Moment 154: 2010

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Nummer 44 5. November 2010 Hurra! Der Golf von Mexiko hat die Ölkatastrophe überstanden. Jetzt ist endlich alles wieder gut. Versprochen! VON MICHAELA HAAS

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Mit Tolstoi im Ohr auf der Reise nach Russland

Transcript of Moment 154: 2010

  • Nummer 44 5. November 2010

    Hurra! Der Golf von Mexiko hat die lkatastrophe berstanden. Jetzt ist endlich alles wieder gut. Versprochen! Vo n M i c h a e l a h a as

  • 18 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 19

    Zwei Nasen tanken Tolstoi Rechtzeitig zum 100. Todes-tag des Dichters ist Krieg und Frieden als Hrbuch erschienen: 54 CDs, 67 Stunden Laufzeit. Wie soll das zu schaffen sein? Unsere Kollegen haben sich einfach ins Auto gesetzt, den CD-Player angemacht und sind losgefahren, immer Richtung Russland V o n A n d r e As B e r n A r d u n d L A r s r e i c h A r dt

    Vor dem Ver-lagsgebude: Andreas Ber-nard (links) und Lars Reichardt, ausgeruht und frisch rasiert, der Audi frisch gewaschen.

    Autobahn Salz-burg: Die Schlacht kann beginnen!

    Mnchen

  • 20 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 21

    Nikolai Rostows innerer Monolog nach seiner Verwundung entfacht groe Begeisterung im Tolstoi-Auto.

    18.24 Uhr: Tschechien 18.56 Uhr: Polen.

    CD 7, km 846 Wieder Autobahn, Richtung Krakau. Wir passieren die Ausfahrt Oswie-cim: Auschwitz.

    Seit dreiig Kilometern nichts als Baustel-len. Die Vorboten der Fuball-Europameister-schaft 2012 in Polen und der Ukraine.

    Erste Wahrnehmungsstrungen treten auf; die Scheibenwischer, seit Stunden auf der schnellsten Stufe eingestellt, produzieren Technobeats im Hirn. Die Aufmerksamkeit lsst nach.

    Lars: Woher kennt Frst Andrei jetzt noch mal diesen Bilibin?

    Andreas: Welchen Bilibin?Abendessen in Krakau. Lars: in Butter ge-

    dnsteter Knoblauch, dann Hhnchen mit

    Spinat in Knoblauch. Andreas: berbackene Pilze, danach gefllte Piroggen. Jeder zwei Bier. Kennen Sie Tolstoi?, fragen wir die jun-ge Kellnerin. Nie gehrt.

    Der Euro, sagt die Rezeptionistin im Hotel, wird in Polen erst mit Beginn der Europa-meisterschaft angenommen.

    Der polnische Reiseschriftsteller Ryszard Kapuscinski meinte, man knne nie in der Fremde ankommen, wenn man mit zu Hause telefoniere. Wir melden uns jeden Abend.

    CD 8, km 971 Die Landstrae hinter Krakau, wir stehen seit einer halben Stunde. Kurzer Schock: Ist das schon der Grenzstau? 250 Kilometer vor der Ukraine? Gerade als wir diesen Gedanken ernsthaft in Erwgung zie-hen, setzen sich die Autos vor uns wieder in Bewegung.

    An der Tankstelle hlt auch ein Wagen mit deutschem Kennzeichen. Ein Ehepaar auf dem Weg zu den Eltern der Frau in der Nhe von Kiew. Sie kennen die Route. Ihre Tipps

    fr das Verhalten auf ukrainischen Straen: Nachts unter keinen Umstnden anhalten, so verzweifelt auch am Straenrand um Hilfe gewinkt wird. Auerdem: Sklavisch an die Geschwindigkeitsbeschrnkungen halten, an jeder Ecke stehen Polizisten. Von Bestechungs-

    versuchen an der Grenze rt der Mann ab. Bis vor Kurzem sei das reibungslos gegangen, aber jetzt habe er schon hufiger gesehen, dass vorbeifahrende Autos wieder ans Ende der Schlange geschickt werden. Gut zu wissen, danke, schne Fahrt noch.

    CD 9, km 1025 Kriegsvokabular, das wir erler-nen: Suite, das Gefolge des Kaisers oder Feldherrn; Arrieregarde, die Nachhut am Ende der Truppen; Eskadron, die kleinste Kavallerie-Einheit; Ulanen, mit Lanzen be-waffnete Kmpfer der Kavallerie.

    CD 10, km 1105 Siebzig Kilometer vor der Grenze. Der Roman spielt wieder in Moskau. Frst Wasili Kuragin fdelt die Heirat seiner intriganten Tochter Helene mit dem gutm-tigen, nichtsahnenden Pierre ein.

    Auf einmal passiert etwas mit der Land-schaft: In der Slowakei, in Tschechien, durch ganz Polen hindurch hat es keine groen Ver-nderungen gegeben in der sprden Vegetati-on oder im Aussehen der Stdte. Bekanntes Osteuropa. Jetzt aber weitet sich pltzlich al-les; es ist, als htte jemand den Mastab der Landschaft aufgezogen: der Himmel hher, der Horizont weiter. Keine Zune mehr zwi-schen den Grundstcken. Die langsame An-nherung an eine fremde Welt, die man sonst allenfalls nach einem abrupten Schnitt er-reicht, beim Aussteigen aus dem Flugzeug.

    CD 11, km 1200 Das Wechseln der CDs geht immer schneller: Handschuhfach ffnen, lange auf der Auswurftaste des CD-Wechslers bleiben, alte CD in die Box einsortieren, neue CD herausnehmen, Taste Load drcken, auf das Leuchtsignal warten, CD einschie-ben, Startknopf unter dem Navigations-Bild-schirm bedienen. Weiter.

    Zwanzig Kilometer vor der Ukraine. Die Strae ist menschenleer, beruhigend und be-unruhigend zugleich haben wir uns verfah-ren?

