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Karl-Wilhelm Welwei GRIECHISCHE GESCHICHTE

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Karl-Wilhelm Welwei

GRIECHISCHE GESCHICHTE

Ferdinand SchöninghPaderborn · München · Wien · Zürich

Karl-Wilhelm Welwei

GRIECHISCHE GESCHICHTE

Von den Anfängen bis zum Beginndes Hellenismus

Mit 2 Vorsatzkarten, sowie 20 Karten im Text und 34 Abbildungen im Bildteil (Stand nach Seite 324).

Umschlagabbildung:Françoisevase. Volutenkrater im attisch-schwarzfigurigen Stil bemalt.

Vermutlich durch den Töpfer Ergotimos gefertigt und von dem Vasenmaler Klitias bemalt. Museo Archeologico Nazionale in Florenz.

© ullstein bild – AISA –

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E-Book ISBN 978-3-657-77306-0ISBN der Printausgabe 978-3-506-77306-7

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND

ARCHAISCHE EPOCHE11

1. Probleme der Ethnogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Das Frühhelladikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

3. Das Mittelhelladikum und die mykenische Zeit bis etwa 1200 v. Chr.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4. Die Katastrophen der mykenischen »Palastsysteme« . . . . . . . . . . . . . . 37

5. Der Ausklang der mykenischen Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

6. Übergang zu neuen Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

7. Migrationen und Entstehung der historischen griechischen Dialekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

8. Gesellschaft und Wirtschaft in den frühen »Dunklen Jahrhunderten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

9. Voraussetzungen und Anfänge »staatlicher« Organisationsformen . . . . 65

10. Die gesellschaftliche Gliederung im Übergang zu »staatlichen« Organisationsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

11. Die frühe Polis und die Ausdifferenzierung politischer Institutionen und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

6 INHALT

12. Die »Große Griechische Kolonisation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

13. Die ältere Tyrannis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

14. Kontinuität und Wandel im politischen Bezugsfeld der archaischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

15. Erste Konflikte zwischen Sparta und Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

16. Die Griechen und die persische Expansion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

II. DAS LANGE 5. JAHRHUNDERT

173

1. Der Ionische Aufstand und die Einführung des Strategenamtes in Athen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

2. Krieg zwischen Sparta und Argos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

3. Die Abwehr der persischen Invasion 490 v. Chr.. . . . . . . . . . . . . . . . 177

4. Die Paros-Expedition der Athener und ihr Krieg gegen Aigina . . . . . 183

5. Ostrakophorien und weitere Reformen in Athen . . . . . . . . . . . . . . . 184

6. Das Flottenbaugesetz des Themistokles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

7. Sparta vor der Invasion des Xerxes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

8. Thermopylen und Salamis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

9. Plataiai und Mykale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

10. Die Gründung des Delisch-Attischen Seebundes . . . . . . . . . . . . . . . 208

11. Soziale Unruhen, Tyrannen und Machtkämpfe im griechischen Westen um und nach 500 v. Chr.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

12. Sizilien und »Großgriechenland« (Unteritalien) nach der Schlacht bei Himera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

13. Weitere Randzonen griechischer Kultur um 500 v. Chr.. . . . . . . . . . 227

14. Die »Kimonische Ära« in Athen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

15. Kimon und Ephialtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

7INHALT

16. Der sogenannte Erste Peloponnesische Krieg und die Ägyptische Expedition der Athener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

17. Die Konsolidierung der athenischen Hegemonie im Seebund . . . . . . 251

18. Vom Ende der Kämpfe gegen Persien bis zum »Dreißigjährigen Frieden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

19. Athenische Seebundpolitik im Zeichen eines unsicheren Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

20. Athenische Außen- und Innenpolitik vom Ende der Samischen Erhebung bis zur Kerkyra-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

21. Sparta zwischen dem »Dreißigjährigen Frieden« und dem Peloponnesischen Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

22. Der Peloponnesische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

III. DAS KURZE 4. JAHRHUNDERT

325

1. Der Sokratesprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

2. Reformen in Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

3. Die Hegemonie der Spartaner, ihr Kampf gegen Persien und der Korinthische Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

4. Der »Königsfrieden« oder Frieden des Antalkidas . . . . . . . . . . . . . . . 343

5. Die Fortsetzung spartanischer Machtpolitik und die Gründung des Zweiten Athenischen Seebundes . . . . . . . . . . . . . . . . 347

6. Die Schlacht bei Leuktra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

7. Zwischen Leuktra und Mantineia: Gab es eine thebanische Hegemonie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

8. Makedonien und der sogenannte Bundesgenossenkrieg der Athener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

9. Neue Machtbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

10. Athen und der Aufstieg Makedoniens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

8 INHALT

11. Der Weg nach Chaironeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

12. Griechenland im Schatten der makedonischen Expansion . . . . . . . . . 423

Exkurs: Spezifische Entwicklungen im 4. Jahrhundert im Vergleich zu ihren Anfängen im 5. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

IV. ASPEKTE GRIECHISCHER KULTUR

439

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541

Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

Karten- und Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

VORWORT

Vor sechs Jahrzehnten wies Hermann Bengtson im Vorwort zur ersten Auflage seiner »Griechischen Geschichte« darauf hin, dass die Zeiten vorüber sind, in denen man die Geschichte der Griechen »mit der

Schlacht bei Chaironeia enden ließ«. Sein Werk schließt mit einem Ausblick auf das spätantike Griechentum von Konstantin d. Gr. bis Justinian. Inzwischen ist die Zahl der einschlägigen Untersuchungen und Darstellungen derart gewach-sen, dass ein Überblick über den von Bengtson vorausgesetzten zeitlichen Rah-men in einem handlichen Band kaum adäquat geboten werden kann. Als Ende der Ereignisgeschichte ist hier der Lamische Krieg 323/22 v. Chr. gewählt, den Athener und Aitoler mit ihren Bundesgenossen gegen makedonische Streitkräf-te führten. Die Niederlage der Griechen bedeutete eine Zäsur. Es gelang ihnen nicht, die makedonische Vorherrschaft in Hellas zu beseitigen.

Dieses Buch wendet sich an Fachkollegen, Studierende und Lehrer der Ge-schichte sowie auch an einen breiteren Leserkreis. Daher wird hier eine Trennung von Darstellung und Anmerkungsapparat vorgenommen. Alle Jahreszahlen bezie-hen sich, sofern nicht ausdrücklich vermerkt, auf die Zeit vor Christi Geburt.

Es bleibt die angenehme Pflicht der Danksagung. An erster Stelle ist Herr Dr. Christoph Selzer zu nennen. Er hat mit großen Engagement mir eine ausgezeich-nete verlegerische Betreuung zuteil werden lassen und wertvolle Vorschläge zur Gestaltung des Bandes gemacht. Die Reinschrift des Manuskriptes haben Frau Dr. Iris Samotta, Frau Cornelia Leinenweber, Frau Sabine Trispel und Frau Marion Becker übernommen. Die Korrekturen haben Frau Dr. Samotta, Herr Dr. Selzer und Frau Renate Warttmann mitgelesen. Für die Beschaffung schwer zugänglicher Literatur bin ich den Herren Professoren Mischa Meier und Karl-Joachim Hölkes-kamp zu großem Dank verpflichtet. Bei der Erstellung des Registers waren Frau Dr. Samotta und Herr stud. phil. Michael Cramer eine große Hilfe.

Witten/Ruhr, im September 2011 KARL-WILHELM WELWEI

I.

FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE

1. Probleme der Ethnogenese

In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Bild von der Entstehung und Früh-zeit des antiken Griechentums grundlegend gewandelt. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hat die Entzifferung der nach dem eigentüm-

lichen Duktus ihrer Zeichen benannten mykenischen Linear B-Schrift völlig neue Perspektiven zum Verständnis der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Palastherrschaften auf Kreta und auf dem griechischen Festland geschaffen.1 Die Sprachwissenschaft ermöglichte eine Revision älterer Thesen zur Frage der Einwanderung protogriechischer Gruppen und zum Problem der Entwicklung der historischen griechischen Dialekte, so dass sich neue Aspekte zur Deutung der Ethnogenese im antiken Hellas ergaben. Archäologische Funde vermehren kontinuierlich unsere Kenntnisse vom Siedlungsbild und von den demographischen Entwicklungen sowie vom Transfer von Gütern und Ideen in diesem Raum. Ethnographische Erkenntnisse und Modelle bieten Vergleichs-möglichkeiten, die zum Verständnis der Entstehung und Weiterentwicklung frü-her antiker Herrschaftsstrukturen beitragen, und die Ausweitung unseres Bildes von der Geschichte Vorderasiens und Ägyptens und von den Kontakten zwi-schen den prähistorischen Kulturen des östlichen und des westlichen Mittel-meerbeckens bestätigt, dass die griechische Frühzeit in einem größeren medi-terranen Kontinuum zu sehen ist.

