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ICD-10 literarisch
Prof. Dr. Gerhard Kopf
Mit einem Vorwort und Kommentaren von Prof. Dr. Hans-Jiirgen MoUer
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
ICD-10 literarisch / Gerhard Kopf (Hrsg.)
Wiesbaden: D U y Dt. Univ.-Verlag, 2006
(DUV: Medizin)
ISBN 3-8350-6035-X
Herausgeber: Gerhard Kopf
Mit einem Vorwort und Kommentaren von Hans-Jiirgen MoUer
l.Auflage Mai 2006
Alle Rechte vorbehalten
© DUV/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006
Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen der
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ISBN 3-8350-6035-X
^
Quellenverzeichnis
© 2000 by C.H. Beck, Miinchen. John Bayley. Elegie ftir Iris. Aus
dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk
© 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.
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Einsamsein. Essays. Deutsche Ubersetzung von Chris Hirte
© 1963, 1974, 1984 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Ham
burg. Malcolm Lowry. Unter dem Vulkan. Deutsche Ubersetzung
von Susanna Rademacher und Karin Graf
© 1988 by Manesse Verlag, Zurich, in der Verlagsgruppe Random
House GmbH, Miinchen. Charles Baudelaire. Die kiinstlichen Para-
diese. Aus: Die Dichtung vom Haschisch. Aus dem Franzosischen iiber-
setzt von Hannelise Hinderberger. S. 23-25, 28-30, 37-38, 42-46, 55
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eines englischen Opiumessers. Ubertragen von Walter Schmiele
© 1995 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Italo
Svevo. Uber das Rauchen. Aus: Die Kunst, sich das Rauchen nicht
abzugewohnen. Von Greisen, Dichtern und letzten Zigaretten. Copy
right ftir die deutsche Ubersetzung von Ragni Maria Gschwend
© 1983 by Cad Hanser Verlag, Munchen - Wien. Italo Calvino. In
einem Netz von Linien, die sich verknoten. Aus: Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber
© 1964 by Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Guy de
Maupassant. Der Schmuck, Der Teufel, Der Horla. Novellen. Uber
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© 2001 by Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Johann
Wolfgang von Goethe. Die Leiden des jungen Werthers. Nachwort
von Ernst Renter
© 1947, 1992 by Sammlung Dieterich, Verlagsgesellschaft mbH, Ber
lin. Anton Tschechow. Ein Fall aus der Praxis: Aus: Meisterer-
- Quellenverzeichnis -
zahlungen. Aus dem Russischen von Reinhold Trautmann, eingelei-tet von Rudolf Marx, Sammlung Dieterich 54 © 2000 by Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Hugo von Hofmannsthal. Ein Brief. Aus: Der Brief des Lord Chandos © 1987 by Diogenes Verlag AG, Zurich. Patrick Siiskind. Die Taube © 2004 by Matthes & Seitz, Verlagsgesellschaft mbH, Beriin. Friede-rike Kempner. Gedichte. Noctorno © 1984 by Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main. Bruder Grimm: Kinder- und Hausmarchen, gesammelt durch die Bruder Grimm in drei Banden. Mit Zeichnungen von Otto Ubbelohde und einem Vor-wort von Ingeborg Weber-Kellermann © 1982 by Armin Ayren, Wunderlich, Tubingen. Armin Ayren. Buhl oder Der Konjunktiv © 1982 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Ernst WeiB. Der Augenzeuge © 1991 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Cees Nooteboom. Die folgende Geschichte. Aus dem Niederlandischen von Helga von Beuningen © 1986 by Heyne, Miinchen. Robert Louis Stevenson. Henry Jekylls voUstandige Erklarung. Aus: Unheimliche Geschichten Bd. 1. Ausge-wahlt und herausgegeben von Manfred KJuge © 1901 by S. Fischer Verlag, Berlin. Thomas Mann. Buddenbrooks © 1981 by Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Moliere. Der eingebildete Kranke. Komodie in drei Aufzligen. Ubersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas © 1986 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Franz Kafka. Die Verwandlung. Aus: Erzahlungen. Hrsg. von Max Brod © 1975 by Luchterhand, Darmstadt und Neuwied. Franz Hohler. Bedingungen fiir die Nahrungsaufnahme. Aus: Der Rand von Ostermundigen. Geschichten © 1963 by Carl Hanser Verlag, Miinchen - Wien. Jean Paul. Samt-liche Werke. Bd. 6. Herausgegeben von Norbert Miller. Nachwort von Walter HoUerer © 1920 by Georg Mtiller Verlag, Miinchen. August Strindberg. Inferno. Aus: Werke. Deutsche Gesamtausgabe. Inferno. Legende. Deutsch von Emil Schering © 1956 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Aus: Die Erzahlungen. Mit einer Einleitung von Thomas Mann
Quellenverzeichnis - /
© 1980 by Paul Zsolnay Verlag, Wien. Graham Greene. Dr. Fischer
aus Genf oder Die Bomben-Party. Roman. Aus dem Englischen von
Peter Michael und Hans W. Polak
© 1963 by Verlag C.H. Beck, Miinchen. Heimito von Doderer. Die
Heilungen. Aus: Die Merowinger oder Die totale Familie. Die erste
Auflage dieses Werkes ist im Biederstein Verlag erschienen
© 1961 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Arthur
Schnitzler. Die erzahlenden Schriften. 2. Band
© 1992 by Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Fjodor M.
