der Leiterschleifen Ck ausgedrückt werden. Hierzu stellenwir den linienförmigen Leiter Ck (“Draht”) durch eine Ortskurve mit Parametrisie-rung s �→ �rk(s) dar, wobei s die Bogenlänge ist. Senkrecht zum Einheitstangenten-vektor �tk(s) := d�rk

ds habe der Draht eine überall konstante Querschnittsfläche ak,die vom Strom ik(t) homogen durchflossen wird; der Stromdichtevektor �jk weisehierbei in die Richtung des Tangentialvektors �tk (siehe Abb. 2.10).

( )k

j r�

Segment vonk

C

k

k

drt

ds�

Abbildung 2.10: Liniensegment eines drahtförmigen Leiters

Die Stromdichte �jk lässt sich dann als Linienstromdichte auf Ck darstellen:

�jk(�rk(s), t) = �tk(s)ik(t)ak

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84 2.3 Induktive Speicherelemente

Die Volumenintegration in (2.49) führen wir so aus, dass wir bei festem �r (s) erstüber den Drahtquerschnitt (mit differentiellem Flächenelement da) integrieren undanschließend über die Kurve Ck:

�jk(�r , t) d3r = �jk(�r , t) da ds = ik(t)ak

da �tk ds (2.50)

Da �tk ds = d�sk das vektorielle Linienelement entlang der Kurve Ck ist, erhaltenwir aus (2.49) die Beziehung

�Ak(�r , t) = μ

∫Ck

d�s|�r − �s | ik(t). (2.51)

Man beachte, dass somit das von der Spule Ck erzeugte Magnetfeld als Produkteiner Ortsfunktion und des Spulenstroms dargestellt werden kann. Hierauf basiertdas nun folgende Konzept der Induktivitätskoeffizienten.Das von allen Spulen insgesamt erzeugte Vektorpotential ergibt sich aus dem Su-perpositionsprinzip:

�A (�r , t) =N∑k=1

�A k(�r , t) =N∑k=1

μ

∫Ck

d�s|�r − �s | ik(t) (2.52)

(iv) Die in der Leiterschleife Ck induzierte Spannung ist nach dem Induktionsgesetz

uind,k(t) = − ddtΦ(Sk) = − d

dt

∫Sk

�B (�r , t)︸ ︷︷ ︸rot �A

· d�a = − ddt

∫Ck

�A (�r , t) · d�r

= −∫Ck

∂ �A

∂t(�r , t) · d�r (2.52)= −

N∑l=1

μ

∫Ck

∫Cl

d�s · d�r|�r − �s |︸ ︷︷ ︸

=: Lkl

ddtil(t)

wobei die Größen

Lkl := μ

∫Ck

∫Cl

d�r · d�s|�r − �s |

(“Neumannsche Formel”)(2.53)

als Induktionskoeffizienten bezeichnet werden. Eingesetzt in Gl. (2.44) erhältman somit als Kompaktmodell für die Spulenanordnung die Transformatorglei-chungen

uk(t) = rkik(t) +N∑l=1

Lkldildt (2.54)

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2.3.3 Zusammenhang mit der magnetischen Feldenergie 85

Hierbei ist rk der ohmsche Innenwiderstand der Leiterschleife Ck. Die KoeffizientenLkk heißen Selbstinduktionskoeffizienten, Lkl mit k = l heißen Gegeninduk-tionskoeffizienten. Offenkundig gilt

Lkl = Llk (k, l = 1, .., N) (2.55)

Die Induktivitätsmatrix

L = (Lkl) =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

L11 L12 · · · L1N

L21 L22 · · · L2N... ... . . . ...

LN1 LN2 · · · LNN

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠(2.56)

ist daher symmetrisch und sogar positiv definit (siehe nächster Abschnitt).

2.3.3 Zusammenhang mit der magnetischen Feldenergie

(i) Mit Hilfe der Induktivitätskoeffizienten Lkl lässt sich die in einer Spulenanord-nung gespeicherte magnetische Energie Wmag als Funktion der Spulenströme ilausdrücken. Nach (1.23) gilt für lineare Medien ( �B = μ �H ):

Wmag =∫Ω

12�H · �B d3r = 1

2

∫Ω

�H · rot �A d3r

= 12

∫Ω

rot �H︸ ︷︷ ︸�j

· �A d3r − 12

∫∂Ω

( �H × �A ) d�a

wobei div( �H × �A ) = rot �H · �A − �H · rot �A und der Gaußsche Integralsatz verwen-det wurden. In quasistationärer Näherung gilt rot �H = �j . Wählt man für Ω eineKugel K(�O ,R), die die Spulenanordnung einschließt, und lässt R → ∞ gehen, soverschwindet das Oberflächenintegral (wegen | �H × �A | ∼ 1/R5 für quasistationäresMagnetfeld). Wir erhalten somit

Wmag = 12

∫R3

�j · �A d3r (2.57)

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86 2.3 Induktive Speicherelemente

(ii) Das Integral (2.57) ist nur über solche Raumbereiche zu erstrecken, auf denen dieStromdichte �j nicht verschwindet, d.h. über die Leiterschleifen Ck. Wegen (2.50)folgt:

Wmag = 12

N∑k=1

∫Ck

�A (�r , t) · d�r · ik(t) (2.58)

Nun ist ∫Ck=∂Sk

�A (�r , t) · d�r =∫Sk

rot �A · d�a =∫Sk

�B · d�a = Φ(Sk) (2.59)

der magnetische Fluss durch die von Ck begrenzte Fläche Sk, sodass wir das inter-essante Ergebnis erhalten:

Wmag = 12

N∑k=1

Φ(Sk) · ik (2.60)

(iii) Setzen wir schließlich die Felddarstellung (2.52) in (2.58) ein, so folgt:

Wmag = 12

N∑k,l=1

μ

∫Ck

∫Cl

d�s · d�r|�r − �s |︸ ︷︷ ︸

Lkl

· ik il

Damit ist die magnetische Feldenergie mit Hilfe der Induktivitätsmatrix als Funk-tion der Spulenströme il ausgedrückt:

Wmag = 12

N∑k,l=1

ik Lkl il = 12 IT L I (2.61)

mit dem Vektor der Spulenströme I := (i1, i2, ..., iN)T .

Da die magnetische Energie stets positiv ist, muss die Induktivitätsmatrix positivdefinit sein.Durch Einsetzen von (2.52) in (2.59) erhalten wir schließlich noch die wichtigeBeziehung

Φ(Sk) =N∑l=1

Lklil (2.62)

(iv) Verallgemeinerung auf dreidimensionale stromführende Schleifen

Die Beziehung (2.61) gilt auch für nicht-drahtförmige Schleifen, also dreidimensio-nale stromführende Gebiete Ωl mit ausgedehntem Querschnitt, die aber topologischeinen induktiven Zweipol (Eintor) darstellen.

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2.3.3 Zusammenhang mit der magnetischen Feldenergie 87

(ein)

lA

(aus)

lA

l�

li

indu

li

Abbildung 2.11: Räumlich ausgedehnte Leiterschleife

In diesem Fall wird Gl. (2.61) zur allgemeinen Definition der Induktivitätskoeffizi-enten für induktiv gekoppelte Eintore verwendet:

∂Wmag

∂ik=

N∑l=1

Lkl · il (2.63)

∂2Wmag

∂ik∂il= Lkl (2.64)

(v) Allgemeine Neumannsche Formel:

Im Falle räumlich ausgedehnter Leiterschleifen (Abb. 2.11) kann die Stromvertei-lung in jeder Schleife Ωl als Produkt

�jl(�r , t) = �sl(�r ) · il(t)

angesetzt werden. Dabei ist die “Formfunktion” �sl(�r ) die Lösung des stationärenStrömungsproblems (vgl. Abs. 1.5.4.4)

div �s l = 0 in Ωl

mit der Randbedingung, dass durch die beiden Klemmen A(in)l und A

(out)l der

Einheitsstrom fließt:∫A

(in)l

�sl · d�a = −1 und∫A

(out)l

�sl · d�a = +1

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88 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Die magnetische Feldenergie kann dann mit Gl. (2.57) und Gl. (2.49) berechnetwerden:

Wmag = 12

∫R3

�j · �A d3r

= 12

N∑k=1

∫Ωk

�jk(�r )N∑l=1

μ

∫Ωl

�jl(�s )|�r − �s | d3r d3s

= 12

N∑k,l=1

μ

∫Ωk

∫Ωl

�sk(�r ) ·�sl(�s )|�r − �s | d3r d3s

︸ ︷︷ ︸Lkl

· il(t) ik(t)

Hieraus leiten sich dann mit Hilfe von (2.64) die Neumannschen Induktivitäts-koeffizienten ab:

Lkl = ∂2Wmag

∂ik∂il= μ

∫Ωk

∫Ωl

�sk(�r ) ·�sl(�s )|�r − �s | d3r d3s (2.65)

2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Wechselstromnetzwerke sind der klassische Ansatz zur Beschreibung der Funktion vonWechselstromgeräten und -anlagen auf der Makromodellebene. In der Wechselstrom-technik werden zeitlich periodische, insbesondere sinusförmige (harmonische) Strom-und Spanungsverläufe benutzt, weil diese eine Reihe von technisch sehr wichtigen An-wendungen ermöglichen. Die wesentlichen Vorteile sind

• Transformierbarkeit (→ Energieversorgung)

• Modulierbarkeit (→ Informationsübertragung)

• Anpassung an Generatoren und Motoren

Im folgenden Abschnitt betrachten wir einfache niederfrequente Wechselstromnetzwerkeaus einfachen linearen resistiven, kapazitiven und induktiven Zweipolen (Eintoren), alsoWiderständen, Kondensatoren und Spulen, für die die quasistationäre Näherung und dieKonzentriertheitshypothese gelten.

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2.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre 89

2.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre

2.4.1.1 Wechselspannungsgenerator

Die klassischen und weithin eingesetzten Erzeugungsprinzipien für Wechselstrom (AC =alternating current) sind

• im Magnetfeld rotierende Leiter (bei kleinen Frequenzen und hoher Leistung)

• Schwingkreis (bei höheren Frequenzen und kleiner bis mittlerer Leistung)

Als idealisiertes Beispiel für einen Wechselspannungsgenerator betrachten wir eine ro-tierende Leiterschleife, welche durch Bewegungsinduktion eine Wechselspannung u(t)erzeugt (Abb. 2.12).

( )u t

B�

Lager

Achse

( )t�Drehwinkel

�z

e�

da�

A

Abbildung 2.12: Rotierende Leiterschleife als Wechselstrom-Generator

Die Flächennormale der Leiterschleife A bildet mit einer raumfesten Richtung (= kon-stantes Magnetfeld �B ) den Drehwinkel ϕ(t), der sich mit konstanter Winkelgeschwin-digkeit (= Kreisfrequenz) dϕ

dt = ω = const. zeitlich verändert:

ϕ(t) = ωt+ ϕ0 (2.66)

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90 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Der magnetische Fluss durch die Leiterschleife beträgt

Φ(t) =∫A(t)

�B · d�a = A| �B | cosϕ(t) = AB0 cos(ωt+ ϕ0)

Hieraus ergibt sich die induzierte Spannung:

u(t) = − dΦdt = ωAB0 sin(ωt+ ϕ0)

Die Generatorspannung hat damit -bauartbedingt- den Verlauf

u(t) = U sin(ωt+ ϕ0) mit U := ωAB0 (2.67)

U

0

ˆ sinU �

� �0

ˆ( ) sinu t U t� �� �

t

T

0 0t � �� � �

Abbildung 2.13: Sinusförmige Wechselspannung

Für sinusförmige Wechselspannungen und -ströme sind folgende Bezeichnungen bzw.Kenngrößen eingeführt:

• u(t): Momentanwert

• U : Scheitelwert

• ϕ(t) = ωt+ ϕ0: Momentane Phase

• ϕ0 = ωt0: Anfangsphase (Phase bei t = 0)

• T : Periodendauer, definiert als kleinstes T ∈ R mit: ∀k∈Z

u(t) = u(t+ k T )

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2.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre 91

• f := 1T

: Frequenz (Einheit 1s = Hz (Hertz))

• ω = 2πT

= 2πf : Kreisfrequenz (Einheit Hz)

2.4.1.2 Zeigerdarstellung

(i) Eine praktische und elegante Methode, sinusförmige Spannungs- und Stromver-läufe graphisch darzustellen und damit auch analytisch zu rechnen, ist die Zei-gerdarstellung. Hierzu stellt man eine Größe mit sinusförmigem Zeitverlauf -hierexemplarisch die Wechselspannung u(t) in Gl. (2.67)- durch einen zweidimensiona-len Vektor der Länge U in einer U1-U2-Ebene dar, der ausgehend von der U1-Achsein Richtung des Polarwinkels ϕ(t) weist (Abb. 2.14).

⎛⎜⎝U cosϕ(t)

U sinϕ(t)

⎞⎟⎠ := U(t) =

⎛⎜⎝U1(t)

U2(t)

⎞⎟⎠ (2.68)

ist ein rotierender Zeiger (englisch: Phasor), dessen Spitze auf einem Kreis mitRadius U in einer U1-U2-Ebene (= R

2) mit dem Phasen-(Dreh-)winkel ϕ(t) um-läuft, wobei ϕ(t) = ωt+ ϕ0 gilt. Die Projektion von U(t) auf die U2-Achse

U2(t) = U sin(ϕ(t)) = U sin(ωt+ ϕ0) = u(t)

beschreibt dann den tatsächlich auftretenden zeitlichen Spannungsverlauf u(t).

