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6 l 2012 IN UNSERER ZEIT P HYSIK PHYSIKGESCHICHTE Kolhörster NOBELPREIS Quantenkontrolle FESTKÖRPERPHYSIK Spinkaloritronik 43. Jahrgang November 2012 ISSN 0031-9252 PHUZAH D 4787 www.phiuz.de DUNKLE MATERIE

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6 l 2012

I N U N S E R E R Z E I TPHYSIK

PHYSIKGESCHICHTE

Kolhörster

NOBELPREIS

Quantenkontrolle

FESTKÖRPERPHYSIK

Spinkaloritronik

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DUNKLE MATERIE

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E D I TO R I A L

© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 6/2012 (43) Phys. Unserer Zeit 263

Schon seit den 1930-er Jahren gibt es Hinweise darauf,dass der größte Teil, der im Universum vorhandenen Ma-

terie unsichtbar ist. Diese überraschende Erkenntnis ge-wann mit der rasanten Zunahme von Beobachtungsdaten inden letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung. Insbesonde-re zeigten sich diese Hinweise auf unterschiedlichen kos-mologischen Größenskalen.

Bald wurde auch klar, dass konventionelle Erklärungs-versuche wie planetenartige Körper, Braune Zwerge

oder Schwarze Löcher, die schon in geringer Entfernungnicht mehr nachweisbar sind, nicht die Lösung sein können.Eine beachtliche Reihe von Indizien ergibt inzwischen einkonsistentes Bild: Nur etwa 4 % der insgesamt im Universumvorhandenen Materie besteht aus gewöhnlicher, baryoni-scher Materie, während etwa 25 % aus einer bisher nicht be-kannten Form von Dunkler Materiebesteht. Weitere 70 % liefert die Dunk-le Energie, die in der einfachsten Formder von Einstein eingeführten, aberdann verworfenen KosmologischenKonstante entsprechen könnte.

Die Natur der Dunklen Materie und Dunklen Energiezählt heute zu den spannendsten ungelösten Fragen

der Grundlagenphysik. Prinzipiell ist auch eine Veränderungdes Gravitationsgesetzes denkbar, aber bisherige Ansätzesind nicht in der Lage, alle Effekte konsistent zu beschrei-ben. Die derzeit favorisierte Hypothese sagt eine neue undunsichtbare Teilchensorte voraus. Diese Hypothese wirddurch verschiedene Indizien gestützt. So kommen Teilchenmit den geeigneten Eigenschaften in notwendigen Erwei-terungen des Standardmodells der Teilchenphysik vor. Zu-dem führt die Einführung sogenannter WIMPs (Weakly In-teracting Massive Particles) im Urknall automatisch in etwazur beobachteten Menge an Dunkler Materie.

Zurzeit läuft weltweit ein Wettrennen zum direkten Nach-weis von WIMPs. Dieser ist allerdings sehr schwierig.

Die Raten, mit denen diese Teilchen an typischen Detekto-ren streuen sollten, sind um viele Größenordnungen kleinerals der Untergrund. Letzterer stammt zum Beispiel von Teil-chen der kosmischen Strahlung oder vom natürlichen Zer-fall radioaktiver Elemente. Daher müssen Detektoren ausextrem reinen Materialien gebaut werden und sich zur Abschirmung vor der kosmischen Strahlung tief unter derErde befinden.

In den letzten Jahren wurden in der Messtechnik enormeFortschritte erzielt. Mit jeder Verbesserung der Mess -

genauigkeit muss man aber bei einem auftretenden Signalvorsichtig sein, weil es sich um einen neuartigen, bisher un-bekannten Untergrund handeln könnte. Experimente, diedagegen keine Ereignisse registrieren, sind leichter zu in-terpretieren: Eine Nullmessung schließt sowohl neue Un-tergründe als auch ein Signal aus und muss also nicht wei-ter analysiert und interpretiert werden.

Aktuell gibt es drei Experimente, die Ereignisse mit einerRate sehen, die oberhalb des angegebenen Untergrunds

liegen. Über eines von ihnen, das im Gran-Sasso-Unter-grundlabor arbeitende Experiment CRESST, berichtet Michael Kiefer in diesem Heft. Allerdings liegen die gemes-senen Ereignisse der drei Experimente in sich gegenseitig

ausschließenden Parameterbereichen.Erschwerend kommt hinzu, dass zweiandere Experimente (XENON100 undCDMS) in diesen Bereichen keine Er-eignisse sehen. Wie lässt sich das er-klären?

Eine konsistente Lösung wäre, dass zwei Experimente einen unverstandenen Untergrund messen, während das

dritte Signal tatsächlich von speziellen WIMPs herrührt. Die-se müssten dann aber sehr ungewöhnliche Eigenschaftenbesitzen, so dass sie sowohl für XENON100 als auch für dasunterschiedlich funktionierende CDMS Experiment un-sichtbar sind. Ganz ausschließen lässt sich das nicht, weilbeispielsweise CRESST den Lichtblitz und die Wärmeent-wicklung misst, die ein WIMP bei Kollision mit einem Atomim Detektor erzeugt. XENON100 hingegen misst den Licht-blitz und die erzeugte Ionisierungsrate. Die andere Lösungmit weniger speziellen Annahmen ist, dass keines der bis-her gesehenen Signale von WIMPs stammt.

Im Moment ist es für definitive Schlussfolgerungen nochzu früh. Weitere Daten sind zur Klärung der derzeitigen

Umgereimtheiten nötig. Es wird aber fieberhaft an immerbesseren Detektoren gearbeitet, die einen großen Teil destheoretisch erwarteten WIMP-Bereichs immer zuverlässigerabdecken. In den kommenden zehn Jahren sollte es sich ent-scheiden, ob WIMPs die Erklärung für Dunkle Materie sindoder ob ein noch exotischeres Phänomen dahinter steckt.

Dunkle Materie: Sehen und gesehenwerden

Prof. Manfred Lindnerist Direktor am Max-Planck-Institutfür Kernphysik in Heidelberg und Leiter der dortigenForschergruppe von XENON100 undXENON1T.

FÜR DEFINITIVE

SCHLUSSFOLGERUNGEN

IST ES NOCH ZU FRÜH

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264 | Phys. Unserer Zeit |6/2012 (43)

I M PR E SS U M |

EDITORIAL |263 Dunkle Materie:

Sehen und gesehen werdenManfred Lindner

PHYSIK-NOBELPREIS 2012 |272 Von der Paul-Falle zu Schrödingers

KatzeDieter Meschede

A STROTEILCHENPHYSIK |274 Die Suche nach dem Unsichtbaren

Michael Kiefer

PHYSIK IN UNSERER ZEITw w w. p h i u z . d e

274 Die Suche nach dem UnsichtbarenNormale baryonische Materie, aus der alleSterne, Planeten und auch wir Menschen bestehen, macht nur wenige Prozent der ins-gesamt im Universum vorhandenen Materieaus. Ein weitaus größerer Teil bleibt unsicht-bar: die Dunkle Materie. Mit mehreren Experi-

menten versuchen Forscher weltweit, Teilchen der Dunklen Materie nach-zuweisen. Einige von ihnen, wie das Experiment CRESST, könnten sieschon gefunden haben.

Verlag: WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA Weinheim, Boschstraße 12, Postfach 10 11 61, 69451 Weinheim; Telefon +49 (0)62 01/6 06-0, Tele fax +49 (0)62 01/6 06-3 28

RedaktionDr. Thomas Bührke, Wiesenblättchen 12, 68723 Schwetzingen, Telefon +49 (0)62 02/5 77 97 [email protected] Wengenmayr, Konrad-Glatt-Straße 17,65929 Frankfurt/M., Telefon +49 (0)69/30 85 41 [email protected]

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© WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA Weinheim,69451 Weinheim, 2012.Printed in the Federal Republic of Germany.ISSN 0031-9252

281 Werner Kolhörster: Pionier der Höhenstrahlungsforschung Neben Victor Franz Hess gehört Werner Kolhörster (1887–1946) zu den herausragen-den Pionieren in der Entdeckungs- und Früh-geschichte der kosmischen Strahlung. Den-noch überschattet heute der Ruhm von Hessweitgehend Kolhörsters Verdienste.

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| I N H A LT| I N H A LT

PHYSI KG E SCH ICHTE |281 Werner Kolhörster: Pionier der

Höhenstrahlungsforschung Dieter Hoffmann

FESTKÖRPERPHYSIK |288 Heiße Elektronik

Markus Münzenberg | Andy Thomas

SPIELWIESE |296 Lauftiere: vom Spielzeug

zum RoboterChristian Ucke | H. Joachim Schlichting

ERNEUERBARE ENERG I E |300 Erneuerbare Energie für Europa

Tobias Tröndle | Ulrich Platt | Werner Aeschbach-Hertig | Klaus Pfeilsticker

6|2012

T R E F F P U N K T FO R SC H U N G |266 Phiuz in die Schulen!266 Suprafluidität in zwei Dimensionen 268 Leuchtendes Graphen269 Weiße Zwerge senden Gravitations -

wellen aus 270 Physics News270 Van Goghs Gelb 271 Sicherheit für die Schifffahrt

M AG A Z I N |307 Prost Neujahr:

die Physik von Champagnerflaschen 309 Der Radar-Ritter309 Treffpunkt TV310 Explosionen in der Champagnerflöte

288 Heiße ElektronikDie zunehmend attraktive Spintronik basiertauf der Steuerung von Strömen über die Elek-tronenspins. Doch es gibt auch einen Weg,diese Spins über Wärmezufuhr zu manipulie-ren. In einigen Nanostrukturen funktioniertdies sehr effektiv. Dieses noch junge Gebiet derSpinkaloritronik begründete der altbekannteSeebeck-Effekt. Es könnte zum Beispiel die

Abwärme von Mikroprozessoren als Energiequelle für Elektronikeneffizient nutzbar zu machen.

300 Erneuerbare Energie für EuropaEin weitgehender Umstieg von fossilenauf erneuerbare Energieträger in Europa erfordert ein Umdenken in derElektrizitätsversorgungsstruktur. Regelbare Kraft -werke, Energie speicher und ein leistungsfähiges Elek-trizitätsnetz sind hierbei wichtige Bausteine. Das zeigtdas vorgestellte Szenario für Europa bis 2050.

296 Lauftiere: vom Spielzeug zum RoboterLauftiere wackeln eine schiefe Ebene hinunter. Schon Klein -kinder sind fasziniert von diesem über hundert Jahre altenSpielzeug. Ingenieure beschäftigen sich aktuell damit, da sichmit dem dahinter stehenden Prinzip überraschend energie -sparende Konstruktionen von Laufrobotern realisieren lassen.

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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

Q UA N T E N H Y D RO DY N A M I K |Suprafluidität in zwei Dimensionen Suprafluidität ist einer der verblüffendsten Effekte der Quantenmecha-nik. Dieser Zustand, bei dem sich eine Flüssigkeit ohne Reibung bewegt,wurde 1938 in flüssigem Helium entdeckt. Seit einigen Jahren studiertman ihn zudem intensiv an ultrakalten atomaren Quantengasen. Un -serer Gruppe an der Ecole Normale Supérieure in Paris ist es kürzlichgelungen, die Supraflüssigkeit auch in einem zweidimensionalen Bose-Gas direkt zu beobachten [1].

In unserer Alltagserfahrung ist Bewe-gung immer von Reibung begleitet.In der Quantenphysik dagegen kön -nen einige Materialen unterhalbeiner kritischen Temperatur einSuprafluid bilden, in dem die Rei-bung verschwindet. Damit wird einanhaltender Fluss möglich. Das Phä -nomen ist auch von Supraleiternbekannt, in denen die Elektronen einSuprafluid bilden und darum derelektrische Strom ohne Widerstandfließt.

In dem Suprafluid gibt es wegender Wechselwirkung zwischen denTeilchen ein bestimmtes Spektrumvon kollektiven Anregungen. Sieheißen Phononen, Rotonen oderVortices. Der anhaltende Strom eines Suprafluids relativ zum Be -hälter ist zwar nicht der Grund -zustand, aber der Fluss kann nichtzerfallen, weil die Natur der Anre -gungen das nicht erlaubt. Darumspricht man von einem metastabilen

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PH YS I K D I DA K T I K |Phiuz in die Schulen!Seit rund zehn Jahren arbeitet die Initiative Wissenschaft in die Schulen!(WiS). Sie hat zum Ziel, Schülerinnen und Schüler an Themen der aktuellen Forschung heranzuführen und sie dafür zu begeistern. DenLehrern fehlt hierfür aber häufig das entsprechende Unterrichtsmateri-al. Deswegen stellt WiS auf www.wissenschaft-schulen.de Originalarti-kel aus wissenschaftlichen Zeitschriften sowie zusätzliches, von erfahre-nen Didaktikern erstelltes Unterrichtsmaterial zur Verfügung. Bislangsind Zeitschriften aus dem Spektrum-Verlag, wie Spektrum der Wissen-schaft und Sterne und Weltraum, daran beteiligt, seit diesem Monat istauch Physik in unserer Zeit dabei.

Die Projektidee entstand als Reaktionauf die erste Pisa-Studie im Jahre2000, die bei vielen Jugendlichen eingroßes Desinteresse an den Natur-wissenschaften aufzeigte. DieserEntwicklung soll mit WiS gegenge-steuert und eine Brücke von derWissenschaft zum Unterricht geschla-gen werden.

Die zur Verfügung stehendenMaterialien lassen sich direkt imUnterricht einsetzen, die ausgewähl-

ten Originalartikel aus Physik inunserer Zeit ermöglichen es denLehrern, sich über den aktuellenStand der Forschung zu informierenund Schülerinnen und Schüler dieFaszination moderner Physik nahe zubringen. Außerdem liefert das WiS-Portal Hinweise auf Didaktikprojektean Universitäten und ausgewählteVeranstaltungen.

Die Materialien stammen derzeitüberwiegend aus den FachgebietenAstronomie, Biologie, Geowissen-schaften und Chemie. Physik inunserer Zeit wird dieses Spektrumum die Physik erweitern. In denersten Beiträgen geht es unter ande-rem um akustische Phänomene amBeispiel von Westerngitarren und umPolarisation am Beispiel von Flach-bildschirmen. Das Angebot wirdständig erneuert. Der Abruf derMaterialien und der Zugang zu denProjekten sind kostenlos und unver-bindlich. www.wissenschaft-schulen.de

TB

A B B . 1 L A S E R PRO B E

Ein stark fokussierter Laserstrahl rührtin einer suprafluiden zweidimensiona-len Wolke aus ultrakalten Atomen. Da er sich in konzentrischen Kreisenbewegt, probt er die Wolke bei kon-stanter Dichte, die vom Zentrum nachaußen abfällt.

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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

O P TO E L E K T RO N I K |Leuchtendes GraphenDie steigende Anforderung an Übertragungskapazität optoelektroni-scher Bauelemente erfordert die Erforschung von neuartigen Nano -materialien. Unserer Forschungsgruppe am Karlsruher Institut fürTechnologie in Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen bei IBM undder Universität Cambridge ist es gelungen, Graphen an eine optischeMikrokavität zu koppeln [1]. Damit konnten sowohl grundlegendephysikalische Effekte studiert als auch wellenlängenselektive Emitterund Detektoren auf Basis von Graphen demonstriert werden.

schaften von Graphen, was schließ-lich im Nobelpreis für Physik 2010mündete (Physik in unserer Zeit2010, 41(6), 272).

Graphen absorbiert gleichmäßigLicht im sichtbaren Spektralbereich,erscheint dem menschlichen Augealso farblos. Für bestimmte optoelek-tronische Anwendungen ist aber einespektrale Selektivität gewünscht.Dies ist nun gelungen, indem Gra-phen an ein photonisches Elementgekoppelt wurde, um eine gewünsch-te Farbe zu erhalten.

Die einfachste Realisierung einesphotonischen Elements ist eineplanare Mikrokavität, bestehend auszwei hoch reflektierenden Spiegelnmit einem definierten Abstand L. DieMikrokavität ist resonant für Licht,

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Die schnellst mögliche Übertragungvon Information kann nur mit opti-schen Signalen erfolgen. Diese müs -sen sowohl elektrisch generiert alsauch detektiert werden. Hierfürbenötigt man elektrooptische Wand-ler. Wir untersuchen optoelekroni-sche Bauelemente auf Basis von Gra -phen, das aus einer einzigen Lagevon Kohlenstoffatomen besteht, diein einem hexagonalen Gitter ange-ordnet sind. Erst 40 Jahre nach derEntdeckung von Graphen [2] warman in der Lage, es zu isolieren, umdessen physikalische Eigenschaftengenauer zu untersuchen [3]. An-schließende weltweite Forschungs -anstrengungen zeigten dann dieaußerordentlichen elektrischen,optischen und mechanischen Eigen-

wenn der Abstand L genau einemVielfachen der halben Wellenlängedieses Lichtes entspricht. Nur Licht,dessen Wellenlänge der Resonanz -wellenlänge der Mikrokavität ent-spricht, kann detektiert oder emit-tiert werden.

Abbildung 1 zeigt das Konzepteiner verstärkten oder unterdrücktenEmission und Absorption von Lichtinnerhalb einer Mikrokavität. Diezugrunde liegende Idee besteht darin,die Rate, mit der Licht absorbiertoder emittiert wird, zu ändern. Diewesentliche Physik geht zurück aufEnrico Fermi und dessen GoldeneRegel: Die Rate, mit der Licht absor-biert oder emittiert wird, ist unteranderem proportional zu der sogenannten photonischen Zustands-dichte. Analog den elektronischenEnergieniveaus in Atomen, Molekülenund Festkörpern gibt es auch fürLicht erlaubte und verbotene Zustän-de innerhalb der Mikrokavität.

Abbildung 2a zeigt den experi-mentellen Messaufbau zur Untersu-chung der Emissions- und Absorp-tionseigenschaften von Graphen. Diewesentliche technische Schwierig-keit bestand darin, mit metallischenElektroden kontaktiertes Graphen ineine Mikrokavität zu integrieren.Zunächst wurden die Emissionseigen-schaften durch das Anlegen einerelektrischen Spannung untersucht.Dabei erhitzt der elektrische Stromdas Graphen, das bei hohen Tempera-turen Licht emittiert. Die Farbe desemittierten Lichtes ist jedoch nichtweiß, sondern durch die Resonanz -wellenlänge der Mikrokavität be-stimmt (Abbildung 2b).

Für den umgekehrten Fall derLichtdetektion nutzen wir aus, dassGraphen eine endliche Photoleitfähi-gleit besitzt. Von Graphen absorbier-tes Licht generiert freie Elektronen-Loch-Paare, die über gegenüberlie-gende Elektroden abfließen und alsPhotostrom gemessen werden. Misstman nun den Photostrom als Funk-tion der Wellenlänge, so stellt manfest, dass die Stärke des Photostromsvollständig durch die Mikrokavitätbestimmt ist (Abbildung 2c).

Verstärkung

Ort

Ene

rgie

Emission

Absorption

Spiegelabstand L=n∙λ/2 L≠n∙λ/2

Unterdrückung

Spiegel

Graphen

A B B . 1 G R A PH E N I N D E R M I K RO K AV I T Ä T

Verstärkung und Unterdrückung von Lichtabsorption und -emission innerhalb eineroptischen Mikrokavität als Funktion des Spiegelabstands. Im Resonanzfall (links,Spiegelabstand entspricht einem Vielfachen der halben Wellenlänge) kommt es zurverstärkten Absorption oder Emission von Licht innerhalb der Mikrokavität.

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Das bislang ergiebigste Systemzur Überprüfung der AllgemeinenRelativitätstheorie ist der Doppelpul-sar 1913+16, für dessen Entdeckungund ersten indirekten Nachweis vonGravitationswellen Russell Hulse undJoseph Taylor 1993 den Physik-Nobelpreis erhielten.

Literatur[1] J. J. Hermes et al., Astrophys. J. (einger.),

arxiv.org/abs/1208.5051

TB

T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

Die Ergebnisse dieser Arbeit zei -gen das Potenzial für Graphen für dieOptoelektronik auf. Durch Einstellender optischen Eigenschaften derumgebenden Mikrokavität lassen sichbeliebige Emissions- und Detektions-wellenlängen, sprich Farben, erzielen.In Zukunft sollen durch Kopplung ankomplexere photonische Strukturendie Effizienz der Lichtemission und -detektion gesteigert und neue Funk -tionalitäten ermöglicht werden.

Literatur[1] M. Engel et al., Nat Commun 2012, 3, 906.[2] H. E. Boehm et al., Z. Naturforsch. 1961,

17b, 150.[3] K. Novoselov et al., Science 2004, 306, 666.

Michael Engel, Ralph Krupke, Karlsruher Institut für Technologie

© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 6/2012 (43) Phys. Unserer Zeit 269

A S T RO PH YS I K |Weiße Zwerge sendenGravitationswellen aus

Ein amerikanisch-spanisches Astronomenteam hat ein Doppelstern -system entdeckt, in dem sich zwei Weiße Zwerge in geringem Abstandumkreisen. Ihre Umlaufperiode verringert sich stetig. Ursache ist derEnergieverlust durch abgestrahlte Gravitationswellen.

Das etwa 3200 Lichtjahre entfernteDoppelsystem mit der BezeichnungJ0651 besteht aus zwei Weißen Zwer -gen mit jeweils 0,26 und 0,5 Sonnen-massen. Da sich die beiden Körperbei jedem Umlauf gegenseitig bede-cken, kommt es zu einer periodi-schen Helligkeitsvariation, aus dersich die Umlaufdauer zu 12,75 Minu -ten ermitteln lässt. Abbildung 1 zeigt,wie sich der tatsächlich gemesseneBedeckungszeitpunkt mit jedem Um -lauf gegenüber einer konstant ange-nommenen Umlaufdauer verringerte.Die gemessene Abnahme der Umlauf-dauer beträgt 0,31 ± 0,09 ms/a, wäh -rend die Allgemeine Relativitätstheo-rie einen Wert von 0,26 ± 0,05 ms/avorhersagt.