Dostojewskij. Der Spieler. Aus den Aufzeichnungen eines jungen
Mannes. Ubersetzt und herausgegeben von EHsabeth Markstein
© 2005 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Gerhard
Roth. Das Labyrinth
© 2002 by Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, Hamburg, Bombay,
Friesland. Leopold Giinther-Schwerin. Der Kleptomane. Mit freund-
licher Genehmigung der Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, Mirko
Schadel
© 1990 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Virginia
Woolf Orlando. Gesammelte Werke. Prosa 7. Deutsch von Brigitte
Walitzek
© 2000 by E A. Herbig Veriagsbuchhandlung GmbH, Munchen.
Pauline Reage. Geschichte der O. Riickkehr nach Roissy. Aus dem
Franzosischen von Simon Saint Honore
© 2002 by Diogenes Verlag AG, Zurich. Patricia Highsmith. Der
Schrei der Eule. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler
© 1968 by Insel Verlag, Frankfurt am Main. Leopold von Sacher-
Masoch. Zwei Vertrage. Aus: Venus im Pelz. Mit einer Studie liber
den Masochismus von Gilles Deleuze
© 1993 by Steidl, Gottingen. Giinter Grass. Die Blechtrommel.
Werkausgabe Bd. 3. Erstausgabe September 1959
© 1992 by Paul Zsolnay Verlag, Wien. John Steinbeck. Von Mausen
und Menschen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth
Rotten
© 1983, 2003 by Piper Verlag GmbH, Munchen. Sten Nadolny Das
Dorf Aus: Die Entdeckung der Langsamkeit
© O.J. by Xenos Verlagsgesellschaft, Hamburg. Heinrich Hoffmann.
Die Geschichte vom Zappel-Philipp. Aus: Der Struwwelpeter. Lustige
Geschichten
Inhaltsverzeichnis
Quellenverzeichnis 5 Vorwort Prof. Dr. Hans-Jiirgen MoUer 15 Einleitung Prof. Dr. Gerhard Kopf 21
FO: Dementielle Erkrankungen 33 Einfiihrung zu John Bayley 37 John Bayley: Elegie fiir Iris 38 Kommentar 43
Einfiihrung zu Jonathan Franzen 45 Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters 46 Kommentar 70
Fl: Psychische Verhaltensstorungen durch psychotrope Substanzen 73 Einfiihrung zu Malcolm Lowry 77 Malcolm Lowry: Unter dem Vulkan 78 Kommentar 84
Einfiihrung zu Charles Baudelaire 85 Charles Baudelaire: Die kiinstlichen Paradiese 86 Kommentar 92
Einfiihrung zu Thomas de Quincey 93 Thomas de Quincey: Bekenntnisse eines englischen Opiumessers 94 Kommentar 103
Einfiihrung zu Italo Svevo 104 Italo Svevo: Uber das Rauchen 105
Inhaltsverzeichnis •
Kommentar 110
F2: Schizophrenic, schizotype und wahnhafte Storungen 113 Einfiihrung zu Italo Calvino 117 Italo Calvino: In einem Netz von Linien 118 Kommentar 124
Einfiihrung zu Guy de Maupassant 126 Guy de Maupassant: Der Horla 127 Kommentar 153
F3: Depression und Suizidalitat 155 Einfiihrung zujohann Wolfgang von Goethe 159 J. W. von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers 160 Kommentar 169
Einfiihrung zu Anton Tschechow 171 Anton Tschechow: Ein Fall aus der Praxis 172 Kommentar 183
Einfiihrung zu Hugo von Hofmannsthal 185 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief 186 Kommentar 196
F4: Angststorungen, dissoziative Storungen, somatoforme Storungen, Somatisierungsstorung, hypochondrische Storung, Depersonalisationssyndrom 199 Einfiihrung zu Patrick Siiskind 201 Patrick Siiskind: Die Taube 202 Kommentar 205
Einfiihrung zu Friederike Kempner 207 Friederike Kempner: Finster und stumm 208 Kommentar 209
