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Und weil sie nicht gestorben sind Nummer 36 7. September 2012 Grimms Kinder- und Hausmärchen werden 200 Jahre alt – sie verzaubern uns noch heute. Ein sagenhaftes Modeheft

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Es war einmal: Der Fotograf Tim Barber inszeniert eine Modestrecke in einem Märchenwald südlich von München. Und verursacht Grimm.

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  • Und weil sie nicht gestorben sind

    Nummer 36 7. September 2012

    Grimms Kinder- und Hausmrchen werden 200 Jahre alt sie verzaubern uns noch heute. Ein sagenhaftes Modeheft

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    DER STOFF, AUS DEM

    DIE MARCHEN SIND

    Vom ROTKPPCHEN bis zum goldenen Pantoffel, die Grimms erzhlen gern von Kleidung und die Mode liebt die Symbolik ihrer Geschichten. Aber passt deren

    strenge Moral wirklich in die Welt des modernen Designs?VO N A N D R E A S B E R N A R D | F O TO : T I M B A R B E R

    Sich schn herausputzen soll

    ins Verderben fhren? Erzhl

    doch keine Mrchen!Bluse und Rock: Dries Van Noten; Armband mit Schleife: Miu Miu; Armband und Kette: Shourouk ber mytheresa.com; Kopfschmuck: Vintage.

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    Die Vitalitt ihrer Helden haben die Brder Grimm selbst vorausgeahnt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute lautet die berhmte Schlussformel vieler Geschichten, und 200 Jahre nach dem ersten Erscheinen der Kinder- und Hausmrchen wird diese Prognose in der Welt der Mode eindrucks-voll besttigt. Die Kollektionen und Laufstege sind im Jahr 2012 randvoll mit Bezgen zu den einschl-gigen Figuren. Die Vorliebe fr rote Kleider bei Film-premieren wird von den Modeblogs als Rotkpp-chen-Boom registriert; seit den beiden Schneewitt-chen-Verfilmungen dieses Jahres tragen Hollywoods Jungschauspielerinnen gerne schwarz gefrbten Bubikopf. Zu den hochaktuellen Frisurentrends,

    schrieb ein Jugendmagazin gerade, gehrt auf jeden Fall der Cinderella-Look, und eine Modeklasse der Berliner Universitt der Knste prsentierte ihre Entwrfe diesen Sommer unter dem Motto Once Upon a Time.

    Die sthetik der Mrchen liefert der Mode also eine ihrer stabilsten Folien und das ist deshalb so erstaunlich, weil eine zentrale Botschaft der von Jacob und Wilhelm Grimm herausgegebenen Geschichten darin besteht, dass der Mensch umso schlechter ist, je mehr er auf den ueren Schein achtet. Das Schicksal von Schneewittchen und Aschenputtel, Goldmarie und Pechmarie, Brderchen und Schwesterchen und Dutzenden heute vergessener Mrchenfiguren ist genau an diese Lehre geknpft. Jede Neigung zu Glamour im Vokabular des beginnenden 19. Jahr-hunderts Putzsucht fhrt ins Verderben; umge-kehrt werden jene Charaktere am Ende belohnt, die eine reine, natrliche Seele vorweisen knnen und denen Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Hilfsbereit-schaft wichtiger sind als Kleider und Schmuck.

    Zumindest fr die mit der deutschen Sprache Auf-gewachsenen gibt es keine anderen Erzhlungen, die

    ein Leben lang derart anschaulich im Bewusstsein haften bleiben. Manche Satzfolgen, der refrainartige Dialog zwischen Rotkppchen und dem verkleideten Wolf etwa, sind so prsent wie Sprichworte; manche Speisen, den Kuchen auf dem Hexenhaus in Hnsel und Gretel oder die Brathhner in den Ruberhhlen, glaubt man auch Jahrzehnte nach dem ersten Hren oder Lesen noch zu schmecken. Und genauso tief wie diese Eindrcke hat sich auch die Moral der Mrchen eingeprgt, der Verdacht, dass Eitelkeit und Stolz bestraft werden mssen (die dstere Bezeichnung Brder Grimm verwies in der kindlichen Vorstel-lung auch nicht auf einen Autor, sondern auf die Stimmung der Geschichten). Der berfluss der Rei-chen erzeugt verkommene Herzen, der Mangel der Armen dagegen bringt gute Menschen hervor: Das ist die Botschaft in den Mrchen, vom Geiste Luthers und Rousseaus befeuert.