Da der Zeiger U(t) mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω im Gegenzeigersinnläuft, kann man seine momentane Richtung ϕ(t) zu jedem Zeitpunkt aus seinerAnfangsposition U(t = 0) zum Zeitpunkt t = 0 dadurch konstruieren, dass mandiesen um den Drehwinkel ωt weiterdreht. Daher genügt die Kenntnis von U(t = 0),um den realen Spannungsverlauf u(t) zu reproduzieren. Es gilt also der

Satz: Der Zeiger U = U(t = 0) mit Länge U und Polarwinkel ϕ0 charak-terisiert (bei fester Kreisfrequenz ω) den realen Spannungsverlaufu(t) eineindeutig.

(ii) Um mit Zeigern algebraisch rechnen zu können, ist es zweckmäßig, diese als komple-xe Zahlen aufzufassen. Wir fassen also die U1-U2-Ebene als komplexe Zahlenebeneauf, deren Elemente den Zahlenkörper der komplexen Zahlen C = (R2,+, · ) bilden.Die kartesischen Einheitsvektoren e1 und e2 identifizieren wir mit dem Einselementin C und mit der imaginären Einheit j =

√−1:

e1 = 1 und e2 = j =√−1 (2.69)

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92 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

2U

1U

( )U t

0ˆ ( )U U t t� �

U0

0( )t t� � �� �

Abbildung 2.14: Zeigerdarstellung für eine sinusförmige Wechselspannung

Einen Zeiger U schreiben wir dann in der für komplexe Zahlen üblichen Notation

U = U1e1 + U2e2 = U1 · 1 + U2 · j = U1 + jU2

Es gilt also:

U = U1 + jU2

mit U1 = Re U (Realteil) und U2 = Im U (Imaginärteil)(2.70)

Will man einen Zeiger U durch seine Länge U und seinen Polarwinkel ϕ ausdrücken,erweist sich die Darstellung in Polarkoordinaten (2.68) als zweckmäßig:

U = U (cosϕ+ j sinϕ) (2.71)

wobei gilt:

U = |U | =√U2

1 + U22 (a)

ϕ = arctan U2

U1=: argU (b)

mit ϕ ∈ [0, 2π)

(2.72)

Mit der komplexen Exponentialfunktion

ejϕ := cosϕ+ j sinϕ (2.73)

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2.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre 93

lässt sich dann ein Zeiger ganz kompakt schreiben als

U = U ejϕ (a)bzw. U = |U | ej argU (b)

(2.74)

(iii) Für den komplexen Wechselstrom-Kalkül sind folgende Aussagen wichtig:

• Für α, β ∈ R gilt:

ejα · ejβ = ej(α+β) (2.75)

• Es gilt: Alle komplexen Zeiger der Länge 1 haben die Form

d(ϕ) = ejϕ mit ϕ ∈ [0, 2π). (2.76)

• Für ϕ ∈ R (mod 2π) beschreibt die lineare Abbildung

C � V �→ V ′ = d(ϕ) ·V = ejϕ ·V (2.77)

die Drehung in R2 um den Drehwinkel ϕ (mod 2π) im Gegenzeigersinn. Denn:

V ′ = ejϕV = ejϕ ejα︸︷︷︸α = arg(V )

|V | = |V |ej(α+ϕ)

Also:

arg(V ′) = ϕ+ α

|V ′| = |V |

Im( )V

Re( )V

| |j

V V e��

| |V

'V

Abbildung 2.15: Drehung um Winkel ϕ in R2(≡ C)

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94 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

• Drehungen im R2(≡ C) sind additiv und kommutativ.

Wegen ejϕ · ejψ = ej(ϕ+ψ) = ejψejϕ gilt:

d(ϕ)d(ψ) = d(ϕ+ ψ) = d(ψ)d(ϕ) (2.78)

• Für Z ∈ C, Z = |Z|ejψ mit ψ = argZ, beschreibt die lineare Abbildung

C → C : V �→ V ′ = Z ·V (2.79)

eine Drehstreckung mit dem Drehwinkel ψ = arg Z und dem Streckungsfaktorr = |Z|.

Begründung:

V ′ = Z ·V = |Z|ejψ · |V |ejα = |Z||V | · ej(ψ+α)

� jV V e

��

( )jV r V e

� ��� ��

Im ( )V

Re ( )V

Abbildung 2.16: Drehstreckung in R2(≡ C)

Jede komplexe Zahl Z ∈ C lässt sich somit als Drehstreckung in R2(≡ C)

auffassen und umgekehrt:

Drehung ≡ Multiplikation mit ejψ

Streckung ≡ Multiplikation mit r ∈ R+

Drehstreckung ≡ Multiplikation mit rejψ =: Z ∈ C

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2.4.1 Grundlegende Begriffe der Wechselstromlehre 95

(iv) Allgemeine Zeigerdarstellung von Wechselspannung und -strom:

Wir können der realen Wechselspannung

u(t) = U sin(ωt+ ϕu) (2.80)

und dem realen Wechselstrom

i(t) = I sin(ωt+ ϕi) (2.81)

in eineindeutiger Weise die komplexen Zeiger

U = Uejϕu und I = Iejϕi

zuordnen.

Ist U bzw. I bekannt, so erhält man den realen Zeitverlauf von u(t) bzw. i(t),indem man U bzw. I mit der Kreisfrequenz ω in der komplexen U1-U2- (bzw.I1-I2)-Ebene rotieren lässt und die umlaufenden Zeiger

U(t) = ejωt · Uejϕu = Uej(ωt+ϕu) (2.82)

I(t) = ejωt · Iejϕi = Iej(ωt+ϕi) (2.83)

auf die imaginäre Achse (U2-Achse, I2-Achse) projiziert:

Im U(t) = Im(Uej(ωt+ϕu)

)= U sin(ωt+ ϕu) = u(t)

Im I(t) = Im(Iej(ωt+ϕi)

)= I sin(ωt+ ϕi) = i(t)

Bemerkung: Dass man u(t) mit Im U(t) identifiziert, ist reine Konvention; mankann ebenso gut mit Re U(t) operieren.

(v) Strom-Spannungs-Zeigerdiagramm:Es ist zweckmäßig, U und I in ein gemeinsames Achsensystem einzutragen, ins-besondere wenn mehrere Wechselspannungen und -ströme in ihrer gegenseitigenBeziehung diskutiert werden sollen.

Man muss aber beachten, dass U und I unterschiedliche physikalische Einheitenbesitzen und daher in der komplexen Ebene verschiedene Skalen (Maßstäbe) an-zuwenden sind.

Will man aus einem Zeigerdiagramm den tatsächlichen Zeitverlauf der Ströme undSpannungen ableiten, so lässt man das ganze Diagramm starr mit der Drehung ejωtrotieren und projiziert die rotierenden Zeiger auf die imaginäre Achse.

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96 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

u�

i�

Im

Re

UU

I

I

Abbildung 2.17: Zeigerdiagramm für Wechselspannung und -strom.

2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen

2.4.2.1 Lineare Wechselstrom-Bauelemente

Definition: Unter einem linearen Wechselstrombauelement wollen wir im folgendeneinen stromerhaltenden Zweipol (d.h. Eintor) verstehen, bei dem die anliegende Span-nung u(t) und der durchlaufende Klemmenstrom i(t) eine zeitunabhängige und arbeits-punktunabhängige Beziehung zwischen den Scheitelwerten U und I sowie den Phasenϕu und ϕi aufweisen.

I

Z

U

Abbildung 2.18: Schaltungssymbol für ein lineares Bauelement

Das heißt, dass die rotierenden Spannungs- und Stromzeiger U(t) und I(t) über einekonstante Drehstreckung Z ∈ C starr miteinander verknüpft sind:

∃Z∈C

U(t) = Z · I(t) ⇔ ejwtU = ZejwtI

Hieraus folgt die zeitunabhängige Beziehung

U = Z · Ikomplexes Ohmsches Gesetz

(2.84)

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 97

Die Größe Z ∈ C heißt Impedanz (oder komplexer Scheinwiderstand) und charakteri-siert das lineare Bauelement. Ausgedrückt durch Scheitelwerte und Phasenwinkel lautet(2.84)

Uejϕu = |Z|ej arg(Z) · Iejϕi

Dies ist äquivalent zu den beiden reellen Beziehungen

U = |Z|I (a)arg(Z) = ϕu − ϕi =: Δϕ (b)

(2.85)

|Z| heißt (reeller) Scheinwiderstand und Δϕ := ϕu − ϕi = argZ heißt Phasenver-schiebung.

Die Impedanz lässt sich aus diesen beiden Größen darstellen als

Z = |Z|ejΔϕ (2.86)

Die Umkehroperation zu (2.84) lautet:

I = 1Z

· U =: Y · U (2.87)

Die Größe Y := 1Z

wird als Admittanz (oder komplexer Scheinleitwert) bezeichnet. IhrBetrag |Y | heißt (reeller) Scheinleitwert. Wegen

Y =(|Z|ej argZ

)−1= 1

|Z|e−j argZ (2.88)

besteht zwischen Betrag und Phase von Admittanz und Impedanz der Zusammenhang

|Y | = 1|Z| (a)

arg Y = − argZ = −Δϕ (b)(2.89)

2.4.2.2 Elementare Beispiele für lineare Wechselstrombauelemente

(i) Ohmscher Widerstand:Für „nicht zu hohe Frequenzen“ (= quasistationäre Näherung) gilt:

u(t) = R i(t) ⇔ ∀t∈R

U sin(ωt+ ϕu) = RI sin(ωt+ ϕi)

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98 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Hieraus schließen wir

U = RI (a)ϕu = ϕi mod 2π, d.h. Δϕ = 0 (b)

(2.90)

Damit ergibt sich mit (2.86) für die Impedanz:

Z = Re(j · 0) = R (2.91)

Das komplexe Ohmsche Gesetz lautet dann:

U = RI (2.92)

Dies bedeutet geometrisch, dass der Strom- und der Spannungszeiger gleichsinnigparallel gerichtet sind.

Zeigerdiagramm:

u�

Im

Re

U

I

i�

Abbildung 2.19: Zeigerdiagramm für einen ohmschen Widerstand

Schaltsymbol:

U

I

R

Abbildung 2.20: Schaltsymbol für einen ohmschen Widerstand

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 99

(ii) Induktivität:

Es gilt: u(t) = Ldi(t)dt (vgl. Gl. (2.46))

Setzen wir die realen Zeitverläufe (2.80) und (2.81) ein, erhalten wir:

∀t∈R

U sin(ωt+ ϕu) = ωLI cos(ωt+ ϕi) = ωLI sin(ωt+ ϕi + π

2 )

Vergleich von Amplitude und Phase ergibt:

U = ωLI (a)

Δϕ = ϕu − ϕi = π

2 mod 2π (b)(2.93)

Mit (2.86) folgt für die Impedanz:

Z = ωLejπ2 = jωL (2.94)

Die Impedanz is also in diesem Fall rein imaginär mit positivem Imaginärteil. DieGröße Im Z = ωL heißt Blindwiderstand (Reaktanz). Das komplexe OhmscheGesetz hat die Form

U = jωLI (2.95)

Der Spannungszeiger eilt im Zeigerdiagramm dem Stromzeiger um 90◦ = π

2 voraus.

Zeigerdiagramm:

2u i

�� � �� � � �

i�

u�

Spule LIm

Re

U I

��

Abbildung 2.21: Zeigerdiagramm für eine Induktivität (ideale Spule)

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100 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Schaltsymbol:

U

I

L

Abbildung 2.22: Schaltsymbol für eine Induktivität (ideale Spule)

(iii) Kapazität:

In quasistationärer Näherung gilt C = q(t)u(t) , wobei q(t) die auf der positiven Elek-

trode gespeicherte Ladung ist und u(t) die anliegende Klemmenspannung. Daherfließt beim Laden oder Entladen des Kondensators der Klemmenstrom

i(t) = Cdu(t)

dt(2.96)

Mit den realen Zeitverläufen (2.80) und (2.81) ergibt sich

∀t∈R

I sin(ωt+ ϕi) = ω C U cos(ωt+ ϕu) = ω C U sin(ωt+ ϕu + π

2 )

Vergleich von Amplitude und Phase ergibt

I = ωCU (a)

Δϕ = ϕu − ϕi = −π

2 mod 2π (b)(2.97)

Mit (2.86) folgt für die Impedanz

Z = 1ωC

e−j π2 = 1

jωC(2.98)

Die Admittanz ist der Kehrwert

Y = 1Z

= jωC (2.99)

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 101

Die Impedanz ist rein imaginär mit negativem Imaginärteil. Die Größe Im Y = ωCheißt Blindleitwert (Suszeptanz). Das komplexe Ohmsche Gesetz hat die spezielleForm

I = jωC · U (2.100)

bzw.

U = 1jωC

I (2.101)

Der Spannungszeiger läuft im Zeigerdiagramm dem Stromzeiger um Δϕ = −90◦ =−π

2 hinterher.