Einfiihrung zu den Briidern Grimm 210 Briider Grimm: Von einem, der auszog, das Fiirchten zu lernen .211 Kommentar 219
10
Inhaltsverzeichnis - /
Einfiihrung zu Armin Ayren 220
Armin Ayren: Buhl oder Der Konjunktiv 221
Kommentar 222
Einfiihrung zu Ernst WeiB 224
Ernst WeiB: Der Augenzeuge 225
Kommentar 230
Einfiihrung zu Cees Nooteboom 231
Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte 232
Kommentar 234
Einfiihrung zu Robert Louis Stevenson 236
Robert Louis Stevenson: HenryJekylls voUstandige Erklarung.... 237
Kommentar 253
Einfuhrung zu Thomas Mann 255
Thomas Mann: Buddenbrooks 256
Kommentar 262
Einfiihrung zu Moliere 264
Moliere: Der eingebildete Kranke 265
Kommentar 267
Einfiihrung zu Franz Kafka 268
Franz Kafka: Die Verwandlung 269
Kommentar 274
F5: Verhaltensauffall igkeiten m i t korperl ichen Storungen und Faktoren 275
Einfiihrung zu Franz Hohler 277
Franz Hohler: Nahrungsaufnahme 277
Kommentar 281
Einfiihrung zujean Paul 283
Jean Paul: Die Kunst, einzuschlafen 284
Kommentar 288
Einfiihrung zu August Strindberg 290
- Inhaltsverzdchnis •
August Strindberg: Inferno 291 Kommentar 296
F6: Personlichkeits- und Verhaltensstorungen 297 Einftihrung zu Heinrich von Kleist 301 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas 302 Kommentar 308
Einftihrung zu Graham Greene 310 Graham Greene: Doktor Fischer aus Genf 311 Kommentar 321
Einftihrung zu Heimito von Doderer 322 Heimito von Doderer: Die Merowinger 323 Kommentar 329
Einftihrung zu Arthur Schnitzler 330 Arthur Schnitzler: Fraulein Else 331 Kommentar 355
Einftihrung zu Fjodor M. Dostojewskij 356 Fjodor M. Dostojewskij: Der Spieler 357 Kommentar 368
Einftihrung zu Gerhard Roth 369 Gerhard Roth: Das Labyrinth 370 Kommentar 372
Einftihrung zu Leopold Gtinther-Schwerin 373 Leopold Gtinther-Schwerin: Der Kleptomane 374 Kommentar 388
Einftihrung zu Virginia Woolf 390 Virginia Woolf: Orlando 391 Kommentar 393
Einftihrung zu Pauline Reage 394 Pauline Reage: Geschichte der O 395 Kommentar 401
12
Inhaltsverzeichnis - /
Einfiihrung zu Patricia Highsmith 402
Patricia Highsmith: Der Schrei der Eule 403
Kommentar 409
Einfiihrung zu Leopold Sacher-Masoch 410
Leopold Sacher-Masoch: Zwei Vertrage 411
Kommentar 413
Einfiihrung zu Giinter Grass 414
Giinter Grass: Die Blechtrommel 415 Kommentar 417
F7: Inte l l igenzminderung 419
Einfiihrung zu John Steinbeck 421
John Steinbeck: Von Mausen und Menschen 422
Kommentar 433
F8: Entwicklungsstorungen 435
Einfiihrung zu Sten Nadolny 437 Sten Nadolny: Das Dorf 438 Kommentar 439
F9: Verhaltensstorungen 441
Einfiihrung zu Heinrich Hoffmann 443
Heinrich Hoffmann: Die Geschichte vom Zappel-Philipp 444
Kommentar 447
13
/
Vorwort
Die literarische Darstellung von psychischen Erkrankungen ist offen-
sichtlich fiir viele Schriftsteller von Interesse, wie die groBe Anzahl
diesbeziiglicher Elemente in Erzahlungen und Romanen zeigt. Na-
tiirlich spielen diese Darstellungen nicht immer die HauptroUe in lite-
rarischen Werken, sondern sind z.T. nur ein Nebenaspekt im Rah-
men eines groBeren Werkes. Von den in der Literatur so zahlreichen
Publikationen konnten hier aus Platzgriinden nur einige wenige zu-
sammengestellt werden. Insofern ist das Buch eher als eine Beispiel-
sammlung anzusehen.