    Kommunikationstechnisch ist die Grenze bereits berquert: Die Anzeige auf dem Han-dy verndert sich, ein neues Netz. Deutsche ngste: Wie lange lassen die uns warten, wie viel Schmiergeld mssen wir zahlen? Ukrai-nische Wirklichkeit: eine Viertelstunde, nicht lnger. Die freundlichen Grenzbeamten wol-len nur die Fahrgestellnummern am Motor berprfen. Als wir nicht wissen, wie man bei dem Audi die Motorhaube ffnet, zeigt der Beamte uns den versteckten Griff unter dem Lenkrad. Im Grenzhuschen stempelt eine junge Frau mit frisch geschnittenem Pony und schwarz-wei lackierten Fingerngeln unseren Passierschein. Fertig. Ganz ohne Schmiergeld.

    Eigentlich msste es jetzt eine Stunde sp-ter sein als in Polen, fnf statt vier Uhr nach-mittags, aber die beiden Uhren im Auto, am Tachometer und am Navigationssystem, zei-gen nichts an. Es ist vermutlich nicht vor-gesehen, dass man mit dem Auto durch ver-schiedene Zeitzonen fhrt.

    Die Straenverhltnisse ndern sich nach der Grenze so abrupt wie die Schriftzeichen. Tiefe Furchen durchziehen den Straenbelag, Schlaglcher berall.

    In der Raststtte: polnische Piroggen hei-en in der Ukraine Wareniki. Zwei Portionen mit Krautsalat fr fnf Euro.

    CD 1, km 0 Der Michelin-Routenplaner gibt fr die Strecke Mnchen, Hultschiner Strae Jasnaja Poljana, Tolstois Grabsttte sdlich von Moskau, eine Fahrtzeit von 33 Stunden und 18 Minuten an. Wartezeiten an den Gren-zen nicht eingerechnet. 2544 Kilometer, durch sterreich, die Slowakei, Tschechien, Polen und die Ukraine, davon nur 648 Kilometer Autobahn, wie es auf dem Routenplaner heit, den wir uns in der Redaktion noch aus-gedruckt haben. Es ist Sonntag, 9 Uhr mor-gens. Im Foyer des Verlagshauses begegnen wir dem Sportchef. Was macht ihr denn am Wochenende hier?, fragt er. Mit dem Auto

    nach Russland fahren, Krieg und Frieden hren, Tolstois 100. Todestag. Er schttelt den Kopf und prophezeit: Das Auto klauen sie euch.

    Die Hrbuch-Edition des Romans umfasst 54 CDs, Laufzeit 67 Stunden. Unser Proviant: Wurstbrote, hart gekochte Eier und lange halt-bares Reisfleisch von Lars Frau. Die Wartezeit an der ukrainischen Grenze, warnt das Inter-netforum Mit dem Auto nach Moskau, kann bizarre Ausmae annehmen, zwlf Stunden, 24 Stunden, wenn es schlecht luft.

    Die erste CD wollen wir am Anfang der Salzburger Autobahn einlegen. Das verzgert sich allerdings, denn wir mssen erst die Elek-tronik in unserem hochmodernen Audi A8 allroad quattro bedienen lernen. Zwei Auf-fahrten spter heit es endlich: Sie hren: Krieg und Frieden von Lew Nikolaiewitsch Tolstoi, gelesen von Ulrich Noethen. Erstes Buch. Erster Teil. Erstes Kapitel. Durchatmen. Los gehts!

    CD 2, km 188 Am Attersee im Salzkammer-gut. Auf den ersten beiden CDs, die in Anna Pawlownas Salon in Petersburg spielen, tau-chen bereits alle Hauptfiguren des Romans auf: die Mitglieder der drei Adelsfamilien Bol-konski, Kuragin und Rostow, dazu Pierre, ein plumpgebauter, dicker junger Mann mit Brille und kurz geschorenen Haaren, uneheli-

    cher Sohn des reichen Grafen Besuchow und gerade aus Paris zurckgekehrt.

    Ulrich Noethen, das wird schon nach den ersten Stzen klar, ist ein extrem angenehmer Reisebegleiter. Er liest so markant, dass man dauerhaft konzentriert zuhren kann, und so beilufig, dass er nicht prtentis oder auf- gesetzt wirkt. Dreiig Arbeitstage hat er ge-braucht, um die 67 Stunden Text einzulesen, erzhlte er am Telefon.

    Der Audi gibt einen surrenden Ton von sich, wenn man die Spur wechselt, ohne zu blinken. Bleibt das jetzt so bis Russland?

    Beim Kauf der sterreichischen Autobahn-Vignette fllt uns das Kennzeichen unseres grngrauen Audis auf: IN-TL 578. Wie pas-send, diese Initialen: In Tolstoi Leo, das werden wir in den kommenden Tagen auf jeden Fall sein.

    CD 3, km 347 Regen. Lars: fhrt. Andreas: no-tiert. Lars Sitzheizung: 17,5 Grad. Andreas Sitzheizung: 21,5 Grad. Lars: Kaffee und hart gekochte Eier. Andreas: Mineralwasser und Hanuta von der Tankstelle.

    Pierre und seine Offiziersfreunde trinken Rum. Das Gelage endet damit, dass die jungen Soldaten einen Polizisten Rcken an Rcken mit einem Bren zusammenbinden und in den Fluss werfen, der Br unten, der Revier-vorsteher oben.

    Sdlich an Wien vorbei, Richtung Slo-wakei: die ersten Plattenbauten.

    CD 4, km 516 Pause in der Altstadt von Bra-tislava. Von nun an zeichnen die Speisekarten alle Zutaten in Gramm aus. Andreas: 7 g Es-presso, Lars: 14 g. Bratislava, das muss gesagt werden, ist wesentlich hsslicher als erwartet.

    Der alte Graf Besuchow erleidet seinen siebten Schlaganfall und stirbt. Pierre wird als legitimer Sohn anerkannt und erbt das Ver-mgen, ist pltzlich einer der reichsten Mn-ner Russlands und begehrter Junggeselle.