Wenn die griechische Geschichte schon in ihrer frühen Phase in diesen histo-rischen Zusammenhang einzuordnen ist, erfordert dies selbstverständlich die Berücksichtigung langfristiger Entwicklungen. Auszugehen ist hier vom sprach-geschichtlichen Befund. Die verschiedenen historischen Dialekte im antiken

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE12

Griechenland zählen bekanntlich zu einer großen Sprachfamilie, die nach der international gebräuchlichen Terminologie als indoeuropäisch bezeichnet wird. Es handelt sich insgesamt um über 400 Sprachen,2 von denen hier neben grie-chischen Idiomen nur das Lateinische, das Keltische, die germanischen und sla-wischen Sprachzweige sowie die indo-iranischen Sprachen genannt seien. Als Ausgangsgebiete der sogenannten Indo-Europäer gelten überwiegend die Re-gionen zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer und das mittlere Tal der Wolga mit ihren dortigen Nebenflüssen.3 Aus diesen Gebieten sollen ›Stammesverbände‹ im 5. Jahrtausend v. Chr. nach Südosteuropa gewandert und im 4. Jahrtausend v. Chr. weitere Migrationswellen nach Zentralasien und ins iranische Hochland gelangt sein. Weiträumige Wanderungen größerer Verbände, die als ›Stämme‹ gelten können, erfordern aber logistische Möglichkeiten und Fähigkeiten, die für die genannten Zeiten nicht ohne Weiteres vorauszusetzen sind. Dies gilt auch in Bezug auf die Annahme, dass die Urheimat der proto-indoeuropäischen Idiome im Großraum zwischen dem südlichen Kaukasus, dem nördlichen Mesopotamien und Ostanatolien gelegen haben könnte.4 Eine überraschende und kühne Lösung schlug vor etwa zwei Jahrzehnten COLIN RENFREW vor, der vermutet, dass die Entstehung der zahlreichen Zweige der indoeuropäischen Sprachfamilie bereits mit dem Beginn einer Ausbreitung von Ackerbaukulturen seit dem 7. Jahrtausend v. Chr. zu erklären sei.5 Er führt daher das Frühgriechische letztlich auf Träger einer vom südöstlichen Kleinasien sich verbreitenden Kultur zurück und versucht insofern, eine Verbindung lingui-stischer und archäologischer Methoden herzustellen. Zweifellos geht RENFREW mit Recht davon aus, dass eine Ausbreitung der Agrikultur in Europa nicht von Wanderungsgruppen ausgegangen sein kann, die im Verlauf ihrer Züge kontinu-ierlich immer wieder weite Entfernungen zurücklegten. Ihre Migrationen er-folgten nach seiner Auffassung in begrenzten lokalen oder regionalen Bewe-gungen und mit längeren Perioden der Sesshaftigkeit nach einem Ortswechsel, der immer nur von kleineren, überschaubaren Gruppen vorgenommen wurde.6 RENFREWS These setzt demnach einen langen Zeitraum für die Ausbreitung indoeuropäischer Sprachen im westlichen Europa voraus. Es wäre dann in jedem Fall mit mannigfachen Formen kultureller Diffusion in Verbindung mit vielen Neuerungen im Sprachgebrauch zu rechnen, doch ist kaum anzunehmen, dass über die zu vermutenden Zeiträume hinweg kleine Wanderungsgruppen ihre Identität zu wahren vermochten und gewissermaßen nach Jahrtausenden auf dem griechischen Festland in einem weiten Rahmen eine Sprachgemeinschaft werden konnten. Das vorhellenische Sprachgut ließe sich auf diese Weise wohl schwer erklären.

PROBLEME DER ETHNOGENESE 13

Zweifellos sind freilich aus sprachhistorischen Gründen frühe Einwande-rungen von indoeuropäischen Bevölkerungsgruppen nach Griechenland anzu-nehmen. Nach älteren Thesen trafen sie dort auf Vorbewohner, von denen sie ein sprachliches Substrat übernahmen, das aus zahlreichen Ortsnamen und Bezeichnungen für mediterrane Pflanzen und Tiere abgeleitet wurde. Ältere Sprachelemente wurden im Griechischen in Wörtern vermutet, die auf -ss- und -nth- bzw. -nd- enden. Diese Suffixe begegnen aber auch in mehreren indoeu-ropäischen Sprachen, die zum anatolischen Sprachzweig gehören. Hierzu zäh-len etwa Luwisch, Palaisch, Hethitisch, Lydisch und Lykisch. Dies scheint die These zu widerlegen, dass es sich bei den betreffenden Wörtern um ein vorhel-lenisches Sprachgut handelt, das in die griechische Sprache übernommen wur-de. Die Ethnogenese der antiken Hellenen war jedenfalls ein langer Prozess. Frühe Zuwanderungen indoeuropäischer Bevölkerungen nach Griechenland sind nicht auszuschließen. Sie können aber die genannten Suffixe schon ge-kannt haben.7

Die Verbreitung bestimmter Kulturelemente ist freilich nicht in jedem Fall mit größeren Wanderungsbewegungen bestimmter Populationen in Verbindung zu bringen. Änderungen im Keramikstil, im Grabtypus, in den Grabbeigaben oder in der Siedlungsweise sind kein Beweis für eine Landnahme eines zuwan-dernden ›Volkes‹. Auch lassen sich daraus natürlich keine Rückschlüsse auf die Verwendung bestimmter Idiome ziehen. Große Schwierigkeiten bereitet auch die Interpretation des anthropologischen Materials, weil die bisher zur Verfü-gung stehenden Skelettfunde nicht für eine Identifizierung der Träger der Be-wegungen sowie eine Lokalisierung der Ausbreitung und für eine chronolo-gische Einordnung von mehr oder weniger abgrenzbaren Populationen ausreichen. Nur so viel ist deutlich, dass in Griechenland nach anthropolo-gischen Untersuchungen keine großen Invasionen umfangreicher Verbände aus Gebieten außerhalb des Ägäisraumes nachzuweisen sind. Gewisse Abwei-chungen im Skelettmaterial der Bevölkerung Griechenlands in der frühen Bronzezeit von den Populationen der mittleren und späten Bronzezeit können durch die begrenzte Zahl der Funde bedingt sein. Insgesamt spricht aber der Befund eher für eine gewisse Homogenität der Individuen »der drei Kulturstu-fen des Früh-, Mittel- und Späthelladikums«.8

Linguistisch lassen sich die Anfänge der Entwicklung des Griechischen frei-lich nicht mehr ermitteln, so dass in diesem Punkt letztlich nur Hypothesen möglich sind. Die historischen griechischen Dialekte haben ihre besondere Ausprägung zwar auf griechischem Boden in nachmykenischer Zeit erhalten; aber eine wichtige Vorstufe des Griechischen war ein altertümliches Griechisch,

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE14

das in mykenischen Zentren für Registrierungs- und Verwaltungszwecke ver-wendet wurde. Es handelt sich dabei um Texte in der schon genannten Linear B-Schrift. Die wichtigsten erhaltenen Notizen stammen aus dem Schutt der um 1200 v. Chr. niedergebrannten ›Paläste‹ von Knossos, Pylos, Theben, My-kene und Tiryns. Weitere Zeugnisse für Linear B fanden sich auf einzelnen Tontäfelchen und beschrifteten Gefäßen in verschiedenen Orten in Griechen-land und Kreta.9

Umstritten ist die Datierung der zahlreichen Linear B-Täfelchen aus Knossos. Wahrscheinlich ging die Herrschaft in Knossos um oder kurz nach 1375 v. Chr. auf ›Mykener‹ vom griechischen Festland über.10 In der Folgezeit wurde ver-mutlich auf Kreta für die Erfordernisse der neuen Herren Linear B in Anleh-nung an Zeichen der noch nicht entzifferten minoischen Linear A-Schrift ent-wickelt, wobei aber auch gewisse Änderungen vorgenommen wurden wie auch piktographische Zeichen Verwendung fanden. Insgesamt finden sich in den Li-near B-Texten nur geringe dialektale Differenzen. Daraus ist aber nicht zu schließen, dass um 1200 v. Chr. bereits ein relativ einheitliches Griechisch im Umkreis der Fundorte gesprochen wurde. Die Übereinstimmungen deuten vielmehr darauf hin, dass in den mykenischen Herrschaftszentren eine Anglei-chung des Sprachgebrauchs für Verwaltungszwecke und für eine Kontrolle be-stimmter Güter und Produkte erfolgte. Dies besagt aber nicht, dass vor 1200 v. Chr. ein einheitlicher Herrschaftsraum in Griechenland entstanden war.11

