Lebenskunst - Ausgabe 22 2013 des strassenfeger

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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 22, Okt/Nov 2013 GERDA SCHIMPF Fotografin – 100 Jahre und kein bisschen müde (Seite 16) SUAT ÖZKAN Jurist, Journalist, Cafébetreiber (Seite 6) KÄLTEHILFE Start des Winternotpro- gramms für Obdachlose (Seite 20) LEBENSKUNST

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Transcript of Lebenskunst - Ausgabe 22 2013 des strassenfeger

Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

1,50 EURdavon 90 CT für

den_die Verkäufer_in

No. 22, Okt/Nov 2013

GERDA SCHIMPFFotografin – 100 Jahre und kein bisschen müde (Seite 16)

SUAT ÖZKANJurist, Journalist, Cafébetreiber (Seite 6)

KÄLTEHILFEStart des Winternotpro-gramms für Obdachlose (Seite 20)

LEBENSKUNST

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 20132 | INHALT

strassen|feger Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treff punkt »Kaff ee Bankrott « in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung.

Liebe Leser_innen,Berlin ist eine Stadt, in der Lebenskunst so verbreitet ist, dass wir uns keine Gedanken darüber machen, was dieser Begriff bedeu-ten und wem er zugeschrieben werden kann. Weil uns diese Frage schon seit längerer Zeit beschäftigte, besuchten wir sechs mehr oder weniger bekannte Lebenskünstler_innen, die ihren Alltag trotz aller Widrigkeiten vorbildlich meistern. Ihre Geschichten, Herkunft, Berufe, Alter und Erfahrungen sind unterschiedlich. Was sie eint, ist eben die Kunst, so zu leben, wie es ihnen richtig erscheint. Und anderen Menschen zu zeigen, dass sie aus jeder noch so schwierigen Situation das Beste machen können.

In der Ausstellung »Arte Postale« lernten wir Gerda Schimpf kennen, eine Fotografi n, die endlich als große Künstlerin gewür-digt werden muss. Die 1913 in Leipzig geborene außergewöhn-liche Frau ist das Gesicht der Lebenskunst. »Ich musste hundert Jahre alt werden, um auf ein Titelblatt zu kommen«, schmunzelt sie. Gerda Schimpf, die »Engelsgerdine«, kommt im art strassen-feger zu Wort.

Freuen Sie sich auch auf eine aktuelle Bestandsaufnahme von strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick über den anste-henden Umzug des Vereins mob e.V. in die Storkower Straße. Zudem erwartet Sie ein Ausblick auf die kommende Kältehilfe-Saison für obdachlose Menschen und ein Rück- und Ausblick auf TV-Produktionen des kaffebankrott.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spaß beim Lesen!Urszula Usakowksa-Wolff

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LEBENSKUNSTLebenskunst – eine philosophische Betrachtung

Eva-Maria Unglaube: Verfolgte des DDR-Regimes

Suat Özkan: Jurist, Journalist, Cafébetreiber, Muslim

Rahel Mann: trotzdem weiterleben

Friedel Drautzburg: Querdenker und Gastronom

Der Rotfuchs: zu Hause in der Großstadt

Henry de Winter: Herr mit Monokel, Hut und Hund

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TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rGerda Schimpf, ein hundertjähriges Leben

Ve re i nWas wird aus dem Verein mob e.V.? Neubeginn in der Storkower Straße

B re n n p u n k tEs wird kalt: Am 1.November startet die Berliner Kältehilfe ihr Winternotprogramm für Obdachlose

K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

k a f fe e b a n k ro t tMusikimpressionen für das Auge

S p o r tRip Curl Pro Portugal 2013: Die weltbesten Surf-Künstler trafen sich zur WM am Atlantik

A k t u e l lDie Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde »Zoar« spendet an unseren Verein mob e.V.

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AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rDarlehen, Teil V

K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

Vo r l e t z t e S e i t eAnzeige, Vorschau, Impressum

Neue Bleibe: Der Verein mob e.V. zieht in die Storkower Straße(Foto: Andreas Düllick © VG Bild-Kunst)

Handkolorierte Radierung »Lebenslauf« (Quelle: © Adi Holzer)

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Lebenskunst bereichert die Vielfalt des Daseins E S S A Y : B e r n h a r d t

Lebenskunst – dieser allein auf Menschen bezieh-bare Begriff – hat in der Philosophie der Antike eine große Rolle gespielt. Der griechische Phi-losoph Epikur gehörte zu den bedeutendsten Lebenskünstlern seiner Zeit. Für die Jetztzeit

kommt diesem Begriff nur eine geringere Bedeutung zu. Er ist zusammengesetzt aus zwei Teilen: Leben und Kunst. Diese besagen im Grunde Gegenteiliges.

Leben ist ein den Regeln der Natur folgendes Phänomen, be-ginnend mit der irdischen Geburt und endend mit dem irdi-schen Tod. Dazwischen gibt es ein Werden und Wachsen, ein körperliches und geistiges Reifen und schließlich ein – oft-mals langsames – Vergehen. Aufgabe eines jeden Menschen ist es, seinen Platz im Leben zu finden und darin seine Aufga-ben wahrzunehmen. Diese individuelle Daseinsbewältigung geschieht gemäß den in Sich-Selbst-Bewusstheit, in Freiheit und Eigenverantwortung getroffenen Entscheidungen und nach den Gesetzen der Natur. »Was der Mensch sät, das wird er ernten«, heißt es im Neuen Testament. Hier kommen die Naturgesetze der Wechselwirkung und des Ausgleichs zur Geltung. Das folgt zwangsläufig aus dem Naturgesetz der Bewegung. Denn einerseits bewegt sich alles und befindet sich im Fluss, andererseits müssen sich die Dinge in einem beweglichen Gleichgewicht befinden. Man kann das ver-gleichen mit einem Zirkuskünstler auf dem Hochseil, der andauernd mit Hilfe einer Balancierstange an seinem Gleich-gewicht arbeiten muss.

Wenden wir uns nun dem zweiten Bestandteil des zusam-mengesetzten Begriffes »Lebenskunst« zu: Kunst. Der Be-griff kommt von Können. Ist aber das Leben Teil der Na-tur, bedeutet Kunst genau das Gegenteil. Sie kommt in der Natur nicht vor, ist nicht natürlich, sondern künstlich bzw. künstlerisch. Kunst wird hier verstanden werden müssen im Sinne von Wissen, Weisheit, Kenntnis sowie von Können, Geschicklichkeit, Fertigkeit; und nicht so sehr als schöpfe-rische Betätigung des Menschen in Malerei, Dichtung oder Musik. Letztere entstehen dadurch, dass der Mensch aus sei-nem Inneren, aus der Tiefe des Gemüts, Impulse und Emp-findungen zu Dingen erhält, die es in der Wirklichkeit noch gar nicht gibt, die er aber mit Hilfe seiner Phantasie in sei-nem Kopf vorwegnimmt und diese Vorstellung dann in die Realität umsetzt. Phantasie ist eine Fähigkeit, die unter den Lebewesen nur dem Menschen zu eigen ist. Sie versetzt ihn übrigens auch in die Lage, seine Zukunft zu planen. Werden also ganz gewöhnliche Lebensäußerungen unter Zuhilfe-nahme der Phantasie gemäß den persönlichen und individu-ellen Vorstellungen eines Menschen in der Wirklichkeit real geschaffen, entsteht Kunst, wenn die neuen Formen eine ge-wisse Eigenständigkeit und persönliche Note aufweisen und ein Akt schöpferischen Wirkens sind. Mit Kunstwerken lässt sich mehr aussagen als mit schlichten Worten.

Eine solch künstlerische Lebensgestaltung ist mit dem Begriff »Lebenskunst« im Allgemeinen nicht gemeint, sondern eher eine besondere Geschicklichkeit, ja Raffinesse, das tägliche Leben mit seinen Wechselfällen und unvorhergesehenen Si-tuationen auf eine ganz persönliche Art zu gestalten und seine Handlungen mit einem eigenen Profil zu versehen. Lebens-kunst bezieht sich meist auf ganz gewöhnliche Betätigungen, gibt ihnen aber eine bestimmte persönliche Note. So wird das übliche Essen zum Genießen von aufwendig zubereiteten Speisen; die einfache und an der Zweckbestimmung ausge-richtete Kleidung zu einem kunstvoll ausgeschmückten Ge-wand. In Notlagen versteht es der Lebenskünstler, mit viel Durchblick und Improvisationskunst die Gefahren zu meis-tern. Umgekehrt sind ungewöhnliche Verhaltensweisen einer gewissen Überspanntheit zuzurechnen, wenn Menschen in Champagner baden, wie man es in der Vergangenheit von ei-nigen weiblichen Filmstars gehört hat.

Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass Menschen, die eine be-stimmte Lebenskunst praktizieren, in einer Gesellschaft wir-ken wie das Salz in der Suppe und die Vielfalt des Daseins meist bereichern.

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 20134 | LEBENSKUNST

»Ich hatte die Wut und habe dann die DDR regelrecht gehasst«Die schwierige Vergangenheit von Eva-Maria Unglaube in der DDRP O R T R A I T : D e t l e f F l i s t e r

Eva-Maria Unglaube wirkt wie eine starke Frau, die das Leben souverän bewältigt. Sie strahlt eine be-stechende Lebenskraft und mitreißenden Optimis-mus aus. Ein Charisma geht vor ihr aus, das es anderen Menschen leicht macht, sie anzusprechen

und Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es ist angenehm, mit ihr zusammen zu sein. Sie ist offenherzig und tolerant und zeigt ehrliches und glaubhaftes Interesse an anderen Menschen.

Sie erzählt mir, dass sie eine unbeschwerte Kindheit hatte. Ihr Vaterland DDR mochte sie als Kind. Sie hatte sich üb-rigens den Jungpionieren verweigert. Aber irgendwann war es dann losgegangen mit dem Terror gegen sie. »Die wollten mich umkrempeln. Ich und meine Klicke passte nicht in ihre Vorstellungen«, berichtet sie. »Auskünfte wollten sie auch über meine Klicke bekommen. Aber ich habe nichts gesagt.« Sie wurde immer häufiger beschattet – manchmal bemerkte sie es, weil es allzu offensichtlich war. Irgendwann bekam sie dann auch Besuche von Stasibeamten, die ihr ins Gewissen redeten und ihr auch Versprechungen bezüglich einer eigenen Datsche und eines eigenen Autos machten, um sie zu ködern. Später wurde ihr verboten, den Arbeitsplatz zu wechseln, was sie gerne getan hätte. Der ganze Terror des Staates führte schließlich dazu, dass sie 1975 ihren ersten Ausreiseantrag stellte, dem noch 19 weitere folgten. Sie alle wurden entweder gar nicht oder negativ beantwortet.

Am 6. Oktober 1980 wurde sie in der Wohnung ihres dama-ligen Freundes verhaftet. Dabei wurde ihr ihr achtjähriges Kind weggenommen. Es schrie und weinte jämmerlich. Eine Szene, die sie niemals vergessen wird. Eva-Maria Unglaube kam dann in Untersuchungshaft und ihr wurde zweimal der Prozess gemacht. Beim ersten Mal wurde auf eineinhalb Jahre Haft entschieden, die nach Einwurf des Staatsanwal-tes auf zwei Jahre erweitert wurden. Die Anklage lautete auf Republikflucht, Herabwürdigung der DDR, weil sie die UNO-Menschenrechtskommission angeschrieben hatte und auf Mitwisserschaft.

Nach Genehmigung des letzten Ausreiseantrages kam es am 17. September 1982 endlich zur Ausreise. Im März 1983 schickte man ihr ihr Kind nach, das sie während der Haft zwei Jahre lang nicht gesehen hatte. »Ich hatte die Wut und

habe dann die DDR richtig gehasst«, erzählt sie mir, nachdem sie mir das alles relativ aufgeregt berichtet hatte »Die haben mir mein Leben zer-stört!«

Die Verarbeitung ihrer Geschichte gelingt Eva-Maria Unglaube nur schwer. »Ich habe sie bei-seite geschoben, einfach verdrängt«, sagt sie. Später bricht auch ein fassungsloses »Wie konn-ten die so etwas machen? Das waren doch selber Familienväter!« aus ihr hervor. Man sieht, dass ihr das Sprechen über die damals erlittenen Er-fahrungen schwer fällt. Sie erzählt, dass sie nach ihrer Ausreise damals zunächst nur wenig mit Psychologen zwecks Aufarbeitung gesprochen hat. 1996 aber begab sie sich dann in Behand-lung und das sei sie auch heute noch. Diese Fak-ten sprechen dafür, dass die ganze Sache noch längst nicht bewältigt ist und sich tiefe Wunden in ihrer Seele befinden. Die tiefe Betroffenheit ist ihr sichtbar anzumerken.

»Es gab zwar später Haftentschädigung«, er-zählt sie verbittert, »aber das hat die Sache für mich nicht in Ordnung gebracht und die Wun-den nicht geheilt. Vor allem gab es nur 30 Euro pro Tag, später 60 Euro. Die geringe Höhe der Summe hat eher dafür gesorgt, dass ich mich ge-demütigt und gekränkt gefühlt habe, als dass es geholfen hat!«

Eva-Maria Unglaube hat ihre Stasiakte laut ei-gener Auskunft zu Hause, hat sie aber nicht oder nur oberflächlich gelesen. Die Angst, dass vertraute und für sie wichtige Personen an ih-rer Bespitzelung beteiligt waren, hindert sie am detaillierten Lesen. Eva- Maria Unglaube ist ein politisches Opfer des DDR-Systems. Mit Hilfe anderer Menschen schafft sie es aber, ihr Leben zu bewältigen und ihren Lebensmut nicht zu ver-lieren. Leider gibt es ja auch Beispiele dafür, dass Menschen an ihrer erlittenen politischen Verfol-gung zugrunde gegangen sind.