Zeigerdiagramm:

2u i

�� � �� � � � �

Kondensator C

i�

u�

Im

Re

UI��

Abbildung 2.23: Zeigerdiagramm für eine Kapazität (idealer Kondensator)

Schaltsymbol:

U

I

C

Abbildung 2.24: Schaltsymbol für eine Kapazität (idealer Kondensator)

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102 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

2.4.2.3 Kirchhoffsche Regeln für Wechselstromschaltungen

(i) An den Knoten eines Wechselstrom-Netzwerks gilt die Kirchhoffsche Knotenregel(2.17): Sind ik(t) (k ∈ K) die von einem Knoten auslaufenden Zweigströme, sogilt:

∀t∈R

∑k∈K

ik(t) = 0 (2.102)

Weiterhin gilt für jede Masche die Kirchhoffsche Maschenregel (2.19):Sind ul(t) (l ∈ M) die längs einer Masche auftretenden Zweisspannungen und ue(t)die in der Masche eingeprägte(n) Spannungsquelle(n), so gilt:

∀t∈R

∑l∈M

ul(t) = ue(t) (2.103)

(ii) Um diese beiden Gleichungen in die komplexe Zeigerdarstellung zu übersetzen,benutzen wir die rotierenden Spannungs- und Stromzeiger (2.82) und (2.83) underhalten

an Knoten:

∀t∈R

∑k∈K

Im Ik(t) = Im⎛⎝∑k∈K

Ik(t)⎞⎠ = Im

⎡⎣∑k∈K

(Ikejωt)⎤⎦ = Im

⎡⎣⎛⎝∑k∈K

Ik

⎞⎠ ejωt⎤⎦ = 0

längs Maschen:

∀t∈R

∑l∈M

Im U l(t) = Im⎛⎝∑l∈M

U l(t)⎞⎠ = Im

⎡⎣∑l∈M

(U lejωt)

⎤⎦ = Im⎡⎣⎛⎝∑

l∈MU l

⎞⎠ ejωt⎤⎦

= Im U e(t) = Im(U ee

jωt)

Werten wir diese Gleichungen aus für t = 0 und ωt = π

2 , so erhalten wir dieKirchhoffschen Regeln in komplexer Darstellung

∑k∈K

Ikejϕi,k =

∑k∈K

Ik = 0 (2.104)

∑l∈M

Ulejϕu,l =

∑l∈M

U l = U e = Ueejϕe (2.105)

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 103

2.4.2.4 Einfache Grundschaltungen aus R, L, C

Im Folgenden sollen einige aus komplexen Impedanzen aufgebaute elementare Schaltun-gen betrachtet werden.

(i) Serienschaltung von ImpedanzenDie an den in Reihe geschalteten Impedanzen Z1 und Z2 abfallenden Zweigspan-nungen U1 und U2 werden addiert, um die an der Ersatzimpedanz ZS abfallendeSpannung U zu erhalten:

U = U1 + U2 = Z1 I + Z2 I = (Z1 + Z2)I

Die Ersatzimpedanz ist folglich:

ZS = Z1 + Z2 (2.106)

Abbildung 2.25: Serienschaltung aus komplexen Impedanzen

(ii) Parallelschaltung von ImpedanzenDie durch die parallel geschalteten Impedanzen Z1 und Z2 laufenden ZweigströmeI1 und I2 werden addiert, um den effektiven Zweigstrom I durch die Ersatzimpe-danz ZP zu erhalten:

I = I1 + I2 = U

Z1+ U

Z2=(

1Z1

+ 1Z1

)U

Für die Ersatzimpedanz bzw. Ersatzadmittanz gilt folglich:

1ZP

= 1Z1

+ 1Z2

(2.107)

YP = Y1 + Y2 (2.108)

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104 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Abbildung 2.26: Parallelschaltung aus komplexen Impedanzen

(iii) RL-Serienschaltung (RL-Glied)Ein ohmscher Widerstand R wird mit einer Induktivität L in Reihe geschaltet.

I

ˆR

U ˆL

U

R LU

Abbildung 2.27: RL-Glied.

Diese Anordnung (RL-Glied) genügt dem komplexen Ohmschen Gesetz U = Z · I,wobei sich seine Impedanz aus Gl. (2.106) ergibt:

Z = R + jωL (2.109)

Hieraus erhält man den reellen Scheinwiderstand |Z| und die PhasenverschiebungΔϕ:

|Z| =√R2 + ω2 L2 (2.110)

Δϕ = ϕu − ϕi = argZ = arctan ωLR

(2.111)

Der Scheinwiderstand |Z(ω)| zeigt als Funktion der Kreisfrequenz ω ein Tiefpass-verhalten (Abb. 2.28). Die Phasenverschiebung Δϕ liegt immer im 1. Quadranten0 ≤ Δϕ ≤ π

2 .

Um das Zeigerdiagramm des RL-Glieds zu konstruieren, zerlegt man die Gesamt-spannung U in die am Widerstand und an der Induktivität abfallenden Teilspan-nungen

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 105

U = UR + UL = R · I + jωLI,

wobei I ∈ R+ gewählt werden kann.

2R

R L R L

Tiefpass

Abbildung 2.28: Scheinwiderstand und Phase des RL-Glieds.

U

ˆL

U

Im

ˆR

U IRe

��

ˆ ˆR

U RI�

ˆ ˆL

U j LI��

tanL

R

��� �

Abbildung 2.29: Zeigerdiagramm des RL-Glieds.

(iv) RC-Parallelschaltung (RC-Glied):Ein ohmscher Widerstand R wird mit einer Kapazität C parallel geschaltet.

Abbildung 2.30: RC-Glied.

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106 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Dieses „RC-Glied“ genügt dem komplexen Ohmschen Gesetz I = Y · U , wobei sichdie komplexe Admittanz aus Gl. (2.108) ergibt:

Y = 1R

+ jωC = G+ jωC (2.112)

Hieraus erhält man den Scheinleitwert |Y | und den Scheinwiderstand |Z|:

|Y | =√G2 + ω2 C2 (2.113)

|Z| = R√1 + ω2 R2 C2

(2.114)

Die Phasenverschiebung ergibt sich aus

Δϕ = argZ = − arg Y = − arctan ωCG

das heißt:Δϕ = − arctan (ωRC) (2.115)

Die Phasenverschiebung Δϕ liegt in diesem Fall immer im 4. Quadranten−π

2 ≤ Δϕ ≤ 0. Der Scheinwiderstand |Z(ω)| zeigt als Funktion der Kreisfrequenzω ein Hochpassverhalten (Abb. 2.31)

2RHochpass

Abbildung 2.31: Scheinwiderstand und Phase des RC-Glieds.

Um das Zeigerdiagramm des RC-Glieds zu konstruieren, zerlegt man den Gesamt-strom in die durch den Widerstand und den Kondensator laufenden Teilströme

I = IR + IC = U

R+ jωCU

wobei U ∈ R+ gewählt werden kann.

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 107

U

ˆC

I

Im

ˆR

I

I

Re

���

ˆ ˆR

I GU�

ˆ ˆC

I j CU��

� �tan RC� ��� �

Abbildung 2.32: Zeigerdiagramm des RC-Glieds.

(v) Gedämpftes LC-Glied:Bei dieser Schaltung bilden eine Kapazität C und eine Induktivität L einen paral-lelen LC-Schwingkreis, der durch einen ohmschen Widerstand R gedämpft wird.

Abbildung 2.33: Gedämpftes LC-Glied.

Die Admittanz Y der Anordnung ergibt sich durch Anwendung von Gl. (2.106)und (2.108): Die Impedanz des RL-Gliedes ist

ZRL = R + jωL

woraus sich für die Admittanz der gesamten Schaltung ergibt:

Y = 1Z

= jωC + 1ZRL

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108 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Wir erhalten schließlich:

1Z

= Y = 1 + jωCZRL

ZRL

= 1 − ω2 LC + jωRC

R + jωL(a)

Y = R − jωL+ jωC (R2 + ω2 L2)R2 + ω2 L2 (b)

(2.116)

Der Scheinleitwert beträgt

|Y | =√

1 + ω2 (R2 C2 − 2LC) + ω4 L2 C2

R2 + ω2 L2(2.117)

und die Phase der Impedanz ist:

Δϕ = − arg Y = − arctan[ 1R

(ωC

(R2 + ω2 L2

)− ωL

)](2.118)

Um das Zeigerdiagramm zu konstruieren, wählen wir U ∈ R+ und zerlegen den

Gesamtstrom I in die Zweigströme

I = IC + IRL

mitIC = jωC U und IRL = 1

R + jωLU

wobei sich die Richtung ϕRL von IRL aus

tanϕRL = −ωL

R

ergibt.

Abbildung 2.34: Gedämpftes LC-Glied.

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2.4.2 Wechselstromschaltungen mit linearen Bauelementen 109

2.4.2.5 Zusammenfassung zur Wechselstromrechnung

Die modellhafte Beschreibung von Wechselstromschaltungen mit Hilfe komplexer Netz-werke lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

(i) Zweigspannungen und -ströme werden durch komplexe Zeiger dargestellt:Reale Wechselspannung u(t) � Spannungszeiger U ∈ C

Realer Wechselstrom i(t) � Stromzeiger I ∈ C

(ii) Linearen Bauelementen (R, L, C) wird eine Impedanz Z ∈ C zugeordnet, sodass ihr Klemmenverhalten durch das verallgemeinerte Ohmsche Gesetz U = Z · Ibeschrieben werden kann. Geometrisch lässt sich die Impedanz hierbei als Dreh-streckung Z = |Z|ejΔϕ im Zeigerraum R

2(≡ C) interpretieren, die den StromzeigerI auf den Spannungszeiger U abbildet.

Elementare Beispiele sind:Bauelement ohmscher Widerstand Spule Kondensator

|Z| R ωL1ωC

Δϕ 0 π

2 −π

2Z R jωL

1jωC

Y G = 1R

1jωL

jωC

(iii) Eine Wechselstromschaltung entspricht einem komplexen Kirchhoffschen Netzwerk.Dessen Topologie wird genauso beschrieben wie im Gleichstromfall (Knoten, ge-richtete Zweige, Maschen, lineare Bauelemente, Strom- und Spannungsquellen).Um die Netzwerkgleichungen zur Netzwerkanalyse aufzustellen, stützt man sichauf die

Knotenregel:

∑k∈K

ik(t) = 0 �∑k∈K

Ik = 0

und die Maschenregel:

∑l∈M

ul(t) = ue(t) �∑l∈M

U l = U e

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110 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

2.4.3 Leistung und Effektivwerte

Wichtige Anwendungen von Wechselstrom-Netzwerken finden sich u.a. in der Energie-technik, insbesondere im Bereich der Energieversorgung. Hier spielen Probleme der Ener-gieübertragung und der Leistungsbilanz eine große Rolle, bei deren Analyse sich derWechselstrom-Kalkül als sehr hilfreich erweist.

2.4.3.1 Momentane Leistung

Elektrische Anlagen (oder Teile davon) können sehr oft als lineares Wechselstrom-Netzwerkdargestellt werden, das elektrische Leistung verbraucht oder liefert. In seiner einfachstenForm ist es ein stromerhaltender Zweipol (Eintor), an dem eine Klemmenspannung

u(t) = U sin(ωt+ ϕu)

anliegt, die den Klemmenstrom

i(t) = I sin(ωt+ ϕi)

antreibt.

lineares

Netzwerk

Gesamtimpedanz

( )i t

( )u t U

I

Z

Abbildung 2.35: Darstellung eines linearen Wechselstromnetzwerks als komplexeImpedanz

Die dem Netzwerk momentan zugeführte Leistung beträgt:

p(t) = u(t)i(t) = U I sin(ωt+ ϕu) sin(ωt+ ϕi)

Dieser Ausdruck lässt sich umformen zu

p(t) = 12 U I cos(ϕu − ϕi)︸ ︷︷ ︸

zeitl. Mittelwert Pm

− 12 U I cos(2ωt+ ϕu + ϕi)︸ ︷︷ ︸zeitlicher Mittelwert 0

(2.119)

Die Momentanleistung p(t) pendelt also mit der doppelten Netzfrequenz 2ω um ihren

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2.4.3 Leistung und Effektivwerte 111

zeitlichen Mittelwert (Abb. 2.36):

Pm = 12 U I cos Δϕ (2.120)

Dabei ist Δϕ := ϕu −ϕi die bereits bekannte Phasenverschiebung (relativer Phasenwin-kel) zwischen Spannung und Strom. Ist Δϕ = 0, so enthält das Netzwerk energiespei-chernde Bauelemente (Kapazitäten oder Induktivitäten, vgl. Abschnitt 2.4.2). In diesemFall ist cos Δϕ < 1; dies bedeutet, dass während einer Periode in einem Zeitabschnittdem Netzwerk Energie zugeführt wird (p(t) > 0), während in einem anderen Zeitab-schnitt das Netzwerk Energie abgibt (p(t) < 0) (vgl. Abb 2.36). Damit dies geschehenkann, muss das Netzwerk Energie kapazitiv oder induktiv “zwischenspeichern“ können.

1ˆ ˆcos

2U I ��

1ˆ ˆ

2UI

� �p t

MP

t

mP

Abbildung 2.36: Einem Wechselstromnetzwerk momentan zugeführte Leistung

2.4.3.2 Effektivwerte, Wirkleistung

(i) Stellt das Netzwerk einen Einergieverbraucher dar, so interessiert man sich fürdie im zeitlichen Mittel während einer Periode T aufgenommene Leistung, diesogenannte Wirkleistung PW. Sie ist für allgemeine zeitperiodische Momentan-leistungen p(t) definiert als

PW = 1T

T∫0

p(t) dt (2.121)

Für den sinusförmigen Zeitverlauf (2.119) gilt:

PW = Pm = 12 U I cos Δϕ (2.122)

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112 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

(ii) Um die Größe eines zeitperiodischen Spannung- oder Stomverlaufs betragsmäßigzu quantifizieren, definiert man dessen Effektivwert als

Ueff =

√√√√√ 1T

T∫0

u(t)2 dt (2.123)

bzw.