In einer Gruppe von rund zweiDutzend engen Doppelsystemen,nach denen in den vergangenenzwei Jahren gesucht wurde, bildetJ0651 das engste Paar. Es eignet sichdaher am besten, um Vorhersagender Allgemeinen Relativitätstheoriezu testen. Wenn sich die beidenKörper zukünftig weiter einanderannähern und sich die Umlaufdauerweiter verringert, werden Gezeiten-effekte eintreten und die Körperverformen. Dieser Effekt gilt alsgrößte Schwierigkeit bei der relati-vistischen Berechnung des Systems.Voraussichtlich werden die beidenWeißen Zwerge in etwa zwei Millio-nen Jahren miteinander verschmel-zen.

Al2O3

Si3N4

Ag

Ag

V

L

Vg

1131K

1020K

908K

790K

680K

Inte

nsitä

t bel

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h.

100

101

102

103

104

105

Wellenlänge / nm875 925 975

Nor

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Inte

nsitä

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Wellenlänge / nm

Photostrom

/ nA

0

0,5

1,0

0

10

20

550 600 650

Graphen

Photostrommessung

optische Anregung

emittiertes/transmittiertes Licht

a

b c

A B B . 2 E M I S S I O N U N D A B S O R P T I O N

a) Experimenteller Aufbau zur Messungvon Transmission, Emission und Detek-tion des Lichts aus dem integriertenGraphentransistor innerhalb derMikrokavität. Der Querschnitt durchdie Probe zeigt die verschiedenenSchichten und Materialien. b) Elektrischgenerierte, durch die Mikrokavitäterzwungene, thermische Lichtemissionvon Graphen (Blautöne). Die Lichtemis-sion aus der Mikrokavität ist spektralstark eingeschnürt. Zum Vergleich isthinterlegt die thermische Lichtemissionvon Graphen ohne Mikrokavität. c) Generierter Photostrom (rote Punkte)überlagert mit der Intensität destransmittierten Lichts durch die Mikro-kavität (schwarze Linie) als Funktionder Wellenlänge.

0 100 200 400300

Zeit/Tage

0

–2

–4

–6

–8

–10

Zeitversch

iebu

ng/s

A B B . 1 U M L AU F PE R I O D E

Kumulierte Abnahme der Bedeckungszeitpunkte gegenübereiner konstant angenommenen Umlaufdauer. Rot, durchge-zogen: Best-Fit der Beobachtungsergebnisse, schwarz, gestri-chelt: Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie (nach [1]).

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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

R Ö N TG E N A N A LYS E |Van Goghs Gelb Vincent van Gogh ist berühmt für das Verwenden leuchtend gelberFarben. Doch auf seinem Bild „Blumen in blauer Vase“ von 1887 er-scheinen einige der Blumen in einem matten Orange-Grau. Untersu-chungen an der DESY-Röntgenquelle PETRA III und der EuropäischenSynchrotronquelle ESRF in Grenoble haben nun enthüllt, dass ein che-mischer Zer setzungsprozess des Farbpigments Cadmiumgelb in Kontaktmit einem falschen Firnis dafür verantwortlich ist.

voll ist, ist aber nicht geklärt. In dennächsten vier Jahren will die Gruppeum Koen Janssens von der Univer-sität Antwerpen untersuchen, wiesich die Umgebungsbedingungen inMuseen sowie die Luftverschmut-zung auf Cadmiumgelb und anderesulfidhaltige Pigmente auswirken.

LiteraturG. v. d. Snickt et al., Analyt. Chem. Online,30.8. 2012; DOI: 10.1021/ac3015627;pubs.acs.org/doi/abs/10.1021%2Fac3015627

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Van Gogh selbst versah seine Werkenicht mit einem Firnis, dieser wurdeauf dem untersuchten Gemäldenachträglich aufgetragen – wie aufeine Reihe anderer Van-Gogh-Gemäl-de in der ersten Hälfte des 20. Jahr -hunderts. Die Forscher untersuchtenmit Röntgenbeugung die chemischeZusammensetzung und innere Struk-tur an der Farb-Firnis-Grenze. Dabeizeigte sich, dass die Sulfat-Ionen ausdem Cadmiumgelb (Cadmiumsulfid,CdS) mit Blei aus dem Firnis dasopake Bleivitriol (PbSO4) gebildethatten. An der Grenzschicht zwischenFarbe und Firnis entstand zudem mitAbbauprodukten aus dem Firnis eineSchicht aus Cadmiumoxalat (CdC2O4).Beide Subsanzen sind für die un-durchsichtige, orange-graue Krusteauf den cadmiumgelben Bereichendes Gemäldes verantwortlich.

Diese neuen Erkenntnisse könn-ten für zukünftige Konservierungs-techniken bedeutend sein. Ob eineEntfernung des Firnis auf dem unter-suchten Gemälde möglich und sinn -

PH YS I C S N E WS |Element 113 haben Physiker der RIKEN Radioiso-tope Beam Factory in Japan erzeugt. Dies gelangihnen, indem sie ein Target aus209Bi mit 70Zn-Ionenbeschossen. Das Element 278113 zeigte sich in sechsAlpha-Zerfallsketten. Allerdings beanspruchen das JointInstitute for Nuclear Research in Dubna und das ameri-kanische Lawrence Livermore National Laboratory dieErstproduktion dieses Isotops für sich, das sie schon2003/2004 in anderen Zerfallsketten identifiziert habenwollen (K. Morita et al., J. Phys. Soc. Jpn., 2012, 81,103201; http://jpsj.ipap.jp/link?JPSJ/81/103201).

+++475 Wassermoleküle bilden einen Eiskristall, ersteAnsätze davon sind bereits ab 275 Molekülen zuerkennen. Dies fand eine Kooperation mit Physikernaus Göttingen und Prag heraus. Zuvor galten 1000Moleküle als Minimum für einen vollständigen Kristall(C. C. Pradzynski et al., Science 2012, 3337, 1529).

+++Die Heisenbergsche Unschärferelation gilt inihrer klassischen Form nicht in allen Fällen. Eineabgewandelte Form ist zum Beispiel nötig, wenn dieKopplung zwischen Messgerät und Quantensystem sogering, dass dieses kaum beeinflusst wird. Hier ist dieStörung des Systems geringer als üblicherweise ange-nommen, wie eine Forschergruppe der UniversitätToronto feststellte (L. A. Rozema et al., Phys. Rev. Lett.2012, 109, 100404).

+++Einen neuen Entfernungsrekord über 143 km fürdie Quantenteleportation von Photonen habenPhysiker vom Institut für Quantenoptik undQuanteninformation der Universität Wien undvom Max-Planck-Institut für Quantenoptik inGarching aufgestellt. Der Transport erfolgte durchdie Luft von der Insel la Palma nach Teneriffa, wo fürden Empfang ein Teleskop der europäischen Weltraum -agentur ESA zur Verfügung stand (X. S. Ma et al., Natureonline, 5.9.2012, DOI: 10.1038/nature11472).

+++Ein Verfahren zur räumlichen Strukturermittlungvon frei schwebenden Molekülen haben Physikerder University of Nebraska-Lincoln entwickelt.Dafür bestrahlten sie die Moleküle mit linear polarisier-ten Lichtpulsen, so dass sie sich ausrichteten. Anschlie-ßend wurden die Moleküle mit Elektronen bestrahltund aus deren Beugung an den Molekülen die Strukturabgeleitet (C. J. Hensley et al., Phys. Rev. Lett. 2012,109, 133202).

+++Die magnetische (spinaufgelöste) Struktur vonEinzelmolekülorbitalen haben Physiker der Univer-sität Hamburg mit der magnetischen Spitze einesRastertunnelmikroskops messen können (J. Schwöbelet al., Nat. Commun. 2012, 3, 953).

Abb. 1 Die linke Seite zeigt den Ort der Probenentnahme, rechts oben eine Mikro-skopaufnahme der Probe, darunter die Verteilung der vier wichtigsten untersuch-ten Verbindungen (Bild: K. Janssens, Univ. Antwerpen).

Abb. 2 In Plexiglas eingeschlossene Mi -kroprobe aus einem Gemälde mit histo -rischer Farbtube (Foto: I. Montero, ESRF).

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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

D E R PH YS I K- N O B E L PR E I S VO R H U N D E R T J A H R E N |Sicherheit für die SchifffahrtDer Physiknobelpreis des Jahres 1912 ging an den schwedischen Inge-nieur und Erfinder Nils Gustaf Dalén (1869–1937) für die „Erfindungselbstwirkender Regulatoren“, die in Verbindung mit Gasakkumulato-ren in Leuchttürmen und Leuchtbojen zum Einsatz kamen.

bei auf Leuchttürme und Leuchtbojenangewiesen. Eine automatische Steue -rung dieser Orientierungshilfen wur -de zur vordringlichen Aufgabe, nichtzuletzt in einem Land wie Schwedenmit seiner langen Küstenlinie undausgedehnten Phasen der Dunkelheit.

Eine Reihe technischer Herausfor-derungen galt es zu meistern: dieEntwicklung einer Lichtquelle, diehell, langlebig und als Blinklichtgeeignet war. Acetylen war ein Gas,das ein ausreichend helles Licht zuerzeugen vermochte, ist allerdingsäußerst gefährlich in der Handha-bung. Gustaf Dalén gelang es nun,eine poröse Masse zu entwickeln, diees ermöglichte, das Acetylen problem-los zu transportieren. In der Folgeentwickelte er einen Mechanismus,der es erlaubte, das helle Licht nachwenigen Zehntelsekunden zu unter-brechen. Damit konnte man einemLiter Acetylen mehrere Tausend kurzeund zugleich sehr helle Lichtblitzeentlocken. Dies war ein gewaltigerFortschritt gegenüber den damalsgängigen Verfahren mit Petroleum-lampen, deren Leuchtperiode auf-grund ihrer geringen Lichtstärkeeinige Sekunden dauerte. Darüberhinaus führte das neue Verfahren zueiner Energieeinsparung von mehr als90 % und war wesentlich kostengüns -tiger und wartungsfreundlicher alsdie bisherigen Lampen.

Eine weitere Frucht seiner uner-müdlichen Tüftelei war das sogenann-te Sonnenventil. Es bestand aus vierMetallstäbchen innerhalb einesGlasrohres. Das unterste Stäbchenwar geschwärzt, die anderen vergol-det und poliert. Am Tag absorbierteder geschwärzte Teil das Sonnenlicht,so dass sich der Stab erwärmte undausdehnte, wodurch das Gasventilgeschlossen wurde. Bei Einbruch der

Dunkelheit (aber auch bei Nebel,Schlechtwetter usw.) zog sich dasschwarze Stäbchen wieder auf seinursprüngliches Maß zusammen, waszum Öffnen des Ventils führte unddamit das Blinklicht einschaltete.

Im Jahre 1912 wurde das erste„Dalén-Blinklicht“ in der Hafenein-fahrt von Stockholm installiert. Bis zuseinem Abbau im Jahre 1980 musstees kein einziges Mal repariert wer-den. Ein Höhepunkt war der Auftrag,den Panama-Kanal mit Lichternauszustatten.

Auch wenn der Name Dalénheute nicht die Galerie der tiefschür-fenden Naturforscher ziert, für seineZeitgenossen konnte sein Erfinder-geist nicht nutzbringender sein. Undwer weiß, vielleicht sollte uns derschwedische Ingenieur daran erin-nern, dass der Segen für die Mensch-heit nicht nur von hochtrabendenTheorien ausgeht, sondern auch (odervor allem) von jenen Dingen, dieunser Leben unmittelbar betreffen.

Dalén entstammte einer Bauernfa-milie, doch sein technisches Talentzeigte sich schon in der Jugend, sodass ein Studium an der TechnischenHochschule in Göteborg und am Poly -technikum Zürich für ihn die richtigeWahl war. 1906 wurde er Chefingeni-eur einer schwedischen Firma.

Den Nobelpreis konnte er übri-gens nicht selbst in Empfang nehmen.Anfang 1912 hatte er bei einemschweren Unfall sein Augenlichtverloren, weshalb ihn sein Bruder beider Preiszeremonie vertreten musste.

Manfred Jacobi, Brüssel

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Bis 1912 war der Physik-Nobelpreisstets an Personen gegangen, die ihrenunverkennbaren Eindruck in der Wis -senschaft hinterlassen hatten. Namenwie Wilhelm Conrad Röntgen oderMarie Curie findet man in jedemLehr buch der Physik. Gustaf Dalénhingegen ist, zumindest aus heutigerPerspektive, weitgehend unbekannt.Er markiert gewissermaßen eineZäsur. Warum ist das so? Wurdenandere, „würdigere“ Kandidaten beider Preis vergabe übergangen? War esZeit, dass der von einem Schwedengestiftete Preis erstmals an einenSchweden gehen sollte?

Wenn man sich die Kriterien desNobelpreises ansieht, dann relativiertsich das vielleicht etwas harscheUrteil der Nachwelt. Darin heißt esnämlich, „die Preisbelohnung [soll] andiejenigen verteilt werden, die imabgelaufenen Jahr der Menschheit dengrößten Nutzen erwiesen haben.“Und das hat Daléns Erfindung allemal.

Das Problem, das es zu lösen galt,bestand darin, die Navigation auf Seesicherer zu machen. Zur damaligenZeit war das sichere Steuern vonSchiffen noch fast ausschließlich vonden Sichtverhältnissen abhängig. Wäh -rend der Nachtstunden war man da -

Nils Gustaf Dalén(30.11.1869 bis9.12.1937) imJahre 1926.

Abb. 1 Das erste Dalén-Feuer vorStockholm (Foto: H. Ellgard).

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perimentieren [4]. Wineland hatte darüber hinaus 1975 diesogenannte Laser-Seitenbandkühlung [5] vorgeschlagen, diesich heute als Standardmethode zur Präparation von gespei-cherten Atomen und Ionen etabliert hat. Laser-Lichtfelderspielen nicht nur für die Kühlung der gespeicherten Teil-chen eine große Rolle, sie sind auch das wichtigste Werkzeug,um Quantenzustände der Ionen zu steuern und auszulesen.

David Wineland hat in 30 Jahren am National Instituteof Standards and Technology (NIST) in Boulder, USA, dieKunst des Experimentierens so weit vorangetrieben, dass so-wohl die inneren Zustände der gespeicherten Ionen alsauch ihr Bewegungszustand nahezu perfekt kontrolliertwerden können. Eine zentrale Rolle spielen in seinen Ar-beiten Überlagerungen von Quantenzuständen, die in derklassischen Physik nicht vorkommen. Die Physik mit Ionenfallen im Stil von Wineland ist auch Vorreiter für An-wendungen, zum Beispiel in Präzisionsuhren. Ein isoliertesTeilchen im freien Raum war bereits der Traum des Spek-troskopikers Dehmelt, mit den gespeicherten Ionen von Da-vid Wineland ist er wahr geworden. „Isoliert“ und „frei“ be-deutet: frei von allen Störungen, das gespeicherte Teilchenführt nur seine ihm eigenen Schwingungen aus. Mit denfast zerstörungsfreien Methoden, Ionen in der Quantenweltzu kontrollieren, bieten sich solche Oszillatoren als perfek-te Uhren an. Genau dieselben Uhren aus einzelnen Atomenkönnten auch die Bausteine zukünftiger Quantencomputerbilden oder bei der Beantwortung der Frage helfen, ob un-sere Naturkonstanten wirklich konstant sind.

Die Kontrolle atomarer Quantensysteme geschieht na-hezu immer mit Licht. Serge Haroche, Professor am Collègede France und an der École Normale Supérieure in Paris, istes komplementär zu David Wineland gelungen, die Kon-trolle auch von Lichtteilchen soweit zu steigern, dass Ex-perimente mit einem oder wenigen Photonen gelingen. Diezusammen mit seinem engen Kollegen Jean-Michel Raimondverfasste Schrift „Exploring the Quantum“ [6] legt beredtesZeugnis von der Faszination und Intensität ab, mit der Haroche und seine Mitarbeiter sich diesem Thema gewid-met haben.

Das Herz der Pariser Experimente ist ein Mikrowellen-Resonator, der Lichtenergie 0,13 s lang speichern kann (Phy-sik in unserer Zeit 2009, 40(6), 303) (Abbildung 1). Wird derResonator auf die Frequenz eines angeregten Atoms abge-

Die Bewegung mikroskopischer Systeme wird mit derQuantenmechanik beschrieben. Diese stellt aber die

Vorstellungskraft auch der Physiker bis heute auf eine har-te Probe: So sind beispielsweise Überlagerungszuständedem intuitiven Denken fremd: Ein quantenphysikalischesTeilchen wie ein Atom kann sich gleichzeitig in zwei Zu-ständen befinden. Selbst Erwin Schrödinger, der die Quan-tenmechanik entscheidend mitgeformt hat, hat sich mit Vor-stellungen über mikroskopische Teilchen nicht leicht ge-tan, obwohl er mit großer Gedankenschärfe schon 1935 diekonzeptionellen Besonderheiten der Quantenmechanik her-vorgehoben hat [1]. Er hielt die Quantenmechanik sicherfür eine äußerst erfolgreiche Theorie, bezweifelte aber un-ter anderem, dass man etwa mit einzelnen Atomen oder Ionen, den Modellobjekten der Quantenmechanik, experi-mentieren könnte.

Der Anfang der 1980er Jahre markiert eine Zeitenwen-de im Umgang mit Quantensystemen: Bis dahin waren Atome interessante, aber immer auch etwas abstrakte Ob-jekte. Mit spektroskopischen Beobachtungen wurde an ato-maren Gasen in erster Linie deren Struktur studiert. Mit ge-nau denjenigen Speichermethoden, für die Wolfgang Paulund Hans Dehmelt schon 1989 den Nobelpreis bekommenhaben, gelang es um 1980 erst Peter Toschek [2] und sei-nen Mitarbeitern in Heidelberg, die Fluoreszenz eines ein-zelnen Barium-Ions zu beobachten. Kurze Zeit später pho-tographierten David Wineland und Wayne Itano ein einzel-nes Magnesium-Atom [3]. Ein riesengroßer Schritt zurKontrolle einzelner, geradezu perfekter Quantensystemewar getan: Atome waren nicht mehr nur Modellsysteme ei-ner eleganten theoretischen Beschreibung von Materie, son-dern im Labor beobachtbare und beherrschbare Objektegeworden! Viele Gedankenexperimente, die man für un-durchführbar hielt, wurden damit experimentell zugänglich.

Dehmelt und Wineland hatten schon 1973 in einem Auf-satz die Möglichkeiten erörtert, mit einzelnen Ionen zu ex-

Physik-Nobelpreis 2012

Von der Paul-Falle zuSchrödingers KatzeDIETER MESCHEDE

Den diesjährigen Physik-Nobelpreis erhielten zu gleichen Teilen Serge Haroche und David Wineland für ihre bahn -brechenden experimentellen Methoden, die es ermöglichen,individuelle Quantensysteme zu messen und zu manipulieren.

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Abb. 1 Einsolcher Resonatormit supraleiten-der Niob-Be-schichtung kannPhotonen imMikrowellen -bereich länger als eine Zehntel-sekunde langspeichern (Foto:CNRS, M. Brune).

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Q U A N T E N O P T I K | PH YS I K- N O B E L PR E I S 2 0 1 2

stimmt, so kann dieses seine Energie (ein Mikrowellenpho-ton) an das Resonatorfeld abgeben und anschließend wie-der absorbieren: Die Energie pendelt zwischen Atom undResonatorfeld hin und her. Dazu wird ein Strahl von sehrhoch angeregten Atomen (Rydberg-Atomen) verwendet, derdas Resonatorfeld durchläuft. Bei geschickter Wahl der Ex-perimentierbedingungen kann man die Atome veranlassen,ihre Anregungsenergie im Resonatorfeld zu deponieren.Verstimmt man ein wenig die Frequenz von Atom und Re-sonator, dann findet kein Energieaustausch mehr statt. DasResonatorfeld hinterlässt aber einen Phasenabdruck imAtom, der sich mit einer Ramsey-Anordnung messen lässt.Bemerkenswerterweise wird das im Resonator gespeicher-te Photonenfeld dabei nicht zerstört!

Bekanntlich spielt der Messprozess – und jede irgend-wie geartete Beobachtung entspricht einer Messung – einegroße Rolle bei Quantensystemen. Eine Messung verursachteine Projektion des Systems auf den gemessenen Zustand.Eine Messung an einer Überlagerung von zwei Zuständenergibt zufällig mal das eine, mal das andere Resultat; derQuantencharakter (die Überlagerung) ist dann zerstört.

Schrödinger hat diese Irritation unserer Vorstellungs-welt mit der Metapher einer Katze beantwortet, die durcheinen Mechanismus zu einem zufälligen Zeitpunkt (wiebeim radioaktiven Zerfall) in einen Überlagerungszustandvon tot und lebendig (nicht oder!) gebracht wird.

Nun ist eine Katze ein ausgesprochen makroskopischesLebewesen, im Gegensatz zu den Systemen, mit denenQuantenoptiker experimentieren. Serge Haroche und seineMitarbeiter haben deshalb ein Experiment erdacht, in demsie in ihrem Resonator einen Feldzustand erzeugen, der ausmehreren Photonen besteht, aber auch einem makroskopi-schen Objekt ähnelt: Je mehr Photonen, desto makrosko-pischer. Das Feld kann man mit einem rotierenden Uhrzei-ger vergleichen, der durch ein (wie oben leicht von der Re-sonanz verstimmtes) Atom geringfügig verzögert oderbeschleunigt wird. Ist auch das Atom in einem Überlage-rungszustand, so überträgt es seine Überlagerung auf dieVerzögerung des Feldes – das quasi-makroskopische Objektzeigt gleichzeitig zwei verschiedene Verzögerungen. Wiekann man nun unterscheiden, ob sich das Objekt noch ineiner quantenmechanische Überlagerung befindet oder ineinem von zwei Zuständen, den wir nur noch nicht kennen?