Die der Linear B-Schrift zugrunde liegende Sprache hat jedenfalls größere Nähe zum Griechischen der homerischen Epen und sogar der Klassischen Zeit als etwa zum Lateinischen oder zum Hethitischen. Dies lässt auf eine längere Entwicklung schließen, die vielleicht bis weit ins 3. Jahrtausend v. Chr. hinauf-reicht. Da in der frühen Bronzezeit große Invasionen fremder Populationen nach dem vorliegenden anthropologischen Material nicht nachzuweisen sind und die Siedlungen in Griechenland in der Zeit des Übergangs vom Früh- zum Mittelhelladikum um 2100/2000 v. Chr. nach dem archäologischen Befund nicht von schweren, durch Menschenhand verursachten Katastrophen betroffen wurden, kann man davon ausgehen, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. im Großraum der ägäischen Zivilisation sich eine im Großen und Ganzen kontinuierliche Entwicklung vollzog und der Austausch von Gütern und Ideen nicht dauerhaft gestört wurde. Die damalige Verbreitung von Apsidenhäusern, Tonankern und Schaftlochäxten im Frühhelladikum II und III ist kein Beweis für ›Völkerver-schiebungen‹ in großem Stil, die Überlagerungen oder Verdrängungen auto-chthoner Populationen durch starke Verbände vordringender Eroberer voraus-setzen.12 So ist zum Beispiel die Keramikproduktion in der Periode

PROBLEME DER ETHNOGENESE 15

Frühhelladikum II (ca. 2500−2300/2200 v. Chr.) als eine Art Übergangsphase zu verstehen, in der helladische Traditionen stark durch westanatolische Kultur-elemente beeinflusst wurden, die über Euboia und über die nördlichen Kykla-den auf das spätere griechische Mutterland einwirkten.

Ein lange Zeit besiedelter Platz war schon seit dem präkeramischen Neoli-thikum Sesklo, etwa 10 km westlich von Volo in Thessalien. Die Blütezeit der dortigen Siedlung lag im Mittelneolithikum nach 5000 v. Chr. in der Zeit der nach ihr benannten Sesklo-Kultur mit ihrer charakteristischen, zumeist rot be-malten Keramik. Die Anordnung der Häuser und die Anlage einer Schutzmau-er lassen auf ein organisiertes Gemeinschaftsleben schließen. Etwa um 4500 v. Chr. zerstörte eine Brandkatastrophe die Siedlung. Der Platz blieb längere Zeit unbewohnt. Im jüngeren Neolithikum entstand am westlichen Rand der Ebe-ne von Sesklo bei dem Ort Dimini die sogenannte Dimini-Kultur, die um 3100 v. Chr. ihren Anfang nimmt. Die Herkunft der Träger der Dimini-Kultur mit ihrer an jenem Ort produzierten polychromen Keramik mit Spiral- und Mä-andermustern bleibt ein offenes Problem. Dass die sogenannten Dimini-Leute aus dem ungarischen Raum nach Süden bis Thessalien abgewandert sind,13 ist nicht auszuschließen, aber auch nicht zu verifizieren. Sie waren zweifellos nicht die einzigen Zuwanderer. Andere Scharen mögen durch jeweils mehr oder weniger regional begrenzte Verlegungen ihrer Wohnsitze allmählich in die Räume der mediterranen Kulturen gelangt und in diese hineingewachsen sein. Ihre Bewegungen lassen sich allerdings – wie gesagt – nicht einfach aus der Verbreitung bestimmter Kulturelemente erschließen. Auch mögen solche Ver-bände zum Teil unterschiedliche Idiome gesprochen und sich mit schon ansäs-sigen Landbewohnern arrangiert haben, um Platz für eigene Siedlungen zu finden.

In Form von durchweg kleinräumigen Integrations- und Assimilationspro-zessen scheint sich langfristig eine Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften vollzogen zu haben, durch die selbstverständlich auch die sprachliche Entwicklung geprägt wurde. Hiermit lässt sich nicht zuletzt das zunächst relativ einheitliche Erscheinungsbild der etwa um 3000 v. Chr. be-ginnenden frühhelladischen Kultur in Mittel- und Südgriechenland erklären, die auf der Basis der spätneolithischen Kultur entstand.14 Der Übergang zum Frühhelladikum bzw. zur Frühen Bronzezeit vollzog sich nicht abrupt und war demnach wohl kaum mit tiefgreifenden Veränderungen der Bevölkerungsver-hältnisse in großen Teilen des späteren griechischen Mutterlandes verbunden. Dies schließt aber nicht aus, dass über längere Zeiträume immer wieder neue Bevölkerungsgruppen zuwanderten. So wiederholten sich offenbar Überlage-

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE16

rungen älterer Gemeinschaften durch neue Siedler, zu denen wohl auch Vor-fahren jener Personengruppen gehörten, die im 2. Jahrtausend v. Chr. proto-griechische Idiome gesprochen haben. Im Verlauf dieser Prozesse nahmen die Zuwanderer zweifellos zahlreiche Wörter der bereits ansässigen Bewohner in ihren eigenen Sprachschatz auf. Die meisten Zuwanderer sind wohl von Nor-den her eingewandert oder besser: allmählich eingesickert. Auf diesen Wande-rungsbewegungen in die Siedlungsräume der späteren Griechen des helle-nischen Mutterlandes sind vermutlich auch immer wieder größere oder kleinere Gruppen in Makedonien und Thessalien zurückgeblieben, denn die Sprache der antiken Makedonen, die nicht mit der südslawischen makedo-nischen Sprache der Gegenwart zu verwechseln ist, war mit dem Altgrie-chischen verwandt. Wir wissen zwar nicht, wie die Entwicklung des Protogrie-chischen im hellenischen Mutterland in der Bronzezeit verlaufen ist; zu vermuten ist aber, dass Sprachgut von Zuwanderern, deren Idiome der indoeu-ropäischen Sprachfamilie zuzuordnen sind, wohl schon im 3. Jahrtausend v. Chr. die Entstehung des Frühgriechischen, das noch in den Linear B-Texten der mykenischen Zeit erkennbar ist, beeinflusst hat.

Ältere Thesen, wonach sogenannte ›Stämme‹ in mehreren großen Wellen um 2000, um 1600 und um 1200 v. Chr. Griechenland gewissermaßen in Besitz genommen hätten, sind jedenfalls obsolet geworden. Nach diesem Erklärungs-modell sollen die Vorfahren der späteren Ionier um 2000, Träger des aiolischen Dialekts bzw. die Vorfahren der ›Achaier‹ um 1600 und die Dorier um 1200 v. Chr. zugewandert sein. Hier handelt es sich um eine unzutreffende Identifizie-rung von angeblich frühen ›Stämmen‹ und Dialektgruppen, deren Idiome sich aber erst in nachmykenischer Zeit herausgebildet haben. Das skizzierte Schema entspricht einem stark vereinfachten System der griechischen Dialekte, deren Vielfalt hierin nicht erfasst wird.15

Eine Vereinfachung des Problems der griechischen Ethnogenese ist aber auch die zeitweise vieldiskutierte These, dass gegen Ende der Kulturphase Frühhel-ladisch II (um 2300/2200 v. Chr.) eine große Welle von Invasoren einen Wandel herbeigeführt habe, der auf die Zuwanderung der Protogriechen oder der eigentlichen Vorfahren der Griechen schließen lasse. Diese These, die zu-nächst das Erklärungsmodell einer epochalen Veränderung des ethnischen Er-scheinungsbildes in Griechenland zu korrigieren oder zu modifizieren schien, ergab sich aus dem Befund der Grabungen in Lerna am Argolischen Golf. Dort wurde eine befestigte Siedlung (Lerna III) mit einem sogenannten Herrenhaus (House of Tiles) gegen Ende der Phase Frühhelladisch II zerstört. Eine neue Siedlung (Lerna IV) mit Apsidenhäusern in der Phase Frühhelladisch III war

PROBLEME DER ETHNOGENESE 17

unbefestigt und bautechnisch ein Rückschritt.16 Die Bewohner kannten aber bereits die Töpferscheibe und graue minyische Keramik. Weitere Elemente wa-ren kleine Tonanker und Steinäxte. Der ›Kulturwandel‹ wurde auf eine Invasion von Zuwanderern zurückgeführt. Darauf schienen auch Zerstörungen in Asine, Zygouries und Hagios Kosmas gegen Ende des Frühhelladikum II hinzudeu-ten. Die Interpretation der Funde blieb freilich umstritten. Die Katastrophen wurden zeitweilig mit der Expansion der sogenannten Hockergrab- oder Kurgan-kultur in Verbindung gebracht. Nach dieser These sollen nomadische oder halb-nomadische Populationen den Kern der Indoeuropäer gebildet haben. Man nahm an, dass Kurganvölker über Westanatolien nach Griechenland vorstießen oder sich über den makedonischen Raum weiter ausbreiteten. Teile dieser Be-völkerung sollen hiernach um 2300 v. Chr. über das Meer in die Argolis ge-langt sein, und andere Gruppen sollen am Ende der Phase Frühhelladikum III das heutige Albanien und Epiros sowie Thessalien, Boiotien und das gesamte südliche Griechenland in Besitz genommen haben.17 Als Beweise gelten mit-telhelladische Hügelgräber, in denen die Elemente der materiellen Kultur nicht den Funden aus nordpontischen Kulturen entsprachen. Die ›Urheimat‹ der Indoeuropäer können aber schwerlich die südrussischen Steppengebiete sein, weil sie erst von den Ackerbaukulturen in Rumänien und in der Ukraine be-siedelt wurden.18