Eva-Maria Unglaube (Foto: Boris Nowack)

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I N FO

www.ost-west-cafe.de

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Dr. Suat Özkan Jurist, Journalist, Cafébetreiber, Muslim, aktiver Mitbürger P O R T R A I T : J a n M a r k o w s k y

Dr. Suat Özkan habe ich immer gut angezogen, mit perfekt sitzendem Anzug und Businesshemd erlebt. Ich kenne ihn von der Bürgerplattform

Moabit-Wedding »Wir sind da!«. Das erste Tref-fen fand in einer großen Runde statt. Suat Özkan war dabei, doch er fiel mir zunächst gar nicht auf: Er gab ein kurzes sachliches Statement, wie die meisten Teilnehmenden. Dann habe ich ihn als Organisator und Moderator bei großen Veran-staltungen wahrgenommen: Immer zurückhal-tend und trotzdem präsent. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Gründung der Bürgerplatt-form im November 2008 in der Universal Hall. Ich habe heute noch den Eindruck, dass es ihm gar nichts ausgemacht hat, sich vor über tausend Zuschauer zu präsentieren.

Suat Özkan ist in der Türkei geboren und mit sechs Jahren nach Deutschland gekommen. Über die ersten Jahre in der fremden neuen Heimat hat er mit mir noch nie gesprochen. Er hat sich durchgebissen, das Abitur gemacht, Jura studiert und, was er betont, »mit Prädikat« abgeschlos-sen. Er schrieb seine Doktorarbeit. Sein Bruder hat auch studiert. Er ist Arzt.

Dass Suat Özkan Jura studierte und in Jura pro-movierte, hatte mich schon überrascht, denn ich wusste vor allem von seinen journalistischen Aktivitäten. Das Impressum des Newsportals »kukksi.de« weist ihn neben dem Chefredakteur Oliver Stangl als deren Inhaber aus. Im Internet wird er als Drehbuchautor eines Films über Eh-renmorde genannt. Und er hat für die Bürger-plattform »Wir sind da!« viele Fotos gemacht.

Suat Özkan ist Muslim. Aus einem anderen Anlass habe ich geschrieben, er sei streng gläubig. Doch er selbst sieht sich als liberal. Der Koran bestimmt zwar sein Leben, aber anders, als das der sich ebenso auf den Koran berufenden Salafisten. Ei-nen Andersgläubigen töten? Für Suat undenkbar. Gemeinsam mit Christen und keiner Konfession angehörenden Menschen öffentlich Erntedank und Opferfest feiern? Kein Problem, denn sein eh-renamtliches Engagement bekämpft Abgrenzung.

Suat Özkan hat am eigenen Leib die Benachtei-ligung erlebt, die Menschen mit Migrationshin-

tergrund erfahren. Deshalb setzt er sich für das friedliche Miteinander ein. Die Bürgerplattform »Wir sind da!« mit etwa 40 unterschiedlichsten Gruppen von Moscheevereinen, katholischen und evangelischen Kirchgemeinden und welt-lichen Organisationen bietet für weltoffene Menschen wie Suat Özkan das richtige Forum. Dazu kommt sein Engage-ment im Kiez. Er ist als Quartiersrat im Quartiersmanage-ment Brunnenviertel aktiv.

Wie aufgeschlossen Suat Özkan gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft ist, zeigt sich in seiner Offenheit gegenüber Wohnungslosen. Er hat dem Verein »Unter Druck – Kultur von der Straße« Backwaren gespendet. Und im März Decken.

Dass er genau hinsieht, hat ein Zwischenfall auf dem belebten Bahnhof Gesundbrunnen demonstriert. Junge Männer hatten eine Frau bedrängt. Er ist beherzt eingeschritten und hat die Wut der jungen Männer zu spüren bekommen. Er wird beim nächsten Mal trotzdem eingreifen.

Im April 2012 eröffnete der Jurist das Ost-West-Café an der Ecke Brunnenstraße/Bernauer Straße. Es ist durch den Trabbi am Eingang leicht zu erkennen. Außerdem zeigen Uniformen der Besatzungs- pardon, der Schutzmächte in den Schaufens-tern, dass Suat Özkan um die Bedeutung dieses Ortes weiß. Trotzdem hat er um die Räumlichkeiten kämpfen müssen. Sie standen leer, also hat er sich bei der Wohnungsbaugesell-schaft Degewo beworben, ein Konzept eingereicht und wäre beinahe gescheitert. Er musste kämpfen, doch nun ist er Be-treiber dieses Cafés.

Das Ost-West-Café erinnert an die Berliner Mauer: Neben dem Trabbi und den Uniformen sind im Tresen Modelle aus dieser Zeit, so vom Checkpoint Charlie, zu sehen. Die Berli-ner Mauer, die von 1961 bis 1989 Familien in Deutschland auseinander gerissen hat, war an der Bernauer Straße be-sonders schmerzlich zu spüren. Hier sind etliche Menschen gescheitert. Hier haben es aber auch viele mit Hilfe aus dem Westen geschafft, die Mauer zu überwinden. Suat Özkan weiß, auf welchem Terrain er sich bewegt. Trotzdem ist sein Café kein Museum, sondern ein Ort der Begegnung, wo er die verschiedensten Veranstaltungen organisiert. Dass es ein Ort der Begegnung ist, zeigt sich in der Speisekarte. Auch das Team trägt zum gelungenen Ambiente bei. Das Ost-West-Café gibt jungen Menschen eine Chance, auf die Mischung der Kulturen zu achten.

Ich bin gern im Ost-West-Café. Seine nette Atmosphäre, die freundliche Bedienung und interessante Speisen zu bezahlba-ren Preisen laden nicht nur mich zum Verweilen ein.

Dr. Suat Özkan (Quelle: Bürgerplattform Wedding/Moabit)

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Dr. Suat Özkan Jurist, Journalist, Cafébetreiber, Muslim, aktiver Mitbürger P O R T R A I T : J a n M a r k o w s k y

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Rahel Mann Ein Leben in Berlin P O R T R A I T : M a n f r e d W o l f f | F O T O : U r s z u l a U s a k o w s a - W o l f f

Manchmal sieht es nicht gut aus für ein neues Leben. Dann steht kein guter Stern über dem kleinen Er-denbürger. Aber das Leben muss

gelebt werden. Mit Hilfe wohlmeinender Men-schen und dem eigenen Willen gelingt das auch. So wie es Rahel Mann gelungen ist.

Rahel war ein ungeplantes Kind, passte nicht in das Leben ihrer Mutter. Da sie auch noch viel zu früh das Licht der Welt erblickte, standen die Probleme schon am ersten Tag für sie als Paten. 1937 musste sie mit ihrer Mutter schon einen Tag nach der Geburt das Krankenhaus verlassen. Juden wurden da nicht geduldet. Sie kam dann in eine jüdische Kinderklinik, und nach einem halben Jahr war sie so weit gekräftigt, dass sie zu einer Pflegefamilie gegeben werden konnte. Als 1941 das Tragen des Sterns für die Juden zur Pflicht gemacht wurde und die Deportationen begannen, gaben die Pflegeeltern die kleine Ra-hel wieder ihrer Mutter zurück.

Die Mutter Milda Wolf, die sich Edith nannte, bezieht eine kleine Wohnung in der Starnberger Straße 2 in Schöneberg. An der Tür klebt ein Judenstern, das sollte den Deportationskom-mandos die Arbeit erleichtern. Die Mutter geht arbeiten, und die kleine Rahel ist am Tag bei der Frau des Hausverwalters. Herr Vater, ihr Mann, ist Blockwart und Nazi, er weiß um das jüdi-sche Kind, aber er greift nicht ein gegen seine Frau.1942 wird Edith Wolf von der Gestapo abgeholt, kommt ins KZ Sachsenhausen. Rahel bekommt davon nichts mit. Sie bleibt bei Frau Vater. Ende 1942 wird eine andere jüdische Fa-milie abgeholt. Rahel steht dabei. Als ein Gesta-pomann eine Hand auf sie legt, schreitet Frau Va-ter ein: »Dat is meine Nichte. Die jehört zu mir.«

Angesichts der drohenden Gefahr beginnt für die kleine Rahel ein ständiger Wechsel der Ver-stecke. Sie erinnert sich gern an die Monate im Pfarrhaus der Schöneberger Apostel-Paulus-Kir-che bei Pfarrer Eitel-Friedrich von Rabenau. Als er als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche verhaftet wird, weil man ihn der Zusammenar-beit mit den Verschwörern des 20. Juli verdäch-tigt, wird auch dieses Versteck zu gefährlich. Sie kommt zurück zu Frau Vater.

Sie versteckt das kleine Mädchen im Keller. Hinter einem abgestellten Schrank ist nun auf einer Matratze ihr Platz. Der Keller ist dunkel, es fällt wenig Licht hinein. Sie darf nicht sprechen und nicht weinen. In ihren Schulzeugnissen wird später stehen, dass sie zu still ist. Ein Junge aus dem Haus bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Nachts nimmt er sie manchmal bei der Hand und geht mit ihr spazieren. Frau Vater bringt ihr Essen. Dann gibt es auf einmal kein Essen mehr. Die Russen haben Schöneberg erobert. Sie befreien die kleine Rahel aus ihrem Versteck, in dem sie fünf Monate zugebracht hat. Rahels Mutter kommt schwer krank aus Sachsenhausen zurück, und sie beziehen wieder die kleine Wohnung in der Starnberger Straße 2. Als Rahel der Frau Vater einen Blumenstrauß überreichen soll, bringt sie kein Wort heraus. »Is schon jut«, sagt Frau Vater und streicht ihr über den Kopf.

Rahel Mann möchte Ärztin werden, wie Albert Schweitzer. Doch als sie mit einem Schatten auf der Lunge im Kranken-haus ist, raten ihr die dortigen Ärzte wegen der Krankheit davon ab. Sie wird Lehrerin, heiratet und bekommt zwei Kin-der. Als ihre Ehe zerbricht, wendet sie sich wieder der Medi-zin zu, arbeitet zehn Jahre in einer Schöneberger Arztpraxis als Psychotherapeutin. Dann eröffnet sie in Braunschweig eine »Lehrstätte für geistige Heilweise und praktische Le-bensführung«. In dieser Zeit setzt sie sich auch mit den Trau-mata ihrer Kindheit auseinander, schreibt Gedichte, beginnt als Zeitzeugin in Schulen über ihre Kindheit zu sprechen.

Der Nationalsozialismus lässt sie auch dort nicht in Ruhe. Ihr Praxisschild wird abgerissen, Hakenkreuze werden an die Haustür geschmiert. In ihrer Praxis behandelt sie Opfer und Täter aus der Nazizeit.

1997 hat Rahel Mann Braunschweig verlassen und ist nach Israel übergesiedelt. Dort lebt ihre Tochter mit der Familie. Es waren keine zionistischen Beweggründe, die sie zu diesem Schritt veranlassten. »Ich wollte schon immer Hebräisch ler-nen. Jetzt war die Gelegenheit dazu«, sagt sie. 2006 ist sie nach Berlin zurückgekehrt, Sie hielt den palästinensischen Terror und die stetigen Raketenangriffe auf Ashkelon nicht länger aus.

Auch heute noch lebt Rahel Mann mit ihrer Vergangenheit. Sie besucht Schulen und spricht mit den Kindern als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse. In der Ausstellung »Wir waren Nachbarn« im Rathaus Schöneberg liegt auch ihre Biographie aus. Mit 76 Jahren ist sie immer noch sehr aktiv und sucht neue Herausfor-derungen. Sie arbeitet jetzt in einem Hospiz und begleitet Ster-bende. Der Tod schreckt sie nicht. Er ist ein Teil des Lebens.

Rahel Mann

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Friedel DrautzburgEin Querdenker im Reich der Gastronomie T E X T & F O T O : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

Friedel Drautzburg ist eine auffallende Erscheinung, obwohl er sich nie in den Vordergrund drängt. Er trägt einen üppigen Schnurbart, bunte Baskenmüt-zen und gemusterte Westen. Der very british ausse-hende Mann ist der bekannteste Rheinländer an der

Spree. Im September 1997 eröffnete er am Schiffbauerdamm 8 in Berlin-Mitte eine kultige Kneipe, in der sich bei Kölsch, Himmel und Ääd, Halver Hahn, Buletten oder vegetarischer Kost Politiker aus allen Herren Ländern mit Berlinern und Touristen treffen. Dieses Lokal, das den an die Geschichte der beiden deutschen Staaten anspielenden Namen »Ständige Vertretung«, Abkürzung »StäV«, trägt, ist ein lebendiges Mu-seum und der vorläufig letzte Höhepunkt in der beispiellosen Karriere des gastronomischen Seiteneinsteigers.

Der Erfolg wird dem am 18. Juni 1938 in Wittlich an der Mosel geborenen Arbeiterkind nicht in die Wiege gelegt. Als Vierjähriger in einem Bombenkeller verschüttet, muss er wie-der hören, sprechen und laufen lernen. Um sein Schulgeld zu bezahlen, arbeitet er in einer Gärtnerei. »Ich war schon immer selbstständig und wollte aus der Kohlenkastenmentalität mei-nes Elternhauses raus«, sagt Drautzburg. Nach dem Abitur zieht er zuerst nach Hamburg, dann nach Bonn, wo er von 1962 bis 1967 Jura studiert. Sein Studium finanziert er selbst, indem er als Filmkomparse jobbt oder »1 700 Meter unter Tage« in einer Zeche in Rheinhausen malocht. Als Bundes-geschäftsführer des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) lernt er bedeutende Persönlichkeiten, darunter Günter Grass, kennen. Der Schriftsteller, durch seinen Roman »Die Blechtrommel« (1959) weltberühmt geworden, engagiert sich für einen Machtwechsel in Bonn und ruft 1969 die Sozi-aldemokratische Wählerinitiative ins Leben.

»Wir mochten uns auf Anhieb. Mit unseren schwarzen Mäh-nen und Schnauzern sahen wir fast wie Geschwister aus«, er-innert sich Friedel Drautzburg. »Günter Grass fragte mich, ob wir gemeinsam für Willy Brandt Wahlkampf machen können, und ob ich sein Mädchen für alles, sein Begleiter und Body-guard, sein Fahrer und Geschäftsführer werden will. So sind wir 1969 ein halbes Jahr im VW-Bulli durch unzählige Wahl-kreise gefahren und haben für die SPD Werbung gemacht.« Im Oktober 1969 wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. Der politischen Karriere seines Wahlhelfers Drautzburg steht auch nichts mehr im Wege. Dietrich Sperling, SPD-Bundes-tagsabgeordneter aus Südhessen, schlägt ihm vor, sein Assis-tent zu werden. »Das waren die einzigen zwei Jahre, da ich für jemand anderen gearbeitet und ein bescheidenes Gehalt bekommen habe«, betont Friedel. Doch damals kann er nicht ahnen, dass ihm eine andere berufliche Zukunft bevorsteht.