    Vladimir Nabokov hielt Tolstoi fr den grten Erzhler Russlands, vor Gogol, vor Tschechow, vor Turgenjew. Fr Dostojewski

    aber hatte Nabokov kein gutes Wort brig. Tols-toi sei der wahre Erfinder des inneren Mono-logs, ein halbes Jahrhundert vor James Joyce Ulysses. Tolstoi, sagt Nabokov, haucht seinen Fi-guren so viel Leben ein, dass er ihnen anschlie-end nur mehr beim Handeln zusehen muss.

    CD 5, km 626 Die Autobahn durch die Slo-wakei fhrt ein paar Kilometer sdlich der tschechischen Grenze entlang. Pltzlich taucht die Ausfahrt Brnn auf. Ganz in der Nhe liegt Austerlitz, heute Slavkov u Brna. Die Schlacht bei Austerlitz wird erst ein paar CDs spter beginnen. Schlechtes Timing.

    Kilometer 739, Autobahnende im Osten der Slowakei: Es ist neblig und regnet immer noch, auf den Husern rauchen die Kamine. Das Reisfleisch ist schon fast weg.

    CD 6, km 770 In der Dmmerung beginnt der zweite Teil des Romans, mit dem Kampf um die Brcke ber die Enns. Ein paar russische Offiziere blicken von einer Anhhe herab auf das Geschehen. Alle waren aufgestanden und

    beobachteten gespannt die Bewegungen un-serer Truppen da unten, die wie auf einem Pr-sentierteller zu sehen waren, sowie gegenber die Bewegungen des heranrckenden Feindes. Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es noch den erhabenen Standpunkt auf einer Anhhe, der die Kampfhandlungen in ihrer Ganzheit erfahr-bar macht. Sptestens seit dem Ersten Weltkrieg ist diese Perspektive unmglich geworden, der Kampf durch Bombardierungen aus der Luft oder Giftgaseinsatz abstrakt und fragmentiert. Das hat natrlich Konsequenzen fr die Litera-tur. So wie Kutusow oder Napoleon in Krieg und Frieden immer wieder auf einer Anhhe stehen, tut das auch der Autor Tolstoi. Wenn es heit, dass seit dem frhen 20. Jahrhundert nicht mehr erzhlt werden knne, ist die vern-derte Erfahrung des Krieges vielleicht die an-schaulichste Besttigung dieser Hypothese.

    Ein paar Schritte am Rastplatz. Gleich gehts weiter.

    Krakau

    Wien

    Alle vernnftigen Reisen gleichen einander. Jede unvernnftige Reise ist auf ihre eigene Art unvernnftig. (Nach Leo Tolstoi)

    >>>Fotos S

    eite 19: Bernd

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    : Kaja Pa

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    Die Brcke in Enns, Ort der ersten Schlacht im Roman.

    Linz

    Bratislava

    Entlang der slowakisch-tschechischen Grenze: In der Nhe liegt Austerlitz.

    Brnn

  • 22 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 23

    Die einfachen Kleider der Menschen, die landwirtschaftlichen Gerte nhern sich der Erzhlzeit des Romans an. Die 200 Jahre da-zwischen schrumpfen; wir hren nicht nur vom frhen 19. Jahrhundert, wir sehen es jetzt auch: Schafhirten mit kantigen Physiog-nomien; auf der Strae, immerhin die Haupt-achse zwischen Polen und Kiew, genauso viele Pferdefuhrwerke wie Autos; die Feldar-beit ohne Maschinen. Die Gegend ist voll-kommen fremd, man wundert sich fast, dass der Teer an einer Baustelle genauso riecht wie bei uns.

    bernachtung im schnen Jugendstilhotel George in Lviv, dem ehemaligen Lemberg. Kennen Sie Tolstoi?, fragen wir die Deutsch sprechende junge Frau an der Rezeption. Na-trlich. Krieg und Frieden muss bei uns jeder Schler mit 16 lesen.

    CD 12, km 1302 Lars hat von einem Feldlager getrumt, Andreas vom Kreisverkehr.

    Der Liter Diesel kostet 650 Griwna, etwa 65 Cent.

    CD 13, km 1396 Eine Stunde hinter Lemberg. Wir passieren Brody, den Geburtsort Joseph Roths. Die Stadt war vor 1933, wie die meisten Orte in dieser Gegend, zu einem berwie-genden Teil von Juden bewohnt. Aber wir sprechen bei der Fahrt durch Galizien nicht ber den Holocaust, obwohl er in keiner an-deren Region Europas so viele Opfer forderte wie hier. Zu viele Zeitebenen berlagern diese Jahre: die Romanhandlung um 1810, der Tod Tolstois 1910, unsere Reise 2010.

    An den Baustellen immer wieder einspu-rige Abschnitte auf der Schnellstrae; der Ver-kehr wird durch Ampeln oder winkende Bau-arbeiter geregelt. Die Autos geben aber nichts

    auf diese Wartesignale und fahren einfach in die Baustelle hinein. In der Mitte, wo sich der Verkehr aus beiden Richtungen trifft, gibt es immer wieder Tumulte.

    CD 14, km 1474 Lars verschlft auf dem Bei-fahrersitz die russische Niederlage bei Aus-terlitz.

    Nach mehr als 1500 Kilometern die ersten Fehler Noethens: Er betont den Namen eines Offiziers, Denisow, manchmal auf der ersten, manchmal auf der zweiten Silbe. Mensch, Uli!

    Schon die vierte Geschwindigkeitskontrol-le. Doch wir beherzigen weitgehend den Rat-schlag unseres Landsmanns. Jetzt erst bemer-ken wir die Warnungen entgegenkommender Autos, die zuverlssig vor jeder Radarfalle aufblenden.

    CD 15, km 1599 Pierre duelliert sich in Mos-kau mit dem Offizier Dolochow, der eine Affre mit seiner Frau gehabt hat. Behauptet

    zumindest Andreas. Nein, sagt Lars, Pierre glaubt nur, Helene habe ihn betrogen. Noch mal anhren? Nein, keine Zeit. Frst Andrei kehrt derweil aus dem Krieg zurck, gerade rechtzeitig zur Geburt seines Sohnes Nikolai, doch seine Frau stirbt bei der Entbindung.