Als weitere Interpretationsmöglichkeit wurden Invasionstheorien aufgrund der Verbreitung bestimmter Kulturelemente in Betracht gezogen. STEFAN HILLER vermutet, dass die schon genannten Merkmale des Apsidenhauses, der Schaft-lochaxt und der Tonanker bereits gegen Ende des Neolithikums durch ein ›Volk‹ indoeuropäischer Herkunft nach Makedonien und Thessalien gelangten und um 2500 v. Chr. ungefähr gleichzeitig mit Zuwanderern aus Anatolien in Boiotien erschienen. Um 2300 v. Chr. seien dann die Träger einer in Boiotien entstan-denen ›Mischkultur‹ in die Peloponnes und nach Attika vorgestoßen, wo sie in der Folgezeit als eine nunmehr schon ›griechische‹ Bevölkerung dominiert hät-ten.19 Andere Forscher nehmen an, dass aus Anatolien stärkere Wellen von Zu-wanderern nach Griechenland gelangten. Es bleibt aber unbewiesen, ob um 2300 v. Chr. große Scharen von Zuwanderern die Argolis besiedelten, weil es fraglich ist, ob etwa Asine, aber auch andere Orte in dieser Region ungefähr gleichzeitig mit Lerna III von Fremden zerstört wurden.20 Die Eroberer von Lerna III waren jedenfalls nicht allzu zahlreich, weil in der Siedlung damals nur einige hundert Bewohner lebten.21

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE18

2. Das Frühhelladikum

Im Frühhelladikum des 3. Jahrtausends v. Chr. lebten in Griechenland zahl-reiche Kleingesellschaften, deren wichtigste ökonomische Basis die Land-wirtschaft war. Überwiegend wurden kleinere Parzellen bearbeitet. Es war

daher schwerlich das Ziel der Bemühungen einzelner Führungspersönlich-keiten, ihre Rivalen im Ringen um Autorität und gesellschaftlichen Rang durch Aneignung größerer Ländereien zu übertrumpfen. Landwirtschaftlich genutzt wurden ebenso wie noch im Neolithikum Getreide, Hülsenfrüchte und Gemü-sesorten. Wichtig wurde die Gewinnung neuer Produkte in der Viehwirtschaft, in der seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. mehr und mehr Milch und Wolle gewon-nen sowie Zug- und Packtiere verwendet und dementsprechend auch in grö-ßerem Umfang Weideplätze benötigt wurden.22 Die Bedeutung von Wein- und Olivenproduktion ist dagegen umstritten. Untersuchungen von HANS LOHMANN haben ergeben, dass Hänge noch kaum terrassiert wurden.23 Insgesamt gesehen gewannen aber die für die Landwirtschaft geeigneten Regionen in Mittel- und Südgriechenland sowie auf Kreta im Frühhelladikum einen Vorsprung gegen-über Thessalien und Makedonien. Ein sprunghafter Anstieg der Bevölkerungs-zahlen ist indes nicht zu erkennen, wenn auch in mehreren Siedlungen der Umfang der bewohnten Flächen größer war als im Neolithikum.

In der Bronzeverarbeitung hatten technische Verbesserungen und zuneh-mende Spezialisierung beachtliche Auswirkungen auf die Sozialordnung. Neue Fertigkeiten in der Waffenherstellung beeinflussten die Produktion und damit indirekt auch den Tauschhandel zur Beschaffung des Rohmaterials,24 so dass ein vielfältiges Beziehungsgeflecht entstand und die Kommunikation zunahm, aber auch durch Piraterie die Gefahren vor allem für Küstenbewohner sich steigerten und hierdurch Befestigungen notwendig wurden. Planung und Durchführung von Sicherheitsmaßnahmen erforderten wiederum Sorgfalt bei der Organisation entsprechender Aktionen, wodurch nicht nur der Zusammenhalt der Siedlungs-gemeinschaften gestärkt wurde, sondern ihre Anführer auch an Ansehen gewan-nen. Dass die soziale Differenzierung stärker wurde, zeigt das schon erwähnte größere Gebäude (House of Tiles) in Lerna III. Der Besitzer dieses Hauses hatte zweifellos einen beachtlichen gesellschaftlichen Rang. Dies gilt sicherlich auch für die Besitzer größerer Häuser in Messenien, Kolonna (Aigina) und Theben. Es wäre aber übertrieben, diese Statuspersonen als ›Fürsten‹ zu bezeichnen. Sie hatten aber ohne Frage genügend Arbeitskräfte zur Verfügung und konnten vielleicht zunehmend ihren Besitz und damit auch ihren Einfluss steigern, der

DAS MITTELHELLADIKUM UND DIE MYKENISCHE ZEIT 19

sich aber wohl nur jeweils auf ein begrenztes Gebiet im Umkreis ihrer Sied-lungen erstreckte. Der Herr des Hauses der Ziegel in Lerna III konnte jedenfalls nicht die Katastrophe gegen Ende der Phase Frühhelladikum II verhindern.

Nirgends konnte im Frühhelladikum ein Siedlungsführer die Herrschaft über wei-te Regionen gewinnen. Die Zahl der Siedlungen mit größeren Gebäuden blieb offenbar recht gering. Die Gemeinschaften im späteren Frühhelladikum können nach ihren Führungssystemen als Ranggesellschaften bezeichnet werden,25 die wohl auch eine größere Stabilität als die egalitären Gesellschaften im Neolithikum und im Frühhelladikum I besaßen. Dies besagt freilich nicht, dass die Position der Siedlungs-führer in der frühen Bronzezeit in etwa der Stellung des aus der Ethnologie be-kannten Big Man in rezenten primitiven Gemeinschaften, beispielsweise in Neu-Guinea, entsprach, die sich noch auf einer vorstaatlichen Stufe befanden. Der Einfluss des Big Man beruht auf Ressourcen seines Hauses, die er seinen eigenen Aktivitäten und Fähigkeiten verdankt. Er verfügt über ›Gefolgsleute‹ minderen Ranges und un-terhält Beziehungen zu höhergestellten Personen, verliert aber seine dominierende Position mit der Abnahme seiner Leistungsfähigkeit. Eine Differenzierung zwischen primären und sekundären Staaten (primary and secondary states) in der Bronzezeit haben W. A. PARKINSON und M. L. GALATY vorgeschlagen.26 Primary states sind nach ihrer Definition aus einfach strukturierten Gemeinschaften hervorgegangen, die nicht in Kontakt mit weiterentwickelten Staaten standen und sich aus einem chiefdom (Häuptlingstum) entwickelt haben. Als secondary states verstehen sie ›Staaten‹ mit komplexen Strukturen, die durch Interaktion mit ›Nachbarstaaten‹ entstanden sind. Es erscheint indes problematisch, die Organisationsformen der Bronzezeit mit dem modernen Staatsbegriff zu bezeichnen, wenn auch etwa die minoischen und myke-nischen Palastsysteme zweifellos eine Interaktion mit anderen ›Gemeinwesen‹ und ihren Führungspersonen zur Voraussetzung hatten. Andererseits waren aber auch die Siedler der frühen und mittleren Bronzezeit in ihren Ortschaften nicht isoliert.

3. Das Mittelhelladikum und die mykenische Zeit bis etwa 1200 v. Chr.

Im frühen bronzezeitlichen Griechenland und im frühen Mittelhelladikum hatten die Positionen der Siedlungsführer natürlich noch keinen Amtscha-rakter. Die Voraussetzungen für eine Überwindung der damaligen vorstaat-

lichen Verhältnisse waren noch nicht gegeben. Im 17. Jahrhundert v. Chr. ist

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE20

freilich ein deutlich höherer Standard in der materiellen Kultur in einigen regi-onalen Zentren erkennbar. Die entscheidenden Impulse kamen vor allem aus Kreta. Gewisse Vorstufen und der eigentliche Beginn dieser Entwicklung sind in verschiedenen Regionen zu erkennen. Reichere Beigaben wurden beispiels-weise in Attika in Grabhügeln bei Aphidna27 und bei Marathon im Vranatal28 gefunden. Größere Gebäude in Plasi bei Marathon und in Brauron lassen auf eine lokale Vorrangstellung der Besitzer schließen.29 Es handelt sich nicht um spezifisch attische Befunde, wie weitere größere Gebäude in Asine (Argolis) und in der befestigten Siedlung bei Malthi (Messenien) zeigen.30 Die noch dörf-lichen Gemeinschaften waren in Einzelfamilien gegliedert, wie dem Arrange-ment der mittelhelladischen Häuser und den Bestattungsbräuchen zu entneh-men ist. Familienübergreifende geschlossene Verbände in Form von clans oder ›Geschlechtern‹ sind nicht zu vermuten, wenn auch Verwandtschaftsverhältnisse sicherlich starke Klammern des Zusammenhalts bildeten. Große ›Stammesver-bände‹ enstanden aber zweifellos nicht. Dies schließt freilich ein Geflecht von Beziehungen nicht aus, das über die Grenzen einzelner Gemeinschaften teilwei-se weit hinausging und insofern auch zur Stabilisierung lokaler Verbände beitra-gen konnte. Die Basis des Gemeinschaftslebens im Mittelhelladikum waren je-denfalls größere Einzelsiedlungen oder auch Kleinlandschaften mit mehreren Ortschaften.