Unverhofft kommt oft und gibt dem aufregenden Leben des Friedel Drautzburg eine neue Wendung. Als Stammgast der Schumann-Klause in Bonn, einem beliebten Treffpunkt von Politikern, Künstlern, Journalisten und anderen mehr oder we-nigen schrägen, überwiegend linken Vögeln, fällt er dem Wirt

ist Auge. »Du bist doch sowieso jeden Abend hier. Willst du mein Nachfolger werden? fragt er Friedel. Der willigt ein. Als ihm bewusst wird, worauf er sich eingelassen hat, ist es zu spät. Also leiht er sich 20 000 DM, die er für die Übernahme der Kneipe bezahlen soll, nicht zuletzt, weil er merkt: »Das ist eine ideale Plattform, um frei zu sein und gleichzeitig in den Nebenräumen eine kleine Kunstgalerie zu eröffnen.«

Das Bierlokal verwandelt sich 1970 unter Friedel Drautzburgs Federführung in einen Ort, der oft für Schlagzeilen sorgt. Zum einen stellt er in der Galerie Argelander damals unbekannte, doch schon recht skandalumwitterte Künstler wie Klaus Staeck, Wolff Vostell und die Gruppe Zero aus. Zum anderen »war die Schumann-Klause, wie ich sie betrieben habe, etwas Neues, näm-lich Polit-Gastronomie, sodass sie recht schnell überregional bekannt wurde. Und so kam sie in den Ruf, ein wichtiges linkes Lokal zu sein, in dem nicht nur Politiker, sondern auch berühmte Schriftsteller wie Günter Grass, ja, sogar der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll verkeh-ren.« 1975 gibt der notorische »Querdenker« die Schumann-Klause auf und gründet später in Bonn 13 gastronomische Betriebe, die den ge-stiegenen Bedürfnissen seiner älter und reicher gewordenen Klientel Rechnung tragen.

Doch Friedel Gastro, wie ihn DER SPIEGEL nennt, ist kein Mensch, der sich mit dem Er-reichten zufrieden gibt. Obwohl er nicht müde wird, gegen die Verlegung der Bundeshaupt-stadt von Bonn nach Berlin zu kämpfen, scheut er nicht davor, seinen Lebens- und Arbeitsmit-telpunkt an die Spree zu verlegen. Als »avant-gardistischer Wertkonservativer« wagt er immer etwas Neues, ohne das Alte zu vernachlässigen. So ist die vor 16 Jahren mit seinem langjährigen Geschäftspartner Harald Grunert gegründete »Ständige Vertretung« eine einzige Erfolgsstory. Neben dem Berliner Stammhaus, in dem un-zählige Fotografien hängen, auf denen Politiker aus den beiden deutschen Staaten ein »mensch-liches« Gesicht zeigen, und wo die Gäste von 50 Mitarbeitern bedient werden, gibt es in-zwischen fünf andere StäV-Lizenzbetriebe: in Bremen, Hamburg, Hannover, Leipzig und auf der Insel Sylt. »Die von mir etablierte Form der Polit-Gastronomie ist eine wunderbare Bühne, wo man für Aufmerksamkeit sorgen kann«, sagt Friedel Drautzburg. Er ist eine schillernde Per-sönlichkeit – und die Ständige Graue Eminenz der deutschen Politik.

Friedel Drautzburg

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Friedel DrautzburgEin Querdenker im Reich der Gastronomie T E X T & F O T O : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

Der Rotfuchs beobachtet Stadttauben (Quelle: Guido Fahrendholz)

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201312 | LEBENSKUNST

Gestatten, Vulpes vulpes …oder die urbane (Über-)Lebenskunst des RotfuchsesP O R T R A I T : G u i d o F a h r e n d h o l z

Kein wildlebendes Raubtier weltweit hat zu Lande ein größeres Verbrei-tungsgebiet. Der Rotfuchs besiedelt Lebensräume nördlich des Polarkrei-

ses genauso erfolgreich wie die subtropischen Regionen der nördlichen Hemisphäre. Gern auch in der Nähe menschlicher Siedlungsge-biete. Mitte des 19. Jahrhunderts von den Eng-ländern in gnadenloser Dekadenz zur Jagd nach Australien importiert und zum Abschuss frei ge-geben, hat er auch diesen Kontinent inzwischen fast vollständig besiedelt. Bei der Geschwindig-keit mit der sich der Mensch auf dem blauen Planeten rücksichtslos breit macht, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch der scheue wie schlaue Fuchs als Nahrungsopportunist und an-passungsfähiger Kulturfolger zum direkten ur-banen Nachbarn wird.

L o n d o n w a r d i e e r s t e Fu c h s m e t ro p o l e

Zwischen den beiden Weltkriegen war es noch geradezu eine Sensation, als sich die ersten Füchse, zwar noch sehr vereinzelt, in den Lon-doner Vororten mit hohem Grünflächenanteil ansiedelten. Die Vorteile für das Tier lagen klar auf der Hand. Gelockt hat das reichhaltige Nah-rungsangebot. Der Rotfuchs ist kein Kostveräch-ter und die Nahrungsvielfalt einer menschlichen Ansiedlung für ihn unwiderstehlich. Da waren zum einen die nie zu versiegen scheinenden Heerscharen von Mäusen, Ratten und Kanin-chen. Darüber hinaus noch Beeren und Früchte, wie Fallobst und Essensreste auf angelegten Komposthaufen. Rutscht dem Tier doch mal das Herz in die Hose, waren dort halbwegs sichere Rückzugsverstecke, wie Holzstapel oder verein-zelt auch ein Schuppen schnell zu finden. Selbst im fuchsjagdverrückten Großbritannien waren aktive Jagdgesellschaften innerhalb der royalen Hauptstadt undenkbar. Stattdessen näherten sich Tier und Mensch immer mehr an.

5 0 J a h re s p ä t e r

Auf dem Festland blieben seine Artgenossen aber weiterhin vorsichtig. Nur vereinzelt machte der eine oder andere Rotfuchs Karriere als Hüh-nerdieb in ländlichen Regionen. War es mal eine

Gans, wurde über das Ereignis gleich ein Volkslied des guten alten Goethe angestimmt. Erst mit den beginnenden 80er Jah-ren des vergangenen Jahrhunderts dehnten einzelne Tiere ihre Reviere auf die Städte Berlin, Oslo und Zürich aus. Wie schon in London, waren die Beutezüge der mutigen Tiere erfolgrei-cher als je zuvor. Daraus resultierend verkleinerten sich auch deren notwendige Streifgebiete. Weitere Füchse zogen nach, die Jungen lernten von den Alten und die Siedlungsdichte der Tiere nahm innerstädtisch stetig zu.

B e r l i n , R e i n e ke s S c h l a r a f fe n l a n d

Unumstritten bietet unsere Stadt für den Rotfuchs güns-tige Lebensgrundlagen und nicht zu übersehende Vorteile. Durchsetzt von unzähligen Parks und Friedhöfen in allen Stadtbezirken hat der schlaue Fuchs diese, als von Men-schen störungsfreie Bereiche, vor allem auch in der Nacht, für sich erschlossen. Hinzu kommen ein weitverzweigtes Netz aus Flüssen, Kanälen, Seen, Teichen, Feuchtgebieten und Kleingewässern, imposante 161 Quadratkilometern innerstädtischer Waldfläche sowie zahllose Kleingärten, verwilderte Brachen auf stillgelegten Bahnhofs- und Gleis-anlagen oder beseitigten Grenzbefestigungen. Beobach-tungen und Studien zu Verhaltensweisen und Größe der Fuchspopulationen in Berlin legen inzwischen nahe, dass ein Stadtfuchspaar seinen Lebensunterhalt aus nur ca. ei-nem Quadratkilometer Stadtfläche bestreitet. Das gesamte Streifgebiet kann durchaus auch hier schon einmal 20 Hek-tar betragen, von denen aber nur wenige intensiv genutzt werden. Das ist aber noch immer kein Vergleich zu seinen freiheitsliebenden Artgenossen auf dem Lande. Ein wildle-bender Fuchs in den Weiten Brandenburgs oder auch Meck-lenburg-Vorpommerns beansprucht dagegen ein Revier von zwischen 115-350 Hektar für sich. Das grüne Berlin macht solche Ausmaße nicht mehr notwendig und ist längst ein Refugium dieses tierischen Lebenskünstlers geworden.

Der Rotfuchs auf der Pirsch in Berlin (Montage: Guido Fahrendholz)

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Henry de Winter Der Herr mit Monokel, Hut und Hund T E X T & F O T O : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201314 | LEBENSKUNST

Am zweiten Samstag im Oktober ist das Wetter miserabel. Es regnet in Strömen, es blitzt und es donnert. Kein vernünftiger Mensch verlässt das Haus. Doch das Schiff der Reederei Riedel, das von der Anlegestelle Hansabrücke zu einer

dreistündigen Spreefahrt startet, ist voll. Henry de Winter gibt an diesem Abend eines seiner seltenen Konzerte. Der charis-matische Chansonier, Conférencier und Entertainer trägt wie gewohnt ein Monokel und eine weiße Nelke am Revers. Sein Foxterrier Bobby ist selbstverständlich auch dabei. »Bobby, sit!«, sagt Henry, und der Englisch gehorchende Hund setzt sich auf das Deckchen neben dem Mikrophon. Dort bleibt er brav sitzen oder liegen, während sein Herrchen unvergessli-che Schlager, Gassenhauer, Couplets und Evergreens wie etwa »Ich küsse Ihre Hand, Madame«, »You are my lucky star«, »Besame mucho«, »Jalousie«, »Bel Ami«, »Unter den Pinien von Argentinien« und »Was macht der Mayer am Himalaya« singt, nicht ohne vorher mit viel Esprit ihre Geschichten zu erzählen. Am Ende des Konzerts ist das Publikum begeistert; es klatscht im Stehen und wird von Henry und seinem Piano-Begleiter mit zahlreichen Zugaben belohnt. Auch Bobby ap-plaudiert. Er guckt auf die jubelnden Menschen und wedelt zufrieden mit dem Schwanz.

Henry de Winter sieht sehr gut aus, ist sehr gut gekleidet, hat tadellose Manieren und eine angenehme Stimme. Der 1959 geborene, aus einer jüdisch-hugenottischen Familie stammende Berliner sagt: »Wir hatten einmal sehr viel Geld. Die eine Hälfte des Vermögens haben wir leider 1923 durch die Inflation und die andere Hälfte 1929 durch die Wirt-schaftskrise verloren. Da ist nur der Stil geblieben – und die gute Erziehung.« Henry de Winter, den seine Fans »Sir« nennen, ist der Gentleman mit den zeitlosen Maßanzügen und der Sänger mit einer Vorliebe für die Musik der 1920er, 1930er und 1940er Jahre. »Ich habe schon immer nach dem Gehör gesungen, denn ich kann keine Noten lesen«, erklärt er. »Eine Melodie geht rein in mein Ohr, ich muss sie mir drei-, viermal anhören und den Text mitlesen, dann ist alles innerhalb einer halben Stunde im Kopf gespeichert und es geht nicht mehr raus.«

Zu seinem einzigartigen Stil fand Henry de Winter, der von 1967 bis 1971 in einem Londoner Internat zur Schule ging, als er nach West-Berlin zurückkehrte. »Ich war auf dem Fich-tenberg-Gymnasium, wo ich mir den Unterricht so einteilen

konnte, dass ich Zeit hatte, vormittags oder mittags ins Astor-Kino am Kurfürstendamm zu gehen. Dort wurden an zwei Tagen in der Woche alte deutsche und internationale Tonfilme gezeigt, die ich mir nicht nur wegen der Musik, sondern auch wegen der Garderobe, der Möbel, des Schmucks, der Autos und der Architektur anschaute. Besonders die Komödien von Ernst Lubitsch waren für mich eine Augenweide, denn sie strotzten nur so vom amerikanischen Art Déco. Das war ein-fach schön und hat mich nicht mehr losgelassen.«

Henry de Winter liebt und besingt diese schöne Vergangen-heit, ohne sie zu verklären. Er trägt Hemden, Anzüge und Mäntel nach alten Schnitten und aus alten, schweren und hochwertigen Stoffen, die er auf Flohmärkten oder bei Auf-lösungen von Schneiderateliers kauft. »Ich hole mir aus der Zeit, in der es, besonders seit 1933, viel Schlechtes gab, das Beste heraus. Ich singe so, wie die Künstler damals gesun-gen haben und wie ich es von alten Filmen und Aufnahmen kenne. Ich singe wie Henry de Winter: im Duktus der Zeit.« Der auffallende, doch zurückhaltende Herr mit Nelke, Mon-okel, Hut und Hund ist einfach ein Gesamtkunstwerk. Doch die heutige Zeit ist vom Mittelmaß geprägt, und deshalb hat es ein Gentleman, der stets gepflegt erscheint, nicht immer leicht. »Für mein Empfinden bin ich korrekt gekleidet, denn ich habe für jede Gelegenheit die passende Garderobe. Und auf der Bühne schlüpfe ich nicht in eine andere Rolle, sondern in einen anderen Dress.«

Seit 1998 arbeitet der Sänger mit den Bratislava Hot Sere-naders, einem 14-köpfigen Orchester aus der slowakischen Hauptstadt, zusammen. Früher trat er mit Bobbys Vorgänger Pius auf, einem weißen West Highland Terrier, der, knapp achtzehnjährig, vor neun Jahren starb. Dass er ein Exzent-riker sei, bestreitet Henry, obwohl er vor zwei Jahren zum Ehrenmitglied des exklusiven Londoner Eccentric Club er-nannt wurde. »Als Exzentriker giltst du heutzutage, wenn du das machst, was du für richtig hältst«, meint er. »Für mich ist es wichtig, Individualist zu sein. Ich tue das, was mir Spaß macht. Ich gehe auf keine Kompromisse ein, ich verbiege mich nicht.« Vielleicht ist er deshalb in Deutschland noch nicht so bekannt, wie er es verdient hätte. »Wegen meiner Authentizität werde ich nach Hongkong, Washington und New York eingeladen, wo die Leute von mir begeistert sind.« Henry de Winter ist ein großer Gewinn für Berlin: Ein Para-diesvogel im Land der Spatzen.