Dazu kann man versuchen, aus dem Überlagerungszu-stand den ursprünglichen Zustand durch gezielte Manipu-lationen wieder herzustellen. Ist der Quantencharakter er-halten, gelingt das ohne Schwierigkeiten, andernfalls hat dieDekohärenz den Quantencharakter der Überlagerung be-reits zerstört. Das Pariser Experiment hat bestätigt, dass dieDekohärenzzeit umso kürzer ist – der Überlagerungszustandumso schneller verschwindet – je mehr Photonen das Re-sonatorfeld enthält, je „makroskopischer“ es ist.

Im Pariser Experiment und in den Arbeiten am NISTsind die Rollen von Atomen und Lichtfeldern gewisserma-ßen vertauscht: Dienen Atome bei Haroche dazu, den Quan-tenzustand von Resonator-Lichtfeldern zu manipulieren und

auszulesen, sind es bei Wineland Lichtfelder, die die Bewe-gung von gespeicherten Ionen genau steuern. Im Zentrumihrer Arbeiten steht die Beherrschung der Wechselwirkungvon einzelnen Atomen und Photonen in nahezu idealenQuantensystemen. Es kommt darauf an, die Messmethodenso zu gestalten, dass der fragile Quantencharakter dabeinicht zerstört wird. Da werden Anwendungen auf die Dau-er nicht ausbleiben.

Zu dem rastlosen Fortschritt der letzten Jahrzehnte inder Quantenoptik haben viele Forscher in der ganzen Weltwichtige Beiträge geleistet. Die Preisträger haben ihre he-rausragenden Ergebnisse nicht nur ihrer enormen Einsichtund Kreativität zu verdanken, sondern auch dem unbe-dingten Willen, langfristig relevanten Fragestellungen mitgroßer Konsequenz nachzugehen.

StichwortePhysik-Nobelpreis 2012, David Wineland, Serge Haroche, Ionenfalle, Mikrowellen-Resonator, Quantenzustände, quan-tenmechanischer Messprozess, Schrödingers Katze.

Literatur[1] E. Schrödinger, Naturwissenschaften 1935, 23, 52.[2] W. Neuhauser et al., Phys. Rev. A 1980, 22, 1137.[3] J. Wineland, W.M. Itano, Phys. Lett. A 1981, 82, 75.[4] D.J. Wineland, P. Ekstrom, H. Dehmelt, Phys. Rev. Lett. 1973, 31, 1279.[5] D.J. Wineland, H. Dehmelt, Bull. Am. Phys. Soc. 1975, 20, 637.[6] S. Haroche, J.-M. Raimond, Exploring the Quantum, Oxford University

Press, Oxford 2006.

Der Autor Dieter Meschede leitet im Institut für Angewandte Physik der Universität Bonneine Arbeitsgruppe, die sich unter anderem mit Resonator-Quantenelektro -dynamik und Bose-Einstein-Kondensaten beschäftigt. Er hat lange Zeit mitSerge Haroche zusammen gearbeitet.

Anschrift Prof. Dr. Dieter Meschede, Institut für Angewandte Physik, Universität Bonn,Wegelerstraße 8, D-53115 Bonn. [email protected].

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D I E PR E I S T R Ä G E R |Serge Haroche wurde 1944 in Casablanca, Marokko, geborenund ist französischer Staatsbürger. Er wuchs in Paris auf, woer, abgesehen von langjährigen Forschungsaufenthalten inden USA, seine wissenschaftliche Karriere absolvierte. Seit2001 arbeitet er am Collège de France und der École NormaleSupérieure in Paris. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen,darunter 2010 den Herbert-Walther-Preis der Deutschen Phy -sikalischen Gesellschaft und der Optical Society of America.

David J. Wineland wurde 1944 in Milwaukee, USA, geborenund ist US-Amerikaner. Er promovierte an der Harvard-Universität und forschte anschließend mit Hans Dehmelt ander University of Washington. Seit 1975 ist er am NationalInstitute of Standards and Technology (NIST) in Boulder,Colorado. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2008den Herbert-Walther-Preis der Deutschen PhysikalischenGesellschaft und der Optical Society of America.

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zu, so macht die baryonische Materie knapp 5 % und Dunk-le Materie und Energie jeweils 25 % und 70 % aus.

Anfänglich kamen mehrere Kandidaten für die DunkleMaterie in Frage. Hierzu zählen sehr lichtschwache Sterne,Braune Zwerge, Schwarze Löcher oder nicht leuchtendeStaub- und Gaswolken. Sowohl Beobachtungen in vielenWellenlängenbereichen als auch theoretische Argumenteschließen diese jedoch aus. Derzeit favorisiert wird ein Kan-didat aus der Teilchenphysik, dessen Eigenschaften sichnach bisheriger Erkenntnis zumindest eingrenzen lassen.

Da die Dunkle-Materie-Teilchen gravitativ wechselwir-ken, besitzen sie offenbar eine nicht verschwindende Ru-hemasse. Sie sind elektrisch neutral, weil geladene Teilchenmit elektromagnetischer Strahlung wechselwirken und da-her längst entdeckt worden wären. Außerdem unterliegensie wohl nicht der starken Wechselwirkung, weil man sie an-dernfalls bereits in Beschleunigerexperimenten entdeckthätte. Schließlich deuten Modelle, die die Frühzeit des Uni-versums beschreiben, auf eine noch nicht entdeckte Artvon schwach wechselwirkenden Teilchen hin.

Zusammengefasst sind die aktuellen Kandidaten fürDunkle Materie also schwach wechselwirkende Teilchenmit Ruhemasse. Hierfür hat sich die englische AbkürzungWIMP (Weakly Interacting Massive Particle) eingebürgert.Aussichtsreiche Kandidaten für WIMPs liefert die Theorieder Supersymmetrie, eine Erweiterung des Standardmodellsder Teilchenphysik. Sie postuliert unter anderem die Exis-tenz von Teilchen mit genau den geforderten Eigenschaften(Physik in unserer Zeit 2008, 39 (2), 78).

Experimentelle Nachweismethoden Nachweisen lässt sich Dunkle Materie mit zwei prinzipiellunterschiedlichen Methoden. Der indirekte Nachweis setztdarauf, dass sich durch die Schwerkraft die Dunkle Materiean bestimmten Orten im Universum ansammelt, etwa in denZentren von Galaxien. Falls an solchen Stellen die Teilchender Dunklen Materie untereinander wechselwirken, kannman möglicherweise die Energie, die bei diesem Vorgangfrei wird, mit astronomischen Geräten auffangen (Physik inunserer Zeit 2012, 43 (1), 18)). Beispielsweise sucht man imGammabereich nach Strahlung, die möglicherweise bei derPaarvernichtung von WIMPs frei werden könnte.

Nachweis Dunkler Materie

Die Suche nach dem UnsichtbarenMICHAEL KIEFER

Normale baryonische Materie, aus der alle Sterne, Planetenund auch wir Menschen bestehen, macht nur wenige Prozentder insgesamt im Universum vorhandenen Materie aus. Einweitaus größerer Teil bleibt unsichtbar: die Dunkle Materie.Mit mehreren Experimenten versuchen Forscher weltweit,Teilchen der Dunklen Materie nachzuweisen. Einige von ihnen, wie das Experiment CRESST, könnten sie schon gefun-den haben.

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DOI: 10.1002/ piuz.201201317

Schon die Philosophen der Antike befassten sich mit dengrundlegenden Fragen nach dem ganz Kleinen und dem

ganz Großen: dem Aufbau der Materie und der Struktur desKosmos. Heute beschreiben wir mit dem Standardmodellder Teilchenphysik die Materie in Form von insgesamt zwölfElementarteilchensorten. Die Wechselwirkung zwischendiesen sogenannten Fermionen geschieht über vier andereTeilchensorten, die Bosonen. Im Großen beschreibt die All-gemeine Relativitätstheorie Raum und Zeit.

Astronomische Hinweise auf Dunkle MaterieErste Hinweise, dass es neben den bis dato bekannten Ob-jekten noch etwas anderes im Universum geben muss, fandder Astronom Fritz Zwicky bereits in den 1930er Jahren. Alser die Geschwindigkeiten von Galaxien in einem Gala-xienhaufen bestimmte, stellte er fest, dass sie sich schnellerbewegten als in einem gravitativ gebundenen Haufen er-wartet. Dies führte er auf die Gravitation von unsichtbarerMaterie zurück, für die er den Begriff Dunkle Materie ein-führte.

Die Hinweise auf die Existenz dieser Dunklen Materiehäuften sich im Laufe der Zeit und blieben nicht auf Gala-xienhaufen beschränkt. Beispielsweise bewegen sich Ster-ne in Spiralgalaxien schneller um das Zentrum, als es die Ge-samtmasse der Systeme erwarten lässt, und die Analyse vonGravitationslinsen belegt die gravitative Wirkung von un-sichtbarer Materie (Physik in unserer Zeit 2009, 40 (2), 74).Alle Ergebnisse zeigen, dass es etwa fünfmal mehr Dunkleals normale baryonische Materie im Universum gibt. Rech-net man die Dunkle Energie als Materieform (E = mc2) hin-

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sik, der Technischen Universität München, der University ofOxford und der Universität Tübingen betrieben.

Das Experiment selbst befindet sich in einem der größ-ten Untergrundlabore der Welt im Gran-Sasso-Bergmassiv,Italien. Nach allen Seiten ist das Labor von mindestens 1400 m Fels umgeben, was den Myonenfluss der kosmi-schen Strahlung um sechs Größenordnungen auf etwa einMyon pro Stunde und pro Quadratmeter reduziert.

Abgesehen von den verbleibenden Myonen sind radio-aktive Spurenelemente im Fels die Hauptursache von Un-tergrundstrahlung im Gran-Sasso-Labor. Neben Kalium-40gehören diese großteils zu den natürlichen Zerfallsreihenvon Uran-238 und Thorium-232. Mehrere Schichten unter-schiedlicher Materialien schirmen die Detektoren gegen die-se Strahlung ab (siehe „Abschirmung des Experiments“, S. 278). WIMPs werden wegen ihres geringen Wechselwir-kungsquerschnitts von der Abschirmung praktisch nicht be-helligt.

Obwohl diese Abschirmung das Experiment vor demEinfluss der Umgebung schützt, zählen die CRESST-Detek-toren dennoch etwa alle hundert Sekunden ein Ereignis imrelevanten Energiebereich. Das Wort Ereignis bezeichnetdabei generell jeden Vorgang, bei dem ein Teilchen Energieim Detektor deponiert. Die verbleibende Zählrate stammt

C R E S S T A S T R O T E I L C H E N P H Y S I K

Ein direkter Nachweis zielt darauf ab, die unmittelbareWechselwirkung von WIMPs mit einem Detektor nachzu-weisen. Die Erfolgsaussichten dieses Ansatzes hängen dabeivon mehreren Fragen ab: Gibt es in der Umgebung der Er-de überhaupt Dunkle Materie? Wie groß ist die Wahr-scheinlichkeit, dass Dunkle Materie mit dem Detektor wech-selwirkt? Kann sie eine nachweisbare Menge an Energie anden Detektor übertragen? Diese Fragen lassen sich mit Hil-fe einiger Abschätzungen näherungsweise beantworten.

Das Milchstraßensystem ist eine Spiralgalaxie. Die Ge-schwindigkeitsverteilungen der Sterne legen nahe, dass dieDunkle Materie in einer solchen Galaxie in Form einer an-nähernd kugelförmigen Wolke verteilt ist. Die Daten deseuropäischen Astrometriesatelliten Hipparcos beispiels-weise deuten darauf hin, dass eine solche Wolke in unsererEntfernung zum galaktischen Zentrum eine Dichte von 0,3 GeV/c²/cm³ hat [1]. Für schwach wechselwirkende Teil-chen kann man von einer typischen Masse in der Größen-ordnung von 10 bis 100 GeV/c² ausgehen, was in derselbenSkala wie die meisten Atomkerne liegt. Diese Annahme stütztsich auf Überlegungen, wann sich die WIMPs im frühen Uni-versum gebildet haben müssen. Da die WIMPs im Schwere-feld der Milchstraße gebunden sein müssen, kann ihre Ge-schwindigkeit höchstens in der Größenordnung von 100 km/sliegen. Diese drei Größen zusammen ergeben einen WIMP-Fluss in der Größenordnung von 105 Teilchen/cm²/s.

Nachdem es also auf der Erde wahrscheinlich WIMPs zuentdecken gibt, stellt sich die Frage, mit welcher Zählrateman sie detektieren könnte. Entscheidend dafür ist derWechselwirkungsquerschnitt, gewissermaßen die Wahr-scheinlichkeit, mit der zwei Teilchen miteinander intera-gieren. Das kann beispielsweise ein elastischer Stoß einesWIMPs an einem Atomkern des Detektors sein. Die gravi-tative Wechselwirkung ist in diesem Fall vernachlässigbar ge-ring, aber auch der Wechselwirkungsquerschnitt der schwa-chen Wechselwirkung ist für WIMPs so niedrig, dass man füreinen Detektor von 1 kg Masse mit etwa einem Stoßereig-nis alle zehn Tage rechnet. Bei einem solchen Stoß überträgtein WIMP eine Energie von der Größenordnung 10 keV. Da-mit ist ein Experiment, das auf direktem Wege nach Dunk-ler Materie sucht, also sowohl mit einer niedrigen Zählrateals auch mit einem sehr energiearmen Signal konfrontiert.

Erschwert wird der Nachweis des ohnehin schon ex-trem schwachen WIMP-Signals durch Störeffekte, ausgelöstetwa durch den Zerfall radioaktiver Isotope im Detektor-material oder durch Myonen der kosmischen Strahlung. DieRaten dieser insgesamt als Untergrund bezeichneten Strah-lungsquellen sind so hoch, dass sie ein mögliches Signal völ-lig überlagern würden.

Das Experiment CRESSTDerzeit laufen weltweit mehrere Experimente zum direktenNachweis von Dunkle-Materie-Teilchen (Tabelle 1). UnserExperiment CRESST (Cryogenic Rare Event Search with Su-perconducting Thermometers) wird von einer Kollaborati-on von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Phy-

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Das Experimen-talmodul CRESSTim Gran-Sasso-Labor.

TA B . 1 D U N K L E- M AT E R I E- E X PE R I M E N T E

CDMS Ge fest Phononen, Ionisation Soudan Mine, USACoGeNT Ge fest Ionisation Soudan Mine, USACRESST CaWO4 fest Phononen, Licht Gran Sasso, ItalienDAMA NaI fest Licht Gran Sasso, ItalienEDELWEISS Ge fest Phononen, Ionisation Modane, FrankreichXENON Xe flüssig Ionisation, Licht Gran Sasso, Italien

Experiment Detektor Zustand Signal(e) Standort

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von minimalen Verunreinigungen im Innersten des Ver-suchsaufbaus, in unmittelbarer Nähe oder sogar innerhalbder Detektoren. Die dort verwendeten Materialien werdenunter Reinraumbedingungen gehandhabt, ähnlich wie beider Produktion von Mikrochips. Die Detektoren sind aberso empfindlich, dass sie selbst auf diese kleinen, aber un-vermeidbaren Rückstände radioaktiver Isotope ansprechen.

Im Vergleich zu dieser Zählrate würde das erwarteteWIMP-Signal mit einer Rate von einem Ereignis alle zehn Tage völlig untergehen. Da die Detektoren selbst von derVerunreinigung betroffen sind, ist zudem ein weiteres Ab-schirmen nicht möglich. Trotzdem ist die Lage nicht aus-sichtslos, denn mit den von CRESST verwendeten Detekto-ren ist es möglich, die unerwünschten Ereignisse von ei-nem eventuell existierenden WIMP-Signal zu unterscheiden.

Die Hauptkomponenten der Detektoren sind Kalzium-wolframat-Kristalle (CaWO4), die gewissermaßen die Sam-melfläche für die Teilchen darstellen. Jeder Kristall ist einZylinder von je vier Zentimetern Durchmesser und Höheund wiegt etwa 300 g (Titelbild des Heftes und Abbil-dung 1). Insgesamt ist das Experiment für die Aufnahme vonbis zu 33 solcher Detektoren ausgelegt, zur Zeit der letztenDatennahme waren 17 installiert.

Wenn ein Teilchen, egal welcher Art, im Kristall wech-selwirkt, wird in einem Stoßprozess Energie übertragen. EinGroßteil dieser übertragenen Energie regt dabei die Atomedes Kristallgitters zu Schwingungen an. Der verbleibendeAnteil der Energie wird in Licht umgewandelt (Szintillation),

ähnlich wie in der Beschichtung einer Leuchtstoffröhre.Die Maßzahl für diesen Anteil wird als Lichtausbeute be-zeichnet.

Die Lichtausbeute ist variabel. Sie hängt davon ab, wel-ches Teilchen den Kristall trifft oder an welcher Kompo-nente des Kristalls der Stoßprozess stattfand. Ein Kalzium-wolframat-Kristall stellt vier verschiedene Stoßpartner zurVerfügung: Die Kerne von Kalzium-, Wolfram- und Sauer-stoffatomen sowie die Elektronen der Atomhüllen. Je mas-sereicher der Stoßpartner ist, desto weniger Licht entsteht.

Welche Art Stoßpartner aber bei einem Ereignis getrof-fen wird, hängt von der Art des einfallenden Teilchens ab.Einfallende Gamma-Quanten und Beta-Teilchen wechsel-wirken mit den Elektronen und produzieren das meisteLicht. Ihre Lichtausbeute wird als 100 % definiert und dientals Referenzwert für andere Teilchen. Im Vergleich dazuwird im Falle von eindringenden Alpha-Teilchen nur etwaein Fünftel an Licht produziert. Stöße von Neutronen fin-den hauptsächlich an Sauerstoffkernen statt, wobei dieLichtausbeute nur etwa 10 % beträgt. Bei WIMPs hängt dieLichtausbeute von ihrer Masse ab. Falls sie eine hohe Mas-se haben, werden voraussichtlich Stoßprozesse an denschweren Wolframkernen erfolgen, die mit etwa 4 % die ge-ringste Lichtausbeute haben. Für leichtere WIMPs spielenauch die leichteren Kalzium- (etwa 6 % Lichtausbeute) undebenfalls die Sauerstoffkerne eine Rolle.

Im Rückschluss ermöglicht also die Messung der Licht-ausbeute eine Aussage über die Art des Teilchens, das einDetektorereignis ausgelöst hat. Misst man die Energie derGitterschwingungen, kennt man in guter Näherung dieEnergie des Teilchens. Wie aber lassen sich Energien in derGrößenordnung von einigen 10 keV bei den Gitterschwin-gungen und bis deutlich unterhalb von 1 keV im Falle desLichts präzise und für einzelne Teilchen bestimmen?

Abbildung 2 zeigt den Aufbau eines einzelnen Detek-tormoduls. Nach einem Stoß erfüllen die Gitterschwingun-gen innerhalb einer Zeit von etwa 100 µs den komplettenKristall. Am unteren Ende des Kristalls befindet sich ein Me-tallfilm aus Wolfram, der die Schwingungen absorbiert undsich dadurch erwärmt. Die Temperaturänderung, die durchein einzelnes Teilchen hervorgerufen wird, stellt mit einigenMikrokelvin eine Herausforderung an die Messtechnik dar.

Um derart geringe Temperaturänderungen zu messen,nutzt man einen Trick: Der Film wird bei etwa 15 mK sta-bilisiert, so dass er sich im Übergang in den supraleitendenZustand befindet. (siehe „Phasenübergangs-Thermometer“,S. 279). Die erwartete Temperaturänderung von einigen Mi-krokelvin bringt den Film teilweise in den normalleitendenZustand. Die hierbei auftretende Widerstandsänderung istso groß, dass sie messbar ist.

Das Auslesen des Lichtsignals erfolgt auf ähnlichem We-ge. Ein reflektierendes Gehäuse hindert das Licht am Ver-lassen des Moduls. Innerhalb des Moduls befindet sich ei-ne Scheibe aus Saphir, die dank einer angepassten Be-schichtung das blaue Licht der Kristalle gut absorbierenkann. Die absorbierte Energie regt in der Scheibe wieder-

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Abb. 1 Um Verunreinigungen mit radioaktiven Spurenele-menten zu vermeiden, werden die Detektoren im Reinraumzusammengesetzt.

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um Gitterschwingungen an, die durch einen zweiten Ther-mometerfilm ausgelesen werden.

Aktuelle Ergebnisse und ihre DeutungDie kürzlich ausgewerteten Daten umfassen eine Messpe-riode von Mai 2009 bis April 2011. Nach einer Wartungs-und Aufrüstphase wird das Experiment voraussichtlich abEnde 2012 wieder in Betrieb gehen. Über einen Zeitraumvon mehreren Monaten bis Jahren werden die Detektorendann Ereignisse registrieren, die auf ihren Ursprung und einmögliches WIMP-Signal hin untersucht werden.

Da die Detektoren sehr empfindlich sind, können elek-trische Störungen oder auch Erschütterungen des Bodens,wie sie durch Bauarbeiten oder Erdbeben verursacht wer-den, die Qualität der Messdaten beeinträchtigen. Am An-fang der Auswertung müssen daher die Daten von solchenZeiträumen bereinigt werden. Anschließend wird für jedeseinzelne Ereignis die Energie und die Lichtausbeute be-stimmt.