Etwa seit dem späten 17. Jahrhundert v. Chr. entstanden in Messenien, in der Argolis sowie auch in Athen und Attika neue Formen personengebundener Macht. Die stärksten Impulse zu dieser Entwicklung gingen offensichtlich von Mykene aus, wo sich relativ zügig ein Machtzentrum bildete. Aufgrund der dortigen eindrucksvollen Funde wird nach heutiger Konvention das gesamte Späthelladikum bzw. die Späte Bronzezeit in Griechenland als Mykenische Zeit bezeichnet. Dementsprechend gelten die Träger der späthelladischen Zeit als mykenische Griechen oder Mykener.

Allem Anschein nach ist die Macht der Herren von Mykene im 17. Jahrhun-dert v. Chr. gleichsam indigen entstanden. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis auf eine damals zugewanderte Gruppe von fremden Eroberern in Mykene.31 Einen ersten Eindruck von der Existenz einer dort herrschenden Gruppe von Krie-gern vermittelte die Entdeckung der Gräber unter dem Steinkreis A auf dem Burgberg von Mykene durch HEINRICH SCHLIEMANN im Jahr 1876. Es handelt sich um sechs Schachtgräber mit wertvollen Waffen sowie mit Schmuck und Gold- und Silbergefäßen, unter denen sich möglicherweise auch ein Geschenk eines hethitischen Königs befand. Außerdem verbarg sich in einem dieser Grä-ber die berühmte Totenmaske, die gleichsam symbolisch als Maske des Agamem-

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non, des fiktiven Heerführers der Griechen in der Sagentradition der Ilias, bezeichnet wird. Ausdruck der militärischen Stärke der damaligen Kriegerelite sind vor allem die stabilen Schwerter des Typs B, die anscheinend in Mykene selbst oder in der Argolis angefertigt wurden und vermutlich ebenso wie die Langschwerter des Typs A (mit dünnen Griffzungen) auf minoische Prototypen zurückgehen.32 Diese Funde stammen aus der Zeit des Übergangs vom Mittel- zum Späthelladikum um und nach 1600 v. Chr. Den Aufstieg einer lokalen Elite aus Mykene bestätigten die Funde der 1951 entdeckten und in den Jahren 1952−1954 unter der Leitung der griechischen Archäologen IONNES PAPADI-MITRIOU und GEORGIOS MYLONAS untersuchten Gräber unter dem Steinkreis B außerhalb des Löwentors von Mykene. Auch in diesen älteren Gräbern, von denen einige in die mittelhelladische Zeit zu datieren sind, fanden sich wertvolle Beigaben aus Gold, Silber und Edelkristall, doch war die Ausstattung nicht so reich wie die der Gräber unter dem jüngeren Steinkreis A.33

Der Machtzuwachs der Führungsgruppen in Mykene war im Vergleich zu den Positionen anderer Oberschichten bereits im späten Mittelhelladikum beachtlich. Dies lässt zumindest in der Argolis auf eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse schließen. Mykene scheint damals die befestigte mittelhelladische Siedlung auf der Bergkuppe der Aspis von Argos überflügelt zu haben. Es ist anzunehmen, dass es um oder nach 1650 v. Chr. den Herren von Mykene gelungen ist, ihren Ein-flussbereich zu erweitern. Jedenfalls konnten sie in den Besitz wertvoller Gegen-stände wie zum Beispiel Straußeneier aus Nubien, Lapislazuli aus Mesopotamien und Bernstein von der Ostseeküste gelangen. Kretische Einflüsse manifestieren sich in der Imitation minoischer Vasen und ihrer Bemalung. Eine verbindliche Erklärung der Ursachen des Aufstiegs der Oberschicht – oder eines ›Herrscher-hauses‹? – in Mykene ist wegen fehlender schriftlicher Quellen kaum möglich. Die These, dass Söldner aus Griechenland, die angeblich an der Vertreibung des Eroberervolkes der Hyksos aus Ägypten beteiligt waren, von dort Gold mitge-bracht und Formen des Totenkults sowie die Verwendung des Streitwagens nach Mykene übermittelt hätten,34 ist auszuschließen. Der Streitwagen wurde zwar offenbar von den Hyksos in Ägypten eingeführt, doch wird er in Mykene, wo er auf einer Stele über den Gräbern des Steinkreises A dokumentiert ist, wohl erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts v. Chr. bekannt geworden sein, während sich die Zunahme des Reichtums in Mykene bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts v. Chr. abzeichnete. Auszuschließen ist aber wohl auch, dass die Kriegsherren von Mykene aus der damaligen Agrarproduktion ihres Einflussbe-reichs erhebliche Ressourcen gewinnen konnten. Eher ist zu vermuten, dass sie durch erfolgreiche Beutezüge wertvolle Gegenstände in ihren Besitz brachten,

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die dann im Tauschhandel zur Beschaffung von Rohmaterial für die Waffenpro-duktion verwendet werden konnten. Besonders wertvolle Objekte wie Lapisla-zuli und Bernstein können auch über mehrere Zwischenstationen nach Mykene gelangt sein und am Ende über mehrfachen Gabentausch den Reichtum der gefürchteten Krieger auf dem Burgberg gesteigert haben.35

Unklar bleibt allerdings die Herrschaftsorganisation in der Zeit der Schacht-gräber. Die in den Grabstätten der Steinkreise A und B bestatteten Krieger waren sicherlich nicht ausnahmslos ›Monarchen‹. Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass damals eine »primitive Krieger-Oligarchie« in Mykene herrschte.36 Der Be-griff Oligarchie wäre in diesem Kontext ohnehin nur als Chiffre zu verstehen. Die vermeintliche Totenmaske des Agamemnon und die Maske aus Grab Gamma im Steinkreis B lassen eher auf eine bestimmte Rangordnung mit einer ›monar-chischen‹ Spitze schließen. Nach der Terminologie der Politikethnologen können die Verhältnisse im frühen Späthelladikum in Mykene als stratifizierte Gesellschaft verstanden werden, in der bedeutende Repräsentanten einer bestimmten Familie der Oberschicht die Führungsrolle traditionsgemäß übernehmen.

Ähnliche Organisationsformen bildeten sich offensichtlich im Späthelladikum nicht nur an Plätzen in der Argolis, sondern auch in Messenien, Boiotien und Attika. In Messenien wurden Tholosgräber zu Beginn der Späten Bronzezeit offenbar früher und in größerer Zahl als in anderen Regionen des hellenischen Mutterlandes angelegt.37 An der peloponnesischen Westküste wurden zum Bei-spiel bei Peristeria in der Nähe von Kyparissia, etwa 20 km nördlich von Pylos, drei Tholosgräber aufgedeckt, die in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren sind. Beigaben in einem der Gräber lassen Verbindungen der betref-fenden Handwerker mit Werkstätten in Mykene vermuten. Auch bei Korypha-sion in der Nähe von Pylos wurde wohl zu Beginn des Späthelladikums ein Tholosgrab angelegt.38 Bei Kakovatos, etwa 25 km nördlich von Kyparissia, wurden Kuppelgräber gefunden, die zu einer größeren Siedlung gehörten, die schon im Mittelhelladikum relativ bedeutend war. Zu den frühen Zentren in Messenien gehörte im 16. Jahrhundert v. Chr. ferner Malthi, etwa 25 km östlich von Kyparissia. Steigender minoischer Einfluss ist in Messenien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu erkennen.

In Boiotien entwickelte sich Orchomenos zu einem zunächst wohl eher lo-kalen Zentrum. Im 14. Jahrhundert v. Chr. entstand dort aber ein großes Tho-losgrab, das sogenannte Schatzhaus des Minyas. Östlich davon könnte ein ›Her-rensitz‹ gelegen haben. Größere Bedeutung als Orchomenos, dessen Territorium durch das Ansteigen des Kopaïs-Sees verringert wurde, gewann in der Späten Bronzezeit freilich Theben.