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Henry de Winter mit seinem Hund Bobby

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201316 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

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Gerda Schimpf & ihre pure Lebensfreude T E X T : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f | F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

Der Brief ist 75 Jahre alt. Er wurde am 20. Okto-ber 1937 in Leipzig mit dunkelblauer Tinte an »meine allerliebste Gerdine« geschrieben und vom Absender mit der Zeichnung einer jungen, spärlich bekleideten Dame, die in einer Kom-

mode wühlt, verziert. Er liegt jetzt in einer Vitrine und zieht die Aufmerksamkeit von Besuchern und Besucherinnen der Ausstellung »Arte Postale« in der Akademie der Künste am Pariser Platz 4 auf sich. »Ich liebe Dich, nur Dich, Du meine wunderbare süße kleine Braut. Unveränderlich und umwan-delbar, durch nichts auch nur berührbar ist meine Liebe zu Dir, zu Dir, meine Engelsgerdine. Ich küsse und umarme Dich immer und ewig – Dein Max.« Eine Frau um die 50, die lange vor der Vitrine verweilt und von dem Gelesenen offensichtlich aufgewühlt ist, kann ihre Gefühle nicht verbergen: »Hätte ich nur einen einzigen solchen Brief in meinem Leben bekom-men, könnte ich ein für alle Mal glücklich sein«, seufzt sie.

N i c h t s U n g e w ö h n l i c h e s

Anfang Oktober 2013. Eine ruhige Straße in Westend. Ein auf den ersten Blick gewöhnlicher Altbau. Drinnen ein gepflegtes Treppenhaus mit einem braunen glänzenden Geländer. Kein Aufzug. Im zweiten Stock eine kleine Wohnung, in der man sich auf Anhieb willkommen und geborgen fühlt. Viele schöne Gegenstände, alte Möbel, Lampen, Wände mit Bildern voll-behängt, Bücher im Regal und auf den Tischen: Das Museum der Dinge, die ein langes Leben begleiten, bereichern und prägen. Hier wohnt seit 72 Jahren die »Engelsgerdine« Gerda Schimpf, der Max Schwimmer von 1937 bis 1940 über 500 »solcher« Briefe geschrieben hat. »Das ist nichts Ungewöhn-liches, denn Max hat tausende Briefe, die er immer mit einem Aquarell illustrierte, auch an andere Leute geschickt«, sagt sie. »Das ging ihm ganz schnell von der Hand. Ich weiß nicht, ob das, was mich mit Max verband, eine große Liebe war. Wir waren eng verbunden, denn ich war in seinem Kreis in Leip-zig, aber dann hatte ich das Bedürfnis, da rauszukommen, und wollte woanders hin.«

Fo t o g r a f i n v o n A n fa n g a n

Gerdine Schimpf hat eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen kann. Ihre weißen kurzen Haare glänzen, ihre blauen Augen funkeln schelmisch, ihre Hände sind stets in Bewegung. Sie ist die pure Lebensfreude, obwohl sie alle Tie-fen und Höhen eines ganzen Jahrhunderts persönlich erlebt hat. Über sich spricht sie nicht gern, denn sie meint, »nichts Wichtiges« zu sein. Ein Glücksfall, dass die Ausstellung »Arte

Postale« diese großartige Frau und Fotografin aus dem Schat-ten der Vergessenheit herausholt, sodass sie endlich, trotz ih-rer Bescheidenheit, in gebührender Weise gewürdigt werden kann. Denn Gerdine Schimpf ist nicht nur eine Person, die durch einen schreibwütigen und liebeshungrigen Künstler Aufmerksamkeit gefunden hat. Nein, sie ist vor allem eine faszinierende Persönlichkeit, ein freier Mensch, der immer seinen eigenen Weg suchte. Das in einer bürgerlichen Familie am 14. März 1913 in Dresden geborene Einzelkind wollte von Anfang an Fotografin werden. Nach dem Umzug ihrer Fami-lie nach Leipzig besuchte sie das dortige Goethe-Gymnasium. Danach hatte sie vor, am Bauhaus in Dessau Fotografie zu stu-dieren, »doch als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde das Bauhaus geschlossen. Also suchte ich mir in Leipzig eine sehr gute Fotografin, nämlich Dore Barthky, in deren Studio am Floßplatz 6 ich ausgebildet wurde. In dieser Zeit durfte ich Porträts vieler berühmter Leipziger machen, und ich glaube, dass Dore mit mir zufrieden war.«

L e b e n s l a n g e Fre u n d s c h a f t

Im Spätsommer 1935 lernte Gerda Schimpf den damals schon recht bekannten Zeichner und Illustrator Max Schwimmer kennen. Er verliebte sich sofort in die achtzehn Jahre jüngere Frau. Doch die Angebetete und Muse wollte ihr berufliches

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Glück in Berlin suchen. »Ich zog 1937 nach Berlin«, erinnert sie sich. »Um in Berlin ansäs-sig zu werden, musste man in einer Firma, die etwas mit Fotografie zu tun hatte, beschäftigt sein. Da bin ich in einen Amateurbetrieb nach Hiddensee gegangen. Dort habe ich 1943 mei-nen Fotomeister gemacht.« Während des Krieges arbeitete Gerda in verschiedenen Fotostudios und machte tausende von Porträts und Famili-enfotos; für die Städtischen Elektrizitätswerke, die Messegesellschaft und die AEG fertigte sie Werbeaufnahmen. 1941 zog sie in ihre Wohnung im Westend ein. Sie befindet sich, wie Single Gerda nicht ohne Stolz betont, »in dem ersten Haus, das Hans Scharoun 1928 für Junggesel-len gebaut hat.« Dort lebte sie zwölf Jahre lang mit Eva Schwimmer, der ersten Frau von Max Schwimmer, zusammen, einer auch heute in Vergessenheit geratenen Künstlerin, mit der sie eine lebenslange Freundschaft und Zuneigung verband. »Meine Freundin Eva war sehr mutig, sie wollte während der Bombenalarme oben blei-ben. Das habe ich nicht ertragen. Wenn ich mich wahnsinnig ängstige, dann lache ich. Da kriegte sie es auch mit der Angst, und wir sind doch im-mer in den Keller gegangen.«

G ro ß e L e i d e n s c h a f t

1946 eröffnete Gerda Schimpf ein eigenes Fo-tostudio am Witzlebenplatz. »Dann kam aber 1948 die Währungsreform und es war zu teuer, hier eine Miete und dort eine Miete zu bezahlen. Also richtete ich mir ein Atelier in meiner Woh-nung ein, wo ich viele Leute porträtierte.« Da-runter waren auch bekannte Persönlichkeiten: die Künstler Karl Hofer und Bernhard Heiliger, der Psychoanalytiker und Arzt Alexander Mit-scherlich, die Bildhauerin und Grafikerin Renée Sintenis. »Die Sintenis war sehr schwer zu foto-

grafieren«, erinnert sich Gerdine. »Ich hatte eine bestimmte Vorstellung, wie ich sie aufnehmen möchte, damit sie wie eine bronzene Skulptur wirkt. Ich wollte ihre Falten fotografieren, doch sie sträubte sich dagegen. Das war so schlimm, dass ich Blut und Wasser geschwitzt habe.« Ob-wohl das Porträtieren ihre große Leidenschaft war, war Gerda in den 1950er und 1960er Jahren auch eine gefragte Architektur- und Industriefo-tografin. »Geschäftlich kam ich aber auf keinen grünen Zweig, denn ich hatte überhaupt keinen Geschäftssinn. So war es gut, dass ich dann eine Stellung im Lette-Verein kriegte, sonst wäre ich vielleicht heute schlecht dran.«

E i n e Fo t o g r a f i n !

Als Fotografie-Lehrerin an einer Berufsfach-schule des Lette-Vereins arbeitete Gerda Schimpf bis 1978. Für ihre eigene Kunst hatte sie keine Zeit mehr. »Wenn man lehrt, ist man ganz drin in den Arbeiten der Schüler, das nimmt einen ja völlig in Anspruch und die eigene Kre-ativität stirbt. Trotzdem war es eine schöne Zeit in Lette. Danach hätte ich weiter fotografieren und vielleicht Ausstellungen machen können, aber ich widmete mich ganz der Pflege meiner Freundin Eva, die in Dahlem wohnte. Sie konnte das Bett nicht verlassen, war aber im Kopf völlig klar – ein zartes Geschöpf.« Als Eva Schwimmer 1986 starb, war Gerda 73 Jahre alt: zu spät für die Pflege einer künstlerischen Karriere. Und über-haupt hat sie sich nie als Künstlerin betrachtet. »Ich war eine Fotografin!«, sagt die hundertjäh-rige, mädchenhaft wirkende Frau selbstbewusst und zwinkert mit dem Auge. Kunst hin, Kunst her: Was zählt, ist es, immer ein freier Mensch zu bleiben, der nie in die Verlegenheit kommt, sein Tun, auch wenn es von den Anderen übersehen wird, bereuen zu müssen.

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01 Gerda Schimpf

02 Gerda Schimpf und Urszula Usakowska-Wolff im Gespräch

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Impressionen aus einer Wohnung voller Geschichte(n)

05 Stöbern in alten Fotobänden

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01 Hier soll mal gekocht werden – das neue »Kaffee Bankrott« ist eine extreme Investition für mob e.V.!

02 In diesen Teil der Halle zieht das Sozialwarenkaufhaus »Trödelpoint« ein.

03 Hier werden wir einen gemütlichen sozialen Treffpunkt für unsere Gäste einrichten.

04 In diesem Raum soll die soziale Straßenzeitung »strassenfeger« demnächst produziert werden.

05 Der Vertrag für das neue Objekt wird unterzeichnet (li. Vorstand Lo-thar Markwardt, re. Jens Edelstein).

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201318 | TAUFRISCH & ANGESAGT Ve re i n

S O KÖ N N E N S I E H E L F E N

Spenden für den UmzugWer uns unterstützen will und viel-leicht den einen oder anderen Euro übrig hat, der kann uns gern eine Spende zukommen lassen. Jeder, wirklich jeder Euro wird dringend benötigt! Hier unsere Spenden-adresse:

Bank für SozialwirtschaftSpendenkonto: 328 38 - 01Bankleitzahl: 100 205 00Kennwort: Umzug

Der mob e.V. und die Storkower Straße 139dJeder Neubeginn ist schwerB E R I C H T & F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

Nachdem uns die Vermieterin die Räum-lichkeiten für die Hilfeprojekte un-seres gemeinnützigen Vereins mob – obdachlose machen mobil gekündigt

und darüber hinaus auch noch eine Räumungs-klage bei Gericht eingereicht hatte, läuteten bei uns alle Alarmglocken. Frühzeitig machten wir uns auf die Suche nach neuen Räumen für unsere Notübernachtung »Ein Dach über dem Kopf«, den sozialen Treffpunkt »Kaffee Bankrott«, das Sozialwarenkaufhaus »Trödelpoint«, die sozi-ale Straßenzeitung »strassenfeger«, für die kos-tenlosen Hartz IV- und Rechts-Beratungen und natürlich für das Vereinsbüro. Die Suchkriterien waren relativ klar, aber auch eine große Heraus-forderung: Zuallererst mussten wir einen Ver-mieter finden, der überhaupt bereit ist, an einen Obdachlosenverein Räume zu vermieten. Ehrlich gesagt, Schlange gestanden haben die Immobili-enbesitzer nun nicht gerade bei uns. Zweite Vor-aussetzung: Wir benötigen ca. 700 Quadratmeter Fläche für die verschiedenen Projekte. Nächste Bedingung: Dieses Objekt muss sich in zentraler Lage befinden. Im Klartext heißt dass, es muss für die Menschen, die bei uns Hilfe suchen, auch er-reichbar sein. Was nützen uns die besten Räume in Buch oder Lichterfelde, wenn dorthin niemand kommt, weil der Weg viel zu weit ist, weil die Hil-fesuchenden kein Geld für Bahn, Bus oder Tram haben. Obdachlose und wohnungslose Men-schen haben ihren Lebensmittelpunkt nun mal dort, wo die Musik spielt, und das ist im Zent-rum Berlins. Letztendlich müssen diese Räume aber auch für uns bezahlbar sein. Ein Verein wie der unsrige, der sich jeden Euro hart selbst ver-dienen muss, der eben keine staatliche Unterstüt-zung bekommt, sondern seine Arbeit auch durch Spenden der Berliner_innen und Brandenbur-ger_innen finanziert, der muss schon ganz genau kalkulieren, was geht und was nicht.

H u r r a , w i r z i e h e n i n d i e S t o r ko w e r S t r. 1 3 9 d !

Nun ja, wir hatten riesengroßes Glück: Über die Union-Druckerei, in der wir den strassenfeger drucken lassen, wurde uns ein Objekt in der Stor-kower Straße angeboten. Es handelt sich dabei um eine Halle, in der früher Teppiche verkauft

wurden. Dazu gehört ein kleiner Büroteil. Wir haben uns diese Halle angeschaut und gründlich überlegt: Passt das zu uns bzw. können wir dieses Gebäude unseren Bedürfnissen anpassen? Am Ende dieser Überlegung stand ein klares »Ja!«, allerdings mit einem bitteren Beigeschmack. Für unsere recht komfortable Notübernachtung mit sieben Betten für Frauen und zehn Betten für Männer ist dort leider kein Platz. Wohl oder übel müssen wir in den sauren Apfel beißen und für die Notübernachtung weiter nach geeigneten Räumen suchen. Doch dazu später mehr. Wir haben mit dem Vermieter viel diskutiert, überlegt und schließlich Pläne gemacht. Vor ein paar Tagen nun haben wir den Mietvertrag unterschrieben, der uns Planungssicherheit für den mob e.V. für die nächsten zehn Jahre gibt. An dieser Stelle ein Riesendank an unseren tollen Vermieter!