Abbildung 3a zeigt die gemessene Lichtausbeute aller Er-eignisse in Abhängigkeit von der Energie. Diese Daten wur-den während einer Kalibrationsmessung mit Neutronen ge-nommen. Mit ihrer Hilfe kann man für Neutronenereignis-se (und damit für die Rückstöße von Sauerstoffkernen)charakteristische Eigenschaften wie die Breite der Bänderund damit die statistische Verteilung der Lichtausbeuteüberprüfen. Dies ist ein wichtiger Parameter für die Da-tenanalyse. Das obere Band mit einer Lichtausbeute von100 % besteht aus Gamma- und Elektronenereignissen ausder Untergrundstrahlung. Das untere Band mit 10 % Licht-ausbeute stammt von den Neutronen aus der Kalibrations-quelle.

Wie alle physikalischen Messwerte unterliegen die Ener-gie und insbesondere auch die Lichtausbeute Schwankun-gen. Diese definieren die Breite der Bänder. In den Dia-grammen sind die Bereiche markiert, in denen sich 80 % derEreignisse der dazugehörigen Bänder befinden.

Vor der eigentlichen Datennahme wird die Kalibrati-onsquelle entfernt. Abbildung 3b zeigt exemplarisch dieMessdaten eines einzelnen Detektormoduls. VerschiedeneFarben markieren die Bänder der unterschiedlichen Ereig-nisklassen. Der Bereich, in dem Ereignisse von WIMPs ver-mutet und deshalb in der Auswertung verwendet werden,ist orange gekennzeichnet. Die Begrenzungen dieser Ak-zeptanzregion stammen aus den folgenden Annahmen:

Aus kinematischen Gründen erwartet man WIMP-Sig-nale nur im Energiebereich unter 40 keV, was die Regionnach rechts begrenzt. Bedingt durch die begrenzte Detek-torauflösung werden alle Bänder zu niedrigen Energien hinbreiter. Im Diagramm überlappen die einzelnen Bänder zu-sehends. Zu niedrigen Energien, also nach links hin, ist dieGrenze der Akzeptanzregion daher so gewählt, dass die sta-tistische Erwartung über die gesamte Messdauer nur eineinzelnes Elektronen- oder Gamma-Ereignis in der Akzep-tanzregion beträgt. Unter der Voraussetzung, dass WIMPsmit allen Atomkernen des Kristalls, nicht aber mit den Elek-

tronen wechselwirken, bilden die obere Grenze des Sauer-stoff- und die untere Grenze des Wolframbandes die obereund untere Grenze der Akzeptanzregion.

Nach diesen Vorgaben wird für jedes Detektormodul ei-ne individuelle Akzeptanzregion bestimmt. Die folgendeDiskussion dreht sich nur noch um Ereignisse, die sich inden Akzeptanzregionen befinden, und somit als WIMPs inFrage kommen.

Für eine Suche nach Dunkler Materie lieferten acht Mo-dule brauchbare Daten. Deren Akzeptanzregionen enthaltenzusammen 67 Ereignisse. Diese können durch verschiede-ne Teilchen verursacht worden sein. Dann sind WIMPs ei-ne, aber nicht die einzige Möglichkeit. Bevor also Aussagenüber mögliche WIMP-Ereignisse getroffen werden können,muss man die Anzahl an anderen Ereignissen abschätzen.

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Eintretendes Teilchen

Szintillationslicht

Sensor

Lichtabsorber

Reflektor

Kristall

Sensor

A B B . 2 D E T E K TO R M O D U L

Ein in den Kristall eines CRESST-Moduls eintreffendes Teilchen erzeugt in einemStoßprozess Gitterschwingungen und Licht. Die Gitterschwingungen breiten sich imKristall aus und werden vom unteren Sensor registriert. Das Licht wird durch dasreflektierende Gehäuse im Modul gehalten, vom Lichtabsorber aufgenommen unddem angeschlossenen Sensor aufgezeichnet.

Page 16: Physik.in.Unserer.zeit 2012 6

Dabei kommen vier mögliche Ursachen in Frage:• der erwähnte Überlapp von Elektronen- oder Gamma-

Ereignissen in die Akzeptanzregion,• Ereignisse von Alpha-Teilchen, die sich ebenfalls durch

einen Überlapp der Bänder in der Akzeptanzregion fin-den und

• Neutronen-Ereignisse, die sich in der Akzeptanzregionvornehmlich durch Sauerstoffrückstöße äußern.

• Das in der Luft vorhandene Spurengas Radon hinter-lässt radioaktive Verunreinigungen auf den Kristall-oberflächen im Innern des Moduls. Eins der Zerfalls-produkte dieser Verunreinigungen ist das relativ lang-lebige Isotop Polonium-210. Bei dessen Zerfall könnendie Tochterkerne in den Kristall eindringen und sichähnlich wie Kernrückstöße an Wolfram verhalten (Ab-bildung 4).

Da die Akzeptanzregion so gewählt ist, dass maximal ein Er-eignis aus dem Elektronen- und Gamma-Band in die Regionhineinfällt, lassen sich acht Ereignisse durch Elektronen oderGamma-Quanten erklären. Zur Abschätzung des Beitragsder Alpha-Teilchen wird deren Rate in der in Abbildung 3

türkis eingezeichneten Referenzregion bestimmt und in dieAkzeptanzregion hinein extrapoliert. Dadurch kommt manauf einen Beitrag von 9,2 Alpha-Ereignissen.

Bei der Abschätzung der Neutronenrate hilft die Tatsa-che, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die rele-vanten Prozesse nicht nur ein einzelnes, sondern gleichmehrere Neutronen erzeugen, die jeweils auch mehrfachstreuen und somit auch mehrere Detektormodule auslösenkönnen. Aus dem Verhältnis zwischen Einzel- und Mehr -fachereignissen während der Neutronenkalibration einer-seits und während der eigentlichen Messung andererseitslässt sich so ein Wert von 11,4 für die Anzahl von Einzel-neutronen abschätzen.

Ähnlich wie der Beitrag der Alpha-Zerfälle lässt sich dieAnzahl der durch Poloniumzerfall hervorgerufenen Ereig-nisse aus einer Referenzregion heraus extrapolieren. Dabeikommt man auf etwa 17 Ereignisse.

278 Phys. Unserer Zeit 6/2012 (43) www.phiuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

A B S C H I R M U N G |Die Felsschicht, die das Untergrund -labor umgibt, reduziert den Fluss ankosmischen Myonen drastisch. Dieverbleibenden Myonen können aber inder Umgebung des Experiments Neu -tronen freisetzen, die im Detektor einSignal auslösen. Zusätzlich ist dasExperiment natürlicher Radioaktivitätausgesetzt, von der hauptsächlich dieNeutronen- und die Gammastrahlungvon Belang sind.

Gelangt ein Myon in die unmittel -bare Nähe der Detektoren, löst es denVetozähler aus, der (in der Abbilungdunkelblau) den inneren Teil desExperiments umgibt. Ereignisse, beidenen zeitnah der Vetozähler ausge-löst hat, werden von der Analyseausgenommen.

Zur Abschirmung gegen Neutronenvon außerhalb dient eine 45 cm dickeSchicht aus insgesamt 10 t des Kunst-stoffs Polyethylen (gelb). Die Abschir-mung gegen die Gammastrahlungbesteht aus zwei Lagen: einer äußeren,20 cm dicken und 24 t schweren Blei -schicht (grau). Da dieses Blei selbstgeringe Spuren radioaktiver Verunreini-gungen aufweist, schließt sich eine14 cm dicke innere Schicht von 10 thochreinem Kupfer an. Diese orangeeingezeichnete Schicht schirmt dieinnen liegenden Detektoren (hellblau)gegen die Strahlung des Bleis ab.

Ähnlich wie bei der Herstellung vonMikrochips werden die Detektorenunter Reinraumbedingungen produ-ziert und eingebaut. Dieses Verfahrenverhindert weitestgehend die Konta-mination der Detektoren mit radio -aktiven Materialien während derProduktion.

0 50 100 150 200 250 300Energie/keV

0

50

100

Lich

taus

beut

e/%

A B B . 3 M E S S DAT E N

a) Messdaten während der Kalibrationsmessung mit Neutro-nen. Das obere Band wurde durch Gamma-Absorptionenverursacht, das untere durch Neutronen. b) In den Messdateneines einzelnen Detektormoduls dominiert während dernominellen Messphase das Gamma- und Elektronenband miteiner Lichtausbeute um die 100 %. Weiter unten die Bänder vonAlpha-Teilchen (gelb, türkis), Sauerstoff- (purpur) und Wolf-ram-Kernrückstößen (grau). Im orange markierten Bereichauftretende Punkte kommen als WIMP-Ereignisse in Frage.

Energie/keV

0

50

100

Lich

taus

beut

e/%

α

OW

0 20 40 60 80 100 120 140

a)

b)

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C R E S S T A S T R O T E I L C H E N P H Y S I K

Dunkle Materie gefunden?Von den insgesamt 67 Ereignissen in der Akzeptanzregionlassen sich unter diesen Annahmen also 46 durch bereits be-kannte Ursachen erklären. Bleiben also 21 Ereignisse, derenUrsprung nicht auf die oben genannten Mechanismen zu-rückzuführen ist.

Die in [2] vorgenommene Auswertung geht über diehier angedeutete Argumentation hinaus: Unter Berücksich-tigung sowohl der Lichtausbeute als auch der Energie wirdein Modell an die gemessenen Daten gefittet. Das Modell be-inhaltet neben den oben genannten Untergründen auchWIMPs mit den freien Parametern Masse und Wechselwir-kungsquerschnitt. Das Ergebnis dieses Fits ermöglicht fol-gende grundlegende Aussagen:• Die von den Modellannahmen vorausgesagten Unter-

gründe reichen nicht aus, um die Anzahl an Ereignissenzu erklären.

• Dieser Überschuss kann im Prinzip eine zufällige Ab-weichung von dem statistisch erwarteten Wert sein. Je-doch ist die Wahrscheinlichkeit für eine derart hohe Ab-weichung mit weniger als 1 in 100 000 sehr gering.

• Neben einem nicht berücksichtigten oder einem zuschwach abgeschätzten Untergrund kommen WIMPs alsmögliche Erklärung für den Überschuss in Frage. Diese

hätten eine Masse in der Größenordnung von 10 GeVund einen Wechselwirkungsquerschnitt in der Größen-ordnung von 10–6 pb. Protonen mit vergleichbarer Ener-gie besitzen einen um 16 Größenordnungen größerenWechselwirkungsquerschnitt.

Abbildung 5 zeigt den Parameterraum für WIMPs in punktoMasse und Wechselwirkungsquerschnitt. Der blau markier-te Bereich deckt die Werte ab, die anhand der vorliegendenDaten von CRESST am plausibelsten sind. Neben CRESSThat auch das CoGeNT-Experiment Ereignisse gefunden, diemit einem Untergrundsignal nicht vereinbar sind. Die lautCoGeNT plausiblen Werte für WIMPs [3] sind als purpur-ner Bereich markiert. Die DAMA-Kollaboration (Orange) be-ansprucht seit 2003 für sich, Dunkle Materie in Form vonWIMPs gefunden zu haben, deren Fluss sogar mit den Jah-reszeiten variiert [4].

Neben diesen Experimenten, die Hinweise auf WIMPsveröffentlicht haben, gibt es auch eine Reihe von Experi-menten wie CDMS [5], EDELWEISS [6] und XENON [7], diebisher keine ihrer Ereignisse als WIMP-Signal deuten. Je klei-ner die zu messende Energie und der Wechselwirkungs-querschnitt sind, desto höher sind die Ansprüche an dieEmpfindlichkeit der Messgeräte. Dementsprechend schlie-ßen diese für den von ihnen abgesuchten Parameterbereichoberhalb der entsprechend markierten Kurven die Existenzvon WIMPs aus.

Wie in Abbildung 5 zu erkennen ist, liegen die WIMP-Parameter der drei Experimente in unterschiedlichen Re-gionen. Vor allem aber befinden sich die von CRESST,

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PH A S E N Ü B E RG A N G S -T H E R M O M E T E R |

Um Temperaturänderungen voneinigen Millionstel Kelvin messen zukönnen, arbeitet ein CRESST-Detektormit einem Phasenübergangs-Thermo-meter. Es beruht auf einer drastischenÄnderung des elektrischen Wider-stands in dem Temperaturbereich, indem der Phasenübergang von derSupra- zur Normalleitung geschieht(Abbildung). Bringt man einen Supra-leiter genau auf diese Temperatur, so

reicht bereits eine Temperaturände-rung ΔT von einigen Mikrokelvin, umeine messbare Änderung ΔR desWiderstands hervorzurufen. DerEnergieeintrag eines Teilchens in denDetektor macht sich als Temperatur-puls bemerkbar, der von der Elektronikausgelesen und für die Analyse auf -gezeichnet wird. Bei CRESST verwen-den wir Wolfram bei einer Temperaturvon einigen Millikelvin.

Temperatur

Wid

erst

and

Supraleitung

Normalleitung

Δ T

Δ R

Gehäuse Kristall

A B B . 4 P O LO N I U M Z E R FA L L

Radon-222 kann sich auf Oberflächen absetzen, wo es nachmehreren Zerfällen in Polonium-210 übergeht. Tritt beidessen Zerfall das Alpha-Teilchen in den Kristall ein, wird eseinfach als Alpha-Ereignis registriert (oben). Es kann aberauch vorkommen, dass der Tochterkern Blei-206 in denKristall eindringt und das Alpha-Teilchen austritt (unten). Einsolches Ereignis ist von einem Wolfram-Kernrückstoß fak-tisch nicht zu unterscheiden. Ein szintillierendes Detektorge-häuse ermöglicht es aber, über das dort vom Alpha-Teilchenerzeugte Licht einen solchen Prozess zu erkennen und alsWIMP auszuschließen.

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CoGeNT und DAMA gefundenen WIMP-Regionen teilweisein Bereichen, die andere Experimente ausgeschlossen ha-ben. Über die Ursache für diesen Widerspruch wird derzeitheftig diskutiert. Sie könnte an den unterschiedlichen He-rangehensweisen der einzelnen Experimente liegen. Beiden Detektormaterialien kommen statt Kalziumwolframatje nach Experiment Germanium, Natriumjodid oder flüssi-ges Xenon zum Einsatz (Tabelle 1). Auch bei der Daten-analyse werden unterschiedliche Methoden eingesetzt.Theoretiker entwickeln neue Modelle, die diese methodi-schen Unterschiede zur Erklärung für die unterschiedlichenResultate heranziehen. Weiterhin ist es denkbar, dass beiden entsprechenden Modellannahmen Untergründe über-sehen oder falsch abgeschätzt wurden.

Zur endgültigen Klärung bedarf es deshalb weiterer Da-ten. Sollten sich Experimente, die verschiedene Technikenverwenden, in ihren Aussagen bestätigen, hätten ihre Er-gebnisse umso mehr Gewicht. Hier erwarten wir in denkommenden Jahren interessante Ergebnisse, weil derzeit ei-nige Experimente technisch verbessert werden.

Zusammenfassung Viele astronomische Beobachtungsergebnisse belegen dieExistenz von Dunkler Materie. Nach derzeitiger Erkenntnis be-steht sie aus nichtbaryonischen, schwach wechselwirkendenElementarteilchen (WIMPs), die das Standardmodell der Teil-chenphysik nicht enthält. Sie sollten extrem geringe Wech-selwirkungsquerschnitte besitzen, aber in so großer Zahl amOrt der Erde vorhanden sein, dass ein direkter Nachweis mög-lich erscheint. Das Experiment CRESST hat in seinen aktuellenMessdaten mehrere Ereignisse gefunden, die von WIMPs her-rühren könnten. Letztliche Klarheit können jedoch nur weite-re Daten bringen.

Stichworte Dunkle Materie, WIMP, Weakly Interacting Massive Parti-cles, CRESST, Cryogenic Rare Event Search with Supercon-ducting Thermometers, Phasenübergangs-Thermometer.

Literatur[1] M. Crézé et al., Astron. Astrophys.1998, 329, 920.[2] CRESST collaboration G.Angloher, Eur. Phys. J. C 2012, 72 (4), 1971.[3] CoGeNT collaboration C. E. Aalseth, Phys. Rev. Lett. 2011,

107,141301.[4] C. Savage et al, JCAP 2009, 0904, 010. [5] CDMS collaboration, Z. Ahmed et al., Science 2010, 327, 1619.[6] EDELWEISS collaboration, E. Armengaud et al. 2011, Physics Letters B

2011, 702, 329. [7] XENON100 collaboration, E. Aprile et al., Phys. Rev. Lett. 2011, 107,

131302.

Der Autor Michael Kiefer, geb. 1981, studierte bis 2006 Physikin Würzburg und Grenoble, 2012 promovierte er imRahmen der CRESST-Kollaboration am Max-Planck-Institut für Physik in München.

AnschriftDr. Michael Kiefer, Max-Planck-Institut für Physik,Föhringer Ring 6, 80805 München. Email [email protected]

280 Phys. Unserer Zeit 6/2012 (43) www.phiuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

10 100 1000

WIMP-Masse/GeV/c2

10-8

10-6

10-4

WIM

P-N

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CRESSTCoGeNTDAMAEDELWEISS-IICDMS IIXENON100

A B B . 5 PA R A M E T E R R AU M F Ü R D U N K L E M AT E R I E

Die Messungen von CRESST, DAMA und CoGeNT wären jeweilsmit Dunkler Materie erklärbar, die Resultate sind allerdingsnicht untereinander konsistent. Andere Experimente wieEDELWEISS, CDMS und XENON haben in den jeweiligenParameterbereichen bisher keine Kandidaten für DunkleMaterie ausmachen können.

I N T E R N E T |Das Experiment CRESSTwww.cresst.de

Dunkle Materie www.astro.uni-bonn.de/∼deboer/pdm/pdmdmtxt.html

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K O L H Ö R S T E R P H Y S I K G E S C H I C H T E

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turwissenschaften aufzunehmen. Zum Sommersemester1909 ging er an die Universität Halle, wo er im Frühjahr1911 promovierte.

Sein Doktorvater war Ernst Dorn, der zu den Pionierender Radioaktivitätsforschung in Deutschland gehörte unddas radioaktive Gas Radon entdeckt hatte. Neben der Er-forschung von Radioaktivität und Röntgenstrahlen gehörtedas Studium der atmosphärischen Elektrizität zu seinen For-schungsschwerpunkten, von denen nicht zuletzt auch Kol-hörsters Forschungen beeinflusst wurden. In seiner Dis-sertation beschäftigte er sich mit den radioaktiven Eigen-schaften des Karlsbader Sprudels. Dies hatte einerseits zumZiel, den Radiumgehalt und damit die radioaktiven Eigen-

Hundert Jahre Entdeckung der kosmischen Strahlung

Werner Kolhörster: Pionier derHöhenstrahlungsforschung DIETER HOFFMANN

Neben Victor Franz Hess gehört Werner Kolhörster (1887–1946) zu den herausragen-den Pionieren in der Entdeckungs- und Früh-geschichte der kosmischen Strahlung. Den-noch überschattet heute der Ruhm von Hessweitgehend Kolhörsters Verdienste.

DOI: 10.1002/ piuz.201201315

Die Dominanz von Victor Franz Hess hat ganz wesent-lich mit der Wirkungsmacht und dem Nimbus des No-

belpreises zu tun, der ihm im Jahre 1936 zusammen mitdem Entdecker des Positrons Carl David Anderson verliehenwurde, während Kolhörster und andere Pioniere der Hö-henstrahlungsforschung leer ausgingen. Ebenfalls kontra-produktiv für die volle Anerkennung von Kolhörsters wis-senschaftlichen Leistungen waren die ungünstigen berufli-chen Umstände seines Wirkens, das über viele Jahrenebenberuflich erfolgen musste, sowie sein früher Tod imJahre 1946. [8] Hierdurch ist heute Kolhörster im Vergleichzu Hess weitgehend unbekannt – ungeachtet der Tatsache,dass es erst Kolhörsters Ballonfahrten waren, die zweifels-frei die Hess’schen Messungen bestätigten und die Entde-ckung der kosmischen Strahlung in der damaligen PhysicalCommunity unanfechtbar machten. Leben und Werk vonWerner Kolhörster kann so als ein weiteres Beispiel für dieGültigkeit des sogenannten Mattheus-Prinzips gelten: „Dennwer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; weraber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“

Von der Radioaktivität zur HöhenstrahlungWerner Kolhörster wurde am 28. Dezember 1887 im ost-brandenburgischen Schwiebus (heute Swiebodzin, Polen)geboren, wo seine Eltern ein Geschäft betrieben und der Va-ter auch als Stadtrat wirkte. Nach dem Besuch der HöherenKnabenschule seiner Heimatstadt wechselte der 14-Jährigeauf das Realgymnasium im benachbarten Frankfurt/Oderund legte dort 1906 das Abitur mit Auszeichnung ab. An-schließend begann er an der Berliner Universität ein Studi-um der Nationalökonomie, dass er nach zwei Semestern un-terbrach, um schließlich zum Sommersemester 1908 an derUniversität Marburg ein Studium der Mathematik und Na-

Abb. 1 Werner Kolhörster (28.12.1887 bis 5. August 1946)(Foto: Archiv R. Fricke).