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Eine große Überraschung war vor mehreren Jahren die Freilegung einer grö-ßeren Befestigungsanlage auf dem Kiapha Thiti im oberen Varital durch H. LAU-TER, D. HAGEL und ihre Mitarbeiter.39 Nach den Ergebnissen der Ausgräber entstanden dort im fortgeschrittenen Mittelhelladikum eine größere Siedlung und in der Zeit der frühmykenischen Schachtgräber ein ›Herrensitz‹ auf einer stark gesicherten Oberburg. In der Siedlungsstruktur spiegelt sich dort die sozi-ale Hierarchie, denn unterhalb des ›Herrensitzes‹ wohnten in einer gewissen Abstufung die niederen Mitglieder der Gemeinschaft, die als stratifizierte Gesell-schaft zu bezeichnen ist,40 weil sie aus mehreren Schichten mit unterschied-lichem Status und verschiedenen Lebensweisen besteht. Unklar bleiben die Aus-dehnung des Machtbereichs der Herren dieser Siedlung und ihre Beziehungen zu anderen attischen Plätzen, insbesondere zu den Herren des Burgbergs in Athen und zu dem frühmykenischen ›Herrensitz‹ in Thorikos, wo der Fund eines Tholosgrabes auf lokale Machthaber hindeutet, deren Bestattungsstätte aber mit der Phase Späthelladikum II um 1400 v. Chr. endet.41 Weitere Tholos-gräber entstanden in Marathon vor 1400 v. Chr. und in Menidi nördlich von Athen im 14. Jahrhundert v. Chr. In der zuletzt genannten Zeit wurden ferner zwei bedeutende Kammergräber bei Spata angelegt, die von einem beachtlichen Reichtum der an diesem Platz dominierenden Familie zeugen. Größere Sied-lungen entstanden offenbar auch in Brauron und Eleusis. Über die Machtver-hältnisse in Attika sagen diese Befunde allerdings recht wenig aus. Nicht jedes Kuppelgrab war die Grabstätte eines ›Monarchen‹.

Die Ausgräber von Kiapha Thiti vermuteten, dass die dortige Burg Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. durch einen Bergrutsch zerstört wurde. Demgegenüber weist HANS LOHMANN darauf hin,42 dass ein Niedergang lokaler ›Dynastien‹ nicht nur in Kiapha Thiti und in Thorikos, sondern auch an anderen Plätzen Attikas wie Menidi, Brauron und Vrana bei Marathon auszumachen ist und in der Phase Späthelladisch III neben der großen mykenischen ›Residenz‹ auf der athenischen Akropolis wohl nur noch in Eleusis und vielleicht auch in Aphidna bedeutendere Dynasten herrschten.

In Lakonien gab es in frühmykenischer Zeit offenbar gleichfalls mehrere kon-kurrierende Machtzentren mit einem jeweils mehr oder weniger begrenzten Einflussbereich. Exemplarisch ist die Anlage des Tholosgrabes von Vapheio süd-lich von Amyklai, in dem noch ein langes Schwert, zwei mit Gold belegte Dolche, ein Goldring mit der Darstellung einer Kultszene und zwei Becken (ebenfalls mit Kultszenen) gefunden wurden. Diese Gegenstände waren offenbar von Grabräubern übersehen worden.43 Die wechselvolle Geschichte lokaler ›Dynastien‹ lässt sich aufgrund der Bauphasen eines sogenannten Herrenhauses

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beim Menelaion südöstlich von Sparta vermuten.44 Die letzte Phase endete dort um oder kurz nach 1200 v. Chr. Lokale Herrschaften von relativ kurzer Dauer gab es offenbar in Analipsi auf halbem Weg zwischen Sparta und Tegea (Arkadi-en) und in Ayos Stephanos in Südlakonien.45 Im 15. Jahrhundert v. Chr. scheint ein ähnliches lokales Machtzentrum bei Pellana am Eurotas, etwa 30 km nord-westlich von Sparta, entstanden zu sein, weil dort in jener Zeit große Kammer-gräber angelegt wurden.46 Neuerdings wurde bei Pellana ein 32 Meter langes und 14 Meter breites Gebäude mit einer großen Toranlage entdeckt. Da sich dort auch Keramikscherben aus der Zeit des Palaststils fanden, kann dort viel-leicht im 13. Jahrhundert ein gewisses Machtzentrum existiert haben. Dass an dieser Stelle eine ›Dynastie‹ in spätmykenischer Zeit eine ähnliche Position wie die Herren von Pylos, Mykene, Tiryns, Theben und Athen gewinnen konnte, ist aber eher unwahrscheinlich. Fraglich ist auch, ob in der Nähe des erwähnten Kuppelgrabes von Vapheio ein spätmykenisches Machtzentrum entstand. Dort wurden zwar zahlreiche Keramikscherben aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. ge-funden, aber kein ›Palast‹ entdeckt.47

Die Entstehung mehrerer lokaler und regionaler Zentren seit dem Mittelhel-ladikum und die hiermit verbundenen Herrschaftsorganisationen sind – wie schon angedeutet – ohne den Einfluss der minoischen Palastkultur auf Grie-chenland und die dadurch bedingten und ermöglichten Anregungen zur Ent-wicklung monarchischer Machtstrukturen kaum zu erklären. Auf Kreta hatte sich seit dem Frühminoikum II eine wirtschaftlich einflussreiche und dominie-rende Oberschicht herausgebildet, die auch politische Führungsaufgaben zu übernehmen vermochte und insofern vielleicht eine Machtelite in verschie-denen größeren Siedlungen bildete. Infolge von Rivalitäten und Machtkämpfen innerhalb dieser Führungsschichten scheinen sich mehrere Herrschaftszentren herausgebildet zu haben, deren Einflussbereich wohl regional begrenzt war. Für die Entstehung dieser ›Monarchien‹ aus oligarchischen Strukturen spricht die Einbindung der ›Residenzen‹ in die Siedlungskomplexe der größeren Gemein-schaften, zu denen die Machthaber gehörten. Jedenfalls wurden die ›Paläste‹ in Knossos, Phaistos, Archanes und Mallia Herrschaftszentren mit ›Funktionärs-eliten‹, eigenen Kultstätten und Wirtschaftsbetrieben.48 Sie blieben aber archi-tektonisch nicht isoliert, sondern wurden in ein bestehendes Siedlungskonglo-merat integriert. Zwischen den einzelnen Zentren entwickelten sich zweifellos auch Rivalitäten und Konkurrenzen um eine Verbesserung der Systeme und eine Optimierung der Herrschaftsinstrumente. Hierbei wirkten sich nicht nur Einflüsse orientalischer Herrschaftsstrukturen auf die kretischen Formen der Organisation von Macht aus. Auch Interaktionen zwischen den politischen

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Zentren Kretas haben wohl die Effizienz der Systeme gesteigert. Ob die Dyna-stie von Knossos nach den Katastrophen, die Kreta um 1700 v. Chr. trafen, die Herrschaft über die gesamte Insel gewinnen konnte, bleibt indes fraglich. Die nach 1700 v. Chr. errichteten Jüngeren Paläste waren jedenfalls generell überaus prachtvoll gestaltet, und Teile des griechischen Festlandes standen jetzt stärker als je zuvor im Ausstrahlungsbereich der minoischen Kultur.

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Herren von Mykene relativ früh von einer Einbindung in das minoische Kommunikations- und Handelsnetz profitierten. Vermutlich wollten andere lokale Machthaber der Schachtgräber-dynastie und ihren Nachfolgern nicht nachstehen. Die Bestrebungen oder gar Aktionen kleinerer Dynasten können wir allerdings nicht mehr rekonstruieren. Die Methoden ihres Strebens nach Macht lassen sich nur vermuten. Sie mögen versucht haben, im Zuge der Ausweitung und Intensivierung des Tauschhandels zumindest in ihrem eigenen lokalen Bereich eine gewisse Kontrolle über den Warenverkehr oder über den Bedarf des ›Palastes‹ an Produkten der Landwirt-schaft und des Handwerks zu gewinnen. Vielleicht waren sie auch bedacht, schwächere Siedlungen in der Nachbarschaft zu unterwerfen und dadurch nach Siegerrecht neue Besitzrechte in Anspruch zu nehmen und Erwartungen ihrer Gefolgsleute zu erfüllen, indem sie erobertes Land an ihre Anhänger vergaben. Mit der Koexistenz verschiedener rivalisierender Herrschersitze lassen sich zweifellos Funde in einer Reihe von aufwendig errichteten Tholosgräbern zum Teil erklären. Die Grabstätten selbst sind nicht zuletzt auch Indizien für den Einsatz einer größeren Zahl von Arbeitskräften im Dienst der führenden Fami-lien. Dies lässt vermuten, dass lokale Machthaber bemüht waren zu demonstrie-ren, dass sie mit Konkurrenten in ihrer Nähe und in den Landschaftskammern ihrer Region Schritt halten konnten. Nicht alle vermochten sich freilich dauer-haft zu behaupten. Nur wenige Dynastien auf dem griechischen Festland waren in der Lage, minoische Organisationsformen zu übernehmen, als auf Kreta eine neue Entwicklung begann.49 Etwa um 1400 oder vielleicht erst um 1375 v. Chr. wurde der Palast in Knossos zerstört, doch blieb die Siedlung weiterhin bewohnt. Wahrscheinlich konnten die minoische ›Verwaltung‹ und das beste-hende Wirtschaftssystem weitergeführt werden. Die Herrschaft wurde aber dort in der Folgezeit offenbar von Mykenern ausgeübt, für die – wie gesagt – die aus dem minoischen Linear A entwickelte Linear B-Schrift eingeführt wurde. Die in Knossos erhaltenen Texte in Linear B stammen indes offenbar erst aus der Zeit um 1200 v. Chr.