V i e l e P ro b l e m e & h o h e K o s t e n

Allerdings müssen wir gemeinsam mit dem Vermieter bis zum Einzug in die neuen Räume noch ordentlich in die Hände spu-cken: Zwar sind die Büroräume schon bezugsfertig. Aber für den »Trödelpoint« und vor allem für das »Kaffee Bankrott« muss noch vieles in der Halle hergerichtet werden. Da ist ei-nerseits die Heizungsanlage. Wir werden – sofern die GASAG es schafft, die Halle pünktlich an das Gasnetz anzuschließen – eine moderne Gasbrenntherme bekommen. Das ist für uns sehr wichtig, denn Energie zu sparen hilft uns Geld zu sparen! Neue, große Heizkörper hat der Vermieter schon anbringen lassen. Jetzt müssen noch die Fenster komplett erneuert wer-den, nicht nur die kleinen, sondern eben auch die großen, da-mit uns nicht zu viel Wärme verloren geht in den großen und hohen Räumen. Dann wurden neue Stromleitungen verlegt und Lampen installiert. Eine besondere Herausforderung ist

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 Ve re i n

noch der Einbau einer Suppenküche. Dazu müs-sen Wasser- und Abwasserleitungen verlegt wer-den, Räume mit speziellen rutschfesten Fliesen gefliest werden. Zu einer Küche gehört auch eine Lüftungsanlage. Und nicht zuletzt brauchen wir ausreichend Personal- und Gästetoiletten (auch ein Behinderten-WC!) sowie eine Dusche. Da-mit das alles auch funktioniert, unterstützt uns eine befreundete Architektin bei den Planungen. Schließlich muss alles sicher sein, und auch die Brandschutzauflagen wollen erfüllt werden.

Te l e fo n , I n t e r n e t , We r b u n g u .v. a . m .

Heutzutage fast schon eine Selbstverständlich-keit: Telefon und Internet. Ohne diese Medien geht gar nichts mehr. Aber auch die wollen an-gemeldet und angeschlossen sein. Hinzu kommt, dass wir große Datenmengen bewegen, allein durch die 14tägliche Produktion des strassenfe-ger, und dafür einen mittelgroßen Server benöti-gen, der unser Vereins-Netzwerk bewältigt. Das nächste Problem bzw. die nächste Anschaffung ist eine neue Schließanlage für die Räume. Dann kommt noch die Anbringung von Hinweis- und Werbe-Schildern für unsere Hilfeprojekte dazu. Schließlich wollen wir ja, dass unsere hilfebedürf-tigen Gäste uns auch unkompliziert finden. Na ja, nicht vergessen darf man auch solche »kleinen« Probleme wie Ummeldeformalitäten für Verträge, Postadressen, Banken, Kunden und Lieferanten etc., schließlich haben wir ja eine neue Adresse. Und auch im Vereinsregister müssen wir diese Än-derung eintragen lassen. Ganz sicher habe ich das Eine oder Andere an dieser Stelle vergessen. Aber allein die hier genannten Dinge zu stemmen, ist eine enorme Herausforderung.

D i e s e r U m z u g ko s t e t m o b e .V. t a u s e n d e E u ro !

Wenn wir die Kosten berechnen, die bis jetzt so ungefähr aufgelaufen sind, bewegen wir uns schon mal locker bei ca. 30 000 Euro. Dank der Kooperationsbereitschaft des Vermieters kön-nen wir einen Teil dieser Kosten auf die monatli-che Miete umlegen. Aber das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Auch unser Unzug – sozusagen just in time – damit die Hilfeprojekte ohne große Verzögerungen den Gästen zur Ver-fügung stehen können, ist ein gewaltiger logis-

tischer und finanzieller Kraftakt. Dann kommt die Übergabe des alten Objekts auf uns zu: Was können wir mitnehmen in die neuen Räume? Was muss vielleicht zurückgebaut und/oder ent-sorgt werden? Auf jeden Fall droht uns der Ver-lust der eingebauten Sachen und Technik bzw. der erbrachten tausenden von Arbeitsstunden ehrenamtlicher Helfer. (Siehe dazu auch Artikel im strassenfeger 2013)

Ke i n e R ä u m e f ü r d i e N o tü b e r n a c h tu n g – S c h l i e ß u n g d ro h t !

Jetzt kommen wir zum äußerst unangenehmen Teil: Trotz intensiver Suche haben wir bislang keine geeigneten Räume für unsere ganzjährig geöffnete Notübernachtung gefunden. Zur Erin-nerung – diese Notübernachtung ist die einzige im Großbezirk Pankow! Im Klartext heißt das: Wenn wir bis zum Ende des Jahres keine geeig-neten Räume gefunden haben, müssen wir die Notübernachtung »Ein Dach über dem Kopf« schließen. Und das mitten im Winter, wenn ei-gentlich die »Berliner Kältehilfe« greifen soll und den vielen obdachlosen Menschen geholfen werden muss.

Was ist eigentlich mit Wowereit & Co?!

Wir hatten uns frühzeitig mit der Bitte um Hilfe an den Bezirksbürgermeister Matthias Köhne (SPD) und die Sozialstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz gewandt. Leider ist bis zum heutigen Tag nichts passiert. Wir haben aber auch den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), den Sozialsenator Mario Szaja (CDU), den Finanzsenator Ulrich Nuß-baum (parteilos) angeschrieben und auf unsere Situation hingewiesen sowie um Hilfe bei der Immobiliensuche und der Finanzierung nachge-fragt. Auch der Liegenschaftsfonds des Landes wurde informiert.

Unterstützt haben wir u. a. durch Stefan Liebich (Die Linke) und Philipp Magalski (Pi-ratenpartei) erfahren. Aber besonders Dr. Clara West, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, hat sich voll reingehängt und engagiert. Anfang Novem-ber werden wir gemeinsam mit ihr einige Treffen mit Wohnungsbausgesellschaften und dem Im-mobilienfonds haben, bei denen sondiert werden

wird, ob es vielleicht passende Räume für die No-tübernachtung gibt.

We n n n i c h t s m e h r g e h t , w i rd d e m o n s t r i e r t !

Eines sollte den verantwortlichen Politikern in dieser Stadt allerdings klar sein: Wenn nichts mehr geht, dann werden viele obdachlosen Men-schen für ihr Recht auf Wohnen einstehen. Es wird passende Aktionen geben, mit denen wir gemeinsam dieses Recht einfordern. Denkbar wäre z. B. eine hübsche, große Zeltstadt für Ob-dachlose vor dem Amtssitz des Regierenden Bür-germeisters, dem Roten Rathaus. Oder vor den Parteizentralen. Oder vor dem Bundeskanzler-amt. Oder vor dem Reichstag. Ganz zu schwei-gen von den vielen leer stehenden Immobilien in dieser Stadt, die mal eben besetzt werden könn-ten. Aber klar: Davor setzen wir auf Dialog mit der Politik. Nur: Ernst nehmen sollte man uns und mit uns reden!

D i e B e r l i n e r K ä l t e h i l fe

ist ein Winternotprogramm, das obdach-losen Menschen während der kalten Jah-reszeit unbürokratisch Übernachtungs-möglichkeiten und andere Hilfen bietet. Sie beginnt jeweils am 1.November und endet am 31.März.

Am Kältehilfeprogramm beteiligen sich zahlreiche Träger, darunter die Wohlfahrts-verbände und viele Kirchengemeinden. Neben Notunterkünften und Nachtcafés, in denen es Schlafplätze gibt, umfasst das Angebot auch Tagesaufenthalte, Suppen-küchen, Wärmestuben und Möglichkeiten zu Beratung und ärztlicher Versorgung.

Während der Kältehilfeperiode sind in den Abend- und Nachtstunden der Kältebus der Berliner Stadtmission und der Wärmebus des Deutschen Roten Kreuzes unterwegs, um obdachlose Menschen in Notunter-künfte zu fahren und um auf telefonische Mitteilungen über Menschen in Notsitu-ationen zu reagieren. Obdachlose, die in keine Unterkunft gebracht werden möch-ten, werden mit Tee und Decken versorgt.

Die Kältehilfe wurde 1989 von Berliner Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden sowie der Senatsverwaltung (damals Ge-sundheit und Soziales) ins Leben gerufen. Finanziert werden die Projekte vom Land Berlin oder den jeweiligen Bezirksämtern, von der Liga der Wohlfahrtsverbände und aus Spenden. Zudem ist jedes Jahr eine Vielzahl von Ehrenamtlichen in den Ein-richtungen der Kältehilfe tätig.

Jedes Jahr wird ein Kältehilfetelefon ge-schaltet, das ab dem ersten November erreichbar ist.

Mehr unter www.kaeltehilfe-berlin.de.

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201320 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

01 Manch einer möchte auch im Winter lieber draußen schlafen (Foto: Jutta H.)

02 Notunterkunft in Kreuzberg (Foto: Jutta H.)

03 Susanne Kahl-Passoth (links), unterwegs mit zwei Ehrenamtlichen im Kältebus im vergangenen Winter (Quelle: Diakonisches Werk Berlin-Branden-

burg-schlesische Oberlausitz e.V.)

Bis an die KapazitätsgrenzeIm Winter 2012/2013 waren die Notschlafplätze der Kältehilfe zu über 100 Prozent belegtB E R I C H T : J u t t a H .

Der vergangene Winter beschloss Ende März noch eine Ehrenrunde zu dre-hen. Mit Schnee und Eis und Tem-peraturen auch tagsüber unter dem

Gefrierpunkt hielt er die Hauptstadt in seinem Griff. Kein Wetter, bei dem man verantworten kann, fast 500 Menschen nachts im Freien über-nachten zu lassen. Die meisten Einrichtungen der Berliner Kältehilfe verlängerten Ende März ihr Angebot um zwei Wochen und schlossen erst am 15. April ihre Türen.

Im Schnitt hatten im vergangenen Winter jede Nacht 470 Menschen einen Notschlafplatz in einer Notübernachtung oder in einem Nacht-café in Anspruch genommen. Bei einem vorhan-denen Angebot von 422 Schlafplätzen machte die Auslastung damit 111 Prozent aus. Berlins größte Winter-Notunterkunft, die der Stadtmis-sion in der Lehrter Straße, gelangte in beson-ders eisigen Nächten an ihre Kapazitätsgrenze. Statt der vorgesehenen 60 schliefen dann 160 Menschen dort. Abgewiesen wegen Platzmangel wurde niemand.

Dabei hatte man die Lage in dieser zentralen Unterkunft schon entschärft: Erstmals wurden Bedürftige, die zwischen 22 und 24 Uhr dort aufgenommen werden wollten, zu anderen Not-unterkünften gefahren. Damit erreichte man die beabsichtigte, im Vergleich zu den Vorjahren bessere Auslastung der Nachtcafés der Stadt. Insgesamt stellten 30 Einrichtungen Notschlaf-plätze zur Verfügung.

In den Jahren zuvor war die Zahl der Men-schen, die in Nachtcafés und Notunterkünften

einen Schlafplatz aufsuchten, kontinuierlich angestiegen. Zählten die Kältehilfe-Einrichtun-gen im Winter 2009/2010 etwa 57.000 Über-nachtungen, waren es im vergangenen Winter knapp 71.000. Zwar war das Angebot parallel zur Nachfrage kontinuierlich aufgestockt wor-den, doch der Mangel an geeigneten Immobi-lien hatte der Bereitstellung weiterer Schlaf-plätze Grenzen gesetzt.

Neben den seit Jahren in großer Zahl die Kälte-hilfe-Einrichtungen aufsuchenden wohnungslo-sen Menschen aus Mittel- und Osteuropa, tauch-ten dort im vergangenen Winter auch Menschen aus sogenannten europäischen Krisenländern auf, aus Spanien, Portugal oder Griechenland.

Zudem beobachteten die Helfenden einen An-stieg der Zahl der Frauen, die ihre Einrichtungen aufsuchten. Dabei stand eine volle Auslastung der reinen Frauen-Notunterkünfte (drei Unterkünfte mit 31 Plätzen) einer nur geringen Auslastung von Frauenbetten in Einrichtungen gegenüber, in denen es Räume für Männer und Frauen gab. Der Schluss liegt nahe, dass viele wohnungslose Frauen wegen gemachter Gewalterfahrungen Einrichtungen mit Männern meiden.

Bei der Pressekonferenz zum Abschluss der Kältehilfesaison Anfang April forderten Vertre-ter der Trägerorganisationen entsprechend den Ausbau weiterer frauenspezifischer Angebote. Zudem wurde für den kommenden Winter die Schaffung weiterer Schlafplätze und eine bes-sere medizinische Versorgung der die Kältehilfe-Einrichtungen aufsuchenden wohnungslosen Menschen gefordert.

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 B re n n p u n k t

»Unser Ziel sind 500 Plätze«Fragen an Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V., zum Start der Kältehilfe am 1. November I N T E R V I E W : J u t t a H .

strassenfeger: Im letzten Winter waren bei besonders tiefen Temperaturen die Notunterkünfte der Berliner Kältehilfe deutlich über 100 Prozent ausgelastet. Können Sie schon absehen (Stand 21. Oktober), ob Sie in diesem Winter eine höhere Zahl an Schlafplätzen gewährleisten können?

Susanne Kahl-Passoth: Es ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig, die genaue Anzahl der Schlafplätze zu nennen, die am 1. November zur Verfügung stehen werden. Momentan wird gerade abgefragt, wer wie viele Plätze anbieten kann. Unser Ziel ist es, die 500 Plätze für Notübernachtungen, die Sozialsenator Mario Czaja zugesichert hat, auch anbieten zu können. Das ist nicht immer einfach. Es fehlt beispielsweise in Berlin an geeigneten Immobilien im Innenstadtbereich.

Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen sind in Berlin ca. 11.000 Menschen wohnungslos, verfügen also über kei-nen mietrechtlich abgesicherten Wohnraum. Wie groß – schätzen Sie – ist die Gruppe derer, die buchstäblich auf der Straße lebt?

Das ist sehr schwer zu sagen. Wir schätzen, dass in Berlin zwischen 600 und 1000 Menschen wirklich auf der Straße leben. Das Hauptproblem ist aber, dass wir es nicht wirklich wissen. Seit Jahren fordern wir den Senat auf, die Obdach-losen in unserer Stadt zu zählen und eine Wohnungslosen-Statistik einzuführen.

Was wäre der Vorteil einer Wohnungslosen-Statistik?Wir hätten endlich verlässliche Zahlen, auf die wir uns

auch dem Senat gegenüber beziehen könnten. Um gezielt helfen zu können, bedarf es einer Analyse der Problemlage. Wir müssen wissen, wie viele Menschen welche Art der Hilfe benötigen, um sie dann auch gewährleisten zu können.

In welchem finanziellen Umfang unterstützt der Berliner Se-nat die Arbeit der Kältehilfe?