Ieff :=

√√√√√ 1T

T∫0

i(t)2 dt (2.124)

Die Effektivwerte bieten ein vernünftiges Maß für die Größe von u(t) und i(t) auchdann, wenn deren zeitlicher Mittelwert Null ist.

Im Falle sinusförmiger Spannungs- oder Stromverläufe gilt:

U2eff = 1

T

T∫0

U2 sin(ωt+ ϕu)2 dt = 1ωT

2π∫0

U2 sin2 ϕ dϕ = 12 U2

mit der Substitution ϕ = ωt+ ϕu

Also folgt:

Ueff = 1√2U (2.125)

In analoger Weise erhalten wir für den Strom:

Ieff = 1√2I (2.126)

Damit gilt für die Wirkleistung:

PW = Ueff Ieff cos Δϕ (2.127)

NB: Bei der Bezeichnung der Effektivwerte wird sehr oft der Index „eff“ weggelas-sen; man schreibt dann einfach

U = 1√2U ; I = 1√

2I

(iii) Im komplexen Wechselstrom-Kalkül definiert man konsistent mit (2.125) und (2.126)die Effektivwert-Zeiger

U = 1√2U ; I = 1√

2I (2.128)

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2.4.3 Leistung und Effektivwerte 113

Es gilt dann:|U | = Ueff und |I| = Ieff

Die für die Leistungsbilanz zentrale Größe ist der komplexe Leistungszeiger(oder kurz: komplexe Leistung)

P := 12 U · I∗ = U · I∗ (2.129)

(Schreibweise: für z = x+ jy ∈ C bezeichnet z∗ = x− jy die konjungiert komplexeGröße)

Mit U = Uejϕu und I = Iejϕi folgt:

P = 12 U I ej(ϕu−ϕi) = Ueff Ieff e

jΔϕ (a)

bzw. P = UeffIeff (cos Δϕ︸ ︷︷ ︸PW = Wirkleistung

+j sin Δϕ) (b)(2.130)

Die Wirkleistung lässt sich somit als Realteil der komplexen Leistung berechnen:

PW = Re P (2.131)

(iv) Wir wollen den Begriff der Wirkleistung an drei typischen Beispielen verdeutlichen:

• Ohmscher Widerstand: Es gilt

U = R I (d.h. Δϕ = 0)

Der Leistungszeiger

P = 12 U · I∗ = 1

2 RI · I∗ = 12 RI2 = RI2

eff

ist rein reell. Daher ist die Wirkleistung gegeben durch

PW = Re P = R I2eff = Ueff · Ieff

in Übereinstimmung mit (2.127) für Δϕ = 0.

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114 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

• Spule: Es giltU = jωLI (d.h. Δϕ = π

2 )

Der Leistungszeiger

P = 12 U · I∗ = 1

2 jωLI · I∗ = 12 jωLI2

ist rein imaginär. Die Wirkleistung ist daher

PW = Re P = 0

in Übereinstimmung mit (2.127) für Δϕ = π

2 . Es wird zeitperiodisch Energieinduktiv gespeichert und wieder abgegeben, aber keine Leistung verbraucht.

• Kondensator: Es gilt

U = 1jωC

I (d.h. Δϕ = −π

2 )

Der Leistungszeiger

P = 12 U · I∗ = 1

21

jωCI · I∗ = −j

21ωC

I2

ist rein imaginär. Die Wirkleistung ist daher

PW = Re P = 0

in Übereinstimmung mit (2.127) für Δϕ = −π

2 . Es wird zeitperiodisch Energiekapazitiv gespeichert und wieder abgegeben, aber keine Leistung verbraucht.

2.4.3.3 Leistungsbilanz bei energiespeichernden Bauelementen

Wir wollen den Energiefluss bei rein induktiven und rein kapazitiven Bauelementen nochetwas genauer analysieren.

(i) Spule: Die im Magnetfeld einer Spule momentan gespeicherte Energie beträgt

Wmag(t) (2.61)= 12 Li(t)2.

Ihre Zeitableitung

dWmag(t)dt = L i(t) di(t)

dt = u(t)i(t) = p(t)

ist die momentan zu- oder abgeführte Leistung.

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2.4.3 Leistung und Effektivwerte 115

Für einen sinusförmigen Stromverlauf

i(t) = I sin(ωt)

ergibt sich explizit

Wmag(t) = 12 LI2 sin2(ωt) = 1

4 LI2(1 − cos(2ωt))

und hieraus die Momentanleistung (vgl. Abb. 2.37)

p(t) = dWmag(t)dt = 1

2 ωLI2 sin(2ωt) (2.132)

� �magW t

21ˆ

2LI�

21ˆ

2LI

t

Abbildung 2.37: Zur Leistungsbilanz bei der Spule

Die Wirkleistung

PW = 1T

T∫0

p(t) dt = 0

verschwindet; es wird pro Periode T (sogar pro Halbperiode T/2) genau so vielEnergie zugeführt wie abgegeben.

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116 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

(ii) Kondensator: Die im elektrischen Feld im Kondensator momentan gespeicherteEnergie beträgt

Wel(t)(2.40)= 1

2 Cu(t)2

Ihre Zeitableitung

dWel(t)dt = Cu(t) du(t)

dt = u(t)i(t) = p(t)

ist die momentan zu- oder abgeführte Leistung.Für einen cosinusförmigen Spannungsverlauf

u(t) = U cos(ωt)

ergibt sich explizit

Wel(t) = 12 CU2 cos2(ωt) = 1

4 CU2(1 + cos(2ωt))

und hieraus die Momentanleistung (vgl. Abb. 2.38)

p(t) = dWel(t)dt = −1

2 ωCU2 sin(2ωt) (2.133)

� �elW t

21ˆ

2CU�

t

21ˆ

2CU

� �u t

Abbildung 2.38: Zur Leistungsbilanz beim Kondensator

Die Wirkleistung

PW = 1T

T∫0

p(t) dt = 0

verschwindet; es wird pro Periode T (sogar pro Halbperiode T/2) genau so vielEnergie zugeführt wie abgegeben.

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2.4.3 Leistung und Effektivwerte 117

2.4.3.4 Scheinleistung und Blindleistung

Die vom Verbrauchernetzwerk über die äußeren Klemmen zeitperiodisch aufgenommeneund wieder abgegebene Energie verursacht einen Stromanteil, der die Zuleitung (= Ener-gieübertragungsstrecke) genau so belastet wie der zur Wirkleistung beitragende Strom.Um diesen Leistungsanteil quantifizieren zu können, führt man den Begriff der Blindleis-tung ein. Zu dessen Herleitung ist die folgende Leistungsbilanzbetrachtung hilfreich.

(i) Leistungsbilanz bei einem allgemeinen linearen Wechselstrom-Netzwerk:Wir betrachten einen linearen Wechselstrom-Zweipol mit Klemmenspannung u(t)und Klemmenstrom i(t), der durch eine komplexe Impedanz Z charakterisiert wird.Die komplexen Spannungs- und Stromzeiger genügen also dem komplexen Ohm-schen Gesetz U = Z · I. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit können wir denPhasenwinkel ϕi des Stromes i(t) zu Null setzen, also ϕi = 0. Dann gilt

i(t) = I sin(ωt)

und der Stromzeiger ist rein reell: I = I ∈ R+.

Der reale Spannungsverlauf lautet dann

u(t) = Im(Uejωt) = Im(ZIejωt) = Re(Z) I sin(ωt)︸ ︷︷ ︸i(t)

+Im(Z) I cos(ωt)

Die dem Verbrauchersystem zugeführte Momentanleistung beträgt

p(t) = u(t)i(t) = Re(Z) i(t)2 + Im(Z) I2 sin(ωt) cos(ωt)︸ ︷︷ ︸12 sin(2ωt)

Nach leichter Umformung erhalten wir

p(t) = Re(Z) i(t)2 + Im(Z) I2eff sin(2ωt) (2.134)

Für dissipative Verbraucher (dies ist der Regelfall) ist Re(Z) ≥ 0. Daher ist dererste Term auf der rechten Seite stets positiv und trägt zur im System verbrauch-ten Wirkleistung PW bei. Der zweite Term ist zu gleichen Zeitanteilen positiv undnegativ (d.h. sein zeitlicher Mittelwert ist Null) und beschreibt die Aufnahme oderAbgabe von induktiv und/oder kapazitiv gespeicherter Energie W (t). Präzise for-muliert gilt für die Wirkleistung

PW = 1T

T∫0

p(t) dt = Re(Z) 1T

T∫0

i(t)2 dt = Re(Z) I2eff (2.135)

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118 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Daher wirdRW := Re Z (2.136)

auch als Wirkwiderstand bezeichnet.

Für die zeitliche Änderung der gespeicherten Energie W (t) folgt aus Gl. (2.134)

dW (t)dt = Im(Z) I2

eff sin(2ωt) (2.137)

so dass wir Gl. (2.134) nun in der Tat als Leistungsbilanzgleichung interpretie-ren können:

p(t) = RW i(t)2 + dWdt (t) (2.138)

Als konkrete Beispiele haben wir bereits den Fall der Spule (Gl. (2.132)) und denFall des Kondensators (Gl. (2.133)) diskutiert.

(ii) Blindleistung:Setzt man i(t) =

√2Ieff sin(ωt) in die Bilanzgleichung (2.134) ein, so erhält man

die Darstellung

p(t) = Re(Z) I2eff︸ ︷︷ ︸

PW

· 2 sin2(ωt)︸ ︷︷ ︸Mittelwert = 1

+ Im(Z) I2eff︸ ︷︷ ︸

PB

· sin(2ωt)︸ ︷︷ ︸Mittelwert = 0

(2.139)

Der zweite Summand auf der rechten Seite drückt quantitativ die in der Übertra-gungsstrecke und im Verbrauchernetz hin und her oszillierende Leistung aus, diemeist nur als unerwünschte Leitungsbelastung wahrgenommen wird. Ihr Gewichtim Vergleich zur Wirkleistung PW wird quantitativ durch die Größe

PB := Im(Z) I2eff (2.140)

ausgedrückt, die man als Blindleistung bezeichnet. In Analogie zu Gl. (2.135)und Gl. (2.136) wird dann

RB := Im Z (2.141)

als Blindwiderstand bezeichnet. Die Leistungsbilanzgleichung (2.139) bzw. (2.134)kann damit in der anschaulich interpretierbaren Form

p(t) = PW(1 − cos(2ωt)) + PB sin(2ωt) (2.142)

geschrieben werden.

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2.4.3 Leistung und Effektivwerte 119

(iii) Vereinheitlichte Darstellung als komplexe Leistung:Wirk- und Blindleistung lassen sich elegant mit Hilfe der komplexen Leistung

P = U I∗

bestimmen. Mit U = Z · I folgt:

P = Z (I · I∗) = Z · I2eff (2.143)

Das bedeutet, dass die komplexe Leistung P und die Impedanz Z gleichsinnigparallel (kollinear) zueinander sind. Weiterhin gilt:

P = Re(Z) I2eff + j Im(Z) I2

eff

Mit (2.135) und (2.140) folgt

P = PW + jPB (2.144)

d.h. in der komplexen Leistung sind Wirk- und Blindleistung kompakt zusam-mengefasst, wobei der Wirkwiderstand RW = Re Z die Wirkleistung und derBlindwiderstand RB = Im Z die Blindleistung verursacht.

Bisweilen ist auch folgende alternative Darstellung nützlich:

P = U I∗ = U Y ∗ U∗ = Y ∗ U2eff (2.145)

(iv) Die Scheinleistung ist ein Maß für die von Wirk- und Blindleistung gemeinsamverursachte Leitungsbelastung. Sie ist definiert als Betrag der komplexen Leistung

PS = |P | =√P 2

W + P 2B (2.146)

Die Scheinleistung lässt sich wegen

PS = |P | = |U · I∗| = |U | · |I| = Ueff Ieff (2.147)

auch direkt aus den Effektivwerten von Spannung und Strom bestimmen.

Da die Zeiger der Impedanz Z und der komplexen Leistung P kollinear sind(vgl. 2.143), folgt weiterhin:

PS = |P | = |Z| I2eff (2.148)

d.h. der Scheinwiderstand verursacht die Scheinleistung.

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120 2.4 Niederfrequente Wechselstromnetzwerke

Die Kollinearität von P und Z hat überdies die Konsequenz, dass die Phasenwinkelvon P und Z übereinstimmen:

argP = argZ = Δϕ

Daher hat P auch die Darstellung

P = PS ejΔϕ = PS (cos Δϕ+ j sin Δϕ) (2.149)

mittan Δϕ = Im (Z)

Re (Z)Hieraus ergeben sich dann Wirk- und Blindleistung gemäß

PW = PS cos Δϕ (2.150)

PB = PS sin Δϕ (2.151)

SP

P U I�

� �

sinB S

P P �� �

Re

Im

cosW S

P P �� �

��

Abbildung 2.39: Wirk-, Blind- und Scheinleistung im Zeigerdiagramm

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121

3 Elektromagnetische Wellen inhomogenen Medien

3.1 Grundlegende Aspekte

Die Theorie der elektromagnetischen Wellen basiert unmittelbar auf den MaxwellschenGleichungen. Der wesentliche Aspekt hierbei ist, dass der physikalische Raum selbst alsTräger einer physikalischen Größe, nämlich einer elektromagnetischen Welle, fungiert,die sich prinzipiell unbeschränkt in Raum und Zeit ausbreiten kann und hierbei auchelektromagnetische Feldenergie mit sich führen und über große Distanzen transportierenkann. Dies kann im materiefreien Raum (= Vakuum) geschehen; in den meisten techni-schen Anwendungen geschieht die Wellenausbreitung aber in materiellen Medien, sodasseine Wechselwirkung zwischen elektromagnetischem Feld und dem Ausbreitungsmediumstattfindet. Wir wollen uns im Folgenden auf den einfachsten Fall beschränken, indem wirannehmen, dass das elektromagnetische Feld über drei physikalische Mechanismen mitdem Ausbreitungsmedium wechselwirkt: die elektrische Polarisation, die Magnetisierungund den vom elektrischen Feld getriebenen Stromtransport in leitenden Medien.