Doch was bringt Schriftsteller dazu, eine psychische Krankheit als Su-
jet zu wahlen? Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von Motivatio-
nen. Unter anderem konnte es darum gehen, am Beispiel psychischer
Erkrankungen Grenzerfahrungen menschlicher Existenz darzustel-
len. Auch mag bei einigen Darstellungen die Fremdheit oder die
Skurrilitat der Symptomatik einer bestimmten psychischen Erkran-
kung den Schriftsteller faszinieren. Das Interesse der Schriftsteller an
psychischen Erkrankungen steht offensichtlich auch im Zusammen-
hang mit der Entwicklung der Psychiatric und den immer genaueren
Beschreibungen und verbesserten atiopathogenetischen Vorstellun-
gen liber psychische Erkrankungen. So ist zu beobachten, dass im 19.
Jahrhundert, als sich erstmals eine wissenschaftlich orientierte Psy
chiatric entwickelt - insbesondere verkorpert durch die franzosische
Psychiatric mit den Autoren Pinel und Esquirol - Depressionen, Sui-
zid und Wahnerkrankungen zu einem viel beachteten Sujet der Lite
ratur wurden und dann von dort z.T. in Opernlibretti iibernommen
wurden, die dann wiederum die Komponisten zu interessanten musi-
kalischen Kompositionen verleiteten.
Eine interessante Frage ist, wie die Autoren mit dem Krankheitsbild
umgehen. Bilden sie es genau ab, oder bleiben sie eher im Ungenau-
15
- Vorwort
en, Vagen, Allgemeinen? Wie berichten sie liber Symptome psychi-scher Erkrankungen bzw. iiber Krankheitsursachen: eher fachman-nisch oder laienhaft? Steht die Darstellung der Krankheit im Zen-trum oder ist sie nur ein Beiwerk des Romans bzw. Mittel zum Zweck? Wird sie vielleicht nur eingefiihrt, um daran die besondere Bezie-hungsstruktur zweier Menschen darzustellen? Diese und andere Fra-gen stellen sich, wenn man Darstellungen psychiatrischer Erkrankungen in der Literatur aus psychiatrischer Sicht kommentiert. Der Titel »ICD-10 Hterarisch« beschreibt ein Programm, das eigent-Hch aus psychiatrischer Sicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, da sich die ICD-10 erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte. Wenn man wirklich das Thema so stringent nehmen woUte, wie es formuHert ist, konnte man eigendich nur Literatur aus der Zeit wah-len, die nach der Entwicklung der ICD-10 pubHziert wurde. Ein schneller Bhck in das Inhahsverzeichnis macht aber deuthch, dass die fiir das Buch zusammengestellten Beispiele weit vor die Zeit der ICD-10 zuriickgehen und u.a. Werke aus dem 19. Jahrhundert miteinbe-ziehen. Die ICD-10 ist zwar das von der Weltgesundheitsorganisation international vorgeschriebene Klassifikationssystem psychiatrischer Erkrankungen, sie stellt aber keine »Neuerfindung« von Krankheits-konzepten dar. Die in der ICD-10 dargestellten bzw. defmierten psychiatrischen Krankheitskonzepte gehen auf eine altere Systematik psychiatrischer Erkrankungen zuriick, die z.T noch aus dem 19. Jahrhundert stammt und insbesondere durch die systematisierende Arbeit Kraepehns vor ca. 100 Jahren eine wichtige Neugliederung erfuhr. Auch andere Autoren in der ersten Halfte der letzten lOOJahre haben sehr wesentlich zur Ausformung der Systematik der Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen beigetragen, wie z.B. Eugen Bleuler, Karl Leonhardt, Kurt Schneider. Hinsichtlich einer feinsinnigen dif-ferenzierten psychopathologischen Beschreibung von Krankheits-symptomen ist insbesondere Karl Jaspers zu nennen. Kurzum: Die ICD-10 fasst etwas in operationalisierender und fur alle Welt verbind-licher Weise zusammen, was in wesentlichen Vorstufen schon vorher als Tradition der psychiatrischen Diagnostik und Klassifikation be-standen hat.