Der Berliner Senat zahlt dem Träger pro Schlafplatz in ei-ner Notübernachtung pro Nacht 15 Euro. Davon müssen die Einrichtungen die Kosten für das Personal, die Immobilie und die Sachkosten decken. Das System der Berliner Kältehilfe funktioniert vor allem deshalb so gut, weil so viele ehrenamt-liche Helferinnen und Helfer mitarbeiten. Sie fahren mit dem Kältebus durch die Stadt und versorgen die Menschen auf der Straße, sprechen mit ihnen. Sie arbeiten in den Notübernach-tungen und Nachtcafés. Ihnen gilt mein Dank.

Wie steht es um die gesundheitliche Versorgung der Men-schen, die in die Einrichtungen der Kältehilfe kommen?

Das ist ein riesengroßes Problem. Wir hören aus unseren Einrichtungen, dass der gesundheitliche Zustand der Men-schen auf der Straße in den letzten Jahren immer schlechter geworden ist. Es gibt zwar Arztpraxen für Wohnungslose, aber hier dürfen offiziell nur Menschen behandelt werden, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Das ist abso-lut inakzeptabel. Es gibt in Berlin immer mehr wohnungslose Osteuropäer. Auch sie müssen medizinisch versorgt werden. Deshalb setzen wir uns als Diakonie gemeinsam mit der Cari-tas und dem Deutschen Roten Kreuz für eine bessere Versor-gung aller wohnungslosen Menschen ein.

In den letzten Jahren sind die Zahlen der Besucher der Kält-ehilfeeinrichtungen tendenziell gestiegen. Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?

Berlin ist die Hauptstadt der Armut: Prekäre Beschäfti-gungsverhältnisse nehmen zu, die Mieten steigen und die Job-center übernehmen nicht die realen Mietkosten der Hartz IV-Empfänger. Bei psychischen Belastungen und traumatischen Erlebnissen kann es schnell gehen, dass jemand, der eigentlich ein »ganz normales« Leben geführt hat, auf der Straße landet.

Die Kältehilfe ist ja nur eine Nothilfe. Was fordern Sie zur Bekämpfung der Ursachen von Obdachlosigkeit?

Um Wohnungslosigkeit zu begegnen, braucht es ein brei-tes Spektrum an Maßnahmen. Dazu gehört neben der um-fangreichen, auch psychologischen, Beratung, dass das Land Berlin, aber auch die neue Bundesregierung, endlich die Ur-sachen von Armut bekämpft: Wir brauchen Hartz IV-Sätze, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die Jobcenter müssen die Mietkosten der Hartz IV-Empfänger komplett übernehmen. Wir brauchen eine Existenz sichernde Bezah-lung in allen Jobs, die es den Menschen ermöglicht, von ihrem Einkommen würdevoll zu leben. Und wir brauchen endlich bezahlbaren Wohnraum für alle Berlinerinnen und Berliner. Es ist an der Zeit, dass Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen die Augen aufmachen und sehen, was um sie herum geschieht, und Armut von der Wurzel an bekämpfen.

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201322 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

1 THEATER

»Fundevogel« »Vor langer Zeit, im Wald, da saß ein kleines Kind, oben auf einem Baum. Das weinte und weinte... Federn waren überall und Wind. Und da war ein Förster auf der Jagd. Der fand das Kind und trug es nach Haus…«, so beginnt das Märchen der Brüder Grimm, das vom Kranewit Theater in einem ein-drucksvollen Spiel mit Masken, Puppen und Objekten erzählt wird. Und wie im Märchen, so nimmt auch hier das Schicksal seinen Lauf. Denn wenn einer einen Fundevogel, jenes zauberhafte Wesen zwischen Himmel und Erde, beherbergt oder sich gar in ihn verliebt, dann ist das allein schon Stoff für eine sinnliche Aufführung.

Am 9. November um 20 Uhr Eintritt 9,50 Euro, ermäßigt 6 Euro Kontakt: 030 - 4234314Schaubude Berlin Greifswalder Straße 81 10405 Berlin Info: www.schaubude-berlin.de Bild: www.schaubude-berlin.de / Martin Hoppe

3 KINDER

»Ich bin der Stärkste« »Ich bin der Stärkste« ist die Geschichte eines Wolfs, der eines Tages auf die Idee kommt, eine harmlose Umfrage zu machen, um etwas über sich zu erfahren. Auf einem Spaziergang befragt er die Waldbewohner und kommt zu dem Ergebnis: »Alle zittern vor mir! Sogar das Rotkäppchen.« Für den Wolf sind alle Zweifel ausgeräumt. Er ist der Stärkste auf der Welt. Fast wäre er durchgedreht in seinem Größen-wahn, aber dann trifft er ein furchtloses Drachenbaby... Der Wolf in dieser Geschichte ist nicht brutal wie seine Brüder aus der schwarz-weißen Welt der Gebrüder Grimm, sondern er ist ein echter Held, der uns am Ende zum Lachen bringt. Das Theaterstück der Theaterwerkstatt Maske & Mantel ist geeignet für Kinder ab drei und ihre Familien.

Am 3. und am 11. November um 11 Uhr Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro

Kleine Markthalle Am Legiendamm 32 10969 Berlin

Info: www.familienzentrum.jwik.de Bild: www.kunst-pr-ojekte.de

4 FÜHRUNG

»Querstadtein« Querstadtein lädt zu einem neuen Blick auf die Hauptstadt ein: Zum ersten Mal werden in Berlin Stadtführungen von Obdachlosen und ehemals Obdachlosen angeboten, die quer durch die Kieze eine ungewohnte Sicht auf Altbekanntes bieten. Die Stadtfüh-rer berichten vom Leben auf der Straße und zeigen dabei ihre Orte und Anlaufstellen, erzählen Geschichten von Berliner Straßen, Parks und Plätzen.

Zu unterschiedlichen Zeiten, nach Vereinbarung.Eintritt: Einzelpersonen 9,40 Euro, ermäßigt 5,40 Euro Gruppen: 140 Euro, ermäßigt 90 Euro Preise für Unternehmen auf Anfrage

Kontakt per E-Mail unter [email protected] und per Online-Formular auf www.querstadtein.orgDie unterschiedlichen Führungen beginnen an unterschiedlichen Orten.

Info: www.querstadtein.org Bild: www.querstadtein.org/ Georg Dufner

2 FEST

»Halloween Tierpark« Der Tierpark Berlin verwandelt sich in einen mysteriösen Ort mit gespenstischen Führungen, das Schloss Friedrichsfelde wird zum Gruselschloss. Die spannenden Wanderungen für kleine und große Abenteurer durch den größten europäischen Landschaftszoo werden durch die Tierparkmitarbeiter gestaltet. Einlass ist von 15 Uhr bis 19 Uhr nur am Eingang »Bärenschaufenster« am U-Bahnhof Tierpark. Für die hungrigen kleinen Gespenster ist ein Buffet in der Cafeteria eingerichtet. Wem zu seiner Verkleidung noch die passende Gesichtsbemalung fehlt, kann sich in der Cafeteria schmin-ken lassen. Von der Parkeisenbahn »Moabiter« ist ein kostenloser Shuttle zwischen dem Eingang »Bärenschaufens-ter« und der Cafeteria eingerichtet. Ab etwa 17.30 Uhr startet die Gruseltour von der Cafeteria aus in den Tierpark. Um 20.30 Uhr findet ein Feuerwerk am Schloss Friedrichsfelde statt. Alle Touren enden im Schloss Friedrichsfelde.

31. Oktober um 15 Uhr Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro für Kinder ohne Kostüme. Für kostümierte Kinder ist der Eintritt frei, allerdings nur am Ein-gang am »Bärenschaufenster«.

Tierpark Am Tierpark 125 10319 Berlin

Info & Bild: www.tierpark-berlin.de

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VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

senden Sie ihn uns an:[email protected]

Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 23 K u l t u r t i p p s

6 MUSIK

»Handiclapped« Hinter dieser Veranstaltung steht die Idee, Konzerte für Menschen mit, aber auch für jene ohne Behinderungen zu geben. Die Musik wird natürlich von behinderten und nicht behinderten Musikern gemacht. Ein Konzert für jedermann – und eine Begegnungsstätte, die Hürden überwindet. Mit dabei sind auch diesmal mehrere Theatergruppen, darunter das Ensemble Grüne Bananen, die Theatergruppe der Berliner Starthilfe e.V. mit dem »Curry und Tschüss« und die Musik-Tanz-Gruppe Babel Ensemble.

Am 31. Oktober von 18 Uhr bis 20.30 Uhr Eintritt 5 Euro, begleitende Assistenten zahlen keinen Eintritt.

Alte Feuerwache Marchlewskistr. 6 10243 Berlin

Info & Bild: www.handiclapped-berlin.de

8 BUCHVORSTELLUNG

»Lichtmächte« Das Visuelle ist in Bewegung. Die Grenzen zwischen Hochkultur, Sammlertätigkeit und Massenunterhaltung verschieben sich. Dietmar Dath und Swantje Karich stecken in dem bei Diaphanes erscheinenden Buch »Lichtmächte« die Probierfelder für ein aufmerksames neues Sehen ab. Dietmar Dath ist Schriftsteller, Übersetzer und Publizist zu ästhetischen und politischen Themen. Sein Roman »Die Abschaf-fung der Arten« von 2008 war für den deutschen Buchpreis nominiert und hat den Kurd-Laßwitz-Preis erhalten. Swantje Karich ist Kunsthistori-kerin, Kunstkritikerin, Kennerin des Kunst-markts und Redakteurin bei der F.A.Z. Sie lehrt in Frankfurt beim Studiengang Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik, in Berlin an der Humboldt-Universität am Institut für Kunst- und Bildgeschichte sowie an der Martin-Luther-Universität Halle.

Am 11. November um 20 Uhr - Eintritt zwischen 7,92 Euro und 8,80 Euro Kontakt per Telefon unter 030 - 259004-0 oder unter www.hebbel-am-ufer.de

Hebbel am Ufer, Stresemannstr. 29, 10963 Berlin

Info: www.hebbel-am-ufer.de Bild: Dontworry / Wikipedia

5 FAMILIE

»Laternen & Feuer vor Sankt Martin« Der Legende nach teilte Sankt Martin in einer bitterkalten Nacht seinen Umhang mit einem Bedürftigen. Die Veranstal-ter von Sankt Martin im Lindenpark finden das toll und basteln mit teilnehmenden Familien und Kindern eigene Sankt-Martins-Umhänge, die später auf dem Weg verschenkt werden. Gegen 17 Uhr startet der große Laternenumzug. Alle Beteiligten ziehen laut und fröhlich singend mit ihren Umhängen und ihren Laternen durch Babelsberg: »La...ter...ne, La…ter….ne, So…n…n…e, Mo…n…d und Ste….r…ne.« Zurück auf dem Gelände werden die Laternen in die Luft steigen gelassen, und man kann sich am Lagerfeuer bei Kinderpunsch und Stockbrot aufwärmen.

Am 10. November um 16 Uhr - Eintritt frei! Jugendkultur- und Familienzentrum Lindenpark Stahnsdorfer Straße 76-78 14482 Potsdam

Info & Bild: www.lindenpark.de

7 VORTRAG

»Obdachlosen-Uni« Die Obdachlosen-Uni ist ein Bildungs- und Partizipationsprojekt für Wohnungslose in Berlin, eine mobile Bildungseinrichtung von und für Obdachlose, Wohnungs-lose, Menschen mit Armutserfah-rung und deren Sympathisanten. Obdachlose sollen eine neue Perspektive bekommen, zum Beispiel als Dozenten an der Obdachlosen-Uni. Ihnen soll ein neues Gefühl des Gebrauchtwer-dens vermittelt werden. Der Obdachlose soll erfahren, dass sein Wissen und Können eine hohe Relevanz besitzen und seine Erfahrungen von anderen ge-braucht und geschätzt werden. Durch das Vorbereiten eines Vortrags / Referats wird neben der Steigerung des Selbstbewusstseins aber auch eine Vertiefung im jeweiligen Themenfeld stattfinden, da sich der Vortragende im Vorhinein gründlich mit dem Thema beschäftigen wird. Der Philosophiekurs »Staatsphiloso-phie, Recht und Gerechtigkeit« findet in Kooperation mit der VHS Treptow-Köpenick statt.

Am 31. Oktober von 9.30 - 11.30 Uhr, Eintritt frei! Obdachlosen-Uni c/o Maik Eimertenbrink Muskauer Str. 2 10997 Berlin

Info & Bild: www.berlinpiloten.com

01 Jocelyn B. Smith

(Foto: © Sandy Reichel)

02 Adwoa Hackman (Foto: © Britta Windzik)

03 Adwoa und Band (Foto: © Britta Windzik)

04 Guido Fahrendholz im Talk mit Lisa Paus (Foto: © Britta Windzik)

05 J. B. Smith und Different Voices of Berlin (Foto: © Sandy Reichel)

06 J. B. Smith - Dr. Ph. Desiree Hurtak - Prof. Dr. Ph. James J. Hurtak (Foto: © Sandy Reichel)

07 Wedding (Foto: © Simone Birkelbach)

I N FO

kaffeebankrott bei ALEXVoltastraße 5, Haus 10/Treppe 6 13355 Berlin-Wedding

TV-Aufzeichungen22. November 2013, A Kew’s Tag

13. Dezember 2013, The Wake Woods

08. Januar 2014, Dvora Davis

22. Januar 2014, Bukowski Waits For Ever

05. Februar 2014, Christian Haase & Band

05. März 2014, Jessy Martens

10. April 2014, Ray Wilson

Einlass: 19.00 UhrBeginn: 19.30 Uhr

EINTRITT FREI!

kaffeebankrott bei facebook › https://www.facebook.com/

kaffeebankrott?fref=ts

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201324 | TAUFRISCH & ANGESAGT k a f fe e b a n k ro t t

Musikimpressionen für das AugeDer kaffeebankrott-MarathonB E R I C H T : G u i d o F a h r e n d h o l z

Eigentlich sollte es ein Testlauf werden. Zum ersten Mal in den bisherigen vier Jahren TV-Produktion zeichneten wir an drei aufeinander folgenden Ta-gen auch drei Sendungen kaffeebankrott auf. Eine Herausforderung für Crew und Technik. Am Ende

war die komplette Mannschaft glücklich erschöpft, beseelt von der Überzeugung, auch das schaffen wir. Es war großar-tig. Die folgenden Bilder zeugen von dem besonderen Spirit, wenn Engagement und Kunst aus einer Idee ein Erlebnis zau-bern. Was die Bilder nicht wiedergeben können, wird in den kommenden Wochen hör- und sichtbar gemacht, in der Sen-dung kaffeebankrott, im laufenden Programm von ALEX-TV.