    Pause: die erste Hocktoilette, an einer Tank-stelle 200 Kilometer vor Kiew. Ein verrostetes, schmutziges Loch im Blechboden.

    Auf der Strae wird alles in Eimern und an kleinen Stnden verkauft: Pilze, Obst, Krbisse, eingelegtes Gemse, Schnaps, Pelze, Besen, Schuhe, Plschbren.

    CD 16, km 1712 Tiere, die wir in der letzten Stunde auf der Strae gesehen haben: Hh-ner, Hunde, Khe, Pferde, Maulesel (lebend); Huhn, Hase, Katze, Fuchs (berfahren).

    Pierre wird Freimaurer. Endlose Tagebuch-eintrge eines frisch Bekehrten. Wir hren, ehrlich gesagt, im Moment nicht zu. Stattdes-sen der Versuch, die ganzen Billboard-Plakate

    am Straenrand zu entziffern. Ein Scorpions-Poster, wie nicht anders zu erwarten; Vitali Klitschko kandidiert offenbar noch mal als Brgermeister von Kiew. Aber noch keine Werbung fr die EM 2012.

    Radarkontrollen Nummer sieben und acht. In der Abendsonne taucht die Skyline der Millionenstadt vor uns auf.

    CD 17, km 1835 Kiew: Im Sinn hatten wir stalinistische Groarchitektur, Aufmarsch-pltze, Boulevards. Jetzt sitzen wir in einem riesigen Park, einer Art Englischer Garten par-allel zur Hauptstrae, mit Blick auf grandiose Jugendstilbauten. Es hat noch ber zwanzig Grad, knapp zehn mehr als in Berlin. Wieder mal wird klar, wie unsere westlichen Vorstel-lungen von sowjetischen Grostdten gelenkt worden sind. Wir essen Borschtsch, Kraut- wickel und gefllte Wareniki im Freien. Dan-ke, lieber Tolstoi!

    bernachtung in einem sozialistischen Bunker. Der Parkplatz ist beinahe so teuer wie das Einzelzimmer im Hotel Lybid, laut Wer-bung im Fahrstuhl Hotel for business and leasure. Leasure das sind wohl die Prostitu-

    ierten in der Hotelbar. Frhstck um sieben Uhr im bereits berfllten Hotelrestaurant, Kaffee aus Suppentassen und dieses gute Hefe-Mohn-Gebck, das es anscheinend nur in der Ukraine gibt.

    Frst Bagration war einer jener Mnner, die : So langsam fallen einem die wieder-kehrenden Versatzstcke im Erzhlstil Tolstois auf. Dieser Sprung vom Besonderen der ein-zelnen Figur ins Allgemeine eines Typus, einer Nation, einer Mentalitt, immer eingeleitet mit dem Wort jener. Wie lange konnte man so erzhlen, ohne dass es schematisch und plump wurde? In Krieg und Frieden, geschrie-ben in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhun-derts, wirkt alles noch wie aus einem Guss, als wrde sich das Leben selbst beschreiben.

    Lars: Ich bin aber wirklich froh, endlich mal Krieg und Frieden zu lesen. Ich habe mich ja fast geschmt, das Buch nicht zu kennen.

    Andreas: Was heit hier lesen?

    Lars: Aber die mndliche berlieferung, das Erzhlen stand ja am Anfang der Literatur. Wir kehren mit unserem Hrbuch also zu den Ursprngen zurck.

    Andreas: Was soll man da noch sagen?Pierre und der genesene, aber weltabge-

    wandte Andrei haben sich seit zwei Jahren nicht gesehen. Jetzt treffen sie einander wie-der. Wo genau noch mal? Das haben wir leider verpasst, wegen unserer kleinen Roman vs. Hrbuch-Debatte. Ah, genau, jetzt wirds er-whnt: auf dem Landgut Andreis. Lars: Kein Wunder, Pierre heit ja auch mit Nachnamen Besuchow.

    Andreas: fhrt. Lars: notiert. Andreas: Heizung 23,5 Grad. Lars: Heizung 16,5 Grad. Unsere bevorzugten Temperaturen weichen strker voneinander ab. Sonst ist es aber ber-raschend angenehm, tagelang von frh bis spt zusammen durch die Gegend zu fahren und Tolstoi zu hren. Wir knnen einfach noch nie war dieser Satz so wahr ziemlich gut miteinander schweigen.

    Tschernobyl liegt nur fnfzig Kilometer entfernt, ein Stck nordwestlich. Am Stra-enrand werden hier ausnahmsweise keine Pilze verkauft.

    CD 18, km 1886 Radarkontrollen Nummer zehn und elf.

    Altertmliche Wrter, die Tolstoi uns in Erinnerung ruft: Ridikl, Posamentierwa-ren, allerliebst. Das Wort Ingrimm mag Tolstoi besonders gern. Andreas auch. Lars bedauert es dagegen, dass Noethen nicht die neue Hanser-bersetzung von Krieg und Frie-den spricht.

    Jetzt ist es passiert. Die zwlfte Radarkont-rolle wird uns zum Verhngnis. Kein Auto auf der Gegenfahrbahn, das uns htte warnen knnen. Der Polizist winkt uns heraus, geht auf Lars zu, der inzwischen wieder am Steuer sitzt, lsst sich Pass und Fahrzeugschein geben. Oliver, sagt er, nach dem zweiten Vornamen im Pass, Lars ist vielleicht zu schwierig aus-zusprechen, Oliver: Straf! Er will dreiig Euro, Lars handelt ihn auf zwanzig runter. Natrlich ohne Quittung. Aber der Polizist war nicht unangenehm.