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der Luftionisation mit der Höhe nachweisen konnte. Dieseführte Hess zu der Feststellung: „Der einzige mögliche Weg,meine experimentellen Befunde zu erklären, war, auf dieExistenz einer bisher unbekannten, sehr durchdringendenStrahlung zu schließen, die hauptsächlich von oben kommtund wahrscheinlich außerterrestrischen (kosmischen) Ur-sprungs ist.“

Hess’ dezidierte Behauptung war keine Zufallsentde-ckung, sondern gründete sich auf ein Forschungsprogramm,das er über einen längeren Zeitpunkt verfolgt hatte und beidem er systematisch alle anderen Quellen der nachgewie-senen radioaktiven Strahlung bewertet und als Ursache aus-geschlossen hatte (Physik in unserer Zeit 2012, 43 (4), 168).Seine Ballonfahrt vom 7. August 1912 und die sich daraufbeziehenden Publikationen in den Sitzungsberichten derWiener Akademie und der Physikalischen Zeitschrift geltendeshalb heute gemeinhin als das Entdeckungsdatum derkosmischen Höhenstrahlung. Doch wegen der messtechni-schen Mängel, aber auch weil Hess nur kurzzeitig eine ma-ximale Höhe etwa 5300 m erreicht hatte und in diesemcharakteristischen Höhenbereich zudem nur eine einzigeMessung – allerdings mit zwei Elektrometern – erfolgte,wurde Hess’ Entdeckung in der zeitgenössischen Literatur

schaften der Heilquelle in Karlsbad zu bestimmen, und an-dererseits die Methoden zur Abscheidung geringer Radi-ummengen zu verbessern. Wie das Prädikat summa cumlaude belegt, hat Kolhörster die gestellte Aufgabe mit gro-ßem Erfolg bewältigt.

Als Assistent Dorns am Physikalischen Institut der Uni-versität Halle konnte Kolhörster seine diesbezüglichen For-schungen in den folgenden drei Jahren weiter ausbauen;1913 legte er auch die facultate docendi ab. Angeregt durchdie bevorstehende Sonnenfinsternis im Frühjahr 1912 rich-tete Kolhörster sein Forschungsinteresse auf geophysikali-sche Fragen. So begann er sich für die Forschungen des Val-kenburger Jesuitenpaters und Physikers Theodor Wulf zu in-teressieren, der aus Messungen der Luftionisation aufverschiedenen Höhenniveaus vermutet hatte, dass es nebender erdgebundenen Strahlung auch eine (kaum nachweis-bare) „kosmische Strahlung“ geben sollte. Die Messungenhatte Wulf unter anderem in den Alpen und auf dem Eiffel-turm ausgeführt.

Hieran anknüpfend beschäftigte sich Kolhörster mit Mit-teln des Aerophysikalischen Forschungsfonds der Natur-forschenden Gesellschaft Halle mit der Ionisierung in geschlossenen Gefäßen und nutzte die gewonnenen For-schungsergebnisse, um die für die Messung der Luftionisa-tion genutzten Instrumente zu verbessern. Die von Wulfund anderen vorgelegten Ergebnisse zur Höhenabhängig-keit der radioaktiven Strahlung krankten nämlich nicht nuran der Unübersichtlichkeit der Strahlungsquellen, die dieLuftionisation hervorrufen konnten. Darüber hinaus gab esgravierende gerätetechnische Mängel, unter anderem Isola-tionsprobleme sowie die Temperatur- und Druckabhängig-keit der genutzten Elektrometer.

Einen entscheidenden Impuls erhielt Kolhörsters For-schung durch die Ballonfahrten des Wiener Physikers VictorF. Hess im Sommer 1912, die ihn bis in Höhen von 5300 mgeführt hatten und bei denen er eine signifikante Zunahme

Abb. 2 Der Kolhörstersche Strahlungsapparat (Foto: Archiv R. Fricke).

80

60

40

20

2 4 6 8

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Höhe / km

A B B . 3 BA L LO N AU F S T I EG E

Die Messwerte der Ballonaufstiege von Victor F. Hess am7.8.1912 (Stufenkurve) und Werner Kolhörster 1913/14(gefüllte und offene Kreise) (nach D. Fick, Marburg).

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durchaus kontrovers diskutiert und zunächst mit einigerSkepsis begegnet. So versuchten Forscher wie der Schwei-zer Physiker Albert Gockel auch weiterhin, den Effekt dersignifikanten Zunahme der Luftelektrizität durch radioakti-ve Quellen in der Atmosphäre zu erklären.

Auch Werner Kolhörster stand der Hess’schen Entde-ckung skeptisch gegenüber, doch machte er sich im Ge-gensatz zu Gockel zur Aufgabe, diese experimentell weiterzu fundieren und zu bestätigen. Dies versuchte er dadurchzu erreichen, dass er sich um eine Perfektionierung dermesstechnischen Rahmenbedingungen bemühte. Insbe-sondere verbesserte er das Wulfsche Elektrometer für Mes-sungen unter starken Druck- und Temperaturschwankun-gen sowie den komplizierten Messbedingungen einer Bal-lonfahrt. Dabei arbeitete er eng mit der Firma Günther &Tegetmeyer in Braunschweig zusammen, die die Elektro-meter produzierte. Im Ergebnis dieser Kooperation entstandder sogenannte Kolhörstersche Strahlungsapparat [6, S. 205ff] (Abbildung 2). Darüber hinaus plante KolhörsterBallonaufstiege in noch größere Höhen, um so die aus derHess’schen Entdeckung folgende weitere Zunahme der Luft -ionisation zu prüfen.

Hinauf bis in 9300 Meter HöheMit seinem Strahlungsapparat führte Kolhörster im Sommer1913 von Bitterfeld aus, wo es einen Ballonfahrerclub gabund die dortige chemische Industrie das nötige Wasser-stoffgas in genügender Menge produzierte, drei Ballonfahr-ten durch. Sie wurden vom Aerophysikalischen For-schungsfonds Halle gefördert und führten ihn bis auf 4100,4300 und 6300 m Höhe. Die Messungen bestätigten undpräzisierten die von Hess gelieferten Ergebnisse, so dass da-durch „die Annahme, daß der Ursprung dieser durchdrin-genden Strahlung nicht in den bekannten radioaktiven Stof-fen der Erde oder der Atmosphäre zu suchen ist, bedeutendan Wahrscheinlichkeit“ gewonnen hatte [9, S. 1155].

Am 28. Juni 1914 führte Kolhörster mit Sauerstoffmas-ke eine Hochfahrt durch, bei der er eine maximale Höhevon 9300 m erreichte. Der dabei gemessene Ionisations-wert war um eine Größenordnung größer als bei den vo-rangegangenen Ballonfahrten (Abbildung 3). So konnte Kol-hörster zwei Wochen später in einem Vortrag vor der Phy-sikalischen Gesellschaft in Berlin „jeglichen Zweifel an derReellität der Messungen und damit an der Zunahme der Io-nisation ... (ausschließen). Mangels jeglicher anderer Erklä-rung hierfür wird man nicht umhin können, diese Tatsachedurch die Annahme einer Strahlung hohen Durchdrin-gungsvermögens in den oberen Schichten der Atmosphäreoder in unserem Sonnensystem zu erklären. Es erscheintausgeschlossen, daß die bekannten radioaktiven Substan-zen des Erdbodens oder der Luft hierfür verantwortlichsind“ [10, S. 720f].

Kolhörster hatte mit seinen Messungen die Hess’scheHypothese über die Existenz einer kosmischen Höhen-strahlung auf eine sehr viel breitere und vor allem unan-fechtbare experimentelle Basis gestellt. Dies betraf sowohl

die Bestätigung einer weiteren Zunahme der Luftionisationmit der Höhe als auch die Genauigkeit der Messungen, dieKolhörster mit ± 10 bis 15 % angab. Nicht zuletzt schlossdie erstmalig von Kolhörster abgeschätzte Härte der Strah-lung (Durchdringungsvermögen) praktisch alle bekanntenradioaktiven Quellen aus [15, S. 3]. Angesichts solcher Me-riten wäre es nicht unverdient, Kolhörster als Mitentdeckerder kosmischen Strahlung zu bezeichnen. Das sahen aucheinige Zeitgenossen so – beispielsweise sprachen WaltherNernst von der Hess-Kolhörster-Strahlung oder Lajos Jánossyanlässlich des 50-jährigen Entdeckungsjubiläums von Kol-hörster als Mitentdecker.

Mit seinen Ballonfahrten (Abbildung 4) hatte sich Kol-hörster ganz der Höhenstrahlungsforschung verschriebenund dafür im eben zitierten Aufsatz auch schon ein erstesForschungsprogramm skizziert: „Man darf vermuten, daßeine durchdringende Strahlung kosmischen Ursprungs exis-tiert, die wohl zum größten Teil von der Sonne herrührt. Esist daher beabsichtigt, diese Vermutung durch Beobachtungam Erdboden unter geeigneten Bedingungen – Messungenüber und im Wasser zu verschiedenen Tageszeiten, Be -obachtungen während der Sonnenfinsternis vom 21. Au-gust d.J. in der Zone der Totalität – nachzuprüfen und durch weitere Hochfahrten ihren Ursprung festzustellen“[10, S. 721].

Abb. 4 Werner Kolhörster bei einer seiner Ballonfahrten, um1913 (Foto: Archiv R. Fricke).

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Allerdings verhinderte der Ausbruch des ersten Welt-kriegs zunächst die Ausführung seiner Forschungspläne –wie Krieg und Nachkriegszeit überhaupt die Erforschungder Höhenstrahlung für viele Jahre vor allem in Europa prak-tisch zum Erliegen brachte [2]. Weiterhin entbrannte in den1920er Jahren ein Streit um die Entdeckung der kosmischenStrahlung zwischen den europäischen Pionieren des Ge-biets, namentlich Hess und Kolhörster, und dem amerika-nischen Physiker Robert Andrews Millikan [1, S. 348ff]. Die-ser hatte nach dem ersten Weltkrieg begonnen, sich mitden Cosmic Rays – wie er die Höhenstrahlung wohl auchin Abgrenzung zu seinen europäischen Kollegen nannte –zu befassen und deren Intensitätsverlauf bis in die Strato-sphäre gemessen. Damit glaubte er die Messungen von Hess

und Kolhörster in Frage stellen zu können, wobei ihm auchdie amerikanischen Medien zur Seite standen und den Be-griff der Millikan-Rays kreierten. Dies provozierte dann ei-ne dezidierte Klarstellung der genauen Entdeckungsum-stände durch Hess, Kolhörster und andere europäische Pio-niere des Forschungsgebiets [12].

Zur Verfolgung seines Forschungsprogramms und zurAneignung modernen radioaktiver Messtechniken war Kol-hörster noch im Frühjahr 1914 als „freiwilliger Gastmitar-beiter“ an die Berliner Physikalisch-Technische Reichsan-stalt zu Hans Geiger gegangen. Die Reichsanstalt und na-mentlich das Geigersche Laboratorium für Radioaktivitätgehörten damals weltweit zu den führenden Einrichtungenauf diesem Gebiet. Allerdings verhinderte der Ausbruch desWeltkriegs die Fortsetzung seiner Tätigkeit, wie auch dieÜbernahme der ihm angebotenen Leitung des physikalisch-meteorologischen Observatoriums im Schweizerischen Da-vos. Kolhörster musste stattdessen in den Krieg ziehen unddiente – nach eigenen Angaben – zunächst beim Wetter-dienst und später in einer Giftgaseinheit. Im Jahre 1916wurde er zur deutschen Militärmission nach Konstantino-pel abkommandiert und übernahm die Leitung der Feld-wetterwarte Waniköi am Bosporus, wo er neben Wetterbe-obachtungen auch umfangreiche Messungen der Luftelek-trizität und der Höhenstrahlung durchführte – die ersten indieser Gegend. Nach dem Kriegsende diente er noch für ei-nige Monate als Physiker beim Seeflugzeugkommando derMarine in Warnemünde.

Neuanfang nach dem Ersten WeltkriegDie politische und ökonomische Situation Deutschlands inder Nachkriegszeit ermöglichte weder die Fortsetzung sei-ner militärischen Tätigkeit, noch eine Rückkehr zur wis-senschaftlichen Forschung, so dass er in den Schuldienstwechselte. Ab Februar 1919 wirkte er zunächst als Studi-enreferendar, dann als Assessor am Cottbuser Friedrich-Wil-helm-Gymnasium und ab Ostern 1920 als Studienrat an derFriedrich-Werder-Oberrealschule sowie dem Sophien-Real-gymnasium in Berlin.

Parallel zu seinen schulischen Verpflichtungen nahm eraber auch die Möglichkeit wahr, ab dem Sommer 1922 ander Charlottenburger Reichsanstalt als Gastmitarbeiter sei-ne Höhenstrahlungsforschungen wieder aufzunehmen.Dort bemühte er sich um die weitere Verbesserung seinesStrahlungsapparates, konstruierte einen neuartigen Regis-trierapparat und entwickelte das sogenannte Schlingen-elektrometer nach Kolhörster – alles wieder in enger Zu-sammenarbeit mit Günther & Tegtmeyer [6]. Mit Mittelnder Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Not-gemeinschaft der Deutschen Wissenschaft konnte Kolhörs-ter 1923, 1924 und 1926 außerdem drei hochalpine Expe-ditionen auf das Jungfraujoch, den Eigergletscher und denMönchsgipfel in den Berner Alpen ausrüsten, wozu er vomSchuldienst beurlaubt wurde (Abbildungen 5 und 6). Zielder Expeditionen war die Aufnahme umfangreicher Mess-reihen zur Höhenstrahlung. So suchte er die Einfallsrich-

Abb. 5 Werner Kolhörster auf dem Mönchsgipfel (Foto: Archiv R. Fricke).

Abb. 6 Messungen im Innern eines Gletschers in den Alpen (Foto: Archiv R. Fricke).

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tung der Strahlung sowie mögliche Abhängigkeiten von stel-laren Konstellationen zu bestimmen.

Für seine Forschungen wurde Kolhörster im Jahre 1925mit der Silbernen Leibniz-Medaille der Akademie geehrt –nicht nur eine hohe, sondern auch eine verdiente Aus-zeichnung für seine bisherigen Pionierarbeiten auf dem Ge-biet der Höhenstrahlungsforschung.

An der Reichsanstalt war Kolhörster ständiger Gast imLaboratorium für Radioaktivität, das bis 1925 von Hans Gei-ger und nach dessen Wechsel an die Universität Kiel dannvon Walther Bothe geleitet wurde [7]. Insbesondere Letz-terer wurde zu Kolhörsters wissenschaftlichem Mentor, undbeiden gelang in den späten 1920er Jahren auch der fun-damentale Nachweis des Teilchencharakters der kosmi-schen Höhenstrahlung. Obwohl es Hinweise für ihre kor-puskulare Natur gab – unter anderem „schöne Wilson-Auf-nahmen“ des sowjetischen Physikers David Skobelzyn [18,S. 225] –, ging man allgemein davon aus, dass die Höhen-strahlung wegen ihres starken Durchdringungsvermögenseine sehr harte Gammastrahlung war. Sie wurde deswegenoft auch als Ultragammastrahlung bezeichnet.

Zusammen mit Bothe ging er daran, mit der sogenann-ten Koinzidenzmethode die korpuskulare Natur der Hö-henstrahlung nachzuweisen. Die Koinzidenzmethode hat-ten Hans Geiger und Bothe 1925 an der Reichsanstalt ent-wickelt, um damit den Nachweis der strengen Gültigkeitvon Energie- und Impuls erhaltungssatz bei atomaren Um-wandlungsprozessen zu führen [4].

Das Grundprinzip der Koinzidenzmethode besteht da-rin, zwei (oder mehrere) Detektoren so zu verkoppeln, dassdas gleichzeitige Auftreten von Ereignissen registriert wer-den kann. Bothe und Kolhörster kombinierten die Metho-de mit dem gerade von Hans Geiger und Walter Müller inKiel erfundenen Geiger-Müller-Zählrohr, wobei zwei solcheInstrumente senkrecht übereinander angeordnet und zurAbschirmung der Umgebungsstrahlung mit einem Blei -panzer umgeben wurden (Abbildung 7). Sprachen beideGeiger-Müller-Zählrohre gleichzeitig an (die damalige Zeit-auflösung lag bei etwa einer Millisekunde), so war davonauszugehen, dass ein Teilchen durch die gesamte Ver-suchsanordnung geflogen war.

Zur Sicherung eines möglichst direkten Einfalls derStrahlung wurde die Koinzidenzanordnung direkt unter ei-nem Dachfenster auf dem Dachboden der Reichsanstalt plat-ziert (Abbildung 8). Zwischen den Zählrohren ließen sichAbsorberplatten einschieben, die zunächst aus Bleiblöckenund später aus Feingoldbarren bestanden, die man von derStaatsbank leihweise zur Verfügung gestellt bekam [13].Durch Variation der Dicke der Absorber veränderte sich dieHäufigkeit der auftretenden Koinzidenzen in beiden Zähl-rohren sowie die Zählraten des unteren Zählrohrs in einerWeise, dass Bothe und Kolhörster den Schluss zogen, „daßdie Höhenstrahlung wenigstens, soweit sie sich in den bis-her beobachteten Erscheinungen äußert, keine γ–Strahlung,sondern eine Korpuskularstrahlung ist“ [13, S. 775]. IhrHauptargument war, dass nur geladene Partikel für die Zähl-

rohrkoinzidenzen verantwortlich sein können, da die vonder vermeintlichen Gammastrahlung in den Absorbern pro-duzierten Compton-Elektronen über ein viel zu geringesDurchdringungsvermögen verfügen, als dass sie in beidenZählrohren nachweisbar wären.

Als Konsequenz der Entdeckung vermutete Kolhörster,dass es für die Höhenstrahlung einen Breiteneffekt gebensollte – ganz analog zum Verhalten der Polarlichter, die jaauch von extraterrestrischen Teilchen erzeugt werden. Umeinen solchen Effekt nachzuweisen, führten Bothe und Kol-hörster im Frühsommer 1930 eine Expedition in die nörd-liche Nordsee und das Nordpolarmeer durch, die sie bisnach Spitzbergen und Island führte. Doch den vermutetenBreiteneffekt konnten sie nicht nachweisen. Dies gelangerst dem holländische Physiker Jacob Clay und später auchArthur Holly Compton. Darüber hinaus wurde Anfang derdreißiger Jahre auch eine von Bruno Rossi vorhergesagteOst-West-Asymmetrie im Strahlungseinfall nachgewiesen,die klar machte, dass die kosmische Strahlung überwiegendaus positiv geladenen Partikeln besteht [3].

Bothe und Kolhörsters fundamentale Entdeckung mar-kiert den Beginn der modernen Phase der Erforschung derHöhen- oder kosmischen Strahlung, wobei die Koinzidenz-methode als eine Art „Höhenstrahlungs-Teleskop“ einsetz-bar war. Kolhörster hat dies noch selbst getan, als er im De-zember 1934 nach dem Auftreten der Nova Herculis diesemit einer solchen Anordnung beobachtete. Ein anderer Pio-nier auf diesem Gebiet war der schon erwähnte italienischePhysiker Bruno Rossi, der im Übrigen durch die Arbeit vonBothe und Kolhörster auf das Gebiet der Höhenstrahlungs-forschung gelenkt wurde und zudem wichtige Impulse für

A B B . 7 KO I N Z I D E N Z A N O R D N U N G

Die Koinzidenzanordnung von Walther Bothe und WernerKolhörster zum Nachweis der Teilchennatur der Höhenstrah-lung (aus [13]).

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seine Forschungen während eines Forschungsaufenthaltsan der Berliner Reichsanstalt erhalten hatte [17].

Als Rossi im Frühjahr 1930 als Gastwissenschaftler in Bo-thes Labor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ar-beitete, war Kolhörster schon nicht mehr dort als Mitar-beiter tätig. Im Herbst 1928 konnte er endlich aus demSchuldienst ausscheiden und eine für ihn geschaffene Ob-servatorstelle am Meteorologisch-Magnetischen Observa-torium in Potsdam übernehmen. Mit Mitteln der Preußi-schen Akademie baute er ab 1930 auf dem Potsdamer Telegraphenberg ein Laboratorium für Höhenstrahlungs-forschung auf, das weltweit zu den ersten Spezialeinrich-tungen dieses noch jungen Forschungsbiets gehörte [15].

Hier widmete er sich der weiteren systematischen Er-forschung der Höhenstrahlung, wobei er im Gegensatz zuvielen zeitgenössischen Kollegen seine Forschungen nichtnur „in der Höhe“ durch hochalpine Expeditionen oder Bal-lonaufstiege betrieb, sondern auch mit Intensitätsmessun-gen der Höhenstrahlung in großer Tiefe, in Bergwerken undunter Wasser. Hierbei wies er im Steinsalzbergwerk von

Staßfurt die härtesten, bis dahin beobachteten Anteile derkosmischen Strahlung nach und entdeckte als Nebeneffektdie Gammastrahlung von 39Kalium [14]. Zudem stellte erLangzeituntersuchungen über die zeitliche Konstanz derHöhenstrahlung an. Ansonsten folgte er auch in Potsdam inseinen Forschungen den Leitlinien, die sein bisheriges For-schungsprofil geprägt hatten: die zielgerichtete Verbesse-rung der Forschungsapparate und –methoden in der Hö-henstrahlungsforschung, wobei er sich um die Nutzung desGeiger-Müller-Zählrohrs einige Verdienste erwarb. Auch per-fektionierte er die modernen Zählmethoden durch elek-tronische Verstärker, Untersetzer und andere Techniken, dienicht zuletzt eine automatische und Dauerregistrierung er-möglichte.

Parallel zu seiner Forschungstätigkeit betrieb Kolhörs-ter seine akademische Karriere – so habilitierte er sich 1930an der Berliner Universität für das Gebiet der Geophysikund hielt dort in den folgenden Jahren regelmäßig Vorle-sungen zu geophysikalischen Fragen: von der Höhenstrah-lung bis zu erdmagnetischen Problemen.

Als 1935 im Zuge der nationalsozialistischen Reorgani-sation des deutschen Forschungsbetriebs das GöringscheLuftfahrtministerium Kolhörsters Potsdamer Höhenstrah-lungslabor übernahm, erhielt Kolhörster an der Berliner Uni-versität eine außerordentliche Professur für Strahlenphysik.Er wurde Direktor eines speziellen Instituts für Höhen-strahlungsphysik, das ihm nach Potsdamer Vorbild, aber we-sentlich größer und besser ausgestattet, im Kiebitzweg inBerlin-Dahlem eingerichtet wurde.