M u s i k v e r l e i h t F l ü g e l – J o c e l y n B . S m i t h

Jeder im Raum, ob Techniker, Kameraleute, Aufnahmeleitung oder Moderator, hielt für einen kurzen Moment den Atem an, als der Schutzmantel vom Flügel gezogen wurde und den Blick auf ein perfektes Instrument frei gab. Da stand er nun, in seiner schwarzen Pracht und wartete darauf, von uns positio-niert und ins rechte Licht gerückt zu werden. Keine geringere als Jocelyn B. Smith füllte nur wenige Stunden später dem Ins-trument Leben ein. Im Gefolge ihr langjähriger musikalischer Begleiter, der Saxophonist und Produzent Volker Schlott und ein ganz besonderer Chor, Different Voices of Berlin. Die Talk-Gäste des Abends waren Prof. Dr. Ph. James J. Hurtak und seine Frau Dr. Ph. Desiree Hurtak von der Acadamy for Future Science - United Nations in den USA.

E i n e a l t e Fre u n d i n – A d w o a H a c k m a n

Von ihrer samtweichen, bittersüßen Stimme und dem einzig-artig groovenden Gitarrenspiel konnte sich das Publikum von strassenfeger unplugged bereits etwa zwei Jahre zuvor schon einmal überzeugen. Adwoa Hackman, eine Vollblutmusikerin mit dem Fundament eines Studium für Gitarre und Gesang, zusätzlich ausgebildet am Schlagwerk und jahrelange Erfah-rung als gefragte Studio- und Session-Musikerin, sowie ausge-stattet mit der Bühnenerfahrung unzähliger Gigs im gesamten deutschsprachigen Europa. Dazu eine Band zum Zunge-schnalzen. Steve Pfaff am Bass, Markus Büchel an den Tasten und an den Drums Chris Farr aus den USA. Zum Gespräch nahm auf der Bank neben Adwoa auch die Bundestagsabge-ordnete der Grünen, Lisa Paus, Platz. Sie hielt nicht hinterm Berg damit, was nach ihrer Ansicht am Sonntag zuvor bei den Bundestagswahlen schief gelaufen war.

S i e h a b e n d e n B l u e s - We d d i n g

Wer nach den vorangegangenen zwei Konzerten nun noch nach musikalischer Lebenserfahrung verlangte, war an diesem Abend mit Sicherheit in der richtigen Location. Wedding, eine Band deren Mitglieder allesamt zum Who is Who einer vergessen geglaubten Musikergeneration gehö-ren. Einer spielte schon mit Rio Reiser und seinen Scherben, ein anderer bei X-pectors, aus denen später Ideal wurde, bevor er selbst musikali-scher Leiter des Grips-Theaters wurde. Die Liste ließe sich unendlich verlängern mit Alphaville, Marianne Rosenberg usw., aber das Wichtigste: alle zusammen haben schon ihr Leben lang den Blues. Wedding ist Berlin ungeschminkt, aber auch das Statement für gemeinsames Tun, der Vorsatz, aus mehreren Leben eines zu machen, ohne dasselbe zu werden. Wedding ist musikali-sche Lebenserfahrung.

Möchten Sie nun mehr darüber erfahren oder auch einmal persönlich im Publikum sitzen, senden Sie uns eine Email mit dem Kennwort ›kaffeebankrott Newsletter‹ an [email protected], und Sie werden fortan über alle Termine und Gäste recht-zeitig informiert. Bereits feststehende Aufzeich-nungen finden Sie in unserem Infokasten.

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201326 | TAUFRISCH & ANGESAGT S p o r t

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Rip Curl Pro Portugal 2013Die weltbesten Surfkünstler trafen sich zum WM-Event am AtlantikB E R I C H T & F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k © V G B i l d - K u n s t

Man nehme: Einen Strand in einem Fischer-städtchen namens Peniche (Portugal), an dem eine der besten Wellen der Welt bricht. Eine kleine Stadt mit kompletter Infrastruk-tur wie Telefon, Internet, TV-Leitungen, Um-

kleidekabinen, Essensversorgung und natürlich dem Turm für die Wettkampfrichter. Dazu die 32 besten Surfer der Welt. Für ein paar Tage entsteht an diesem Strand – »Supertubos« genannt - dann das Mekka des Wellenreitens. Hinzu kommen noch, mittlerweile ganz unvermeidlich, jede Menge Sponso-renpavillions und Imbissbuden. Surfen ist eine Sportart, die einen extrem hohen Vermarktungsgrad erreicht hat. Kein Wunder: Die Zielgruppe ist jung, dynamisch, sucht die gro-ßen Herausforderungen. Zumindest auf dem Papier, denn die Gruppe der wahren Surffreaks ist eher klein und hält nicht viel vom medienwirksamen Wettkampfsurfen. Egal – für viele Menschen ist es immer wieder ein gigantisches Erlebnis, di-rekt am Strand zu sitzen und den besten Surfern der Welt bei ihrer aufregenden Wellenjagd zuzuschauen. Die Association of Surf Professionals (ASP) bietet das Spektakel bereits seit ein paar Jahren und hat für die nächste Saison die ganz dicken Sponsoren an Land gezogen: Der amerikanische Sportsender ESPN, YouTube und Facebook werden über ihre Kanäle live über die Tour 2014 berichten.

L a u n i s c h e s S u p e r t u b o s

Vorweg ein paar Regeln: Eigentlich wird Mann gegen Mann gesurft und das über 30 Minuten. Wer die besten Wellenritte präsentiert und dafür die höchsten Noten kassiert hat – die Skala reicht bis 10 Punkte, die beiden besten Wellen werden addiert – kommt eine Runde weiter. Um die Sache ein wenig spannender zu machen und dem Publikum Gelegenheit zu geben, die Besten der Besten mehr als nur einmal bewundern zu können, werden einige Runden auch von jeweils drei Sur-fern bestritten. Dann schaffen es die beiden besten ins nächste Rennen. Für den Sieg bei einem der zehn Wettkämpfe der Tour der Berufssurfer gibt es 10 000 Punkte, für den 2. Platz 8 000 und für den 3. Platz 6 500 Punkte. Am Ende ist natürlich derjenige Weltmeister, der über das Jahr die meisten Punkte geholt hat.

S u r fe n a n d e n s c h ö n s t e n O r t e n d e r We l t

Gestartet wurde die Wellenjagd in diesem Jahr am 2. März an der Gold Coast in Australien (Sie-ger Kelly Slater). Danach gastierten die Surfer an den wohl schönsten Orten der Welt: in Bells Beach/Australien (Adriano De Souza), in Rio de Janeiro/Brasilien (Jordy Smith/Südafrika), in Tavarua/Namotu auf den Fidschi-Inseln (Kelly Slater/USA), in Keramas/Bali (Joel Parkin-son/Australien), in Teahupoo/Tahitii (Adrian Buchan/Australien), in Trestles/Kalifornien (Taj Burrow/Australien, in Hossegor/Frankreich (Mick Fanning/Australien) und eben hier in Pe-niche. Die letzte Station ist wie immer Hawaii. Und dort in der berühmten Banzai Pipeline an der North Shore wird ab 8. Dezember der neue Weltmeister ermittelt.

D i e We l t m e i s t e r s c h a f t b l e i b t s p a n n e n d

In Peniche hatten alle eigentlich den Zweikampf zwischen dem in der Rangliste führenden Mick Fanning und Kelly Slater erwartet. Doch es kam anders: Der Lokalmatador Frederico Morais be-siegte ganz überraschend den großen Favoriten Slater. Leider waren die Wellen eher schlecht an diesem Tag. Doch Slater nahm’s gelassen und gratulierte fair: »Frederico hatte die besse-ren Wellen und hat mehr daraus gemacht. Ich muss nun unbedingt den nächsten Wettkampf gewinnen, um noch eine Chance auf den Titel zu haben. Ich werde mich jetzt ein wenig erholen und mich erneut konzentrieren.« Die portugie-sischen Fans waren natürlich absolut begeistert von ihrem neuen Helden. Nachdem auch Fan-ning bereits im Viertelfinale gegen den späteren Sieger, seinen Landsmann Kai Otton, rausflog, kommt es nun wohl auf Hawaii zum Showdown zwischen Fanning und Slater.

I N FO

› www.aspworldtour.com

› http://live.ripcurl.com/portugal-home-2013.html#popup-1

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 2013 TAUFRISCH & ANGESAGT | 27 S p o r t

01 Überglücklich: Kai »Ottz« Otten nach dem Finalsieg

02 Freudentränen bei Kai Otten über seinen ersten Sieg auf der ASP-ProTour

03 Flugshow beim Rip Curl Pro Portugal 2013 in Supertubos

04 »Mr. Surf« Kelly Slater diesmal geschlagen – aber er kommt ganz sicher zurück!

D e r » M i l l i o n ä r i n B a d e l a t s c h e n «

Kelly Slater (41 Jahre) ist ganz sicher der beste Wellenreiter der Welt. Er gewann 1992 als jüngs-ter Surfer die Weltmeisterschaft. Mit fünf Titeln in Folge dominierte Slater die Szene von 1994 bis 1998. Danach erklärte er seinen Rücktritt. 2003 gab er sein Comeback und wurde auf An-hieb Vizeweltmeister. Danach dominierte Mr. Surf diese Extremsportart wieder und holte sich fünf weitere Titel. Slater ist in den vergangenen Jahren aber nicht nur berühmt, sondern auch reich geworden. Mehr als dreieinhalb Millionen Dollar Preisgeld heimste der mit Abstand am besten verdienende Surfer über die Jahre ein. Mindestens 450 000 Dollar Preisgeld werden übrigens unter den Profis pro WM-Station ver-teilt. Allein der Sieger erhält ca. 75 000 Dollar. Hinzu kommen natürlich die Sponsorengelder, denn die besten 32 Surfer stehen selbstredend auf der Gehaltsliste der großen Surffirmen der Welt. Kein Wunder, dass Slater zum »Millionär« in Badelatschen wurde. Zu Recht: Slater hat ein-fach die tollsten Tricks im Surfen drauf; er reitet die kleinsten und größten Tubes der Welt mit allergrößter Eleganz, er baut an seinen Surfbret-tern akribisch mit. Surfen – das ist sein Leben.

G l a n z & G l a m o u r

Nebenschauplätze haben eigentlich immer wie-der die Medien eröffnet: Sie berichteten genüss-lich über die tatsächlichen oder vermeintlichen Liaisonen Slaters mit der blonden »Baywatch«-Nixe Pamela Anderson, mit dem »Supermodell« Giselle Bündchen oder mit der Schauspielerin Cameron Diaz. Slater dazu: »Cameron Diaz ist eine Freundin von mir... Wenn die Leute anneh-men, dass wir miteinander schlafen, nur weil wir Freunde sind, ist das wahrscheinlich ein bisschen übers Ziel hinaus geschossen.« Slater ist übrigens schon länger mit seiner Freundin Kalani Miller

zusammen und hat eine Tochter namens Taylor. Zu Slaters Glamour haben aber sicher auch seine vielen Filmprojekte und seine Auftritte als Musi-ker (Guitarre) beigetragen. Fakt ist aber: Kelly Slater ist ein echter Soulsurfer und Waterman!

A u s t r a l i e r K a i » O t t z « O t t o n g e w i n n t i n Pe n i c h e

Der Sieg hier in Peniche ging übrigens an den Australier Kai Otton, der sich über seinen ersten Erfolg auf der ASP-Pro-Tour wie ein kleines Kind freute und sogar ein paar Tränen vergoss. Ich traf »Ottz« am Abend bei der Abschlussfeier mit den anderen Pro-Surfern in der »Surfers Lodge« in Baleal und konnte mit ihm ein kurzes Inter-view führen. Und – na klar – er war total stoked (begeistert), wie es in der Surfersprache heißt: »Ja, wir feiern hier meinen ersten Sieg mit einer rauschenden Party. Es hat so lange gedauert bis zu meinem ersten Erfolg auf der Tour. Und das jetzt mit meinen Freunden feiern zu können, ist sehr cool. Ich habe nichts erwartet, als ich hier her kam. Und ich muss schon sagen, die Ren-nen gegen Nat Young (USA) im Finale, gegen den amtierenden Weltmeister Joel Parkinson im Halbfinale und gegen Mick Fanning im Viertelfi-nale, das waren schon echte Herausforderungen. Aber ich liebe diese Herausforderungen und ich liebe das Surfen. Es ist wohl das Wichtigste in meinem Leben.«

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strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201328 | TAUFRISCH & ANGESAGT A k t u e l l

»Wer dankbar wird, lernt das Teilen«Am Sonntag, den 13. Oktober, feierte die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde »Zoar«, deren Pastor Andreas Güthling ist, im Prenzlauer Berg einen Erntedankgottesdienst. Die dort zusammengetragenen Gaben wurden unserem Verein mob e.V. gespendet. I N T E R V I E W & F O T O S : T h o m a s N e u m a n n

Thomas Neumann: Herr Güthling, was verbirgt sich hinter dem Namen »Zoar«?

Andreas Güthling: »Zoar«, was auf Hebräisch »die Kleine« bedeutet, ist abgeleitet von der gleichnamigen Klein-stadt, die sich vor etwa viertausend Jahren am Südende des Toten Meeres befand. In der Bibel wird erzählt, dass dort die Familie des Lot Zuflucht beim Untergang von Sodom und Gomorra fand.

Was zeichnet Ihre Gemeinde aus?Wir sind eine sehr lebendige evangelisch-freikirchliche

Baptisten-Gemeinde. Bei uns werden nur mündige Menschen getauft, die sich willentlich dazu entscheiden. Und wir tren-nen Staat und Kirche. Daraus ergibt sich unter anderem, dass wir die gesamte Gemeindearbeit durch freiwillige Spenden der Gemeindemitglieder und Gemeindefreunde selbst finan-zieren. Neben guten Beziehungen in der eigenen Gemeinde ist uns das Miteinander mit anderen christlichen Kirchen und Gemeinden wichtig, darum sind wir auch ökumenisch sehr gut verknüpft. Als Gemeinde versuchen wir eine sehr verbindliche Gemeinschaft zu sein, die von Gottes Liebe und von Gottes Gnade lebt. Weil wir uns als von Gott Beschenkte wissen, möchten wir das, was er uns gibt, nicht nur für uns behalten, sondern es weitersagen und weitergeben.