    CD 19, km 2012 200 Kilometer vor der rus-sischen Grenze. Frst Andrei entscheidet sich, sein Einsiedlerdasein aufzugeben: Nein, das Leben ist noch nicht abgeschlossen, wenn man 31 Jahre alt ist. Du meine Gte.

    Andreas fhrt 150 auf der leeren Schnell-strae. Ein entgegenkommender Polizei-wagen wendet quietschend wie im Kino; wir halten auf dem Seitenstreifen und erwarten das Schlimmste: ein paar hundert Euro Geld-strafe? Fhrerscheinentzug? Gefngnis? Die grimmig schauenden Polizisten haben Radar-messer und Digitalkamera dabei: 143 km/h, erlaubt wren neunzig. Mit 55 Euro, ohne Quittung, sind sie zufrieden. Erleichterung. Kann man Schmiergeld eigentlich als Spesen absetzen?

    CD 20, km 2147 Es geht immer noch ber Pierres neues Freimaurerleben. Weiterhin unkonzentriertes Zuhren, nur ein schner Satz bleibt in Erinnerung: Er liebte es, gut zu dinieren und stark zu trinken.

    Radarkontrollen Nummer 13 und 14, jetzt sind wir leider ein bisschen panisch, bremsen fortan bei jedem Fahrzeug, das ein paar Hun-dert Meter vor uns am Wegesrand steht. Es sind nur Pilzsammler.

    CD 21, km 2216 An der Grenze: nur 17 Autos vor uns. Alle fnf Minuten rcken wir ein paar Meter vor. Ein freundlicher rothaariger Beamter nimmt die Psse zu sich, steckt den Kopf durchs Fenster. Andreas? Ja. Oliver? Ja. Lars scheint wirklich ein schwieriges Wort zu sein. Als wir auf Platz elf vorgerckt sind, kommt ein anderer Grenzer auf uns zu, mustert unser Auto lange. Deutschland?, fragt er. Yes. Want it quick? Maybe. What should we do? Er geht wieder fort, als ein Vorgesetzter kommt, und verschwin-det in den weitlufigen Zollbaracken seitlich der Warteschlange. Nichts geschieht.

    Helenes Krper hatten die vielen tausend Blicke, die bereits ber ihn hingeglitten wa-ren, sozusagen schon mit einem Lack ber-zogen; Natascha dagegen sah aus wie ein

    Mdchen, das man zum ersten Mal entblt hat. Tolstoi, der Vollprofi.

    Nach einer Stunde sind wir an der Reihe, bekommen unsere Ausweise zurck. Keine weiteren Kontrollen. Der Beamte legt beim Abschied die Hand an die Schirmmtze und sagt: Good Luck. Auf der russischen Seite brauchen wir ebenfalls nur eine Stunde, fast ausschlielich, um die Transitpapiere fr das Auto richtig auszufllen, Typ, Baujahr, Karos-serienummer. Alles verluft vollkommen un-kompliziert.

    Es ist noch eine Stunde spter jetzt, halb fnf nachmittags, in Deutschland ist es erst halb drei.

    Das Surren beim Spurwechseln hat aufge-hrt. An der ukrainisch-russischen Grenze endet die Zivilisation, zumindest fr die Com-putertechnik eines deutschen Autos.

    CD 22, km 2264 Wir haben ein Zeitproblem. Unser Ziel war: Richtung Osten, bis an Tols-tois Grab in Jasnaja Poljana, 200 Kilometer sdlich von Moskau. Nie htten wir gedacht, dass wir so reibungslos durchkommen und nach der knappen Hlfte der CDs schon ein paar hundert Kilometer vor dem Ziel stehen. Was wir auf jeden Fall noch machen werden, ist, weiter nach Moskau zu fahren, dort steht das staatliche Tolstoi-Museum, bei dem wir uns angekndigt haben. Das muss man sich vorstellen: Man fhrt von Mnchen mit dem Auto nach Russland und schafft nicht mal die Hlfte von Krieg und Frieden!

    Jetzt macht uns aber erst mal unser Navi-gationssystem Sorgen. Es kennt die schne neue Strae nicht, auf der wir in Richtung Orel fahren. Die Autobahnschilder zeigen die

    richtigen Orte an. Aber der blaue Pfeil auf dem Display weist mit der Spitze fast drohend zu uns. Verkehrte Richtung. Off Road. Im Auto existieren zwei grundstzlich unter-schiedliche Meinungen zum Navigations- gert. Lars, fortschrittlich, findet, das Gert hat immer recht. Also umdrehen. Andreas, ro-mantisch, sagt, laut Landkarte und Autobahn-schildern sind wir richtig, also weiter. Andreas

    An der ukrainischen Grenze: Wie ffnet man die Motorhaube unseres Audi?

    BrodyLviv

    Das Fugnger-Mnnchen sieht aus, als wrde es ber glhende Kohlen laufen.

    In der Ukraine heien die Piroggen Wareniki.

    Unter dem Beifahrer-sitz: Spuren im Tolstoi-Auto an Tag drei.

    Zitomir

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    sitzt am Steuer und setzt sich durch. Dann geschieht das Herrliche: Das Gert erkennt die Strae pltzlich wieder, Neuberechnung folgt, und innerhalb von Sekunden wird die voraussichtliche Ankunftszeit um eineinhalb Stunden nach vorn korrigiert.

    Von Zeit zu Zeit kommen wir an halb ver-fallenen Wartehuschen vorbei, ohne Bnke, ohne Fahrplne. Unmglich, sich vorzustel-len, dass jemals ein Bus hier anhalten knnte. Dennoch sehen wir immer wieder Passanten darin stehen.