In diesem Zusammenhang sei kurz auf die Entwicklung des psychiatrischen Teils der International Classification of Diseases (ICD-10) eingegangen. Bis 1970 existierten zwischen verschiedenen Landern und sogar verschiedenen psychiatrischen Schulen eines Landes teil-
16
• Vorwort /
weise erhebliche Diskrepanzen in der psychiatrischen Klassifikation.
Die Schaffung einer international akzeptierten Systematik psychi-
scher Storungen, die im Rahmen der ICD-8 von der Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) erarbeitet wurde, ermoglichte eine Interna
tionale Vereinheitlichung der psychiatrischen Klassifikation. Der
psychiatrische Teil dieser ICD-8 basierte, von Modifikationen abgese-
hen, auf dem nosologischen System, das Kraepelin um 1900 geschaf-
fen hatte. Die Gliederung erfolgte vorwiegend nach atiologischen und
syndromatologischen sowie nach Verlaufscharakteristika. Wahrend
bei Kraepelin die Einteilung der Erkrankungshauptgruppen nach ur-
sachlichen Faktoren erfolgte, wurden in der ICD-8 psychische Sto
rungen primar syndromatologisch eingeteilt. Mangel, wie z.B. ein
Wechsel in den Einteilungsprinzipien, sind grundsatzlich auch heute
noch bei alien derzeit verfiigbaren psychiatrischen Klassifikations-
systemen vorhanden und spiegeln die UnvoUkommenheit des Wis-
sens liber psychische Storungen wider. Die 1979 eingefiihrte ICD-9
unterscheidet sich von der ICD-8 insbesondere durch die Einfiihrung
einer multikategorialen Diagnostik. Der Patient kann hier u.a. gleich-
zeitig durch mehrere Nummern der Krankheitssystematik charakte-
risiert werden. So kann z.B. eine erste Diagnose aus dem Kapitel der
psychiatrischen Erkrankungen das klinische Erscheinungsbild be-
zeichnen, eine zweite Nummer aus einem anderen Kapitel der ICD
die zugrunde liegende organische Erkrankung. Die weitere Entwick-
lung zur ICD-10 wurde gekennzeichnet durch die zwischenzeitlich
stattgefundene Entwicklung des amerikanischen Diagnosesystems,
des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«, das
von der American Psychiatric Association 1980 in der revidierten Fas-
sung als DSM-111 System herausgegeben wurde. Das Besondere dieses
DSM-IU Systems und seiner Nachfolgesysteme - heute ist das DSM-
IV System in der amerikanischen Psychiatric gebrauchlich - ist der
Versuch, eine moglichst prazise Definition der Krankheitskonzepte
unter Verwendung von Ein- und Ausschlusskriterien, also eine Ope-
rationalisierung diagnostischer Begriffe, zu erreichen. Diesem Ansatz
folgte die 1991 von der W H O eingefiihrte, seit 2000 auch in Deutsch-
land verbindliche ICD-10. Durch die Angabe diagnostischer Leitlini-
en zu den allgemeinen Krankheitsbeschreibungen sollte eine mog
lichst gute Reliabilitat der klinischen Diagnostik erreicht werden. Es
wurde zudem versucht, die ICD-10 so weit wie moglich mit dem
DSM-IV kompatibel zu machen. Die Charakterisierung der einzel-
17
Vorwort •
nen Storungen weicht in den neueren Diagnosesystemen zum Teil
nicht unbetrachtlich von der traditionellen Krankheitslehre der
deutschsprachigen Psychiatric ab. Das hangt cincrseits mit der Not-
wendigkeit praziscrer Konzcpte im Rahmcn der Operationalisierung
zusammen, andcrerseits mit der starkcren Einbcziehung neuerer em-
pirischer Forschungsergebnisse.