3.1.1 Modellannahmen

Die genannten Wechselwirkungsmechanismen wollen wir noch weiter präzisieren. Wirnehmen an, dass das Ausbreitungsgebiet Ω ⊂ R

3 der Welle stückweise homogen istund aus Teilgebieten Ωi ⊂ R

3 zusammengesetzt ist, in denen lineare Materialgesetze mitkonstanten Materialparametern vorausgesetzt werden dürfen. Das Ausbreitungsbebiet Ωist also die disjunkte Vereinigung Ω = �N

i=1Ωi von Teilgebieten Ωi, die alle eine konstantePermittivität εi, konstante Permeabilität μi und (gegebenenfalls) konstante elektrischeLeitfähigkeit σi besitzen. In jedem Teilgebiet Ωi gelten somit lineare Materialgesetze:

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122 3.1 Grundlegende Aspekte

�D (�r , t) = ε · �E (�r , t) (3.1)

�B (�r , t) = μ · �H (�r , t) (3.2)

�j = σ · �E + �j 0(�r , t)︸ ︷︷ ︸externe Quelle

(3.3)

Wir werden später auch Materialgesetze zulassen, bei denen die Materialparameter(ε,μ,σ) bei einer sinusförmigen Zeitabhängigkeit der Feldgrößen von der Kreisfrequenzω der Sinus-Schwingung abhängen können: ε = ε(ω), μ = μ(ω), σ = σ(ω).

Zwischen benachbarten Teilgebieten Ωk und Ωl sollen gemeinsame zweidimensionaleGrenzflächen Σkl = Ωk ∩ Ωl existieren, auf denen die in Abschnitt 1.4 hergeleitetenÜbergangs-Randbedingungen für die Feldgrößen ( �E, �D) und ( �H, �B) gelten.

Weitere Modellannahmen sind schließlich:

• keine Raumladung im Inneren von Ωi außer an äußeren (vorgegebenen) Quellen(z.B. Antennen) mit Stromdichte �j 0; in diesem Fall muss aber gelten: ρ = ρ0 mitdiv�j 0 + ∂ρ0

∂t= 0

• Ausbreitungsmedium befindet sich in Ruhe

• keine Beinflussung des Stromflusses durch Magnetfelder (Hall-Effekt, Lorentz-Ablenkung)

• kein Stromfluss durch Teilchendiffusion

• kein Stromfluss durch thermische Diffusion

3.1.2 Differentialgleichungen für propagierende elektromagnetischeFelder (Wellen)

(i) Den Ausgangspunkt für die theoretische Beschreibung elektromagnetischer Wellenbilden die Maxwellschen Gleichungen Gl. (1.1) - (1.4), wobei die Materialglei-chungen Gl. (3.1) - (3.3) benutzt werden, um die Feldgrößen �D und �B zu elimi-nieren. Man erhält so ein geschlossenes System partieller Differentialgleichungenfür die sechs Komponenten des elektromagnetischen Feldes ( �E, �H):

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3.1.2 Differentialgleichungen für Wellen 123

rot �E = −∂ �B

∂t= −μ ∂ �H

∂t(3.4)

rot �H = �j + ∂ �D

∂t= σ �E + ε

∂ �E

∂t+�j 0 (3.5)

div �E = 1ε

div �D = ρ0

ε(3.6)

div �H = 1μ

div �B = 0 (3.7)

wobei für die externen Quellterme �j 0 und ρ0 gilt: div�j 0 + ∂ρ0

∂t= 0.

(ii) Um eine Wellengleichung für die sechs Komponenten von ( �E , �H ) zu erhalten,bilden wir zunächst die Rotation von (3.4) :

rot(rot �E

) (3.4)= −μ rot ∂�H

∂t

(3.5)= −μσ∂�E

∂t− εμ

∂2 �E

∂t2− μ�j0

wobei �j0 := ∂�j 0

∂tgesetzt wird. Andererseits ist

rot(rot �E

)= ∇ × (∇ × �E ) = ∇

(∇ �E

)− Δ �E = ∇

(ρ0

ε

)− Δ �E

Durch Gleichsetzen beider Ausdrücke ergibt sich:

εμ∂2 �E

∂t2+ μσ

∂ �E

∂t− Δ �E = −∇

(ρ0

ε

)− μ�j0

Wellengleichung für �E(3.8)

In analoger Weise bilden wir die Rotation von Gl.(3.5):

rot(rot �H

) (3.5)= σ rot �E + ε∂

∂trot �E + rot�j 0

(3.4)= −σμ ∂ �H

∂t− εμ

∂2 �H

∂t2+ rot�j 0

Andererseits ist

rot(rot �H

)= −Δ �H + ∇

⎛⎜⎝∇ �H︸ ︷︷ ︸0

⎞⎟⎠ = −Δ �H

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124 3.1 Grundlegende Aspekte

Durch Gleichsetzen beider Ausdrücke erhalten wir:

εμ∂2 �H

∂t2+ μσ

∂ �H

∂t− Δ �H = rot�j 0

Wellengleichung für �H

(3.9)

Beide Wellengleichungen lassen sich kompakt zusammenfassen in einer Wellenglei-chung für die Feldgröße ( �E , �H ):

[εμ

∂2

∂t2+ μσ

∂t− Δ

]︸ ︷︷ ︸

(gedämpfter) Wellenoperator(falls σ > 0)

⎛⎜⎝ �E�H

⎞⎟⎠ =

⎛⎜⎝−∇(ρ0

ε

)− μ�j0

rot�j 0

⎞⎟⎠(3.10)

In dieser Formulierung sind ( �E , �H ) völlig gleichberechtigte Komponenten einessechskomponentigen elektromagnetischen Wellenfeldes.

Man muss allerdings beachten, dass die Wellengleichung (3.10) eine notwendige,aber keine hinreichende Bedingung für die Maxwellschen Gleichungen (3.4) - (3.7)darstellt. Zum Beispiel muss div �E = ρ0

εund div �H = 0 als Nebenbedingung

zusätzlich erfüllt sein.

(iii) An einer Materialgrenze Σkl zwischen benachbarten Teilgebieten Ωk und Ωl geltendie in Abschnitt 1.4 hergeleiteten Grenzflächenbedingungen, nun aber formuliertfür die Feldgrößen �E und �H :

• Normalkomponenten von ε �E und μ �H sind stetig(falls keine Grenzflächenladung σint existiert: σint ≡ 0)

• Tangentialkomonenten von �E und �H sind stetig(falls keine Grenzflächenstromdichte �i existiert: �i ≡ 0)

3.1.3 Wellengleichung für das elektromagnetische Viererpotential

(i) In Abschnitt 1.3 wurde die Darstellung des elektromagetischen Feldes(�E , �B

)durch ein Viererpotential

(Φ, �A

)ausführlich erörtert. Demzufolge lassen sich mit

dem Ansatz�E = −∇Φ − ∂ �A

∂tund �B = rot �A

die sechs Komponenten von(�E , �B

)durch die vier Komponenten von

(Φ, �A

)dar-

stellen. In einem (Teil-)Gebiet Ωi mit konstanter Permittivität ε und Permebilität

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3.1.4 Physikalischer Mechanismus für die elektromagnetische Wellenausbreitung 125

μ kann man(Φ, �A

)überdies der Lorenzeichung div �A + εμ

∂Φ∂t

= 0 als Nebenbe-dingung unterwerfen. Aus den inhomogenen Maxwellschen Gleichungen Gl. (3.5)und (3.6) folgt dann unter der Annahme, dass das Ausbreitungsmedium elektrischnichtleitend ist (σ = 0), die folgende inhomogene Wellengleichung für das Vierer-potential (vgl. Gl. (1.42)):

[εμ

∂2

∂t2− Δ

]⎛⎜⎝Φ�A

⎞⎟⎠ =

⎛⎜⎝ρ0/ε

μ�j 0

⎞⎟⎠ (3.11)

Hierbei bezeichnet �j 0 eine im ansonsten isolierenden Gebiet Ωi eingeprägte Strom-quelle (Antenne) mit zugehöriger Ladungsdichte ρ0 derart, dass div�j 0 + ∂ρ0

∂t= 0

gilt.

(Φ/c, �A

)mit c := 1/√εμ sind gleichberechtigte Komponenten eines vierkompo-

nentigen elektromagnetischen Potentialwellenfeldes in einer vierdimensiona-len Raum-Zeit mit Koordinaten (ct, x, y, z) (⇒ Relativitätstheorie,vgl. Abs. 1.3.2(ii)).

(ii) Man beachte, dass die Nebenbedingungen div �E = ρ

εund div �H = 0 für �E und

�H durch den Potentialansatz identisch erfüllt werden:

• div �H = 1μ

div(rot �A

)≡ 0

• div �E = −ΔΦ − ∂

∂tdiv �A

(Eichung)= −ΔΦ + εμ∂2

∂t2Φ = ρ

ε

Es müssen daher - außer der Eichbedingung selbst - keine weiteren Nebenbedin-gungen von

(Φ, �A

)erfüllt werden.

3.1.4 Physikalischer Mechanismus für die elektromagnetischeWellenausbreitung

Die selbstkonsistente Existenz und Fortpflanzung dynamischer elektromagnetischer Fel-der lässt sich mit Hilfe der Maxwellschen Gleichungen (1.1) - (1.4) und den Material-gleichungen (3.1) - (3.3) recht anschaulich verstehen:

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126 3.2 Homogene Wellengleichung in einer Raumdimension

(i) rot �E = −∂ �B

∂tbesagt, dass ein zeitabhängiges �B -Feld ein elektrischesFeld �E induziert. Wegen div �E = 0 ist dieses quellenfrei,d.h. es ist ein reines Wirbelfeld.

(ii) α) �D = ε �E besagt: Das elektrische Feld verursacht im dielektrischenMedium eine (dynamische) elektrische Polarisierung, diesich dem elektrischen Feld überlagert.

β) �j = σ �E besagt: Das elektrische Feld erzeugt in einem elek-trisch leitenden Medium einen ladungsneutralen Teil-chenstrom. Wegen div�j = 0 ist dieser quellenfrei, d.h.�j ist ein Wirbelstrom. Dieser entzieht dem elektroma-gnetischen Feld durch Reibungsverluste Energie mit derVerlustleistungsdichte pVerlust = �j · �E = σ| �E |2 > 0, wo-durch das elektromagnetische Feld gedämpft wird.

(iii) rot �H = �j + ∂ �D

∂tbesagt: Das zeitabhängige �D -Feld und ggf. der Wirbel-strom �j erzeugen ein Magnetfeld �H . Wegen div �H = 0ist dieses quellenfrei, d.h. es ist ein reines Wirbelfeld.

(iv) �B = μ �H besagt: Das Magnetfeld �H verursacht im Medium eineMagnetisierung, die sich dem �H -Feld überlagert. Dasresultierende �B -Feld wiederum geht in das Induktions-gesetz (i) ein, wodurch die Schleife der felderzeugendenElementarprozesse selbstkonsistent geschlossen wird.

Man beachte, dass der beschriebene Wirkungsmechanismus nicht an das Vorhandenseineines materiellen Ausbreitungsmediums (“Äther”) gebunden ist. Er funktioniert genauso gut im leeren Raum (mit ε = ε0, μ = μ0 und σ = 0), im dem sich das �E -Feld unddas �H -Feld gegenseitig erzeugen:

rot �E = −μ0∂ �H

∂tund rot �H = ε0

∂ �E

∂t(3.12)

3.2 Homogene Wellengleichung in einer Raumdimension

3.2.1 Vereinfachende Modellannahmen

Bevor wir die vektorielle Wellengleichung (3.10) bzw (3.11) näher betrachten, wollen wireinige grundlegende Eigenschaften wellenförmiger Lösungen diskutieren, die unabhängigvon deren Vektorcharakter sind. Wir machen daher folgende vereinfachende Annahmen:

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3.2.2 Grundlösungen 127

• Nur eine Raumdimension: �r = x�e x mit x ∈ R, Δ = ∂2

∂x2 .

• Das Wellenfeld u(x, t) sei ein Skalar oder eine der kartesischen Komponenten einesVektorfeldes

• keine Dämpfung: σ = 0

• keine äußeren Quellen: �j 0 = 0, ρ0 = 0

Die Wellengleichung lautet dann in vereinfachter Form:

εμ∂2u

∂t2− ∂2u

∂x2 = 0 (3.13)

3.2.2 Grundlösungen

(i) Ausbreitungsgeschwindigkeit

Wir definieren zunächst die Größe

c := 1√εμ

(3.14)

(Merkregel: εμc2 = 1).

c hat die physikalische Einheit einer Geschwindigkeit [m/s]. Es wird sich im Fol-genden zeigen, dass c die Geschwindigkeit ist, mit der sich wellenförmige Lö-sungen u(x, t) von (3.13) im Raum ausbreiten; daher heißt sie Ausbreitungs-geschwindigkeit oder auch Phasengeschwindigkeit. Ihr Vakuumwert istc = 2, 997 × 108 m

s ≈ 300.000 kms .