Die Schriftträger, die aus Tontäfelchen bestanden, waren um 1200 v. Chr. durch Feuer in den Palästen gehärtet und unter Schuttmassen konserviert wor-

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den. Während Mykener, die vermutlich einige Zeit nach 1400/1375 v. Chr. in Knossos an die Macht gelangten, ein irgendwie noch funktionsfähiges Registri-er- und Verwaltungssystem übernehmen konnten, werden aber auf dem grie-chischen Festland die Einführung der Linear B-Schrift und ihre Verwendung zur Kontrolle von Abgaben und für eine Übersicht über wichtige Ressourcen sowie zur Auflistung von Produkten, Dienstpersonal und einsatzbereiten Kriegern noch einige Zeit in Anspruch genommen haben.

In dieser Zeit wurde das Machtgefälle zwischen den einzelnen Dynasten in verschiedenen Regionen offenbar größer. Herrschaftszentren mit schriftlicher ›Verwaltung‹ entwickelten sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. auf dem griechischen Festland in Pylos in Messenien, in Mykene und Tiryns in der Argolis und in Theben in Boiotien. Auch im boiotischen Orchomenos ist die Kenntnis der Linear B-Schrift vorauszusetzen, und in Athen residierte in spät-mykenischer Zeit zweifellos eine beachtlich starke Dynastie, wie aus den mäch-tigen Befestigungsanlagen auf der Akropolis zu schließen ist. Linear B wurde dort allerdings nicht gefunden.50 Da der Palast auf der Akropolis um 1200 v. Chr. nicht zerstört wurde, können dort Schriftträger aus Ton nicht gehärtet sein, so dass sie vermutlich zerfielen. Im Verlauf des Niedergangs der Palastwirtschaft nach den Katastrophen um 1200 v. Chr. ist dann die Linear B-Schrift keinesfalls noch längere Zeit verwendet worden. Die kyprische Silbenschrift, die ein eige-nes Schriftsystem darstellte, blieb demgegenüber weiterhin in Gebrauch.

Schwer zu beurteilen sind die Verhältnisse in Iolkos (Kastra Volo, Thessalien) am Golf von Pagasai, wo sich in spätmykenischer Zeit zwei größere Bauten befanden, die in der Forschung als »Paläste« bezeichnet werden. Zu beachten ist freilich, dass nicht jedes größere Haus als ›Palast‹ gelten kann. Ein Sonderfall sind die Befestigungsanlagen von Gla in Boiotien in der östlichen Kopaïs-Ebene. Sie zählen mit einer Umfassungsmauer von mehr als 3 km zu den größten Befesti-gungsanlagen in spätmykenischer Zeit, doch ist es wenig wahrscheinlich, dass dort eine eigenständige Dynastie residierte. Die gesamte Anlage ist wohl von Orchomenos aus kontrolliert worden und diente zur Sicherung der Entwässe-rungsanlagen.

In der Argolis blieb Mykene bis etwa 1200 v. Chr. das bedeutendste Macht-zentrum. Wir wissen aber nicht, ob die Herren auf dem dortigen Burgberg im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. ihren Machtbereich auf die gesamte Region auszuweiten vermochten. Auch Tiryns wurde damals zu einer gewaltigen Fe-stung ausgebaut. Die Verwendung von Linear B in Tiryns deutet auf die Resi-denz einer eigenständigen Dynastie hin, wie immer ihre Beziehungen zu My-kene gewesen sein mögen. Einige kleinere Dynastien konnten wahrscheinlich

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ihre Selbstständigkeit nicht wahren. In den Tholosgräbern bei Berbati und Den-dra reichen die Grabbeigaben nur bis in die Keramikphase Späthelladikum III A. Die kleinere Burg auf dem Profitis Elias lag wohl im Einflussbereich von Tiryns und wurde wahrscheinlich ein abhängiger ›Herrensitz‹, und auch die größeren Siedlungen von Argos und Asine konnten sicherlich nicht mit Mykene und Tiryns konkurrieren. Dies gilt wohl auch für Mideia (bei Dendra), wo um und nach 1400 v. Chr. eine bedeutende Festung errichtet wurde. Ungefähr gleichzeitig mit der letzten Phase der Verstärkung der Verteidigungsanlagen in Mykene und Tiryns wurde Mideia weiter ausgebaut. Die Aufdeckung eines Kuppelgrabes mit reichen Beigaben aus Gold und Silber aus dem 14. Jahrhun-dert v. Chr. und die Bestattung eines Kriegers mit vollständiger Rüstung in einem Kammergrab aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. lassen vermuten, dass dort damals noch eine eigenständige Dynastie existierte. Die Festung könnte aber später von Mykene abhängig geworden sein.51

Während nur Vermutungen über die Beziehungen zwischen den größeren Machtzentren und den lokalen Dynasten oder Repräsentanten einer lokalen Oberschicht in den meisten Gebieten des griechischen Mutterlandes möglich sind, bieten zahlreiche Linear B-Texte aus Pylos zumindest einen gewissen Ein-blick in die Machtverhältnisse und Organisationsformen wie auch in die sozi-alen Strukturen einer ganzen Region. Pylos ist offenbar erst in der Blütezeit der Palastherrschaft im 13. Jahrhundert v. Chr. zum politischen Zentrum Messeni-ens geworden. Allerdings geben die Texte nur Auskünfte über das letzte Jahr vor der Brandkatastrophe, weil ja – wie gesagt – die Tontafeln mit Linear B keine dauerhaften Schriftträger waren und erst durch die Palastbrände härteten. Inso-fern handelt es sich nur um Momentaufnahmen. Die Bezeichnungen für be-stimmte Funktionsträger zeigen zwar, dass eine weitgehend einheitliche Termi-nologie für Personen mit bestimmten Aufgaben für die Palastverwaltung verwendet wurde. Insofern muss eine Interaktion mit anderen Herrschaftszen-tren beim Aufbau der Herrschaftsorganisation erfolgt sein. Über Laufbahnen erhalten wir indes keine Informationen, und die Interpretation der Funktionen der im Dienst des Palastsystems stehenden Personen ist problematisch.

Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Deutung des Begriffs wa-na-ka. Das Wort entspricht nach dem Lautbestand dem späteren Begriff (w)anax, der einen göttlichen oder menschlichen Herrscher bezeichnen konnte. In den Linear B-Täfelchen finden sich indes keine Belege für politische oder militärische Funkti-onen des wa-na-ka, wenn man davon absieht, dass er in einer Tafel aus Pylos in Verbindung mit einem von ihm eingesetzten da-mo-ko-ro genannt wird, der mög-licherweise ein hoher Funktionsträger in einer der beiden pylischen ›Provinzen‹

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war. Gerade dieses Täfelchen schien aber eine eindeutige Bestätigung für die allge-mein akzeptierte Forschungsthese zu sein, dass als wa-na-ka der monarchische Herrscher eines Palastes und des zugehörigen Gebietes zu verstehen ist.52 Mehr-fach wird der wa-na-ka aber in einem kultischen Zusammenhang erwähnt. Hieraus wurde in der neueren Forschung die These abgeleitet, dass der wa-na-ka primär höchster kultischer Würdenträger war.53 Diese Interpretation greift indes zu kurz, weil aus dem Befund des gesamten Quellenmaterials eine enge Verflechtung der kultischen Belange und der Machtinteressen der Herren der Palastsysteme zu ent-nehmen ist. Eine neue Interpretation des Begriffs wa-na-ka hat nunmehr TASSILO SCHMITT vorgeschlagen.54 In einer scharfsinnigen und umfangreichen, die gesamte diesbezügliche Forschungsdiskussion berücksichtigenden Untersuchung kommt er zu dem Ergebnis, dass es keinen monarchischen Herrscher in den Palastsystemen gegeben habe. Er verweist darauf, dass kein einziger in den Tontäfelchen erwähnter wa-na-ka einen als Personennamen zu verstehenden Individualnamen trage. Der wa-na-ka sei eine allgemein in den verschiedenen Palästen verehrte Gottheit gewe-sen. Als herrschende Schichten in den mykenischen Palastburgen seien Krieger-aristokratien anzunehmen, denen die Paläste als »Stätten kultischer und sozialer Interaktion« gedient hätten. Diese Interpretation lässt indes die Frage offen, wie die in hethitischen Urkunden belegte Herrschaft in Ahhijawa zu deuten ist, die allem Anschein nach ein ›Königtum‹ war,55 wenn auch die Lokalisierung von Ahhijawa ein offenes Problem bleibt.56 Monarchische Herrschaftsformen sind in der myke-nischen Welt nicht auszuschließen, und der eigentliche Machthaber kann durchaus als wa-na-ka bezeichnet worden sein. Wenn dies zutrifft, kann ein wa-na-ka als ei-gentlicher Machthaber und Herr des Palastes auch kultische Funktionen ausgeübt haben, die aber wohl kaum den eigentlichen Kern seiner Aktivitäten bildeten. Bereits die Repräsentanten der Schachtgräberdynastie in Mykene waren zweifellos eine gefürchtete Kriegerelite, deren Ruhestätten wie wahre »Rüstkammern« (G. KARO) mit Waffen ausgestattet waren. Die berühmte Maske des Agamemnon ist aber sicherlich der höchsten Statusperson in diesem Kreise zuzuordnen, und die ›feierliche Bestattung von Kriegern‹ in Weiterführung von mykenischen Traditi-onen erreichte in der Ehrung eines großen Oikosherrn in Lefkandi noch im 10. Jahrhundert v. Chr. einen besonderen Höhepunkt.57 Zweifellos war ein myke-nischer wa-na-ka der Herr seines gesamten Palastsystems, wenn es auch übertrieben wäre, seinen Machtbereich als ›Königreich‹ zu bezeichnen. In der Argolis gab es – wie gesagt – allem Anschein nach neben Mykene zumindest noch in Tiryns eine selbstständige Palastherrschaft. Die Herrschaftsgebiete dieser beiden Zentren kön-nen aber in der Landschaftskammer der Argolis nicht allzu umfangreich gewesen sein. In Messenien bestand im 13. Jahrhundert v. Chr. neben Pylos zwar kein wei-