    Von unserer Sozialisation durch die Grimms fhrt vermutlich ein direkter Weg zu dem schlechten Gewissen, das die meisten Menschen heute beim Kauf eines etwas zu teuren Kleids oder Kaschmirpul-lis begleitet. Denn die Mrchen haben uns gelehrt,

    dass die Lust an den oberflchlichen Din-gen gefhrlich werden kann, und vielleicht schlummert in den Kunden der Boutiquen und Designer-Outlets ein Rest an Furcht, dass sie ihr Tun einmal wie die gefallsch-tigen Gegenspieler der Mrchenhelden bereuen werden. Mode erscheint im Ver-stndnis dieser Geschichten als das ber-flssige schlechthin; Kleidung wird in dem Moment fragwrdig, in dem sie nicht mehr als Mittel gegen Klte dient oder zum Verdecken schambesetzter Krper-zonen, sondern allein zur berhhung des eigenen Selbst.

    Doch woher rhrt es dann, dass die Welt der Mrchen weiterhin eines der strksten Referenzsysteme der Mode bildet? Kaum eine Saison vergeht, in der die Elle- oder Vogue-Stylisten die Haute Couture nicht durch Fotografien einer verwunschenen Prinzessin in Szene setzen (zuletzt die Sommerkollektion von Valentino). Offenbar bieten die Geschichten einen Anreiz, der trotz ihrer rigorosen Kleiderkritik den Anliegen der Modewelt entgegenkommt. Das hat zweifellos mit den altertmlichen Schaupltzen und Charakteren zu tun, den Schlssern, Grten und Kostmen; wenn im Vokabular der Mode notorische Schlagworte wie vertrumt, romantisch oder feenhaft fallen, dann wird immer auch die Sphre der Mrchen zitiert.

    Diese Impulse wrde aber auch jede beliebige historische Kulisse liefern. Es muss also noch ei- nen anderen Grund fr die Vorbildfunktion der Grimmschen Helden geben, und dieser Grund liegt in der besonderen Erzhlweise der Mrchen, die den Figuren kaum Innenwelt, kaum Bewusstsein zuge-steht; ihre Entwicklung ist allein von ueren Zei-chen abhngig. Fast alle Geschichten erzhlen eine

    D

    Eine zentrale Botschaft lautet: Der Mensch ist umso

    schlechter, je mehr er auf den ueren Schein achtet

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    Verwandlung von der Bediensteten zur Knigin, vom Ausgestoenen zum Herrscher, vom verwun-schenen Tier zum Menschen , und die Umstnde dieser Verwandlung haben nichts mit langwierigen Reflexionen zu tun, sondern geschehen abrupt, zum Teil unter erstaunlicher Ausblendung der Sinnes-wahrnehmung und Menschenkenntnis.

    Ausgelst werden die Transformationen gerne von Kleidungsstcken, zum Beispiel als Erkennungszei-chen zwischen den Figuren wie in Aschenputtel und den ganz hnlich aufgebauten, heute kaum noch bekannten Mrchen Allerleihrauh, Die Gnsemagd und Der Trommler. Der Handlungsgang weist hier auf einen merkwrdigen Widerspruch, denn so uner-bittlich die Gefahren des ueren Putzes in der Grimmschen Sammlung exerziert werden, so erfl-lend knnen prchtige Kleider fr diejenigen sein, die sich dieses Geschenk durch die richtigen inneren Werte verdient haben. In der Garderobe der Stiefmt-ter entfalten edle Roben ihre Dmonie; fr Aschen-puttel, Schneewittchen und ihre gengsamen Lei-densgefhrtinnen dagegen sind sie Vorboten des Happy Ends im Hochzeitssaal.