(ii) D’Alembertsche Lösung

Die homogene Wellengleichung (3.13) hat nun die Form(1c2∂2

∂t2− ∂2

∂x2

)u(x, t) = 0 (3.15)

Um sie zu lösen, führen wir neue unabhängige Variablen

ξ(x, t) := x− ct; η(x, t) := x+ ct

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128 3.2 Homogene Wellengleichung in einer Raumdimension

im (x, t)-Raum (= R2) ein. Die Umkehrtransformation

R2 � (ξ, η) �→ (x(ξ, η), t(ξ, η)) ∈ R

2

definiert also Koordinaten (ξ, η) im (x, t)-Raum. In diesen Koordinaten hat dieLösung u die Form

u(ξ, η) := u(x(ξ, η), t(ξ, η))

Die Umrechnung des Wellenoperators geschieht folgendermaßen:

∂x= ∂ξ

∂x· ∂∂ξ

+ ∂η

∂x· ∂∂η

= ∂

∂ξ+ ∂

∂η

1c

∂t= 1c

∂ξ

∂t· ∂∂ξ

+ 1c

∂η

∂t· ∂∂η

= − ∂

∂ξ+ ∂

∂η

⇒ 1c2∂2

∂t2− ∂2

∂x2 = ∂2

∂η2 + ∂2

∂ξ2 − 2 ∂2

∂ξ∂η− ∂2

∂η2 − ∂2

∂ξ2 − 2 ∂2

∂ξ∂η= −4 ∂2

∂ξ∂η

Damit bekommt die Wellengleichung (3.15) die Form

∂ξ

∂ηu(ξ, η) = ∂

∂η

∂ξu(ξ, η) = 0

Die allgemeine Lösung lautet:

u(ξ, η) = f1(ξ) + f2(η)

mit beliebigen zweimal differenzierbaren Funktionen f1 : R → R und f2 : R → R.

Umgerechnet in die (x, t)-Koordinaten erhält man so

u(x, t) = f1(x− ct) + f2(x+ ct)

D’Alembertsche Lösung(3.16)

Man kann diese Lösung leicht verifizieren:

∂2u

∂x2 = f′′1 (x− ct) + f

′′2 (x+ ct)

1c2

∂2u

∂t2= 1c2

[f

′′1 (x− ct) · (−c)2 + f

′′2 (x+ ct) · c2

]

= ∂2u

∂x2 q.e.d.

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3.2.2 Grundlösungen 129

x ct� � �

� �2f x ct�

� �2f x

� �1f x

x ct� �

� �1f x ct�

x

u

Abbildung 3.1: Zeitliche Entwicklung der D’Alembertschen Lösung im Ortsraum.

(iii) Diskussion

• Für t = 0 gilt u(x, t = 0) = f1(x) + f2(x). Zu einer Zeit t > 0 ist f1(x) umΔx = ct nach +�e x und f2(x) um Δx = −ct nach −�e x parallel verschoben:u(x, t) = f1(x− ct) + f2(x+ ct)

• Hieraus ergibt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit beider Teillösungen alsv = Δx

t= ±c.

• Offenkundig können sich die Teillösungen ungestört durchdringen, wenn sieaufeinander zulaufen, sich “treffen” und wieder auseinander laufen.

• Auf den Geraden im (x, t)-Raum

x− ct = const. bzw. x+ ct = const. (den sogenannten Charakteristiken)

haben f1 bzw. f2 immer denselben Wert.

t

x

const.x ct� �

const.x ct� �

Abbildung 3.2: Charakteristiken der eindimensionalen Wellengleichung

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130 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

3.3.1 Grundlösungen der vektoriellen Wellengleichung in R3

(i) Wir wollen nun das Konstruktionsprinzip der D’Alembertschen Lösung (3.16) aufden dreidimensionalen Raum übertragen. Überdies betrachten wir nun vektorwer-tige Lösungen, zunächst exemplarisch das elektrische Feld �E (also Gl. (3.8)). ZurVereinfachung nehmen wir aber weiterhin an:

• keine Dämpfung: σ = 0

• keine Quellen: ρ0 = 0, �j 0 = 0

Daher muss wegen Gl. (3.6) das elektrische Feld die Nebenbedingung

• div �E = 0

erfüllen.

(ii) Die Verallgemeinerung der D’Alembertschen Lösung auf drei Raumdimensionengeschieht folgendermaßen:Statt �e x betrachten wir nun eine beliebige Ausbreitungsrichtung �n ∈ R

3, |�n | = 1,und die Gerade durch den Ursprung G = {�r = α�n |α ∈ R}. Die Ebenen senkrechtzu G haben die Darstellung E(d) = {�r ∈ R

3|�n ·�r = d}, wobei d den Abstandzum Ursprung bezeichnet. Die gesuchte Lösung der Wellengleichung �E (�r , t) sollauf jeder Ebene E(d) konstant sein; das heißt, �E (�r , t) darf bezüglich �r nur vomEbenenabstand d(�r ) = �n ·�r abhängen.

Zum Zeitpunkt t = 0 kann man �E (�r , t = 0) (“Startlösung”) also schreiben als

�E (�r , t = 0) = �E0 (d(�r )) = �E0 (�n ·�r )

wobei �E0(.) : R → R3 eine beliebige zweimal differenzierbare Funktion einer reellen

Variablen bezeichnet. Der Schnittpunkt der Geraden G mit der Ebene E(d) ist�r = d�n . Durchläuft man G, ändert sich �E (�r , t = 0) gemäß �E = �E0(d); diesentspricht der Funktion f1(x) der eindimensionalen D’Alembertschen Lösung in(3.16). Den weiteren Zeitverlauf von �E (�r , t) erhält man, indem man �E0(d) um dieLänge ct in Richtung von +�n parallel verschiebt, also

�E (�r , t) = �E0 (d(�r ) − ct) = �E0 (�n ·�r − ct) (3.17)

Diese Konstruktion lässt sich für jeden Einheitsvektor �n ∈ R3, |�n | = 1, durchfüh-

ren. Insbesondere erhält man die der zweiten Funktion f2(x) in Gl. (3.16) entspre-chende dreidimensionale Funktion, indem man die Richtung von �n umkehrt.

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3.3.1 Grundlösungen der vektoriellen Wellengleichung in R3 131

(iii) Nun ist zu verifizieren, dass der Ansatz (3.17) tatsächlich eine Lösung der homo-genen Wellengleichung (3.8) (mit σ = 0) darstellt. Hierzu ist folgende Rechenregelnützlich: Sind (n1, n2, n3) und (E01(.), E02(.), E03(.)) die kartesischen Komponentenvon �n und �E0 (.), so gilt:

∂xjE0k(�n ·�r − ct) = nj E

′0k(�n ·�r − ct) (3.18)

wobei E ′0k(.) die (gewöhnliche) Ableitung von E0k(.) nach seinem skalaren Argu-

ment bezeichnet. Analog dazu gilt für die Zeitableitung:

∂tE0k(�n ·�r − ct) = −cE ′

0k(�n ·�r − ct) (3.19)

Damit erhalten wir:

Δ �E0 (�n ·�r − ct) =3∑j=1

∂2

∂x2j

�E0 (�n ·�r − ct) =3∑j=1

n2j�E ′′

0 (�n ·�r − ct)

= �n 2 �E ′′0 (�n ·�r − ct) = �E ′′

0 (�n ·�r − ct)

und∂2

∂t2�E0 (�n ·�r − ct) = (−c)2 �E ′′

0 (�n ·�r − ct)

also [εμ∂2

∂t2− Δ

]�E0 (�n ·�r − ct) = (εμc2 − 1) �E ′′

0 (�n ·�r − ct) = 0

wegen εμc2 = 1 (vgl. Def. (3.14)).Dies war zu beweisen.

(iv) Damit der Ansatz �E (�r , t) = �E0 (�n ·�r − ct) die Nebenbedingung div �E = 0 erfüllt,muss zusätzlich gelten:

div �E (�r , t) =3∑j=1

∂xjE0j(�n ·�r −ct) =

3∑j=1

njE′0j(�n ·�r −ct) = �n · �E ′

0 (�n ·�r −ct) != 0

Also ist entweder �n · �E 0(.) eine Konstante = 0 (d.h. ein statisches Feld, also für dieWellenausbreitung irrelevant) oder �n · �E 0(.) = 0, d.h. �E 0(.) steht stets senkrechtzu �n . Wir müssen also fordern

�E0 (.) ·�n = 0 , d.h. �E0 (.) ⊥ �n (3.20)

Da �E0 (.) senkrecht auf der Ausbreitungsrichtung �n steht, spricht man von einer“transversalen ebenen Welle”.

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132 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

(v) Allgemeine Darstellung transversaler ebener Wellen:Man erhält aus dem Ansatz (3.17) dieselbe Lösungsmenge, wenn man das Argu-ment �n ·�r − ct mit einem konstanten Faktor k > 0 multipliziert:

k(�n ·�r − ct) = (�k ·�r − ωt)mit �k := k�n und ω := kc

Stets muss hierbei gelten:ω

|�k | = c = 1√εμ

(3.21)

�k heißt Ausbreitungsvektor oder Wellenvektor, weil er in die Richtung �nweist, in die die Welle sich bewegt. Die allgemeinere Form einer ebenen transver-salen Welle lautet nunmehr:

�E (�r , t) = �E0 (�k ·�r − ωt) (3.22)

wobei�k · �E 0(.) = 0 (3.23)

gelten muss.

Bewegt man die senkrecht zur Ausbreitungsrichtung �n bzw. �k stehenden Ebe-nen E(d) = {�r ∈ R

3|�n ·�r = d} mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit c in die+�n -Richtung, so nennt man sie Phasenebenen Φ(t):

Φ(t) = E(d0 + ct) = {�r ∈ R3|�n ·�r − ct = d0} (3.24)

= {�r ∈ R3|�k ·�r − ωt = kd0}

Offenkundig ist das Wellenfeld �E0 (�r , t) auf einer Phasenebene konstant (per con-structionem!):

�E (�r , t) = �E 0(�k ·�r − ωt) = �E 0(kd0) = constans für �r ∈ Φ(t)

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3.3.2 Ebene elektromagnetische Wellen 133

.

k

sc

t

��

0E�

Phasenebene ( )t�

s�

( )t t� � �

Abbildung 3.3: Wellenvektor und Phasenebenen

3.3.2 Ebene elektromagnetische Wellen

Bislang haben wir nur die elektrische Komponente �E (�r , t) des elektromagnetischen Fel-des betrachtet. Da die magnetische Komponente �H (�r , t) dieselbe homogene Wellenglei-chung wie �E (�r , t) erfüllt (vgl. Gl. (3.10) mit σ = 0) und auch dieselbe Nebenbedingungdiv �H = 0, können wir einen analogen Ansatz machen. Dann gilt:

�E (�r , t) = �E0 (�k ·�r − ωt) mit �k · �E0 (.) = 0�H (�r , t) = �H0 (�k ·�r − ωt) mit �k · �H0 (.) = 0

lösen die homogene Wellengleichung (3.10) für σ = 0 mit den Nebenbedingungendiv �E = div �H = 0.

Zusätzlich muss aber gelten:

rot �E = −μ ∂ �H

∂t

rot �H = ε∂ �E

∂t

Mit Hilfe der Rechenregeln (3.18) und (3.19) lässt sich folgern:

�k × �E ′0 (.) = +μω �H ′

0 (.)�k × �H ′

0 (.) = −εω �E ′0 (.)

Hierbei bezeichnet �E ′0 (.) bzw. �H ′

0 (.) die (gewöhnliche) Ableitung der vektorwertigenFunktion �E0 (.) bzw. �H0 (.) nach ihrem skalaren Argument.

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134 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

Integriert man diese beiden Gleichungen, so ergibt sich bis auf eine Integrationskonstan-te:

�H0 (.) = 1μω

�k × �E0 (.) (3.25)

�E0 (.) = − 1εω

�k × �H0 (.) (3.26)

0E�

k�

0H�

Abbildung 3.4: Beziehung zwischen �E - und �H -Feld bei einer ebenen elektro-magnetischen Welle

Die Integrationskonstanten sind statische Felder, die für die Wellenausbreitung irrelevantsind und deshalb zu Null gesetzt werden. Man erkennt, dass durch die Wahl der Funktion�E 0(.) auch das Magnetfeld �H 0(.) festgelegt wird und umgekehrt. Die Frage ist jedoch, obdas homogene lineare Gleichungssystem für ( �E 0, �H 0), das die Gleichungen (3.25) und(3.26) bilden, überhaupt eine von Null verschiedene Lösung besitzt. Statt (mühsam)dessen Determinante auszurechnen ist es einfacher, (3.26) in (3.25) einzusetzen undhierbei �E 0 zu eliminieren:

�H0 = 1μω

�k × �E0 = 1μω

�k ×(

− 1εω

�k × �H0

)= 1εμω2

�k 2 �H0

Diese Gleichung besitzt eine Lösung �H0 = 0 genau dann, wenn die Bedingung

�k 2

ω2 · 1εμ

= 1

erfüllt ist. Dies ist aber der Fall (siehe Gl. (3.21):

ω

|�k | = c = 1√εμ

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3.3.3 Energiedichte und Leistungsfluss ebener EM-Wellen 135

Hätten wir diese Bedingung nicht schon im Ansatz berücksichtigt, würde sie als Lös-barkeitsbedingung für das Gleichungssystem (3.25)/(3.26) nun erzwungen werden undlauten:

ω(�k ) = 1√εμ

|�k |

Dispersionsrelation eines homogenen linearen Mediums(3.27)

Die in Gl. (3.25) und (3.26) beschriebene starre Kopplung zwischen �E0 (.) und �H0 (.)lässt sich mit Hilfe des Wellenwiderstandes

Z :=√μ

ε(3.28)

noch klarer formulieren. Es gilt nämlich

�k

μω= 1μc

�n =√εμ

μ�n =

√ε

μ�n = 1

Z�n

�k

εω= 1εc�n =

√εμ

ε�n =

√μ

ε�n = Z �n

Damit lautet der Zusammenhang zwischen �E - und �H -Feld nunmehr:

�H0 (.) = 1Z�n × �E0 (.) (3.29)

�E0 (.) = −Z�n × �H0 (.) (3.30)

Der Wellenwiderstand drückt also das Verhältnis der Feldamplituden Z = | �E 0|/| �H 0|aus. Der Vakuumwert des Wellenwiderstandes beträgt Z0 =

√μ0

ε0= 376, 9 Ω.