Für diesen Karrieresprung war sicherlich hilfreich, dasser im April 1933 Mitglied der NSDAP geworden war. Dabeifolgte dieser Schritt weniger einer dezidierten politischenÜberzeugung als vielmehr persönlichem Opportunismussowie dem damals herrschenden gesellschaftlichen Druckauf Staatsbeamte. Auf jeden Fall war Kolhörsters politischerKarrierismus mit wissenschaftlicher Exzellenz gepaart. Ergehörte auch nicht zu den Naziaktivisten der Berliner Uni-versität. So verteidigte er seine Doktorandin Ilse Matthes imJahre 1939 gegenüber nationalsozialistischen Denunziatio-nen und wurde auch selbst von Kollegen denunziert, weiler „Halbjuden“ an seinem Institut beschäftigte.

In Dahlem konnte Kolhörster seine Dauermessungender Höhenstrahlung fortsetzen, wobei bis zu 16 Anordnun-gen stündlich die Intensität der Strahlung registrierten. Erversuchte, dem Institut dieselbe Bedeutung auf dem Gebietder Höhenstrahlung zu geben, wie sie beispielsweise dasPotsdamer geomagnetische Institut für die Erforschung desErdmagnetismus hatte. Dabei dachte er auch an den Aufbaueines internationalen Forschungsnetzwerks, das analog zummagnetischen Verein weltweit standardisierte und ver-gleichbare Dauerregistrierungen der Höhenstrahlung orga-nisieren sollte.

Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs machte diese Ide-en zunichte, wie überhaupt seine Zeit als Professor der Ber-liner Universität durch den Krieg und die damit einherge-henden Beschränkungen des Forschungsbetriebs geprägt

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Vorbereitende Skizzen der Versuchsanordnung aus Walter Bothes Laborbuch (Archiv der MPG, Berlin).

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waren, haben sie doch beispielsweise die systematische Aus-wertung der Dauerregistrierungen der Nova Herculis unddes großen magnetischen Sturms vom 1. März 1943 weit-gehend verhindert. Dennoch gelang Kolhörster Anfang1938 mit der Entdeckung der großen Luftschauer der Hö-henstrahlung auch kurz vor dem Krieg noch eine bedeut-same wissenschaftliche Leistung [20], die gemeinhin alleinPierre Auger zugeschrieben wird.

Wegen der zunehmenden alliierten Luftangriffe auf Ber-lin wurde das Kolhörstersche Institut im Sommer 1943 –wie viele andere Institutionen der Stadt – verlagert, und esfand in der Wetterwarte von Wahnsdorf bei Dresden eineneue Unterkunft. Hier konnte man stark eingeschränkt dieForschungen bis zum Kriegsende fortsetzen. Nach der Be-freiung Dresdens durch die Rote Armee im Mai 1945 setz-te sich Kolhörster nach Halle ab, das damals noch von ame-rikanischen Truppen besetzt war. Hier wollte er mit Hilfeder Leopoldina, die ihn 1940 zum Mitglied gewählt hatte,einen Neubeginn seiner akademischen Karriere starten.Doch bereits Ende Juni 1945 musste er mit dem Abzug deramerikanischen Truppen die Stadt wieder verlassen undwurde zusammen mit den materiellen Überresten seinesInstituts im sogenannten Abderhalden-Transport nachFrankfurt am Main verbracht.

In Ober-Ramstadt bei Darmstadt fand die Familieschließlich ein Unterkommen. Von hier betrieb Kolhörsterin den folgenden Monaten seine Entnazifizierung und dieNeuberufung an eine Hochschule. Gleichzeitig versuchte erseine wissenschaftliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Do-kumentiert sind seine entsprechenden Bemühungen in zahl-reichen Briefen an Fachkollegen, darunter auch an AlbertEinstein.

All diese Aktivitäten fanden am 26. Juni 1946 ein tragi-sches Ende, als Kolhörster mit seinem Motorrad auf der Au-tobahn bei Frankfurt mit einem amerikanischen Militär-fahrzeug kollidierte. Sechs Wochen später, am 5. August1946, starb er im 59. Lebensjahr an den Folgen des Ver-kehrsunfalls in einem Frankfurter Krankenhaus.

Zusammenfassung Obwohl in heutigen Darstellungen zur Entdeckungs- undFrühgeschichte der kosmischen Strahlung meist nur als Rand-figur behandelt, gehört Werner Kolhörster zu den herausra-genden Pionieren dieses Fachgebiets. Erst seine Ballon-Hoch-fahrten haben die Hess’sche Entdeckung zweifelsfrei und inder Physikalischen Gemeinschaft unanfechtbar gemacht. Dar-über hinaus wies er zusammen mit Walter Bothe die korpus-kulare Natur der Strahlung nach und kann als Mitentdeckerder großen Luftschauer gelten.

StichworteWerner Kolhörster, kosmische Strahlung, Höhenstrahlung,Koinzidenzmethode, Luftschauer, Victor Franz Hess, WaltherBothe.

DanksagungDer Beitrag profitiert insbesondere hinsichtlich der biographischenDetails ganz wesentlich von Recherchen im Nachlass von WernerKolhörster, der gegenwärtig von Herrn Rudolf Fricke in Wolfen-büttel verwahrt wird und demnächst an das Archiv des DeutschenMuseums München übergeht. Für die Möglichkeit der Nutzung undfür seine große Kooperationsbereitschaft sei Herrn Fricke ganzherzlich gedankt.

Literatur[1] V. Cirkel-Bartelt, Kooperation und Konkurrenz. Die Erforschung der

kosmischen Strahlung vor dem Zweiten Weltkrieg, in C. Sachse(Hrsg.): Kernforschung in Österreich, Wien 2011, S. 341.

[2] P. A. Carlson, A. de Angelis, Eur. Phys. J. H 2010, 35, 309. [3] M. De Maria, A. Russo, Hist. Stud. in the Phys. and Biol. Sciences

1989, 19, 211.[4] D. Fick, H. Kant , Stud. in the Hist. and Phil. of Phys. 2009, 40, 395 .[5] S. Flügge, Z. Naturforsch. 1948, 3a, 690.[6] R. G. A. Fricke, Günther & Tegetmeyer 1901-1958, Instrumente für

die Wissenschaft in Braunschweig, AF-Verlag, Wolfenbüttel 2011.[7] D. Hoffmann, Wissenschaft und Fortschritt 1991, 41 (5), 162.[8] E. Kolhörster, Mein Leben and der Seite eines Wissenschaftlers und

Forschers, Darmstadt 1977.[9] W. Kolhörster, Phys. Z. 1913, XIV, 1153.

[10] W. Kolhörster, Verhandlungen der Deutschen PhysikalischenGesellschaft 1914, 16, 719.

[11] W. Kolhörster, Die durchdringende Strahlung in der Atmosphäre,Hamburg 1924.

[12] W. Kolhörster et al., Phys. Z. 1928, 29, 705.[13] W. Bothe, W. Kolhörster, Z. für Phys. 1929, 56, 751.[14] W. Kolhörster, Z. für Geophys, 1930, 6, 341.[15] W. Kolhörster, Die Umschau 1931, 35, 781.[16] E. Miehlnickel, Höhenstrahlung (Ultrastrahlung), Dresden, Leipzig

1938.[17] B. Rossi, Phys. Today 1981, Nr. 10, 35.[18] Y. Sekido, H. Elliot (Hrsg.), Early History of Cosmic Ray Studies,

Dordrecht 1985.[19] M. Walter, A. W. Wolfendale, Eur. Phys. J. H, 2012, 37, 323.[20] W. Kolhörster et al., Naturwissenschaften 1938, 26, 576.

Der AutorDieter Hoffmann hat Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, wo er auch auf demGebiet der Wissenschaftsgeschichte promovierteund habilitierte. Von 1976 bis 1990 forschte er ander Akademie der Wissenschaften der DDR, seit1995 ist er Mitarbeiter des MPI für Wissenschafts -geschichte in Berlin; zudem lehrt er als apl. Professoran der Humboldt-Universität.

AnschriftProf. Dr. Dieter Hoffmann, Max Planck Institut fürWissenschaftsgeschichte, Boltzmannstraße 22, D-14195 Berlin. [email protected].

Webseitewww.mpiwg-berlin.mpg.de/en/staff/members/dh

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Grundzustand des Festkörpers die oberste „Energiekante“,bis zu der die Elektronen Zustände in der Bandstruktur be-setzen können. Stöße bringen die Elektronen mit den Git-terschwingungen in ein thermisches Gleichgewicht.

Bei Zufuhr von Energie, sei es thermische oder elektri-sche, gerät der Festkörper aus seinem Grundzustand: ange-regte Elektronen springen über die Fermi-Energie hinaus inhöhere Energiezustände. Die im Grundzustand „scharfkan-tige“ Fermi-Energie weicht auf, und die Zustände um sie he-rum tragen zum Transport bei (in Abbildung 1 oben dunk-ler markiert). In Metallen (Abbildung 1 links) ist dies sofortder Fall, weil die Elektronen schon im Leitungsband sind.Dagegen brauchen sie in Halbleitern (Abbildung 1 rechts)mehr Energie, also zum Beispiel eine höhere angelegte elek-trische Spannung, um über die verbotene Bandlücke (ocker)in das Leitungsband oben zu springen. Dafür hinterlassensie im unteren Band, dem Valenzband, Löcher, die dort wieSpiegelbilder mit positiver Ladung fließen können.

Bringen wir nun ein Metall oder einen Halbleiter in einelektrisches Feld, legen also eine elektrische Potentialdiffe-renz in Form einer Spannung an, dann werden die Elektro-nen durch dieses elektrische Feld beschleunigt. Durch dieStöße stellt sich eine konstante Driftgeschwindigkeit ein, esfließt ein Strom, und der Leiter wird warm.

SpintronikElektronen können wir auch nach ihrem Spin unterschei-den, die sich wie winzige, im Raum drehbare Magnete ver-halten. Ferromagnetische Materialien zeichnen sich dadurchaus, dass es mehr Elektronen mit einer bestimmten Spin-orientierung als mit der dazu antiparallelen Spinorientie-rung gibt. Dieser Netto-Spinüberschuss sorgt für eine ma-kroskopische Magnetisierung. Über diese Magnetisierungs-richtung speichern zum Beispiel Festplatten Daten. DieZukunftsvision der Spinelektronik oder kurz Spintronik [1]will nun diese statischen Eigenschaften des Spins mit ei-nem aktiven elektronischen Bauteil wie einem Transistorkombinieren.

Die Funktion von mikroelektronischen Bauteilen wirddurch eine Abfolge von Materialien bestimmt, die das Schal-ten von Strömen in einem Prozessor ermöglichen. Dort ar-beiten spezielle Feldeffekttransistoren, sogenannte MOSFET.Ihr Kern besteht aus einem Stapel dünner Halbleiter-schichten mit unterschiedlicher Dotierung aus Fremdato-men, die einen leitfähigen Kanal erzeugen. Dieser Sandwichsitzt auf einem dünnen Isolator, und eine elektrische Span-

Vom Seebeck-Effekt zur Spinkaloritronik

Heiße ElektronikMARKUS MÜNZENBERG | ANDY THOMAS

Die zunehmend attraktive Spintronik basiert auf der Steue-rung von Strömen über die Elektronenspins. Doch es gibt aucheinen Weg, diese Spins über Wärmezufuhr zu manipulieren.In einigen Nanostrukturen funktioniert dies sehr effektiv.Dieses noch junge Gebiet der Spinkaloritronik begründete deraltbekannte Seebeck-Effekt. Es könnte zum Beispiel die Abwär-me von Mikroprozessoren als Energiequelle für Elektronikeneffizient nutzbar zu machen.

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DOI: 10.1002/ piuz.201201314

Was passiert, wenn Elektronik heiß wird? Jeder kenntdas von seinem Notebook, das bei starker Prozessor -

auslastung warm wird. Steigt die Temperatur zu sehr, springtder Lüfter an und transportiert die Wärme einfach ab. Nunkann man sich fragen, ob eine Elektronik diese Wärme nicht

sinnvoll nutzen könnte, eventuell sogar um zu rechnen.Tatsächlich verknüpft das neue Gebiet der Spinkalo-

ritronik, das dieser Beitrag vorstellt, Wärme als trei-bende Kraft für Elektronen mit Spins in spinelek-tronischen Bauelementen. Wie wir sehen werden,kann man Thermospannungen mit magnetischenSchichten sogar magnetisch schalten.

Ein Festkörper besteht aus einem Gitter vonAtomrümpfen und seinen äußeren Elektronen, diefür die elektronischen Eigenschaften verant-wortlich sind. So entsteht entweder ein Isolator,ein Halbleiter oder ein Metall. Im elektrischenFeld bestimmen dann die beweglichen La-dungsträger, wie viel Strom fließt. Zu diesen ge-hören in der Halbleiterelektronik Elektronen,aber auch positive Ladungsträger, Löcher ge-nannt. Die Bewegung der Elektronen durchdas Material wird permanent durch Stöße un-

terbrochen. Diese Stöße führen dazu, dass sich eine ther-mische Verteilung ausbildet.

Die genaue Form dieser Verteilung ist quantenmecha-nisch bedingt und wird Fermi-Statistik genannt. Ein wichti-ger Parameter ist durch die Fermi-Energie definiert. In Fest-körpern vereinen sich die äußeren elektronischen Zustän-de der Atome zu Energiebändern, die durch verboteneBandlücken getrennt sind. In diesen Energiebändern kön-nen sich die Ladungsträger wie auf Autobahnen bewegen.Die Fermi-Energie definiert im quantenmechanischen

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

Thomas JohannSeebeck(1770–1831).

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rialien A und B. Eine typische Anwendung solcher Ther-moelemente ist die Temperaturmessung.

Diese Thermospannung entdeckte Thomas Johann See-beck bereits 1821 (Abbildung gegenüber). Danach verbrei-tete sich ihre Nutzung weithin, denn Reibungselektrisier -maschinen, bis dato bei Experimentatoren als Quellen fürelektrische Energie sehr beliebt, lieferten zwar hohe Span-nungen, aber nur sehr kleine Ströme. Mit dem Seebeck-Ef-fekt stand eine robuste Stromquelle zur Verfügung, diegrundsätzlich auch große Ströme liefern konnte, gemäß I = USeebeck/R (Abbildung oben). Typische Werte für See-beck-Koeffizienten reichen von 0,01 mV/K in Metallen biszu 1 mV/K in Halbleitern. Damit lassen sich Spannungenvon bis zu 100 mV erreichen.

Für eine Nutzung als Stromquelle kombiniert man ambesten zwei Materialien mit jeweils entgegengesetztem Vor-zeichen der Seebeck-Koeffizienten. So erhält man eine maximierte Potentialdifferenz in einem gegebenen Tempe-raturgradienten, denn die Thermospannungen der Einzel-materialien addieren sich auf. Zum Beispiel erzeugt Ger-manium im Temperaturgradienten von heiß nach kalt einepositive Spannung, Bismuth dagegen eine negative.

In Halbleitern kann man dieses Verhalten besonders guteinstellen, indem man die Sorte der Ladungsträger beein-flusst, die zum Transport beitragen, das heißt Elektronenoder Löcher (Abbildung 1 rechts). Daher sind Halbeiterideale Seebeck-Materialien. Sind die relevanten Zustände,die zur Leitfähigkeit beitragen, symmetrisch um die Fermi-Energie verteilt, dann existieren ebenso viele Elektronenwie Löcher, die sich im Temperaturgradienten bewegen (Ab-bildung 1, unten links). Der thermische Ladungsstrom bei-der kompensiert sich, und die Thermospannung U ist damitNull.

Durch Dotierung mit Fremdatomen kann man nun dieZustände um die Fermi-Energie asymmetrisch gestalten undso die Eigenschaften der Leitfähigkeit einstellen. Legt mandas chemische Potential an die obere Kante der Energielü-

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nung, die über diesen Aufbau angelegt ist, verhindert oderermöglicht einen Stromfluss wie ein Ventil. In heutigen Mi-kroprozessoren sind diese MOSFET-Transistoren nur weni-ge Nanometer groß, ihre Strukturgröße liegt unter 32 nm.Das erzwingt auch einen sehr dünnen Isolator von nur nochwenigen Atomlagen Dicke. Der Preis ist der Verlust einerperfekten Isolierung, was zu unerwünschten Strömen führt,die den Prozessor aufheizen. Diese Abwärme muss zum ei-nen abtransportiert werden, zum anderen leert dies die Ak-kus von portablen Geräten schneller.

In magnetischen Materialien tragen die Elektronen nichtin ihrer Ladung die Informationen Null und Eins, sondernmit der Richtung ihrer Spins. Legen wir an ein magneti-sches Material eine elektrische Spannung an, dann fließendie Elektronen nicht nur. Wir müssen zusätzlich den Flussder Elektronen nach ihren beiden entgegengesetzten Spin-richtungen unterscheiden. Dies kann man als zwei Kanälebeschreiben, die jeweils Information tragen. Es ist sogarmöglich, dass gar keine elektrische Ladung, sondern nurSpin, also Drehimpuls, des Elektrons transportiert wird. Indiesem Fall sprechen wir von einem reinen Spinstrom. Ertransportiert nur magnetische Polarisation und führt zu ei-ner Umverteilung von Elektronen einer Spinsorte. Dadurchentsteht am Ende der Probe eine durch den Spinstrom ak-kumulierte Magnetisierung.

Der Seebeck-Effekt Ein elektrisches Feld lässt in einem leitenden Material einenelektrischen Strom fließen. Was passiert aber, wenn wir die-sen Festkörper in einen Temperaturgradienten bringen? ImExperiment erwärmen wir dazu einfach eines seiner En-den. Dies kurbelt einen Wärmefluss durch den Festkörperan, der den Temperaturgradienten ausgleichen will. Bei elek-trisch leitenden Materialien tragen die Elektronen zum gro-ßen Teil diesen Wärmefluss. Damit treibt der Temperatur-unterschied also einen Ladungsstrom an. Die Folge ist einelektrisches Feld zwischen den verschieden warmen Pro-benenden. Also können sowohl ein Temperaturgradient alsauch ein elektrisches Feld (Potentialgradient) einen elek-trischen Ladungsstrom erzeugen. Umgekehrt ruft ein elek-trisches Feld auch einen Wärmestrom hervor.

Messen wir eine Spannung, die durch einen Tempera-turgradienten aufgebaut wird, so wird dies als Seebeck-Ef-fekt bezeichnet. Umgekehrt heißt ein im elektrischen Felderzeugter Wärmestrom, der für eine Temperaturdifferenzan beiden Enden eines Materials sorgt, Peltier-Effekt. DieKoeffizienten, die die beiden Effekte beschreiben, sind ver-wandt. Dabei kann zur experimentellen Bestimmung (an-ders als in Abbildung 1 dargestellt) der Seebeck-KoeffizientSA als Volumeneigenschaft des Materials A nur zwischenzwei definierten Temperaturpunkten gemessen werden.Um einen Einfluss der Zuleitungen des Messgeräts auszu-schalten, müssen dabei beide Messkontakte (Material B) aufder gleichen Temperatur gehalten werden. Daraus ergibtsich die bekannte Konfiguration zur Messung der Seebeck-Koeffizienten SA und SB mit der Kombination zweier Mate-

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Der Seebeck-Effekt als Spannungsquelle im 18. Jahrhundert (Museo Galileo, Florence –Photo Franca Principe, Sabina Bernacchini).

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cke im Halbleiter, entsteht Elektronenleitung. An der unte-ren Kante der Energielücke wird eine Leitung von Lochzu-ständen erzeugt (Abbildung 1, unten rechts). Auch in Me-tallen kann man den Seebeck-Effekt durch ein spezielles„Design“ der Zustandsdichten an der Fermi-Energie ver-größern.

Leider ist diese Nutzung des Seebeck-Effekts zurzeit den-noch nicht effektiv im Vergleich mit anderen Methoden,aus Wärme elektrische Leistung zu generieren. Ihr Wir-kungsgrad liegt meist unter 5 bis 10 %, im Labor liegt derRekordwert bei 12 %. Dies liegt daran, dass ein nicht zu ver-nachlässigender Teil der Wärmemenge über Gitterschwin-gungen (Phononen) transportiert wird und dem Aufbau derelektrischen Spannung verloren geht. Es gibt aber neue na-nostrukturierte Materialien, die diesen Wärmetransportdurch Phonon effektiv blockieren, aber große Seebeck-Ko-effizienten und gute Leitfähigkeit aufweisen.

Die Vorteile der Seebeck-Elemente liegen in ihrer per-fekten Fähigkeit zur Integration in Halbleiterstrukturen unddie Möglichkeit, sie bis in den Nanometerbereich hinein zuminiaturisieren. Sie kommen zudem ohne bewegliche Tei-le aus, die bei mechanischen Wärmekraftmaschinen not-wendig sind. Kommerzielle Spannungsquellen auf Basis desSeebeck-Effekts liefern bei Temperaturunterschieden von

100 K Spannungen im Bereich von 10 V, dies bei einer Leis-tung von mehreren Watt und maximalen Kurzschlussströ-men von 1 bis 3 A.

Der Weg zur SpinkaloritronikInteressanterweise hat schon Seebeck bei seiner Entde-ckung 1821 den beobachteten thermoelektrischen Effektmit Magnetismus in Verbindung gebracht. Hans ChristianOersted machte ungefähr zur gleichen Zeit die Entdeckung,dass ein stromdurchflossener Leiter ein Magnetfeld erzeugt,was für Furore sorgte. Er nannte diesen Effekt, der über einMagnetfeld um den Leiter nachgewiesen werden konnte,Thermomagnetismus. Genau dieser Zusammenhang vonthermischen Gradienten und Spintransport führt zum nochjungen Gebiet der Spinkaloritronik.