Die Einfiihrung der ICD-10 fiihrte cine Umbruchsituation in der
psychiatrischen Diagnostik herbei und wurde von vielen Psychiatern
mit Skepsis aufgenommen. Sie hatten voriibergehend groBe Schwie-
rigkeiten, sich von den hergebrachten Konzepten zu losen, die in der
deutschsprachigen Psychiatric und Medizin schr verbreitet warcn.
Diese Konzcpte erschienen vielen KoUcgen, die in dicser Tradition
aufgewachsen sind, am cinfachsten und plausibelstcn. Ein cinseitiges
Fcsthalten an dicser thcoretischen Tradition hattc aber den erhcbli-
chen Validitats- und Rcliabilitatsproblcmcn dicser Diagnostik nicht
Rechnung getragen und ware deswegen dem diagnostischen Fort-
schritt nicht forderlich gewesen. Auch bekommen bestimmte Sach-
verhalte aus dieser traditionellen Sicht eincn zu hohen Stellenwert,
wie z.B. die Unterscheidung zwischen endogener und neurotischer
Depression, die ihr aus der Sicht neuerer Forschung nicht zukommt.
Andcre Storungen, wie z.B. die Angststorungen, wurden in der tradi
tionellen Systematik nur sehr global dargestellt und erfuhren nicht die
aus heutiger Sicht notwendige Differenzierung, z.B. in Panikerkran-
kungen und generalisierte Angststorungen. Die lCD-10 versucht, den
neueren Ansatzen in der psychiatrischen Klassifikation gerecht zu wer-
den und dabei ein moglichst hohes MaB an diagnostischer Ubereinstim-
mung zwischen verschiedenen Arzten herzustellen. Das vorliegende
Buch folgt in seiner Gliederung den Hauptkapiteln der IGD-10.
Was ist der Sinn einer ZusammenstcUung von literarischen Texten,
die sich mit psychiatrischen Erkrankungen beschaftigen, fiir den
Psychiater? Neben dem literaturhistorischen Aspekt, dass psychiatri-
sche Konzcpte immer wieder auch in die Literatur cinbezogen wor-
den sind, und neben der interessanten Frage, in welchem AusmaB
und mit welchem Kenntnisstand das geschieht (s.o.), ist wahrschein-
lich fiir den Psychiater der wichtigste Nutzen, dass er sich mit der zum
Teil subtilen bzw. sensiblen Darstellung psychiatrischer Symptome
bzw. der moglichen Ursachen psychiatrischer Erkrankungen in der
Literatur beschaftigt und dadurch seine eigene Sensibilitat fiir die
psychischen Veranderungen seiner Patienten und sein Einfiihlungs-
18
Vorwort /
vermogen im Hinblick auf mogliche Verursachungen verbessert.
Auch die differenzierte sprachliche Umsetzung psychopathologischer
Phanomene und Verursachungsprozesse, wie sie in den literarischen
Darstellungen zu finden sind, kann im Sinne einer Verbesserung der
sprachlichen Prazision in der Darstellung komplexer psychischer
Phanomene Vorbildcharakter haben.
Das Buch wendet sich aber nicht nur an den Psychiater, sondern auch
an interessierte Laien, die sich mit dieser Thematik beschafdgen wol-
len und vielleicht liber den Umweg der hterarischen Darstellung ei-
nen besseren und verstandnisvoUeren Einblick in psychiatrische Er-
krankungen bekommen.
Die Texte sind jeweils vom Herausgeber, dem Germanisten und Lite-
raturwissenschaftler Prof. Gerhard Kopf mit einer kurzen Einfiih-
rung versehen worden, um zu vermitteln, aus welchem inhaltlichen
Gesamtkontext die jeweilige Textstelle entnommen ist und um ein
paar Hinweise zum Stellenwert des jeweiligen Werkes und des Autors
zu machen. Im Anschluss werden die dort publizierten literarischen
Beispiele im Hinblick auf psychiatrisch relevant erscheinende Aspek-
te kommentiert. Es sei ausdriicklich betont, dass diese kurzen Kom-
mentierungen keine iiber die psychiatrischen Sachverhalte hinausge-
hende Interpretation der jeweiligen Textes beabsichtigen. Jedem der
Kapitel FO bis F9 ist ein einfiihrender Text mit der Darstellung des
jeweiligen psychiatrischen Krankheitskonzeptes vorangestellt.
Prof Dr. Hans-Jiirgen MoUer
Miinchen, im Januar 2006
19