3.3.3 Energiedichte und Leistungsfluss ebener EM-Wellen

(i) Wir wollen die in Abschnitt 1.2.4 diskutierte Energiebilanz des elektromagneti-schen Feldes auf den Fall einer ebenen Welle spezialisieren. Die elektrische Ener-giedichte ist nach Gl. (1.15)

wel(�r , t) = 12�E · �D = ε

2�E0 (�k ·�r − ωt)2 (3.31)

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136 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

und die magnetische Energiedichte beträgt nach Gl. (1.23)

wmag(�r , t) = 12�H · �B = μ

2�H0 (�k ·�r − ωt)2 (3.32)

Aus Gl. (3.29) folgt:μ

2�H2

0 = μ

21Z2 |�n × �E0|2 = ε

2�E2

0 (3.33)

d.h. die elektrische und die magnetische Energiedichte sind gleich groß:

wel = wmag

Deshalb ergibt sich für die gesamte elektromagnetische Energiedichte

welmag(�r , t) = wel + wmag = ε �E0 (�k ·�r − ωt)2 = μ �H0 (�k ·�r − ωt)2 (3.34)

(ii) Die Leistungsflussdichte ist durch den Poyntingvektor gegeben (vgl. Abs. 1.2.4):

�S(1.31)= �E × �H = 1

Z�E0 ×

(�n × �E0

)

= 1Z

(�E2

0 ·�n −(�n · �E0

)�E0)

= 1Z�E2

0 ·�n

oder ausführlich geschrieben:

�S (�r , t) = 1Z

| �E0 (�k ·�r − ωt)|2 �n (3.35)

Dieser Ausdruck hat eine sehr anschauliche Interpretation: Der Leistungsfluss er-folgt in +�n -Richtung mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit �u = c ·�n , wobei dieEnergiedichte welmag transportiert wird:

�S =√ε

μ

1εε| �E0|2 �n = welmag · c ·�n (3.36)

(iii) Wir wollen schließlich noch die allgemeine Energiebilanz (1.30) für den Fall einerelektromagnetischen ebenen Welle verifizieren: Mit Hilfe der Rechenregeln

∂xjF (�k ·�r − ωt) = kjF

′(�k ·�r − ωt) (3.37)

∂tF (�k ·�r − ωt) = −ωF ′(�k ·�r − ωt) (3.38)

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3.3.4 Harmonische ebene elektromagnetische Wellen im 3D-Raum 137

folgt:

div �S (�r , t) = 1Z

2 �E0 · �E ′0 (�k ·�r − ωt)�k ·�n = 2|�k |

Z�E0 · �E ′

0 (�k ·�r − ωt)

∂welmag

∂t(�r , t) = − 2 ε ω �E0 · �E ′

0 (�k ·�r − ωt)

Wegen |�k |Z

= ω

c

1Z

√εμ√με

= ωε folgt schließlich

∂welmag

∂t+ div �S = 0 (3.39)

3.3.4 Harmonische ebene elektromagnetische Wellen im 3D-Raum

3.3.4.1 Linear polarisierte harmonische elektromagnetische Wellen

(i) In technischen Anwendungen spielen solche elektromagnetische Wellen eine wichti-ge Rolle, bei denen die Formfunktion �E0 (.) im D’Alembertschen Ansatz (3.22) (undwegen (3.30) auch �H0 (.)) eine sinusförmige Gestalt haben (sogenannte“harmonische” ebene Wellen). Für einen vorgegebenen Ausbreitungsvektor�k = k �n wählt man einen konstanten Amplitudenvektor �E0 senkrecht zu �k (also�k · �E0 = 0) und bildet

�E (�r , t) = �E0 cos(�k ·�r − ωt− ϕ) (3.40)

�H (�r , t) = �H0 cos(�k ·�r − ωt− ϕ) (3.41)

mit �H0 := 1Z�n × �E0 (3.42)

und ω = c |�k | = c k vgl. (3.27)

Man beachte, dass �E0 und �H0 nunmehr konstante Vektoren sind. Wegen �k · �E0 = 0und �k · �H0 = 0 sind die Transversalitätsbedingungen div �E = div �H = 0 identischerfüllt, und ω = c k trägt der Lösbarkeitsbedingung (3.27) (Dispersionsrelation)Rechnung. �H0 ist so gewählt, dass ( �E0, �H0) das Gleichungssystem (3.29/3.30) er-

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138 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

füllen. Die Phase ϕ ∈ R ist frei wählbar. Eine derart konstruierte EM-Welle wirdals linear polarisierte harmonische ebene Welle bezeichnet (siehe Abb. 3.5).

n�

0E�

0H�

2k n

E�

H�

Abbildung 3.5: Harmonische ebene elektromagnetische Welle

(ii) Für harmonische ebene Wellen sind folgende Bezeichnungen bzw. Kenngrößen ein-geführt:

• Wellenlänge λ: Für Δ�r = λ�n muss �k · Δ�r = |�k |λ != 2π gelten ⇒

λ = 2π|�k | bzw. �k = 2π

λ�n (3.43)

• Kreiswellenzahl k:

k = |�k | = 2πλ

(3.44)

• Schwingungsdauer (Periode) T : ωT!= 2π

T = 2πω

bzw. ω = 2πT

(3.45)

• Frequenz ν:

ν := 1T

⇒ ω = 2πν (3.46)

• Kreisfrequenz ω: Durch Dispersionsrelation festgelegt:

ω(�k ) = c k ⇔ λν = c ⇔ λ = cT (3.47)

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3.3.4 Harmonische ebene elektromagnetische Wellen im 3D-Raum 139

• “Inverse” Dispersionsrelation

�k (ω) = ω

c�n = ω

√εμ�n (3.48)

3.3.4.2 Elliptisch polarisierte harmonische elektromagnetische Wellen

(i) Der Ansatz (3.40) - (3.42) lässt sich dahingehend erweitern, dass man zulässt,dass sich die Richtung der Feldvektoren �E (�r , t) und �H (�r , t) in den Ebenen E(d)senkrecht zur Ausbreitungsrichtung �n zeitperiodisch ändert. Die Spitzen der Feld-vektoren bewegen sich hierbei - starr gekoppelt über Gl. (3.29) und Gl. (3.30) -auf Ellipsen; man spricht daher von “elliptischer Polarisation”.

Zur mathematischen Beschreibung solcher Wellen wählt man zwei orthonormierteVektoren �e 1 und �e 2 senkrecht zu �n derart, dass (�e 1, �e 2, �n ) ein orthonormiertesRechtssystem in R

3 bilden. �e 1 und �e 2 spannen also die Ebenen senkrecht zu �nauf, und deshalb kann man �E (�r , t) und �H (�r , t) in dieser Basis darstellen. Ei-ne elliptisch polarisierte Welle erhält man als Linearkombination (Superposition)zweier linear in �e 1 - Richtung bzw. �e 2 - Richtung polarisierter ebener Wellen gemäßGl. (3.40) - (3.42), deren Phasenwinkel ϕ1 und ϕ2 eine Phasendifferenz ϕ2 −ϕ1 = 0aufweisen:

�E (�r , t) = E01 �e 1 cos(�k ·�r − ωt− ϕ1)+ E02 �e 2 cos(�k ·�r − ωt− ϕ2)

�H (�r , t) = 1Z�n × �E (�r , t)

(3.49)

Die Amplituden E01 und E02 können o.B.d.A. positiv gewählt werden:E01 ≥ 0 und E02 ≥ 0.

(ii) Spezialfälle sind:

• ϕ1 = ϕ2 = ϕ:Man erhält eine linear polarisierte Welle mit raumfestem Amplitudenvektor�E 0 = E01 �e 1+E02 �e 2. Die Ellipse entartet zu einer gerader Strecke (Abb. 3.6).

• ϕ1 = ϕ2 ± π

2 und E01 = E02 = E0:Die Ellipse wird ein Kreis mit Radius E0 (Abb. 3.6); man erhält eine zirkularpolarisierte Welle: �E (�r , t) = E0

(cos(�k ·�r − ωt)�e 1 ± sin(�k ·�r − ωt)�e 2

)

Mit Blickrichtung entlang des Ausbreitungsvektors �k = k �n spricht man von“linksdrehender” oder “rechtsdrehender” zirkularer Polarisation.

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140 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

zirkular (linksdrehend) polarisiert

E�

1e�

2e�

2e�

E�

1e�

linear polarisiert

Abbildung 3.6: Zur Polarisation von Wellen

3.3.4.3 Komplexe Darstellung harmonischer elektromagnetischer Wellen

(i) Unabhängige Freiheitsgrade einer harmonischen EM-Welle:Um eine elektromagnetische harmonische ebene Welle zu beschreiben, sind folgendeParameter erforderlich:

• Ausbreitungsrichtung: �n ∈ R3, |�n | = 1 (2 Parameter)

• Wellenlänge oder Frequenz: |�k | = k = 2πλ

oder |�k | = ω

c(1 Parameter)

Beide Größen lassen sich gemeinsam durch den Ausbreitungsvektor �k ∈ R3 spezi-

fizieren: �k = k �n (3 Parameter)

• Amplituden E01 und E02 der elektrischen Feldkomponente (vgl. (3.49)) oderalternativ die Amplituden H01 und H02 der magnetischen Feldkomponente(2 Parameter)

• Phasenwinkel ϕ1 und ϕ2 (2 Parameter)

Insgesamt sind also sieben reelle Parameter erforderlich, um eine harmonische EM-Welle zu beschreiben.

(ii) Diese sieben Parameter lassen sich sehr elegant in eine komplexe Schreibweisekleiden:

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3.3.5 Darstellung beliebiger EM-Wellen durch harmonische ebene Wellen 141

Die elliptisch polarisierte Welle in Gl. (3.49) kann man darstellen als

�E (�r , t) = Re {(E01e−jϕ1︸ ︷︷ ︸

E01 ∈ C

�e 1 + E02e−jϕ2︸ ︷︷ ︸

E02 ∈ C

�e 2)

︸ ︷︷ ︸�E0 ∈ C

3 mit �k · �E0 = 0

ej(�k ·�r−ωt)} (3.50)

Die sieben reellen Parameter sind hier in die Größen �k ∈ R3 und E01, E02 ∈ C

“verpackt”.

Mit �H0 := 1Z�n × �E0 folgt dann die äußerst kompakte Darstellung

�E (�r , t) = Re { �E0ej(�k ·�r−ωt)} (3.51)

�H (�r , t) = Re { �H0ej(�k ·�r−ωt)} (3.52)

3.3.5 Darstellung beliebiger elektromagnetischer Wellen durchharmonische ebene Wellen

Die in komplexer Darstellung ausgedrückten ebenen Wellen (3.51)/(3.52) können alsBasis zur Darstellung beliebiger elektromagnetischer Wellen benutzt werden, indem man(kontinuierliche) Linearkombinationen davon bildet. Der “Summationsindex” ist hierbeider Wellenvektor �k ∈ R

3, der als unabhängige Variable betrachtet wird. Hierzu passendwerden “Entwicklungskoeffizienten” �E(�k ) ∈ C

3 gewählt, die der Nebenbedingung

�k · �E(�k ) = 0 (3.53)

genügen müssen. Außerdem wird

�H(�k ) = 1Z�n× �E(�k ) (3.54)

gesetzt. Schließlich muss noch wegen der Lösbarkeitsbedingung (3.27)

ω = ω(�k ) = c |�k | (3.55)

gesetzt werden.

Es lässt sich mathematisch begründen, dass jede “vernünftige” elektromagnetische Welle

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142 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

als “kontinuierliche Linearkombination”

⎛⎜⎝ �E (�r , t)�H (�r , t)

⎞⎟⎠ = Re∫R3

⎛⎜⎝ �E(�k )1Z�n× �E(�k )

⎞⎟⎠ · ej(�k ·�r−ω(�k )t) d3k (3.56)

dargestellt werden kann. Die Begründung liefert die Theorie der Fouriertransformation,derzufolge jede “glatte” Funktion f : R → R durch ihre Fouriertransformierte f : R → C

dargestellt werden kann gemäß

f(x) =∫R

f(k) ejkx dk (3.57)

Die vierdimensionale Verallgemeinerung für die Variablen (x1, x2, x3, t) lautet dann, dassf : R4 → R durch f : R4 → C dargestellt werden kann als

f(x1, x2, x3, t) =∫R4

f(k1, k2, k3, ω) ej(k1x1+k2x2+k3x3−ωt) dk1 dk2 dk3 dω (3.58)

Dies gilt für jede der sechs Komponenten von ( �E , �H ).