DAS MITTELHELLADIKUM UND DIE MYKENISCHE ZEIT 29

teres gleichrangiges mykenisches Zentrum, aber es ist fraglich, welchen Einfluss der Herr dieses Palastes in den weiter entfernten Regionen dieser Landschaft tatsäch-lich hatte.

Erstaunlich ist jedenfalls, dass es in den mehr oder weniger begrenzten Terri-torien, die von einer Palastresidenz aus beherrscht wurden, im Verlauf des 14. und 13. Jahrhunderts v. Chr. gelungen ist, relativ effektive Organisationsformen zu schaffen, wie verschiedene Bezeichnungen für Personen im Dienst der Palast-herren sowie die Hinweise auf deren Funktionen zeigen.

Den zweiten Rang nach dem wa-na-ka nahm zweifellos der ra-wa-ke-ta ein.58 Er besaß nach Ausweis der Linear B-Texte ein te-me-no, ein ›Gut‹, dessen Fläche ein Drittel des te-me-no des wa-na-ka betrug. Herrscher und ra-wa-ke-ta verfügten darüber hinaus sicherlich noch über weiteren Grundbesitz. Der Titel ra-wa-ke-ta wird allgemein mit lawagetas transkribiert. Wenn dies zutrifft, könnte das Wort etwa ›Führer des la(w)os‹ = ›Führer des Volkes‹ bedeuten, sofern la(w)os im My-kenischen bereits als ›Volk‹ bzw. als ›Kriegerschar‹ zu verstehen ist. Militärische Funktionen des ra-wa-ke-ta sind allerdings nicht belegt. Dies spricht aber nicht gegen die genannte Interpretation, da nicht auszuschließen ist, dass die Schreiber der Notizen die Aufgaben dieses Funktionsträgers einfach als bekannt vorausset-zen. Wenn der ra-wa-ke-ta neben einigen Gottheiten und neben dem wa-na-ka bestimmte Gaben empfängt, so besagt dies noch nicht, dass es sich um einen der höchsten Priester handelte.

Vor allem militärische Aufgaben erfüllte allen Anschein nach ein e-qe-ta, der wohl als ›Gefolgsmann‹ (hepetas) des wa-na-ka galt.59 Vermutlich bildeten ›Ge-folgsleute‹ schon in den Anfängen mykenischer Herrschaftssysteme eine verläss-liche Stütze lokaler Machthaber, die ohne Anhängerschaften wohl kaum ihre Position gewinnen und behaupten konnten. Auch ein ›Palastherr‹ der entwi-ckelten mykenischen Organisationsformen benötigte ›Funktionäre‹, die sein be-sonderes Vertrauen besaßen.

Zu diesem engeren Kreis zählte wohl auch der mo-ro-qa. Die Bedeutung dieses Begriffs ist zwar unklar, aber damit wurde wohl eine Person von hohem sozialen Rang bezeichnet. Belegt ist ein mo-ro-qa in der Funktion eines ko-re-te, eines ›Distriktverwalters‹, dessen ›Stellvertreter‹ der po-ro-ko-re-te war. Insgesamt um-fasste der Herrschaftsbereich von Pylos 16 sogenannte Distrikte, die auf zwei ›Provinzen‹ aufgeteilt waren.60 Die modernen Begriffe ›Distrikte‹ und ›Provin-zen‹ sind selbstverständlich nur als Chiffren zu verstehen, die als Verständigungs-hilfe dienen können. Von einer ›Verwaltung‹ im modernen Sinne kann natürlich keine Rede sein. Ein ko-re-te hatte vielleicht nur dafür zu sorgen, dass bestimmte Abgaben in seinem Bezirk ordnungsgemäß entrichtet wurden.

I. FRÜHZEIT, »DUNKLE JAHRHUNDERTE« UND ARCHAISCHE EPOCHE30

Gleichwohl besteht kein Zweifel, dass mykenische Palastherren bemüht wa-ren, ihre Ressourcen regelmäßig zu kontrollieren und nach Möglichkeit auch lokale Bereiche zu erfassen. Als lokaler Funktionsträger diente der qa-si-re-u.61 Das Wort ist allem Anschein nach mit dem späteren Begriff basileus zu verbinden, der eine ranghohe Person bezeichnete. In diesem Fall ist also ein bemerkens-werter Bedeutungswandel festzustellen. Der mykenische qa-si-re-u zählte zwar offenbar zu den lokalen Oberschichten, gehörte aber wohl kaum zum engeren Stab der Palastverwaltung, weil er beispielsweise die Zuteilung von Bronze an bestimmte Gruppen von Schmieden zu kontrollieren hatte und insofern nur als ›Vorsteher‹ eines kleineren Personenkreises gelten kann. Der Besitz der einzel-nen qa-si-re-we (Pluralform) scheint aber sehr unterschiedlich gewesen zu sein.

Auch die Landverteilung wurde zumindest teilweise vom Palast aus über-wacht. Als Grundstücke galten sogenannte ko-to-na. Das Wort war offenbar eine Vorform von ktoinai. Hiermit wurden auf Rhodos lokal organisierte Gemein-schaften bezeichnet. Die mykenischen ko-to-na waren unterteilt in ko-to-na ki-ti-me-na und ko-to-na ke-ke-me-na. Die Inhaber oder Nutznießer der ko-to-na ki-ti-me-na konnten verschiedenen Personengruppen angehören. Belegt sind Priester, Hirten, Walker, Töpfer des wa-na-ka und Männer des ra-wa-ke-ta. Auf lokaler Ebene bildete der da-mo, eine sprachliche Vorform von damos bzw. demos, eine dörfliche Gemeinschaft, die für die Verteilung von ko-to-na ke-ke-me-na zuständig war. Die betreffenden Personen konnten aber auch, wohl gegen Entrichtung von Abga-ben, die Nutznießung von ko-to-na ki-ti-me-na haben, so dass es für bestimmte Personen möglich war, Ländereien zu nutzen, die verschiedenen Kategorien zuzuordnen sind.

Schwer zu deuten ist in dem System der Landverteilung die Stellung der te-re-ta. Sie werden einerseits als Inhaber und Verpächter von ko-to-na ki-ti-me-na genannt, konnten aber auch ko-to-na ke-ke-me-na haben, und zwar vom da-mo. Etymologie und Bedeutung des Begriffs te-re-ta sind umstritten. Die te-re-ta sind wohl als Gefolgsleute des Herrschers oder auch als ›Abgabenpflichtige‹ zu ver-stehen, die vom wa-na-ka Land erhalten haben. Feudale Strukturen sind indes in den mykenischen Palastsystemen nicht anzunehmen.62 Wahrscheinlich waren die te-re-ta zwar irgendwie vom Palast abhängig; aber sie hatten Grundbesitz, den sie auch anderen Personen überlassen konnten, die dann Abgaben zu entrichten hatten. Eine weitere, ebenfalls schwer zu deutende Bodenkategorie wurde als ka-ma bezeichnet. Die betreffenden Grundstücke waren irgendwie in die Palast-verwaltung eingebunden.

Berechtigt zur Nutzung der Grundstücke konnten auch Personen sein, die als do-e-ro und do-e-ra galten. Die Wörter waren offenbar Frühformen der grie-