Jean-Philippe Ansermets Team von der École Polytech-nique Fédérale de Lausanne machte Mitte des vergangenenJahrzehnts erste Experimente mit Temperaturgradienten inmagnetischen Nanoelementen, genauer Nanodrähten [2].Die Schweizer beobachteten dabei einen Einfluss der Mag-netisierungsrichtung auf die Seebeck-Spannung. Das führtzu der Frage, wie die magnetischen Eigenschaften des Spin-transports, also der Transport von Elektronen in den vorhindiskutierten beiden Spinkanälen des magnetischen Materi-als, in Verbindung mit der thermisch induzierten Diffusionvon Ladungsträgern stehen können.

Dazu müssen wir die Spinsorte betrachten, die gegebe-nenfalls den thermischen Transport dominiert. Sind beideTransportkanäle gleich effizient, so erzeugt ein Tempera-turgradient keine Spinpolarisation. Sorgt die elektronischeStruktur des Materials aber dafür, dass ein Spinkanal übergroße Seebeck-Koeffizienten verfügt, der andere über klei-ne, dann fließt ein Spinstrom zur kälteren Seite der Probe.Es bildet sich eine Magnetisierungsdifferenz aus, die durchdie hier spinabhängigen Seebeck-Koeffizienten für die je-weilige Spinrichtung des Materials charakterisiert ist. Das istanalog zur vorhin diskutierten Ladungsdifferenz durch ei-nen Ladungsstrom, der über den Seebeck-Effekt für eineelektrostatische Potentialdifferenz sorgt.

Im Vergleich zu Metallen haben Halbleiter sehr hoheSeebeck-Koeffzienten. Die Asymmetrie der Zustandsdichtean der Fermi-Energie ist dabei Voraussetzung für große Ther-mospannungen. Sie sorgen für den maximalen Aufbau vonnegativer oder positiver Ladung im thermischen Gradien-ten. In Analogie dazu kann man sich überlegen, wie in ei-nem ferromagnetischen Material der spinabhängige See-beck-Effekt maximiert werden kann. Auch hier muss dieAnzahl der Zustände um die Fermi-Energie asymmetrischsein, also zum Beispiel halbleitende Eigenschaften haben.Daher sind die magnetischen Materialien, die hier die größ-ten Effekte liefern, sogenannte Halbmetalle. Diese zeigenähnliche Eigenschaften wie Halbleiter, allerdings nur für ei-ne Spinrichtung. Sie sind also nur in einem der beiden Spin-kanäle halbleitend. Abbildung 2 zeigt die elektronischeStruktur für beide Spinkanäle, rechts der Fall mit einemhalbleitenden Kanal. Dies führt beim Erwärmen des ferro-

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Seebeck-Effekt in Metallen und Halbleitern. Oben: Schematische Darstellung derElektronenstruktur (Zustandsdichte n). Dunkel: Bereich um die Fermi-Energie, indem Ladungsträger zur Leitfähigkeit und zum Seebeck-Effekt beitragen. In einemMaterial, in dem gleich viele Ladungsträger oberhalb und unterhalb der Fermi-Energie angeregt sind, kompensieren sich negative und positive thermische Strö-me. Es fließt kein Nettostrom, wenn deren Zustandsdichte symmetrisch um dieFermi-Energie ist. Rechts: Nur bei einer asymmetrischen Verteilung der Zuständeum die Fermi-Energie herum entsteht ein thermischer Ladungsträgerstrom. DerSeebeck-Effekt ist daher zum Beispiel im rechts unten gezeigten Halbleiter mit p-Dotierung (Loch +) sehr groß.

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magnetischen Materials zu einem großen Spinstrom JS undeiner Akkumulation von Magnetisierung m an einem Endeder Probe.

Im Gegensatz zur Ladung bleibt die Orientierung desSpins eines Elektrons bei Stößen nicht erhalten (Spin-Flip-Streuung). Die transportierte Magnetisierung nimmt des-halb mit wachsender Strecke ab. Der Ladungsstrom kann al-so die Information der Spinrichtung nicht auf längere Stre-cken transportieren. Daher kann man diese Spindiffusionnur auf wenigen hundert Nanometern Distanz beobachten.Dies konnte zum Beispiel die Gruppe um Bart van Wees ander Universität von Groningen zeigen. Den Niederländerngelang es, auch die zum spinabhängigen Seebeck-Effekt um-gekehrte Erscheinung nachzuweisen. Dieser spinabhängigePeltier-Effekt beschreibt das Kühlen durch spinpolarisierteLadungsströme [3]. Dessen Nachweis war zuvor schon An-sermets Team gelungen, allerdings nur indirekt [2].

Überraschender Spin-Seebeck-EffektEinen regelrechten Boom des Forschungsgebietes löste aberEiji Saitoh von der Keio Universität in Yokohama zusammenmit japanischen Kollegen 2008 durch eine Publikation inNature aus [3, 4]. Sie setzten einen mehrere Millimeter lan-gen und wenige Nanometer dünnen, ferromagnetischenFilm einem Temperaturgradienten von einigen Grad aus.Das erzeugte Spannungen von einigen Millivolt (Abbil-dung 3, oben).

Die Ursache dieser Spannungen sind Spinströme JS, dieim magnetischen Material an der Grenzfläche fließen. IhreDetektion ist allerdings nicht einfach, denn Spinströme las-sen sich nicht wie Ladungsströme durch ein Voltmeter mes-sen. Als Messgerät dient meist ein dünner Platinfilm. Dieserfungiert als m-Meter zur Messung der akkumulierten Spin-polarisation beziehungsweise Magnetisierung (Abbil-dung 3). Er konvertiert Spinströme, die von der Akkumula-tion der Magnetisierung m im thermischen Gradienten anden jeweiligen Enden der Schicht herrühren, in Ladungs-ströme. Der Spinstrom kann so als Spannung U am Platin-kontakt abgegriffen werden.

Ursprünglich wurde diese Entdeckung dadurch inter-pretiert, dass die Spinströme thermisch getrieben sind. Wei-tere Experimente präzisierten das Bild, denn auch in iso-lierenden Materialien wurde dieser sogenannte Spin-See-beck-Effekt entdeckt. Folglich müssen reine Spinwellen denEffekt erzeugen. Diese Magnonen sind kollektive magneti-sche Anregungen des Festkörpers, die nur thermisch ver-ursacht werden. Deshalb gibt es den Spin-Seebeck-Effektauch in Isolatoren. Das unterscheidet ihn von „spinabhän-gigen spinkalorischen Effekten“, die – wie im Abschnitt überSpintronik geschildert – von einer Spinabhängigkeit deselektrischen Ladungstransports herrühren. Letztere könnendamit nur in elektrisch leitfähigen Materialien auftreten.

Der Spin-Seebeck-Effekt benötigt also keine elektrischeLeitfähigkeit, sondern nur eine thermische Auslenkung derMagnetisierung der Spinwellen. Dafür sorgt der Tempera-turgradient durch das Heizen eines Endes der Probe. Die ak-

tuelle Forschung untersucht derzeit den gegensätzlichenEffekt, den Spinwellen-Peltier-Effekt. Hier sorgt umgekehrtein reiner Spinstrom, der nur durch Spinwellenanregungenerzeugt wird, für einen Wärmefluss.

Spinabhängige spinkalorische Effekte in elektrisch leit-fähigen Materialien kommen in verschiedenen Geometrienin einem Magnetfeld vor. Analog zum Hall-Effekt, bei demein Magnetfeld einen Strom fließender Elektronen ablenkt,gibt es diesen Effekt auch bei thermischen Ladungsströ-men. Er wurde jetzt in ferromagnetischen Filmen beob-achtet. Der Effekt erlaubt es, über thermische Spannungen,die von der lokalen Magnetisierungsrichtung abhängen, dieStruktur der Magnetisierung im Material abzubilden (Ab-bildung 3, unten) [3].

Es ist verlockend, diese zusätzlichen Freiheitsgrade derMagnetisierung auszunutzen, um Thermospannungen in Na-nobauelementen zu manipulieren. Natürlich führt das zuder Frage, ob man die Effizienz des Seebeck-Effekts so stei-gern kann, dass er technisch besser nutzbar wird. Saitohschlägt zum Beispiel vor, über den Spin-Seebeck-Effekt ausder Abwärme des Körpers in der Kleidung Thermoströmezu generieren. Man könnte die Leiterbahnen so im Gewe-be verlegen, dass sie über ihre gesamte Länge einen Wär-megradienten zwischen Innerem und Äußerem erfahren,der senkrecht zu ihrer Richtung steht. Ein solches ausge-dehntes Thermoelement wäre in der Lage, den elektrischenEnergiebedarf kleinerer Mobilgeräte zu decken. Gegenübernichtmagnetischen Seebeck-Elementen hätte das Vorteile,

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Spinabhängiger Seebeck-Effekt in Ferromagneten (links) und Halbmetallen(rechts): Der Ladungstransport wird spinabhängig, beide Spinrichtungen sind hierrot und blau eingezeichnet. Im dunklen Bereich um die Fermi-Energie herum tragenElektronen der beiden Spinrichtungen zur Leitfähigkeit und zum Seebeck-Effekt bei.Im ersten Fall kompensieren sich allerdings die beiden Elektronenströme für beideSpinrichtungen. Erst eine asymmetrische Verteilung der Zustände um die Fermi-Energie herum generiert einen thermischen Spinstrom. Der spinabhängie Seebeck-Effekt ist groß, wenn ein Spinkanal halbleitend wird (rechts beim Halbmetall).

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denn von diesen müssten viele für den gleichen Effekt inReihe geschaltet werden.

Spinelektronische BauelementeBevor wir uns mögliche Anwendungen der Spinkaloritronikin der Mikroelektronik anschauen, rufen wir uns Anwen-dungen der Spinelektronik in Erinnerung [1]. Das Bauele-ment, das wir fast täglich unbemerkt verwenden, ist der Le-sekopf in einer modernen Festplatte. Er besteht aus zwei fer-romagnetischen Elektroden, die durch eine ultradünneIsolatorschicht getrennt sind. Durch diese Isolatorschichtkann trotzdem ein Strom fließen, da die Elektronen die Ener-

giebarriere quantenmechanisch durchtunneln können. DasBesondere an diesem Aufbau ist nun, dass der elektrischeWiderstand dieses Systems von der magnetischen Ausrich-tung der Elektroden abhängt.

Dieser Effekt heißt Tunnel-Magnetowiderstand [6]. Ein-fach ausgedrückt wirkt das Streufeld eines Bits auf der Fest-platte auf die Magnetisierung einer Elektrode im Lesekopfund sorgt zum Beispiel für eine parallele Ausrichtung fürNull und eine antiparallele Ausrichtung für Eins. Diese In-formation kann der Lesekopf allerdings nur zuverlässig le-sen, wenn die Magnetisierungsrichtung der Elektrode beimGleiten über die Platte fixiert bleibt, und dafür sorgt der in

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Oben: Experiment von Eiji Saitoh und Kollegen: In einer wenige Mikrometer dünnen, 8 mm langen Schicht aus einem ferromag-netischen, isolierenden Oxid Lanthan-Yttrium-Eisen-Granat (LaY2Fe5O12) entsteht eine Thermospannung von mehreren Milli-volt, wenn ein Ende gegenüber dem anderen (auf Zimmertemperatur) um bis zu rund 20 °C erwärmt wird. Dabei ändert sichdas Vorzeichen der Thermospannung von einem Ende zum anderen mit der Magnetisierung. Die Spinströme JS, die an derGrenzfläche erzeugt werden, ändern ihr Vorzeichen, wenn die Magnetisierung m gedreht wird (aus [3]). In dieser Konfigurationist der Temperaturgradient ∇T parallel zur Magnetisierung m (longitudinale Geometrie). Als Detektor für die Spinströme JS

dient ein 15 nm dicker Pt-Streifen (blau, m-Meter). Dieser wandelt die Spinströme über den inversen Spin-Hall-Effekt (ISHE) in Ladungsströme um, die dann wie eine normale Spannung das elektrische Feld EISHE erzeugen und an beiden Enden des Pt-Streifens abgegriffen werden können. Unten: Diese thermischen Spinströme können in verschiedenen Geometrien erzeugtwerden, im zweiten Beispiel verursacht ein Temperaturgradient ∇T senkrecht zur Magnetisierung m (transversale Geometrie)einen Spinstrom JS. Das Vorzeichen des Spinstroms, der im Pt-Film in eine Spannung (E-Feld EISHE) umgewandelt wird, hängt vonder lokalen Magnetisierungsrichtung ab (Rot-Blau-Kontrast siehe Farbskala) (aus [4]).

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dieser Zeitschrift kürzlich vorgestellte Exchange-Bias-Effekt[7]. Auf gleiche Art lassen sich Bits in magnetischem Ran-dom Access Memory (MRAM) auslesen und speichern (Ab-bildung 4).

Nun können wir uns die Frage stellen, warum ein ther-moelektrischer Effekt technisch günstiger sein kann als daskonventionelle Lesen und Speichern von Information imMRAM. Für die nachfolgende Betrachtung müssen wir zweigrundsätzliche Überlegungen im Gedächtnis behalten: 1. Es ist nicht möglich, einen elektrischen Widerstand oh-

ne Stromfluss zu messen, dafür ist elektrische Energienötig.

2. Herkömmliche Elektronik arbeitet mit elektrischenSpannungen, die besonders einfach weiter verarbeitetwerden können.

Tunnel-Magneto-Seebeck-EffektUnter Berücksichtigung dieser Überlegungen betrachtenwir wieder ein Speicherelement, das auf dem Tunnel-Mag-netowiderstand basiert. An diesem ist nun jedoch keineSpannung angelegt, um den elektrischen Widerstand zumessen, sondern ein Temperaturgradient. Die beiden mag-netischen Elektroden haben also unterschiedliche Tempe-raturen (Abbildung 5). Das führt zum Seebeck-Effekt, esbaut sich über die Tunnelbarriere eine elektrische Span-nung auf. Die Potentialdifferenz kann man zum Beispiel miteinem Voltmeter messen. Dies entspricht dem herkömmli-chen Seebeck-Effekt, dessen Spannung hier an einer Tun-nelbarriere generiert wird.

2011 wurde jedoch ein sehr interessanter, neuer Effektvorausgesagt: Christian Heiligers Gruppe von der Universi-tät Gießen berechnete unterschiedliche Seebeck-Koeffi-zienten für verschiedene magnetische Ausrichtungen derferromagnetischen Elektroden [8]. Demnach sollte die pa-rallele und die antiparallele Orientierung der Elektroden je-weils unterschiedliche Thermospannungen hervorbringen.In Analogie zum bekannten Tunnelmagnetowiderstand wirddieser Effekt Tunnel-Magneto-Seebeck-Effekt genannt. Diesist schematisch in Abbildung 5 gezeigt und entspricht au-ßerdem genau der Definition eines spinkaloritronischenBauelements. Ein elektronisches Bauteil nutzt den Spin – indiesem Fall über die Magnetisierung der Elektroden – und

befindet sich dabei in einem Temperaturgradienten. Damitkann man Thermospannungen magnetisch gesteuert schal-ten und verstärken.

Für diese Tunnelbauelemente werden hohe Seebeck-Koeffizienten vorausgesagt, die denjenigen in Halbleiternvergleichbar sind. Das An- und Ausschalten der Seebeck-Spannung am Tunnelkontakt sorgt für eine relative Ände-rung von bis zu 1000 % (Tabelle 1). Experimentell konntedieser Effekt bereits kurz nach der Vorhersage nachgewie-sen werden [9, 10]. Der Temperaturunterschied wurde da-bei in beiden Experimenten unterschiedlich erzeugt, zumBeispiel durch den Beschuss der Oberfläche mit einemhochenergetischen Laserpuls oder durch Heizen über eineLeiterbahn am Element. Die Herausforderung: Der Tempe-raturunterschied muss sich über die nur wenige Atomlagendünne Tunnelbarriere einstellen. Ultrakurze Heizpulseschaffen trotzdem durchaus Differenzen von 10 K.

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A B B . 4 M AG N E T I S C H E S T U N N E L E L E M E N T

In einem magnetischen Tunnelelement hängt der elektrische Widerstand davon ab,wie die Magnetisierung der Elektroden orientiert ist. Unten: Eine parallele Ausrich-tung hat allgemein einen niedrigen Widerstand, eine antiparallele Ausrichtungeinen hohen, H: Magnetfeldstärke.

Absolute Änderung/μV/K 150 –12,1 –8,7 bei RT 230 bis zu 1000(bis +17 für 475 K)

Relative Änderung/% 1000 –55 –8 bei RT 17–40 40(bis 20 für 475 K)

Theoretische und experimentelle Werte des Magneto-Seebeck-Effekts in verschiedenen Tunnelelementsystemen mit einer Tunnelbarriere aus MgOoder Al2O3; ML: Monolayer, Schicht aus einer Atomlage.

Differenz der Fe/MgO/Fe Co-Fe-B/ Co-Fe-B/ Co-Fe-B/ Ni80Fe20/ Al2O3/Seebeck- oder 10 ML MgO/ 10 ML MgO/ 7 ML MgO/ Co90Fe10 [11]Koeffizienten Co/MgO/Co Co-Fe-B, Co-Fe-B [9] Co-Fe-B [10]

Theorie [8] Theorie fürCo0,5Fe0,5 [9]

TA B . 1 M AG N E TO - S E E B EC K- E F F E K T

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Die Seebeck-Effekte, die für solche Bauelemente vor-hergesagt werden, sind sehr groß und mit den Seebeck-Ko-effizienten in Halbleitern vergleichbar. Die Ursache liegt inden magnetischen Eigenschaften der Tunnelbarriere: Ihreelektronische Struktur ähnelt den vorhin diskutierten Halb-metallen, die potenziell große Spin-Seebeck-Effekte zeigenkönnen (Tabelle 1). Erhöht sich der absolute Wert der See-beck-Spannung beim Schalten von paralleler zu antiparal-leler Ausrichtung der Magnetisierung in den Tunnelektro-den, heißt dies positiver Magneto-Seebeck-Effekt, umgekehrtheißt er negativer Magneto-Seebeck-Effekt.

Das erlaubt es, über das Design der Tunnelbarriere unddes Elektrodenmaterials das genaue Verhalten maßzu-schneidern, was vielfältige zukünftige Anwendungen er-möglicht. Eine einfache Optionen ist die Komposition derElektrodenmaterialen: zum Beispiel reines Cobalt, reines Ei-sen oder eine Cobalt-Eisen-Legierung. Abbildung 6 zeigt einsolches Beispiel in einer Aufnahme mit einem Transmissi-ons-Elektronenmikroskop (TEM). Die Tunnelbarriere ausMagnesiumoxid (MgO) ist 2,1 nm dünn, was zehn Atomla-gen entspricht, und die Elektroden bestehen aus Cobalt-Ei-sen-Bor (Co-Fe-B). Die Dicke der Tunnelbarriere bietet eineandere Möglichkeit des Designs.

Damit kann man über den Temperaturunterschied zwi-schen den beiden Elektroden die Größe der Thermospan-nung einstellen, über die absolute Arbeitstemperatur zu-sätzlich noch den Seebeck-Koeffizienten. Dabei ist sogarein Umkehren des Vorzeichens möglich, und die relativeÄnderung kann kleiner oder größer eingestellt werden.

EnergiesparpotenzialRufen wir uns nun das warm werdende Notebook und diezwei Überlegungen aus dem letzten Abschnitt Erinnerung.Hat man die Abwärme eines Prozessors zur Verfügung, dannbenötigt man mit einem eben diskutierten spinkaloritroni-schen Bauelement für das Auslesen von gespeicherten Da-ten keine Leistung – das funktioniert auch für das Schrei-ben von Daten. Schließlich haben wir eine thermisch an-getriebene Spannungsänderung zur Verfügung und keineelektrische Widerstandsänderung. Da wir trotzdem eineelektrische Spannung am Ausgang des Bauelements erhal-ten, können wir es einfach in eine herkömmliche Elektro-nik integrieren. Damit können integrierte spinkaloritroni-sche Bauelemente in Zukunft die Effizienz von Elektronikensteigern.

Eine große Hoffnung, die in viele thermokalorische und-elektrische Effekte und damit auch in die Spinkaloritronikgesetzt wird, ist ihr Potenzial, Energie einzusparen. In vie-len technischen Prozessen, zum Beispiel in Verbrennungs-motoren, entsteht ein gewisser Anteil Abwärme. Die daringespeicherte Energie verpufft im Allgemeinen an die Um-gebungsluft. Diese Abwärme sorgt für eine Temperaturdif-ferenz, und davon kann man über den Seebeck-Effekt einenTeil in eine elektrische Spannung umwandeln. So wird eingewisser Anteil der Abwärme zu Nutzenergie.

Mit spinkaloritronischen Rechnerchips könnte man dieBordelektronik eines Autos allein durch temperaturgetrie-bene Ströme arbeiten lassen. Im Mobiltelefon oder Note-book könnte man damit die Effizienz erhöhen und dadurcham Ende Energie einsparen. Das verlängert nicht nur die Bat-terielaufzeit, sondern reduziert auch den Aufwand für dieKühlung.

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A B B . 5 DAT E N S PE I C H E R M I T S E E B EC K- E F F E K T

Ein magnetisches Tunnelelement zeigt verschiedene Seebeck-Spannungen, je nachOrientierung der Magnetisierung der Elektroden. Dazu muss eine Elektrode desTunnelelements gegenüber der anderen erwärmt werden. Die Seebeck-SpannungUp für parallel und Uap für antiparallel ändert sich beim Schaltprozess. Im hiergezeigten Fall wird der Seebeck-Koeffizent beim Schalten von Up in Uap kleiner, esherrscht ein negativer Magneto-Seebeck-Effekt.