    CD 23, km 2385 So langsam nhern wir uns dem Autofahr-Nirwana. Seit zehneinhalb Stunden unterwegs, und seit dem Frhstck in Kiew um sieben haben wir nichts mehr gegessen. Vorhin war die Strae in einem der-art schlechten Zustand, dass wir Orel unbe-dingt noch im Hellen erreichen wollten. Die Geburtsstadt von Turgenjew, Tolstois gutem Freund, ist eine merkwrdig schlauchartige Stadt. Wir suchen erst mal lang nach einem Geldautomaten. Essen gehen dauert zu lang, wenn wir heute noch in Jasnaja Poljana an-kommen wollen. Wir landen in einem Le-bensmittelladen, wie es ihn in Deutschland vielleicht in den Zwanzigerjahren gegeben hat: die Ware vollstndig hinter Theken, in Schrnken und Vitrinen, in jeder Abteilung eine eigene Verkuferin mit Registrierkasse. Mit Brot, Wrsten, Paprikaschoten, pfeln wieder auf die Schnellstrae.

    CD 24, km 2443 Nikolai Rostow, in seiner Kutsche: Wir fahren ja Gott wei wo, und Gott wei, was mit uns vorgeht aber das, was mit uns vorgeht, ist sehr seltsam und schn. Wahre Worte.

    Die Spritzflssigkeit des Scheibenwischers riecht nach Wodka.

    CD 25, km 2522 Zehn Uhr abends. Wir er-reichen Tula und wollen endlich gut dinie- ren und stark trinken. Laut Routenplaner liegt der Ort ganz in der Nhe. Ein Schild an einer Waldeinfahrt. Fernlicht an, stockende Lesever-

    suche. Das knnte es sein, Jasnaja Poljana, Tolstois Landgut, das auch ein Hotel beher-bergen soll. Auf der Waldstrae kommen wir an vielen dunklen Gebuden vorbei, an einem groen aber sehen wir ein paar beleuchtete Fenster. Wir stellen das Auto ab, nach 14 Stun-den Fahrt. Ist das wirklich das Hotel? Wir klopfen an der Tr; nach einiger Zeit kom-men zwei ltere Frauen im Kittel heraus. Good evening. Tolstoi-Hotel? No, Tolstoi-Hospital! Ein kahl rasierter junger Mann taucht an der Trschwelle auf, mit halb ver-faulten Zhnen und wirrem Blick. Er kreuzt die Zeigefinger und ruft: Antichrist! Anti-christ! Meint er uns? Oder Tolstoi? Leichtes Unbehagen. Eine der Frauen versteht uns end-lich und weist uns den Weg zum Hotel.

    Am nchsten Vormittag stehen wir vor Tolstois Grab, einem einfachen Hgel inmit-ten der Waldwege von Jasnaja Poljana. Viele Schulklassen sind unterwegs. Rund um das Grab wird auf Schildern um Ruhe gebe- ten, was die Schler frhlich ignorieren. Die warme Herbstsonne scheint, aber an dem schmucklosen Grab des groen Schriftstel-lers zu stehen ist kein besonders erhebender Augenblick fr uns.

    Tolstoi kam 1856 aus dem Krimkrieg zu-rck auf das Landgut seiner Familie; mit sei-ner Ehefrau und den Kindern lebte er dort bis zum Oktober 1910. Er wurde Prediger, ein mittelmiger, wie Nabokov meint, grndete eine Schule fr die Bauernkinder. Vier Wo-chen vor seinem Tod verlie er schlielich seine Familie, weil er das luxurise Leben auf dem Gut nicht mehr ertrug, und starb auf der Wanderschaft, in einem Bahnhofshuschen in Astapowo bei Lipezk, 300 Kilometer sdst-lich von hier.

    Rundgang im Wohnhaus, vor uns eine Schulklasse: Alle mssen klobige berschuhe

    zum Schutz des Parketts tragen, was bei den hochhackigen Stiefeln der meisten Schle-rinnen sehr komisch aussieht. Ein Fern-

    sehteam aus Japan filmt, fr den Nachmittag haben sich die Spirit Wrestlers angesagt, eine christliche Sekte aus Kanada, die sich auf die Lehren des Predigers Tolstoi beruft. Ihre Grnder verlieen Russland nach der Okto-berrevolution.

    Kurzes Treffen mit Tolstois Ururenkel Wla-dimir, der Jasnaja Poljana verwaltet, ein freund-licher, knapp 50-jhriger Mann, der in einem grandios unaufgerumten Bro auf dem Land-sitz arbeitet. Scheinbar alle auf der Welt er-scheinenden Publikationen zum Werk seines Ururgrovaters trmen sich auf den Tischen des Bros. Tolstoi, erzhlt er, habe schon zu Lebzeiten auf smtliche Tantiemen an seinen Bchern verzichtet. Putin sei nur einmal am Grab gewesen, als Privatmann mit seinen Kindern. Im Bro des aktuellen Prsidenten, Dmitri Medwedew, berlege man, ein Gru-wort zu verfassen fr eine geplante Konferenz zum Todestag am 20. November.

    Im Souvenirshop erstehen wir Khlschrank-magneten mit dem Portrt des alten Tolstoi, dann geht es weiter Richtung Moskau.

    CD 26, 2613 km Anatol Kuragin, die unsym-pathischste Figur des Romans, taucht wieder einmal auf. In der Theaterloge kommt er Natascha Rostowa nher, die inzwischen mit Frst Andrei verlobt ist.

    Wir fahren durch das Gebiet, in dem im Sommer die Waldbrnde ausbrachen, entde-cken aber keinerlei Spuren mehr.

    Zum ersten Mal seit Krakau wieder Auto-bahn. Ein schwarzer Hummer mit Moskauer Kennzeichen fhrt dicht auf, der Beifahrer hlt uns den ausgestreckten Mittelfinger aus dem Fenster, weil wir nicht schnell genug Platz gemacht haben.

    CD 27, km 2713 Anatol und Natascha be-schlieen, in der Nacht vor Andreis Rckkehr gemeinsam durchzubrennen. Der Plan schei-tert. Natascha bricht zusammen. Pierre sucht Natascha auf, will zwischen ihr und Andrei

    Wo verstecken sich die Polizisten blo?

    Kiew

    Andreas isst Pilze in Krakau, Pilze verfolgen die beiden Autoren bis nach Moskau.