    Beim Wiederlesen wirkt es rtselhaft, welche Macht etwa dem goldenen Pantoffel Aschenputtels zu-kommt. Als sich der Knig auf die Suche nach seiner mysterisen Tanzpartnerin begibt, vertraut er allein dem Zueinanderpassen von Fu und Schuh, um seine knftige Braut zu identifizieren. Sein Wahrneh-mungsvermgen ist miserabel: Er htte auch ohne Weiteres die beiden Stiefschwestern heimgefhrt, wenn er von den Tauben am Wegesrand nicht auf die verstmmelten Fe der falschen Anwrterinnen aufmerksam gemacht worden wre. Aschenputtel schlielich passt der goldene Pantoffel wie angegos-sen, und erst in dem Moment, da das modische Ac-cessoire die Entdeckung der wahren Braut beglaubigt, kehrt auch die bis dahin betubte Erinnerung des Knigs zurck: Als es sich in die Hhe richtete und der Knig ihm ins Gesicht sah, so erkannte er das schne Mdchen, das mit ihm getanzt hatte.

    Was also Aussehen und Charakter einer Frau nach drei gemeinsam verbrachten Abenden nicht erfllen knnen, bewerkstelligt in Aschenputtel ein Kleidungs-stck. Aber ist diese Erzhlung nicht die perfekte Werbung fr die Modeindustrie? Ein unscheinbares

    Mdchen, das sich durch perfektes Styling die Gunst des angesehensten Mannes verschafft, und dessen Schuhe sogar zum einzigen verlsslichen Zeichen ihrer Identitt werden. Auch der Mode geht es ja fort-whrend um genau diese Verwandlungen: Jede Wer-beanzeige, jede Schau in Paris oder Mailand ver-spricht, dass es nur eines Mantels von Dior, eines Cardigans von Martin Margiela oder der neuen Lou-boutin-Slingbacks bedarf, um zu einem attraktiven Menschen zu werden, der ein aufregendes, selbstbe-wusstes Leben fhrt. Die konsequentesten Vorbilder fr diese Erfolgsgeschichte stammen aus den Federn der Brder Grimm.

    Die magische Bedeutung von Kleidung, wie sie in den Mrchen beschrieben wird, prgt also noch die heutigen Rituale. Das zeigt sich alleine an jenem tiefen Spalt, der zwischen der (unsichtbaren) Her-stellung und der (zelebrierten) Prsentation von Mode besteht. Bei den Grimms taucht das Motiv Kleidung nur ganz am Anfang oder ganz am Ende der Produktions- und Gebrauchskette auf: entweder in Gestalt der armen, unter vorindustriellen Bedin-gungen arbeitenden Spinnerin, die, wenn sie Glck

    hat, ihre Haspel in einem Zauberbrunnen verliert; oder im pltzlichen Herabfallen prchtiger Kleider, deren Ursprung unbe-kannt ist, die den Besitzerinnen aber ein glckliches Leben sichern.

    Stimmt diese Zweiteilung nicht genau mit der Perspektive berein, mit der wir heute noch auf die Mode schauen? Gelegentlich hrt man von den tristen Produktionsverhltnissen in Asien, wo unterbezahlte Arbeiterinnen westliche Markenware schneidern. Doch dieses ma-terielle Fundament der Kleidung wird gewhnlich ausgeblendet, und die gln-

    zenden Kostme, die ein ausgewhlter Kreis auf den Modenschauen und der gewhnliche Kunde in den Geschften zu Gesicht bekommt, wirken wie von Zauberhand gefertigt, ohne Spuren ihres Entste-hens. Als Quelle der Mode gilt der Designer, der nach der Schau vom Catwalk herabwinkt und der Marke ihren Namen verleiht. Doch in welcher Wei-se er genau zum Entstehen der Kleidungsstcke bei-trgt tatschlich als Schneider? als Ideengeber? als bloes Aushngeschild? , bleibt so mysteris wie die Herkunft der goldenen Roben auf dem Krper Aschenputtels.