Außerdem ist bei der Integration über (�k , ω) die Dispersionsrelation ω = ω(�k ) = c |�k |zu beachten (man darf also nur über die 3-dimensionale Kegelfläche ω = c |�k | im R

4

integrieren). Dies wird durch eine Deltafunktion δ(ω − ω(�k )) bei der (�k , ω)-Integrationsichergestellt. Damit ergibt sich⎛⎜⎝ �E (�r , t)

�H (�r , t)

⎞⎟⎠ = Re∫R4

⎛⎜⎝ �E(�k , ω)�H(�k , ω)

⎞⎟⎠ · ej(�k ·�r−ωt) δ((ω − ω(�k )) dω d3k (3.59)

Nach Ausführen der Integration über ω ergibt sich die Fourierdarstellung (3.56).

3.3.6 Grundgleichungen in Fourierdarstellung

(i) Die Darstellung von �E (�r , t) und �H (�r , t) im Orts-Zeit-Bereich durch ihre Fourier-koeffizienten �E(�k , ω) und �H(�k , ω) im Ortsfrequenz-Zeitfrequenz-Bereich (�k -ω-Bereich) gemäß Gl. (3.59) lässt sich in analoger Weise auf alle anderen Feldgrößenübertragen, und dies grundsätzlich auch im Falle der inhomogenen Maxwellglei-chungen (3.4) - (3.7) mit vorgegebenen Quellen ρ0(�r , t) und �j 0(�r , t), sodass dieLösbarkeitsbedingung (=Dispersionsrelation) ω = ω(�k ) = c · |�k | für freie Wellennicht erfüllt sein muss. Wir interessieren uns hier aber für die Ausbreitungsbedin-gungen im quellfreien Ausbreitungsmedium, also ρ0 = 0 und �j 0 = 0, wobei wirnun aber eine endliche Leitfähigkeit σ ≥ 0 zulassen. Dies führt zu einer Modifi-kation der Dispersionsrelation ω = ω(�k ), die noch selbstkonsistent zu bestimmensein wird. Wir können aber weiterhin die Fourierdarstellung (3.56) benutzen und

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3.3.6 Grundgleichungen in Fourierdarstellung 143

die hierzu analoge Darstellung:

⎛⎜⎝ �D (�r , t)�B (�r , t)

⎞⎟⎠ = Re∫R3

⎛⎜⎝ �D(�k )�B(�k )

⎞⎟⎠ · ej(�k ·�r−ω(�k )t) d3k (3.60)

Die Materialgleichungen (3.1) und (3.2) übertragen sich auf die Fourierkoeffizientenwie folgt:

�D(�k ) = ε �E(�k ) und �B(�k ) = μ �H(�k ) (3.61)

(ii) Erweiterung der Materialgleichungen für dispersive MedienIn vielen Materialien sind die Materialparameter ε, μ und σ frequenzabhängig:ε = ε(ω), μ = μ(ω), σ = σ(ω). Dies bedeutet, dass für eine “monochromatische”ebene Welle (3.51) / (3.52) die Feldamplituden folgenden erweiterten linearen Be-dingungen genügen:

�D(�k ) = ε(ω(�k )) �E(�k ) (3.62)

�B(�k ) = μ(ω(�k )) �H(�k ) (3.63)

�j(�k ) = σ(ω(�k )) �E(�k ) (3.64)

wobei die Fourierkoeffizienten der Stromverteilung �j(�k ) durch

�j (�r , t) = Re {∫R3

�j(�k ) e[j(�k ·�r−ω(�k )t)] d3k}

defininiert sind. Wie schon erwähnt, muss die Dispersionsrelation ω = ω(�k ) nochselbstkonsistent bestimmt werden.

(iii) Homogene Maxwellsche Gleichungen in FourierdarstellungBei der Fourierdarstellung (3.58) gelten für die Funktion f(�r , t) und deren Fou-riertransformierte f(�k , ω) folgende Korrenspondenzen:

∂xlf(�r , t) � jklf(�k , ω) (3.65)

∂tf(�r , t) � −jωf(�k , ω) (3.66)

Im Nabla-Kalkül korrespondiert daher eine algebraische Produkt-Verknüpfung der

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144 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

Form ∇ ◦ �U im Ortsraum mit der Fouriertransformierten j�k ◦ �U im �k -Raum,insbesondere

rot �U (�r ) = ∇ × �U (�r ) � j�k × �U(�k ) (3.67)

div �U (�r ) = ∇ · �U (�r ) � j�k · �U(�k ) (3.68)Mit diesen Rechenregeln kann man die Maxwellschen Gleichungen für die Fourier-koeffizienten der Feldgrößen wie folgt formulieren:

• rot �E = −∂ �B

∂t� j�k × �E(�k ) = jωμ(ω) �H(�k ), also:

�k × �E(�k ) = ω(�k )μ(ω(�k )) �H(�k ) (3.69)

• div �D = 0 � j�k · ε(ω) �E(�k ) = 0, also:

�k · �E(�k ) = 0 (3.70)

• rot �H = �j + ∂ �D

∂t�

j�k × �H(�k ) = σ(ω) �E(�k ) − jωε(ω) �E(�k )

= −jω[ε(ω) + j

σ(ω)ω

]︸ ︷︷ ︸

=: ε(ω)

�E(�k )

Mit der Definition der komplexen Dielektrizitätskonstanten

ε(ω) := ε(ω) + jσ(ω)ω

(3.71)

folgt:

�k × �H(�k ) = −ω(�k )ε(ω(�k )) �E(�k ) (3.72)

• div �B = 0 � j�k ·μ(ω) �H(�k ) = 0, also:

�k · �H(�k ) = 0 (3.73)

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3.3.6 Grundgleichungen in Fourierdarstellung 145

(iv) DispersionsrelationDas aus Gl. (3.69) und (3.72) gebildete homogene lineare Gleichungssystem für�E(�k ) und �H(�k ) sieht formal genauso aus wie das für nicht-dispersive Medien(vgl. (3.25) und (3.26)) mit dem Unterschied, dass die Materialparameter nun fre-quenzabhängig sind und die konstante reelle Permittivität ε durch die komplexePermittivität ε(ω) zu ersetzen ist. Die Frage, unter welcher Bedingung dieses ho-mogene Gleichungssystem eine von Null verschiedene Lösung besitzt, lässt sich alsoin analoger Weise beantworten:

Aus�k × (�k × �H) = �k (�k · �H)︸ ︷︷ ︸

0−�k 2 · �H = −�k 2 �H

und�k × (�k × �H) (3.72)= −ωε(ω)�k × �E

(3.69)= −ω2ε(ω)μ(ω) �Hfolgt: [

�k 2 − ω2ε(ω)μ(ω)]�H(�k ) = 0

Eine Lösung �H(�k ) = 0 ist also nur möglich für ω2ε(ω)μ(ω) != �k 2. Dies führt aufdie komplexe Dispersionsrelation

ω(�k )2 = 1ε(ω(�k ))μ(ω(�k ))

�k 2 (3.74)

Diese Beziehung verallgemeinert Gl. (3.27) auf den Fall dispersiver und, falls σ = 0gilt, dissipativer Medien. Für einen gegebenen Ausbreitungsvektor �k stellt diekomplexe Dispersionsrelation eine implizite Gleichung für ω(�k ) dar, aus der danndie explizite Beziehung ω = ω(�k ) abzuleiten ist.

Ist das Medium ein Isolator (σ = 0), so erhält man für einen reellen Ausbreitungs-vektor �k = k�n ∈ R

3 eine (oder mehrere) reelle Lösungen ω(�k ), also räumlich wiezeitlich ungedämpfte Wellen.

Ist das Medium elektrisch leitend, hat ε(ω) einen von Null verschiedenen Imagi-närteil. Für einen reellen Ausbreitungsvektor �k ∈ R

3 muss ω(�k ) komplex sein, alsoω(�k ) ∈ C mit Im (ω(�k )) = 0. Dies beschreibt eine zeitlich gedämpfte Welle, diemit der inversen Zeitkonstanten τ−1 = −Im (ω(�k )) abklingt.

Will man zeitlich ungedämpfte Wellen erhalten, also ω(�k ) ∈ R, so muss der Wellen-vektor �k komplex gewählt werden. Für eine reelle Ausbreitungsrichtung �n ∈ R

3,|�n | = 1 führt der Ansatz �k = k �n mit k ∈ C durch Auflösen von (3.74) nachk2 = �k 2 auf die “inverse Dispersionsrelation“

k(ω) =√ε(ω)μ(ω)ω (3.75)

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146 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

Dies ist die Verallgemeinerung von Gl. (3.48) für dispersive und dissipative Medien.Für σ > 0 erhält man eine räumlich gedämpfte Welle, die nachfolgend diskutiertwird.

3.3.7 Räumlich gedämpfte ebene elektromagnetische Wellen inLeitern

(i) Wir betrachten in einem leitenden Ausbreitungsmedium mit σ(ω) > 0 eine ebeneEM-Welle mit einem komplexen Wellenvektor

�k = k(ω)�n ; �n ∈ R3, |�n | = 1, k(ω) ∈ C (3.76)

wobei k(ω) gemäß Gl. (3.75) bestimmt wird. Diese Größe zerlegen wir nach Real-und Imaginärteil

k(ω) = Re k(ω)︸ ︷︷ ︸=: β(ω)

+j Im k(ω)︸ ︷︷ ︸=: α(ω)

= β(ω) + jα(ω) (3.77)

α heißt Dämpfungsmaß, β heißt Phasenmaß.

(ii) Bei der gewählten Kreisfrequenz ω ∈ R hat das elektromagnetische Feld die Form

�E (�r , t) = Re { �E0ej(k�n ·�r−ωt)} (3.78)

= Re { �E0e−α(ω)�n ·�r ej(β(ω)�n ·�r−ωt)}

�H (�r , t) = Re { �H0e−α(ω)�n ·�r ej(β(ω)�n ·�r−ωt)} (3.79)

wobei �H0 als unabhängige Amplitude gewählt wird mit

�k · �H0 = 0 (vgl. (3.73))

und�E0 = − 1

ω ε(ω) k(ω)�n × �H0 (vgl. (3.72))

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3.3.7 Räumlich gedämpfte ebene elektromagnetische Wellen in Leitern 147

Führt man den komplexen Wellenwiderstand Z(ω) analog zu Gl. (3.28) ein:

Z(ω) :=

√√√√μ(ω)ε(ω) =

√√√√ μ(ω)ε(ω) + j σ(ω)

ω

(3.75)= k(ω)ω ε(ω)

(3.80)

so erhält man aus (3.72) und (3.69) die komplexe Verallgemeinerung von (3.29)/(3.30):

�E0 = −Z �n× �H0 (3.81)

�H0 = 1Z�n× �E0 (3.82)

(iii) Räumliches Dämpfungsverhalten:Die Felddarstellung (3.78)/(3.79) zeigt, dass die EM-Welle in der Ausbreitungsrich-tung �n räumlich exponentiell gedämpft wird. Ursache hierfür ist das Auftreten desDämpfungsmaßes α(ω) = Im k(ω), was nach der Dispersionsrelation (3.75) seineUrsache im Vorhandensein der elektrischen Leitfähigkeit σ > 0 hat. Die Dämp-fung des elektromagnetischen Feldes findet auch in einem räumlich gedämpftenLeistungsfluss �S = �E × �H seinen Ausdruck; die der elektromagnetischen Wel-le entzogene Energie wird gemäß der Energiebilanzgleichung (1.30) als JoulescheWärme �j · �E = σ �E

2 im Ausbreitungsmedium dissipiert.

Um das Abklingverhalten quantitativ als Funktion der Leitfähigkeit σ darzustellen,wollen wir die Dämpfungskonstante α(ω) in der Näherung kleiner Frequenzen

ω · ε(ω) << σ(ω) (3.83)

berechnen. Die dielektrische Relaxationszeit (vgl. Abschnitt 1.5.4.3) beträgt τR = ε

σ;

daher bedeutet diese Näherung, dass die Schwingungsdauer T der Welle viel längerals τR ist:

τR = ε

σ<<

= T

2π (3.84)

Wegen (3.83) gilt mit (3.71):

ε(ω) ≈ jσ(ω)ω

Damit gilt gemäß der komplexen Dispersionsrelation (3.75):

k(ω)2 = ε(ω)μω2 ≈ jωσ(ω)μ (3.77)= β2 − α2 + 2jαβ

⇒ α = β und α2 = 12σ(ω)μω

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148 3.3 Ebene Wellen im dreidimensionalen Raum

Damit erhalten wir als Dämpfungsmaß

α(ω) =√σ(ω)μω

2(3.85)

Nach einer Länge Δz = 1α

ist das EM-Feld um den Faktor 1e

= 37% abgeklungen(”Eindringtiefe“). Sie beträgt

Δz(ω) =√

2σ(ω)μω (3.86)

Das Phasenmaß läßt sich durch die Wellenlänge ausdrücken:

2πλ

= Re k = β = α

Das Abklingverhältnis nach Durchlaufen einer Wellenlänge beträgt daher

e−λα = e−2π ≈ 2 · 10−3.

Dieses ausgeprägte Abschirmverhalten von leitenden Medien gegen das Eindringenelektromagnetischer Wellen wird als ”Skin-Effekt“ bezeichnet.