  • 26 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 27

    Gebunden, 240 Seiten, 18,99 Euro [D]

    Odysseus oder Die Kunst des Irrens Worum geht es? Um den Unsinn eines Lebens, in dem wir immer nur funktionieren mssen. Um unsere ewige Zukunftsangst, die uns Sicherheit als hchstes Ziel vorgaukelt. Dabei ist fr Rebekka Reinhard klar: Irren ist kein Unglck, sondern eine Kunst. Dazu gibt sie eine literarisch-philosophische Anleitung und belegt, dass viele Errungenschaften der Menschheit erst dank der Umwege mglich wurden.

    Wer ist die Autorin? Dr. Rebekka Reinhard arbeitet als philosophische Beraterin in Mnchen.

    Der wichtigste Satz? Ein gutes Leben haben wir nicht dann, wenn wir es uns herbeisehnen, sondern wenn wir uns aufmachen zu entdecken, worin es besteht.

    Fr wen? Fr alle, die Lust haben, sich auf Fremdes einzulassen und sich selbst besser kennenzulernen.

    Nach der Lektre? Einmal in Ruhe eine weie Wand anstarren und sich fragen, warum man eigentlich das tut, was man tut.

    Leseprobe unter: www.ludwig-verlag.de/rebekka_reinhard

    FNF FRAGEN AN

    DAS BUCH DER WOCHE

    vermitteln. Doch im Gesprch mit ihr kann auch er seine lang unterdrckte Liebe zu Natascha nicht mehr verber-gen. Wre ich nicht der, der ich bin, sondern der schnste, klgste, beste Mensch auf der Welt, und wre ich da-bei frei, dann wrde ich in diesem Au-genblick auf den Knien um Ihre Hand und um Ihre Liebe werben.

    CD 28, km 2804 Auf der Brcke neben dem Kreml eine Stunde Stau. Lars: Was fr ein Glck, jetzt ein Hrbuch dabei zu haben!

    CD 29, km 2820 Immer noch auf der Brcke; lange geschichtstheoretische Passagen ber die Philosophie des Krieges.

    Im Golden Apple am Puschkin-platz. Neben der Minibar liegt eine Schachtel Kondome. Die Lage des Ho-tels ist groartig. Und der Bodyguard verspricht, ein Auge auf unser Auto vor der Tr zu werfen.

    Wir hren im Hotelzimmer auf dem Notebook weiter, um Strecke zu machen. Ein befremdliches Gefhl nach fnf Tagen auf der Strae: Noethens Stimme und dem Gang der Geschichte zu folgen, ohne selbst im Auto zu sitzen. Bislang gab es ja diese schne bereinstimmung zweier Bewegungen: die der Roman-handlung und die unserer Reise. Jetzt,

    auf dem Hotelbett, das Gefhl, als wrde irgendetwas in uns festgehalten werden, ein irritierendes Ungleichgewicht.

    Vom Kaiser am Ohr gezogen zu werden, galt am franzsischen Hof fr die grte Ehre und Gnade.

    Jetzt hat Noethen eine schlechte Idee: Den General von Pfuel, den ersten Preuen, der im Roman lngere Stze redet, spricht er tatschlich ein bisschen wie Hitler.

    CD 30 und 31, km 2820. Lysyje-Gory, das Landgut der Bolkonskis, droht von den Franzosen besetzt zu werden, in Vorbereitung der groen Schlacht von Borodino. Es ist vom Tod des alten Frs-ten Bolkonski die Rede. Haben wir da was verpasst? Der ist doch noch gar nicht gestorben? Oh, falsche CD im Notebook, Nr. 34 statt Nr. 30. Hat gut zwanzig Mi-nuten gedauert, bis wir den Irrtum be-merkt haben. Weiter mit CD 30.

    Im Tolstoi-Museum. Dascha, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, zeigt uns zuerst das Wohnhaus des Dichters, in dem er zwischen 1881 und 1901 die Wintermonate verbrachte. Tolstoi wur-de noch in seinen Sechzigern Vege- tarier und erlernte eher notdrftig das Schuhmacherhandwerk. Der Vize-direktor ldt uns nach der Fhrung zu Tee und Keksen ein. Auf unsere Frage in die Runde, ob das Buch fr die fh-renden Politiker Russlands heute eine Bedeutung habe, sagt eine Historikerin den schnen Satz: Our political lea-ders are too young to think of death.

    Im Hotelzimmer hren wir abends weiter, trinken Heineken und Russian Standard aus der Minibar. Unser leicht alkoholisierter Zustand lst lange auf-gestaute Aggressionen gegen den allzu wuchernden Stil in den theoretischen Passagen aus.

    Lars: Aufhren! Andreas: Hatte der denn keinen Lektor? Lars: Die letzten Seiten htte man komplett streichen knnen.

    CD 32 und 33, km 2840 Immer noch im Hotel. Nach ber vierzig Stunden Krieg und Frieden haben wir ein feines Gespr fr den Klang von Ulrich Noe-thens Stimme entwickelt. Wir knnen jetzt, ohne die verbleibende Laufzeit auf dem Display zu sehen, immer ge-nau sagen, wann eine CD zu Ende geht. Zehn, zwlf Sekunden vor dem letzten Wort wissen wir es schon. Noethen

    Ukraine: Wlder und Radarkontrollen.

    Borzna

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    dimmt dann ein klein wenig herunter, lsst das Erzhlte ausklingen.

    Alles luft nun auf die groe Schlacht zwi-schen den Franzosen und Russen bei Boro-dino hin, 120 Kilometer westlich von Moskau. Am 7. September 1812 fielen dort 50 000 rus-sische und 30 000 franzsische Soldaten. Wir hatten beide, das mssen wir zugeben, noch nie von dieser Schlacht gehrt. Und das ist ja auch das Angenehme an dem Roman: Er ist neben allem anderen auch ein exzellenter Geschichtskurs.

    Der alte Frst Bolkonski wird ernstlich krank. Wir wissen ja schon, wie das endet, von der versehentlich eingelegten CD 34.