    Fast alle Mrchen erzhlen eine Verwandlung ausgelst

    werden diese Transformationen gern von Kleidungsstcken

    Wie die Grimmschen Helden wirklich aus- sehen diese Vorstellung ist fr A N D R E A S B E R N A R D und viele andere, die rund um Mnchen aufgewachsen sind, von den Guck-

    ksten im Mrchenwald im Isartal geprgt worden. Lebensgroe Stoffpuppen haben Figuren wie Rumpel-stilzchen, Schneewittchens Stiefmutter, den beiden Riesen aus dem Tapferen Schneiderlein erst ihren Schrecken verliehen. Kein Kind, das jemals die Druck-knpfe neben den Ksten bediente, um die Geschichten in Gang zu setzen, hat diese Szenen vergessen. www.maerchenwald-isartal.de

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    [email protected] 1 04/08/12 08:45

  • 24 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 25

    Barock n Roll, da schwingen alle mit.

    Bluse, Hose, Sckchen, Haarreif,

    Ohrring: alles Dolce & Gabbana.

    leichte UbUng

    Frau Holle belohnt die Fleiigen und bestraft die Faulen. Glck fr uns alle: Mit der Mode der Saison muss man

    sich nicht gro anstrengen, um gut auszusehen F O tO S : t i m B a r B e r | S t y l i n G : ta B a S S Om C H a r a F

  • 26 Sddeutsche Zeitung Magazin

    Fette Beute, fr Vogel und Brute. Diese Seite: mantel und Ohrring: Balenciaga; temporre tattoos: marc Brandenburg. linke Seite: Spitzenbluse, rock und Schuhe: Dolce & Gabbana; Grtel: Vintage; armreif: louis Vuitton.

    Die eine schaUt nach vorn,Die anDere in Den WinD, Die eine, Die ist faUl,

    Die anDere geschWinD

  • 28 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 29

    Blindtext Credit commodo ligula eget dolor.

    Hochgeschlossene Gesellschaft: Steh- und Rollkragen schaffen Frauen eine Menge Arbeit vom Hals. Oberes Bild: Oberteil, Hose, mantel: alles Cline; Schuhe: Giorgio armani. Unteres Bild: rollkragenpullover: louis Vuitton; Kleid mit Plissee-falten und Schuhe: Chlo. rechte Seite: weier neopren-rolli, Glocken-rock und Grtel: lanvin; armreife: Bottega Veneta.

  • 30 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 31

    Man lernt ja nie aus so lassen sich

    Schchen also tatschlich tragen.

    Weies Hemd mit Plis-seeeinsatz am rcken:

    Stefanel; Kleid mit Schchen; Grtel: Burberry Prorsum;

    Schuhe: Chlo.

  • 32 Sddeutsche Zeitung Magazin Sddeutsche Zeitung Magazin 33

    Raus aus den Federn, rein in die langen Kleider. linke Seite: Schwarzes Samtkeid mit Swarovski-kristallen: ralph lauren Collection; temporre tattoos: marc Branden-burg; lederjacke: Haider ackermann; Ohrring: Balenciaga. Oberes Bild: Kleid, lederhandschuhe und Stiefeletten: Haider ackermann. Unteres Bild: Kleid: Jil Sander; tuch: rudi Gernreich Vintage.

  • Sddeutsche Zeitung Magazin 35

    Die gUte ist schon lange fort, sie War mal WieDer schneller, Dafr ist

    Die anDere Wir ahnen es ein kleines bisschen heller

    Diese Saison wieder unzertrennlich: Schwarz und Schwarz. Diese Seite: Federjacke: Giorgio armani; Hose: augustin teboul; roll- kragenbody: Falke. rechte Seite: Strickpullover: Bottega Veneta.

  • 36 Sddeutsche Zeitung Magazin

    Fifty Shades of Grey als Zweiteiler. Jacke und rock: Chanel;Hut: Giorgio armani.

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