Und genau das haben Sie getan, als Sie unserem Verein Ihre Erntedankgaben zukommen ließen. Warum?

Erntedank feiern heißt: Wir danken Gott für alles, was er uns schenkt. Und wer dankbar wird, lernt das Teilen. In der Bibel gibt es beim Propheten Jesaja ein Wort, das sagt: »Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus.« Und genau das haben wir uns zum Vorsatz genommen. Auf meiner Suche nach Hilfsbedürfti-gen fiel mir Ihr strassenfeger ins Auge. Also bin ich zu Ihnen gefahren und habe mir Ihren Verein mal angeschaut. Die Ar-beit, die Sie tun, mit der Straßenzeitung, der Notunterkunft, der rechtlichen und sozialen Betreuung und dem Kaffee Ban-krott, hat mir gefallen. Und somit haben wir beschlossen, alles, was wir hier an Erntedankgaben zusammenlegen, an Sie weiterzugeben.

Für diese Gaben möchte ich mich persönlich und im Namen vom mob e.V. bedanken. Auch für die Herzlichkeit, die wir genießen durften, als wir an ihrem Gottesdienst teilgenom-men haben.

Es freut mich, dass es Ihnen bei uns gefallen hat, Sie Ge-borgenheit gespürt und sich wohlgefühlt haben.

Gibt es auch andere Begegnungen während der Woche au-ßer den Gottesdiensten?

Wie gesagt: sonntags ist um zehn Uhr der Gottesdienst; wir haben noch dienstags um 19.30 Uhr ein Bibelgespräch, der für alle offen ist, auch für Gäste. Außerdem bieten wir

einen Kindergottesdienst, viele Frauengruppen, eine Jugend-, eine Pfadfindergruppe, einen Blä-serchor, einen gemischten Chor, eine Band und vieles andere mehr an. Man kann sagen, dass wir ein breites Angebot haben. Ferner sind nach je-dem Gottesdienst alle herzlich zum Kirchenkaf-fee eingeladen, womit wir zeigen, dass wir nicht nur Gottesdienst zusammen feiern, sondern dass wir auch Gemeinschaft pflegen wollen. Beides sollte Hand in Hand gehen. Übrigens: Jeden dritten Sonntag im Monat gibt es einen »Gottes-dienst mit Biss«, was heißt, dass wir gemeinsam zu Mittag essen. Sie sind zu all den Veranstaltun-gen herzlich eingeladen!

Herr Güthling, vielen Dank für das Gespräch!Es war mir eine Freude! Ihnen und dem gan-

zen Verein wünsche ich Gottes Segen!

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Evangelisch-Freikirch-liche Gemeinde »Zoar« Cantinastraße 9 10437 Berlin

Das Gemeindebüro und der Pastor sind telefo-nisch erreichbar unter 030-4484267

www.efg-zoar.de

01 Die Erntedankgaben

02 Pastor Andreas Güthling

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 2013 AUS DER REDAKTION | 29 R a t g e b e r

ALLGEMEINE RECHTSBERATUNG

Rechtsanwältin Simone KrauskopfJeden Montag von 11.00 – 15.00 Uhr

im Kaffee Bankrott bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin

Bei Bedürftigkeit wird von der Rechtsanwältin ein Beratungsschein beantragt. Bitte die entsprechen-den Nachweise mitbringen. (z.B. ALG II-Bescheid)

I N FO

Mehr zu ALG II und SozialhilfeDer neue Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A–Z (Stand Juli 2013)

› erhältlich für 11 EUR im Büro des mob e.V., Prenzlauer Allee 87, oder zu bestellen bei: DVS, Schumanstr. 51, 60325 Frankfurt am Main,

› Fax 069 - 740 169

› www.tacheles-sozialhilfe.de › www.erwerbslosenforum.de

Darlehen Teil 5Abweichende Erbringung von Leistungen nach § 24 Abs. 1R A T G E B E R : J e t t e S t o c k f i s c h

Die Regelsätze nach § 20 SGB II bein-halten u.a. die Bedarfe für Lebensmit-tel, Strom, Gesundheitspflege, Ver-kehr, Freizeit, Kultur, Bildungswesen

(1,20 € Höchstbetrag!), Bekleidung, Schuhe, Wohnungseinrichtung und Haushaltgeräte.

Sind diese Bedarfe unabweisbar und unaufschieb-bar und auch nicht durch »Mittelumschichtung« zu decken und ist kein Einkommen oder Vermö-gen vorhanden, aus dem dieser Bedarf gedeckt werden kann, wird vom Jobcenter ein Darlehen nach § 24 Abs.1 gewährt. Wobei z. B. schon 100 Euro auf dem Konto, die nicht Regelsatzzahlung sind, als »Vermögen« gelten! In den überwiegen-den Fällen handelt es sich bei diesen Bedarfen um die Reparatur oder Ersatzbeschaffung elektri-scher Haushaltsgeräte oder auch Möbel. Es kann sich aber auch um den Verlust oder Diebstahl von Bargeld oder die Beschaffung einer Brille oder ei-nes Schulranzens handeln.

Unabweisbar und unaufschiebbar ist z. B. die Reparatur oder Ersatzbeschaffung einer Wasch-maschine oder eines Kühlschranks. Auch ein defektes Bett kann dazu zählen. Ohne einen Fernseher kann man in der Regel schon eine gewisse Zeit auskommen, auch, wenn sich das manche Menschen nicht vorstellen können. Am Ende des Geldes, wenn noch »Monat übrig ist«, können auch kleinere Beträge, wie z. B. die Be-

schaffung von Wintermantel oder Stiefeln bei plötzlichem Kälteeinbruch nicht mehr durch Umschichtung gedeckt werden. Dann ist der Bedarf ebenfalls unabweisbar und unaufschieb-bar.

Eine hohe Strom- oder Gasnachzahlung, ist auch typisch für diese Art Darlehen. Sind in diesen Nachzahlungen allerdings Heizkosten enthal-ten, zählen sie zu den Kosten für Unterkunft und Heizung und sind bei angemessener Miete vom Jobcenter zu zahlen (ALSO NICHT ALS DARE-HEN). Auch für EINMALIGE medizinische Be-darfe sind unter den o.g. Bedingungen Darlehen zu übernehmen.

Hinweis! Fallen z. B. medizinische Bedarfe mehrmals an, könnten sie als Mehrbedarf nach § 21 Abs.6 SGB II als Beihilfe und NICHT ALS DARLEHEN zu übernehmen sein. Als Zeit-raum für »mehrmals« zählt der Bewilligungs-zeitraum. Es ist auch eine rückwirkende Zah-lung als Beihilfe möglich. Beispiel: Es werden medizinische Bedarfe verordnet, die zwar nötig sind, jedoch von der Krankenkasse nicht über-nommen werden. Betroffene haben die selbst bezahlt oder ein Darlehen erhalten, da einmalig (§ 24 Abs.1). Dann stellt sich heraus, dass die med. Bedarfe innerhalb des Bewilligungszeit-raumes noch einmal benötigt werden. In die-sem Fall hat der Betroffene Anspruch auf die Übernahme BEIDER med. Bedarfe als Beihilfe (§ 21 Abs. 6). Das heißt auch, dass eventuell schon gezahlte Darlehensrückzahlungen erstat-tet werden müssen.

Achtung! Erstausstattungen u.a. für Möbel oder elektrische Haushaltsgeräte, sind als BEI-HILFEN nach § 24 Abs.3, NICHT ALS DAR-LEHEN, zu gewähren! Erstausstattung heißt jedoch nicht, nur einmal im Leben! Die Aus-stattung für die erste Wohnung, nach einem Wohnungsbrand, nach Obdachlosigkeit, nach Trennung gelten als Erstausstattung.

Vom Gesetz her kann das Jobcenter Darlehen als Sachleistung (Gutschein o.ä.) oder Geld-

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Evangelisch-Freikirch-liche Gemeinde »Zoar« Cantinastraße 9 10437 Berlin

Das Gemeindebüro und der Pastor sind telefo-nisch erreichbar unter 030-4484267

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leistung erbringen. Die Sachleistung sollte abgelehnt werden, weil sie diskriminierend ist und es sich um Geld des Betroffenen handelt, da er das Darlehen ja abzahlen muss! Nur in besonderen Fällen, wenn Betroffene Geld vom Jobcenter zweckfremd ausgegeben haben (z. B. die Miete für Alkohol oder Drogen) ist eine Sachleistung gerechtfertigt.

Tipp: Da die Ämter sich in der Regel jede Menge Zeit lassen, um zu prüfen, kann man bei sehr schnell benötigtem Bedarf, wenn zu Beginn des Monats z. B. der Kühlschrank den Geist aufgibt, vom Regelsatz einen neuen Kühlschrank kau-fen und dann Geld bis zum Ende des Monats beantragen. Weil man ja Geld für Lebensmittel usw. benötigt, ist das Darlehen unabdingbar und unaufschiebbar. Das Jobcenter muss nicht erst prüfen. Bei solchen Anträgen ist es sinnvoll, vorsichtshalber einen Kontoauszug (Kopie) bei zulegen, der belegt, dass das Konto leer ist.

Karikatur: OL

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»Made in Germany«erscheint am 11. November 2013

strassenfeger | Nr. 22 | Oktober / November 201330 | AUS DER REDAKTION K o l u m n e

Karikatur: Andreas Prüstel

Aus meiner SchnupftabakdoseK O L U M N E : K p t n G r a u b ä r

Und wenn Frau Merkel auch noch so oft wiederholt, dass es uns gut geht, wenn noch so viele Leute im Ausland meinen, gute Gründe für einen nei-dischen Blick auf Deutschland zu haben, die Ar-mut in Deutschland ist unübersehbar. Wo ist ein

anderes Land, dessen Hauptstadt von sich sagen kann: »arm, aber sexy«? Besonders die Altersarmut erfasst immer weitere Teile der Bevölkerung. Menschen, die ein Leben lang einer ehr-lichen Arbeit nachgegangen sind, können sich ihre Wohnung nicht mehr leisten; um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, müssen sie Minijobs annehmen, die ihre karge Rente aufbes-sern. Wer nicht das Glück hat, eine solche Nebeneinkunft zu ergattern, sammelt bei Wind und Wetter Pfandfl aschen, um sich auch mal eine Kinokarte leisten zu können.

Da lohnt es, auf einen besonders bemerkenswerten Fall auf-merksam zu machen. Es geht um das Schicksal von Kurt Beck. Der hat viele Jahre als Ministerpräsident dem Land Rheinland-Pfalz gedient und wurde vor allem bekannt, weil er sich rührend um das Los von Hartz-IV-Empfängern küm-merte. Dabei hat er sich so sehr aufgerieben, dass er Anfang dieses Jahres, noch vor Erreichen des Rentenalters, diesen Job aus Gesundheitsgründen aufgeben musste. Es war vorbei mit den Ministerpräsidentenbezügen. Nun musste er mit der schmalen Rente auskommen, die ihm zehn Jahre Berufstätig-keit als Elektromechaniker gewährten. Gottseidank konnte er diese Rente durch Versorgungsbezüge aus seiner Tätigkeit als Landtagsabgeordneter und Ministerpräsident etwas auf-bessern. Der schmerzhafte Einschnitt in seine Lebensführung blieb jedoch.

In solchen Situationen ist es für jeden hilfreich, Freunde zu haben, die einem unter die Arme greifen. Die paar Euro, die Kurt Beck für seine Tätigkeit im Verwaltungsrat des ZDF zu-gesteckt wurden, waren nur eine symbolische Hilfe. Da traf es sich schon besser, dass man ihm die Möglichkeit schuf, trotz sei-

ner angegriffenen Gesundheit die Aufgaben eines Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung zu übernehmen, wofür es auch ein kleines Taschengeld gibt. Auch die Bürger von Rheinland-Pfalz schmerzte die Notsituation ihres ehemaligen Ministerpräsiden-ten. Es ist ein Ausdruck tief empfundener Empathie, dass der Pharma-Konzern Boehringer Ingelheim ihn mit einem Berater-vertrag unterstützt. Da kann er sich jetzt um Thomapyrin (ge-gen Kopfschmerzen), Dulcolax (gegen Verstopfung), Buscopan (gegen Bauchschmerzen) und Pharmaton (zur Steigerung der Leistungsfähigkeit) kümmern. Neben einer Aufwandsentschä-digung überlässt Boehringer ihm sicher diese Medikamente auch kostenlos. Vitamin B braucht er ja nicht.

Wenn es eines Beweises für das Elend in unserem Land bedarf, wird er am Schicksal des Kurt Beck offensichtlich. Es ist ein-fach unwürdig, dass Leute, die ihr Leben lang gearbeitet ha-ben, auf die Almosen anderer und beschämende Jobs angewie-sen sind. Es wird Zeit, dass diese Zustände beendet werden.

Es gibt noch Politiker, die sich unter Hintansetzung ihrer Par-tei für das Wohlbefi nden der Bürger einsetzen. Beispielhaft ist hier der Pankower Stadtrat für Stadtentwicklung Jens-Holger Kirchner. Hatte sich im Bundestagswahlkampf seine Partei Die Grünen noch für einen Veggie-Day stark gemacht, um den Fleischverzehr einzuschränken, sorgt er sich um den Mauer-park und das Grillen in dieser wichtigen Freizeitstätte. Auf keinen Fall, darf der Mauerpark unter die Fuchtel des Bezirk-samts Mitte fallen, so Kirchner, denn das würde sofort das Grillen verbieten, und das wäre eine Katastrophe für die Be-sucher und Freunde dieses Schmuckstücks unter den Berliner Grünanlagen. Deshalb muss der Mauerpark auch nach der Erweiterung mit jedem Quadratmeter unter Pankower Obhut bleiben. Man mag es sich gar nicht ausmalen, wie sonst die Leute da ihre Möhrchen knabbern, Äpfel essen und dann die Stiele achtlos auf den Rasen werfen. Berliner Freizeitkultur sieht anders aus!

Vorschau

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»Made in Germany«erscheint am 11. November 2013

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TYPISCH DEUTSCH: DICHTUNG & WAHRHEIT

WITZIG UND KRITISCH: DEUTSCHE LIEDERMACHER

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V O R S I TZ E N D E Dr. Dan-Christian Ghatt as, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.)

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K A R I K AT U R E N Andreas Prüstel, OL

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