    CD 34, km 2840 Samstag Frh, Abfahrt Richtung Borodino. Tanken an der Ausfall-strae: tatschlich erst zum vierten Mal seit Mnchen.

    Neben der Schnellstrae ein Schiestand. Der scheppernde Klang der Patronen. Es ist Samstag, die Moskauer Brger gehen ihren

    verschiedenen Hobbys im Grnen nach. Stau, seit zwei Stunden: Alle sind wahrscheinlich auf dem Weg zu ihren Datschen.

    Unsere Route befindet sich nun in vl-liger bereinstimmung mit der Roman-handlung. Auch Pierre ist, wie wir, gerade auf der Strae nach Smolensk unterwegs, Richtung Moschaisk und Borodino. Perfektes Timing, endlich.

    CD 35, km 2874 Pierre reist als schaulustiger Tourist nach Borodino, mit weiem Hut. Mit dem Pferd ist er schneller als wir 198 Jahre spter in unserem Auto.

    Groer Tolstoi: Viele Geschichtsschrei-ber sagen, die Franzosen htten die Schlacht bei Borodino deshalb nicht gewonnen, weil Napoleon den Schnupfen gehabt habe.

    Kurz bevor die Schlacht im Roman be-ginnt, erreichen wir das kleine Museum von

    Borodino. lgemlde, alte Uniformen und Kanonen, eine eindrucksvolle Miniaturnach-bildung des Schlachtfeldes, auf dem die bruta-le Offenheit und Unmittelbarkeit des Kampfes anschaulich wird. Drauen, auf einem Hgel ber den Feldern, ein groes Denkmal.

    Wir sind jetzt seit sechs Tagen unterwegs, knapp 3000 Kilometer gefahren. Uns fehlen noch 18 CDs, genau ein Drittel des Romans. Krieg und Frieden ist einfach zu lang fr eine Autofahrt nach Moskau. Wir schlieen unser Logbuch auf den weiten Feldern von Boro-dino und ziehen uns mit Napoleons Armee nach Westen zurck.

    Der Rckweg nach Mnchen, ber Lettland, Litauen, Warschau und Berlin, dauert zwei

    lange Tage, jeweils 15, 16 Stunden im Auto. Die Schlacht von Borodino hat keinen Sieger gefunden; Kutusow zieht seine Truppen hin-ter Moskau zurck, was ihm die Historiker als Fehler angekreidet haben, Tolstoi aber in einem eineinhalb CDs whrenden Pldoyer als gelungenen Schachzug wertet. Napoleons Truppen besetzen die Stadt.

    Am nchsten Morgen, in Litauen, dem neunten Land auf unserer Reise. Moskau brennt; wir fahren durch das liebliche Masu-ren, voller Seen und gelb gestrichener Holz-huschen. Wieder mal endlose Geschichtsphi-losophie. Kurz vor Wilna zieht der Roman-schriftsteller Tolstoi aber das Tempo noch einmal an. Pierres Gefangenschaft in Moskau, die Exekution einiger Brandstifter. Unfassbar eindringliche Minuten. Pierre wird in letzter Sekunde begnadigt und trifft in der weiteren Gefangenschaft auf eine noch unbekannte Fi-gur des Romans, die rhrendste von allen, den alten Platon Karatajew. Wir erinnern uns an das, was Dascha ber Tolstoi gesagt hat, ber sein Erlernen des Schuhmacherhandwerks, ber das Ideal des einfachen, komplett selbst-bestimmten Lebens. Platon Karatajew ist viel-leicht die spt auftauchende Identifikations-

    figur des Autors. Er nht Schuhe fr Pierre. Spter wird er von den Franzosen erschossen.

    Auch Andrei stirbt, bei Kilometer 3932. Seine letzten Tage und Stunden verliefen in der gewhnlichen, natrlichen Weise. Wir: den Trnen nahe. Napoleons Truppen lsen sich auf dem Rckweg auf. Pierre bekennt

    endgltig seine Liebe zu Natascha. Krieg und Frieden.

    Auf der 52. CD, gegen zehn Uhr abends zwischen Warschau und Posen, findet der Roman sein Ende, und der Epilog beginnt. Noethen tnzelt durch die Schlusskapitel.

    Unsere letzte Nacht, ein Hotel in Posen. Unbekannte Tankstellenketten, die wir auf

    dem Weg passiert haben: Lukoil, Slovnaft (Slowakei), Orlen, Tarpal, Petro Tar, Grosar, Auto-Wit, Huzar, Baran, iT (Polen), WOG, GFC, Petrol, Okko, Best Stop, MHK, Avan- tage 7, Besta, Nafta, CB (Ukraine), Oka Petrol, TATNEFF, OPTK, aris (Russland), Livena Neste, abromika, Melkasta (Litauen).

    Unsere Handynetze: O2 SK (Slowakei), T-Mobile CZ (Tschechien), Orange PL, era, 260 06, Plus (Polen), UA KYIVSTAR, life:), UA UMC, Marshal (Ukraine), Beeline, Maga Fon, MTS-RUS (Russland), LV Tele2, LV LMT GSU Lettland), LT BITE GSU, Omnitel (Litauen).

    Frhmorgens auf der polnischen Landstra-e, die 54. CD. Bei Kilometer 4780, in einem Ort namens Willsowo, die letzten Stze: Der jetzt 15-jhrige Nikolenka Bolkonski trauert um Frst Andrei, seinen Vater. Wir auch.

    Aus. Geschafft. Ungewohnt, die Stille im Auto.

    Andr eAs B e r nArd , 41, und L Ar s r e i chArdt , 47, Zimmerkollegen in der Redaktion des SZ-Magazins, kn-nen die Erfahrung einer gemeinsamen Autofahrt ber 5500 Kilometer empfeh-len. Die Autoren freuen sich schon auf die Hrbuch-Version von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

    Tolstoi und wir: am Grab des Dichters.

    Im staatlichen Tolstoi-Museum in Moskau.

    Fotos: Pov

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    In Russland isst man am besten georgisch.

    Orel

    Jasnaja Poljana