Abb. 6 TEM-Aufnahme von einer 2,1 nm dünnen Tunnelbar-riere aus zehn Atomlagen Magnesiumoxid (MgO), die Elek-troden sind aus Cobalt-Eisen-Bor (Co-Fe-B) [9].

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ZusammenfassungDer Seebeck-Effekt wandelt einen Temperaturgradienten ineine Thermospannung um, umgekehrt funktioniert der Pel-tier-Effekt. Kürzlich wurden in Nanostrukturen neuartige, ver-wandte Effekte entdeckt. Dazu gehört der Spin-Seebeck-Ef-fekt in magnetischen Filmen und Tunnel-Magneto-Seebeck-Ef-fekt in magnetischen Tunnelelementen. Der Effekt ist in dennanoelektronischen Bauelementen stark genug für technischeAnwendungen. Die Grundlagenforschung verspricht neue Er-kenntnisse über das Zusammenspiel von elektrischen undthermischen Strömen mit dem Elektronenspin. In der Technikkönnte die Spinkaloritronik bisher ungenutzte Abwärme, et-wa von Automotoren oder Mikroprozessoren, zur Span-nungsquelle für Bordelektroniken oder mobile Anwendungenmachen.

StichworteSpinkaloritronik, Spinkalorik, Spinelektronik, Seebeck-Effekt,Spin-Seebeck-Effekt, Tunnel-Magneto-Seebeck-Effekt.

Literatur[1] S. Steinmüller, K. Lee, T. Bland, Phys. Unserer Zeit 2008, 39(6), 274.[2] L. Gravier et al., Phys. Rev. B 2006, 73, 052410.[3] G. E. W. Bauer, E. Saitoh, B. van Wees, Nature Mater. 2012, 11, 391.[4] K. Uchida et al., Nature 2008, 455, 778.[5] M. Weiler, et al., Phys. Rev. Lett. 2012, 108, 106602.[6] J. Wecker, R. Kinder, R. Richter, Phys. unserer Zeit 2002, 33(5), 210.[7] A. Ehrmann, T. Blachowitz, Phys. unserer Zeit 2012, 43(2), 72.[8] M. Czerner, M. Bachmann, C. Heiliger, Phys. Rev. B 2011, 83,

132405.[9] M. Walter et al., Nature Mat. 2011, 10, 742.

[10] N. Liebing et al., Phys. Rev. Lett. 2011, 107, 177201.[11] W. Lin et al., Nature Comm. 2012, 3, 744.

Die AutorenMarkus Münzenberg studierte Physik an der Georg-August-Universität Göttingen. Nach einem einjähri-gen Forschungsaufenthalt in Cambridge (USA)kehrte er nach Göttingen zurück als Juniorprofessor.Seit 2009 hat er dort eine außerplanmäßigeProfessur im I. Physikalischen Institut.

Andy Thomas studierte Physik an der UniversitätBielefeld. Nach einem zweijährigen Forschungsauf-enthalt in Cambridge (USA) kehrte er nach Bielefeldzurück und leitet als Privatdozent seit 2009 eineNachwuchsforschergruppe des Landes Nordrhein-Westfalen.

AnschriftProf. Markus Münzenberg, Georg-August-UniversitätGöttingen, I. Physikalisches Institut, Friedrich Hund Platz 1, 37077 Göttingen. [email protected]

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Nähe. Der Schwerpunkt S verändert sich nur sehr wenig,weil die Bewegung des hinteren Fußes und dessen Masseim Vergleich mit der übrigen Masse relativ klein sind. DieUnterseite der Füße ist konvex (teilzylinderförmig) geformt,sodass die Ente darauf abrollen und schaukeln kann. DieSchwingungsdauer der Ente nach vorne und hinten ist et-was größer als die Schwingungsdauer des Fußes. Dadurchwird erreicht, dass der hintere Fuß beim Nachvorneschau-keln der Ente schnell genug nachschwingen kann.

Die Ente befindet sich auf einer Rampe mit einer Nei-gung von etwa acht Grad. Bei etwa zwei Grad mehr oderweniger läuft sie nicht mehr, weil dadurch die Abstimmungder Schwingungsdauern zu stark gestört wird.

Sehr empfindlich reagiert die Ente auch auf eine Ver-änderung des Schwerpunkts, indem man beispielsweise ei-ne kleine Masse (fünf Gramm reichen schon aus) am Schna-bel oder Schwanz anbringt. Dadurch wird wie bei der Än-derung der Neigung ebenfalls die Abstimmung derSchwingungsdauern aufeinander gestört. Teilweise kannman daher diese Störung durch eine Anpassung der Nei-gung kompensieren, so dass die beschwerte Ente bei an-derer Neigung wieder zum Laufen gebracht werden kann.Bei gekauften Exemplaren inklusive Rampe sind Schwer-punkt und Rampenneigung optimal aufeinander abge-stimmt. Konstruiert man selbst ein Lauftier, ist das Austa-rieren der Lage des Schwerpunkts bei gegebener Neigungder Rampe extrem wichtig (siehe „Eigenbau“, S. 298).

Der Bewegungsablauf der Wackelente ist aus Abbildung1 ersichtlich. Die Ente rollt in a) gerade die Füße nach hin-ten ab. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt um etwa5 mm nach hinten und liegt über der Spitze des hinteren

Spielwiese

Lauftiere: vom Spielzeug zum RoboterCHRISTIAN UCKE | H. JOACHIM SCHLICHTING

Lauftiere wackeln eine schiefe Ebene hinunter. Schon Klein -kinder sind fasziniert von diesem über hundert Jahre altenSpielzeug. Ingenieure beschäftigen sich aktuell damit, da sichmit dem dahinter stehenden Prinzip überraschend energie -sparende Konstruktionen von Laufrobotern realisieren lassen.

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DOI: 10.1002/ piuz.201201311

Wie bei vielen Spielzeugen ist der Ursprung von Lauf-tieren nicht genau überliefert. Bekannt sind jedenfalls

Exemplare vom Ende des 19. Jahrhunderts. In der Spiel-zeugindustrie des Erzgebirges werden sie noch heute inmannigfaltigen Ausführungen in Holz produziert. Ein typi-scher Vertreter ist die Wackelente (Abbildung 1). Durchleichtes Antippen am Schwanz startet die Wackelente undbewegt sich leicht nach vorn und hinten schaukelnd eine schiefe Ebene hinunter. Eine Videoaufnahme mit der Laufente (Waddling Duck) lässt sich auf www.phiuz.de,Special Features, Zusatzmaterial zu den Heften herunterla-den und einschließlich Zeitlupenauf nahmen bei YouTubeansehen [1].

Analyse der Laufbewegung der LaufenteDie Konstruktion der Wackelente ist genial einfach. Der vor-dere Fuß ist mit dem Entengehäuse fest verbunden. Derhintere Fuß ist um den Punkt S drehbar, kann frei schwin-gen, und der maximal mögliche Ausschlag ist durch einenStopper begrenzt. Zugleich stellt S den Schwerpunkt dar.Der Schwerpunkt muss nicht unbedingt mit dem Dreh-punkt zusammenfallen, befindet sich aber meist doch in der

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

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Abb. 1 Vier Phasen des Bewegungsablaufes der Wackelente. Die Fotos wurden aus einem Video entnommen. Ein vollständigerZyklus wird in 0,57 s durchlaufen.

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ne konstante Schrittfrequenz einzuregeln, wobei Störungen(beispielsweise leichtes Antippen der Ente, Beschleunigungoder Abbremsen durch Inhomogenitäten auf der schiefenEbene) durch Rückkopplungsvorgänge immer wieder ab-gebaut werden. Dieses komplexe Selbstorganisationsver-halten kommt in einer nichtlinearen Dynamik des Systemszum Ausdruck und ist daher mathematisch sehr an-spruchsvoll. Eine ausführliche theoretische Beschreibungsowohl der Laufente wie des Pickspechts findet man in [3].

Zwei nebeneinander befindliche FüßeEine richtige Ente hat natürlich zwei nebeneinander be-findliche Füße, ebenso wie viele andere Tiere und derMensch. Lauftiere als Spielzeug mit nebeneinander liegen-den Füßen sind hingegen eher selten. Ihr Aufbau ist etwaskomplizierter als bei Vierbeinern, da die Wackelbewegungnicht nur nach vorne und hinten, sondern auch nach linksund rechts stattfindet. Beide Füße sind frei und unabhän-gig voneinander schwingend beweglich.

Befindet sich das Lauftier auf einer schiefen Ebene zu-nächst auf dem linken Fuß (Abbildung 2a), so kann der rech-te Fuß frei nach vorne schwingen (Abbildung 2b). Sodannschaukelt das Objekt nach rechts auf den rechten Fuß (Ab-bildung 2c), woraufhin der linke Fuß nach vorne schwin-gen kann (Abbildung 2d). Die Füße müssen dementspre-chend in zwei zueinander senkrechten Richtungen konvexgeformt sein (beispielsweise wie Kugelabschnitte). DieSchwingungsdauern der Hin- und Herbewegung des ganzen

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Fußes. Der vordere Fuß – fest verbunden mit der ganzen En-te – kann sich nun in b) von der Unterlage lösen. Die durchdie schiefe Ebene bedingte rückwirkende Kraft führt dazu,dass sich der Schwerpunkt anschließend wieder um etwa30 mm nach vorn bewegt und sich dem Fortschreiten ent-sprechend etwas senkt. Gleichzeitig schwingt der vom Bo-den gelöste vordere Fuß in c) nach vorne aus. Durch dasSenken des Schwerpunkts setzt der vordere Fuß auf, bevorer Gelegenheit hat, wieder zurückzuschwingen. Gleichzei-tig löst sich der hintere Fuß von der Unterlage und schwingtnach vorn, was gleichbedeutend damit ist, dass die Ente ins-gesamt einen Schritt weiter gekommen ist. Beim Anstoßendes hinteren an den vorderen Fuß in d) gibt es zusätzlicheinen kleinen Schubs nach vorne. Der Schwerpunkt hatsich auf einer schwach wellenförmig geneigten Kurve umetwa 3 mm nach unten bewegt, wobei die Ente insgesamtum circa 2 cm vorangekommen ist. Die dafür umgesetztepotentielle Energie ist wegen der geringen Abwärtsbewe-gung des Schwerpunkts sehr klein.

In gewisser Hinsicht ähnelt diese Bewegung derjenigendes an einer Stange hinunter laufenden „Pickspechts“ [2].Auch er weist eine Phase auf, in der sich der Schwerpunktentgegengesetzt zur Richtung der Gesamtbewegung ver-schiebt. Es gibt dort wie hier eine fast frei bewegliche Pha-se und schließlich auch ein Gleitrutschen der Muffe an derStange. Solche Reib-Stoß-Effekte (Stick and Slip) liegen soverschiedenen Vorgängen wie der Erzeugung von Tönenbei Streichinstrumenten und der Plattentektonik bei Erd-beben zugrunde. Aber auch in der Technik ist die Stick-Slip-Bewegung von enormer Bedeutung, wobei es hier haupt-sächlich darum geht, sie zu vermeiden, weil sonst ein Knar-ren oder Quietschen auftritt.

Die Wackelente ist energetisch gesehen ein Modell füreine dissipative Struktur, die von Energie „durchflossen“wird. Die gesamte zugeführte potentielle Energie wirddurch Reibungsvorgänge dissipiert, so dass die Bewe-gungsenergie im Mittel konstant bleibt. Die Dissipation wirdalso konstruktiv zur Fortbewegung genutzt, wobei die ein-zelnen Phasen der Dynamik in selbst organisierter Weiseaufeinander abgestimmt sind. Das System vermag dabei ei-

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Abb. 2 Vier Phasen des Bewegungsablaufes des Walking Robots von Roberto LouMa (Fotos einem Video auf [4] entnommen).

Abb. 3 a) ZweibeinigerBär Winnie-the-Pooh [6];b) zweibeiniges PassiveWalking Toy [7].

Abb. 4 Dreibeiner ausLegobauteilen [9]. >>

a) b)

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Körpers und der Füße müssen sorgfältig aufeinander abge-stimmt und etwa gleich groß sein, damit sich das Lauftierkoordiniert bewegen kann (Selbstorganisation). Die Schwin-gungsamplituden nach links und rechts und vorne und hin-ten dürfen nicht zu groß sein, da das Objekt sonst leicht um-fallen kann. Deswegen ist die Schrittweite klein.

Das Prinzip dieses Spielzeugs wurde schon 1888 in denUSA unter dem Namen Walking Toy patentiert [5]. Vieleweitere Patente wurden seitdem für ähnlich geartete Spiel-zeuge erteilt. Käuflich zu erwerben ist der in Abbildung 3adargestellte, zweibeinige Bär Winnie-the-Pooh [6]. Aufgrundder symmetrischen Konstruktion der Füße läuft er vorwärtswie rückwärts.

Seit einiger Zeit gewinnen derartige Spielzeuge an wis-senschaftlicher Bedeutung, da gewisse Parallelen zum Gangdes Menschen ersichtlich sind [7]. In Abbildung 3b ist dasPrinzip dieser Konstruktion besonders deutlich zu sehen.Noch menschlicher wird die Konstruktion durch die Ein-führung von beweglichen Kniegelenken. Mit zusätzlichenMotoren können derartige Maschinen roboterähnlich aufeiner Ebene laufen. Im Vergleich zu anderen Laufroboternbrauchen sie erheblich weniger Energie und keine Stabili-sierung durch aufwendige Regelelektronik [8].

Lauftiere mit drei FüßenDrei Füße oder Beine klingt zunächst merkwürdig. Es gibtkeine Tiere mit drei Beinen, von verletzten Vierbeinern ein-mal abgesehen. Was gemeint ist, zeigt Abbildung 4. Einer-seits verfügt ein einbeiniger Mensch mit zwei Krücken überdrei Beine, zum anderen gibt es Modelle, die Ähnliches si-mulieren (Abbildung 4). Wenige Spielzeuge sind mit sol-chen Konstruktionen realisiert [10]. Meist sind die Beinestarr über eine Achse miteinander verbunden. Auch ein ein-beiniger Mensch setzt faktisch beide Krücken gleichzeitigvoran und schwingt dann mit dem Körper zwischen denaufgesetzten Krücken hindurch. Beim Laufen auf einerschiefen Ebene sind diese Konstruktionen in Laufrichtungrelativ instabil, da sie leicht nach vorne fallen können. Aufhorizontaler Ebene gilt – ähnlich wie bei den Zweibeinernmit nebeneinander liegenden Füßen –, dass der Schwer-punkt bei kleinen Schrittweiten nur sehr wenig gehobenund gesenkt wird und sie deshalb ebenfalls als Vorbild fürenergiesparende Laufroboter dienen.

Lauftiere mit vier FüßenLauftiere mit vier Füßen sind weit verbreitet. Es gibt sie alskleines Mitnahme-Plastikspielzeug, an denen vorne ein Fa-den mit Gewicht angebracht ist. Als etwas edlere Ausfüh-rung sind sie in Holz gestaltet (Abbildung 5). Man setzt„Gwaggli“ auf einen ebenen Tisch und hängt die Ge-wichtskugel über den Tischrand. Hier erfolgt die Energie-zufuhr durch das Absenken des Gewichts über einen Seil-zug und nicht durch eine schiefe Ebene. Hin und her schau-kelnd setzt das Objekt beide Füße gleichzeitig jeweilsabwechselnd auf einer Seite voran, bewegt sich bis zumTischrand und bleibt hier in der Regel auch stehen, so alswüsste es um die Gefahr des Abgrunds. Zum Tischrand hinwird der Winkel zwischen Seil und Ebene immer größer, so-dass die Translationskomponente immer kleiner wird.Gleichzeitig bewirkt der zunehmende Zug nach unten, dassdas Lauftier schließlich nicht mehr in der Lage ist einen Fußzu heben, so dass es auf der Stelle fixiert wird. Ohne Ge-wicht und Seil wackelt Gwaggli auch eine schiefe Ebene hi-nunter.

Diverse Variationen von vierbeinigen Lauftieren ausHolz stellt eine Firma aus dem Erzgebirge her [11]. Im Spiel-zeugmuseum in Nürnberg ist ein vierbeiniges Lauftier desitalienischen Künstlers Agostino Venturini zu bewundern.

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E I G E N BAU |Einige Typen von Lauftieren lassen sichmit nicht allzu viel Aufwand selbstbauen. Der Vorteil des Selbstbausbesteht darin, dass man einige Para-meter wie Trägheitsmoment, Lage desSchwerpunkts oder Schrittlängeverändern kann.

Das Buch von Magdalen Bear [12]enthält Ausschneidebögen aus leich-tem Karton, die allerdings einigeGeduld und Erfahrung beim Zusam-menbau erfordern. Immerhin sind daSchere und Klebstoff ausreichend. Die typische Laufente ist eines derDesigns.

Im Internet finden sich mehrereAnleitungen. Der Nachbau einerLaufente aus Holz ist in [13] beschrie-

ben. Ein Bauplan für ein wackelndesRhinozeros mit zwei Beinen aus Holzist in [14] ersichtlich. Dazu sind dannschon einige Holzbearbeitungsgerätenotwendig.

Etwas aufwendiger ist ein wackeln-der Roboter aus Holz mit zwei neben-einander liegenden Füßen [4]. Hier isteine Drehbank hilfreich.

Keine direkten Baupläne, jedochhinreichend anschauliche Videoskönnen die Eigenkreativität zumNachbau anregen [15]. Mit Legoteilenlässt sich ein dreibeiniger PassiveWalker zusammenstecken [9]. Witt-man [16] beschreibt den Bau vonvierbeinigen Lauftieren aus Holz.

Abb. 5 Das vierbeinige Lauftier Gwaggli.

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S P I E L W I E S E L A U F T I E R E

Auch das Prinzip dieses Spielzeugs wurde als Quadrupedschon in dem zitierten Patent von 1888 beschrieben.

Die Lauffläche der Füße dieser Vierbeiner ist wie beiden Zweibeinern mit nebeneinander liegenden Füßen kon-vex in zwei zueinander senkrechten Richtungen (Kugelka-lotte) gestaltet. Durch die feste Verbindung der beiden Kör-per und zweier hintereinander liegender Fußpaare ist dieStabilität in Laufrichtung sehr gut; senkrecht dazu allerdingsnicht besser als bei den Zweibeinern. Es kann leicht zu ei-ner instabilen Schaukelbewegung kommen, die zum Um-kippen führt.

Die Schwingungsdauern der Hin-und-Herbewegung desGesamtkörpers und der Fußbewegungen müssen sorgfältigaufeinander abgestimmt und etwa gleich groß sein, damitsich das Lauftier koordiniert bewegen kann. Bei vierbeini-gen Tieren, die beide Beine phasengleich auf einer Seite be-wegen, spricht man von Passgang.

ZusammenfassungLauftiere wackeln eine schiefe Ebene hinunter oder werdendurch ein sich absenkendes Gewichtsstück gezogen. SchonKleinkinder sind fasziniert von diesem über hundert Jahre al-ten Spielzeug. Ingenieure beschäftigen sich aktuell damit, dasich mit dem dahinter stehenden Prinzip überraschend ener-giesparende Konstruktionen von Laufrobotern realisieren las-sen. Eine genaue Analyse ergibt interessante Parallelen zurStick-and-Slip-Bewegung des Pickspechts.

StichworteLauftiere, Pickspecht, Physik von Spielzeugen, Stick-Slip-Be-wegung, Quadruped.

Literatur und WeblinksUnter folgenden Stichwörtern findet man bei YouTube vie-le Videos und Webseiten zum Thema: Lauftiere, Laufente,waddling duck, ramp walking toy, passive walker, dynamicwalker.

[1] Waddling Duck Toy Physics, bit.ly/Q38IrB.[2] C. Ucke, H. J. Schlichting, Physik und Spaß, Wiley-VCH, Weinheim

2011, S. 51.[3] R. I. Leine et al., Journal of Vibration and Control 2003, 9 (1–2), 25;

bit.ly/KkbTK1.[4] ramp-walking wooden robot, bit.ly/QyCFBQ.[5] G. T. Wallis, American Patent No. 376.588, 1888.[6] www.selfwalkingtoys.com/bear.html.[7] M.-f. Fong, Mechanical Design of a Simple Bipedal Robot, Bachelor

of Science in Mechanical Engineering, MIT 2005, USA.[8] S. Collins. et al., Science 2005, 307, 1082.[9] LEGO Passive Dynamic Walker, bit.ly/UZybVS.

[10] Wood Hopping Bunny Toy, bit.ly/Q39KUu.[11] holzgestaltung-lipkowsky.de/rubriken/spielzeug/sz_tiere_1.html.[12] M. Bear, Walking Automata, Tarquin Publications, St Albans 2007.[13] re.trotoys.com/article/waddling-duck-mechanical-toy.[14] bit.ly/UwfUww.[15] bit.ly/Q3aMQz, japanisch.[16] J. Wittmann, Trickkiste 1, Bayerischer Schulbuch-Verlag, München

1983.

Die Autoren

Christian Ucke und Hans-Joachim Schlichting sind die Begründer unsererRubrik Spielwiese.

AnschriftenDr. Christian Ucke, Rofanstraße 14B, 81825 München, [email protected]. Dr. Hans Joachim Schlichting, Didaktik der Physik, Universität Münster,48149 Münster, [email protected].

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decken, die die Menschheit 2008 an Primärenergie benö-tigte [2]. Wie beim Wind gilt jedoch, dass das theoretischePotenzial von erneuerbaren Energiequellen bei weitemnicht ausgeschöpft werden kann – weder technisch nochnachhaltig [4].

Die Möglichkeiten einer klima- und ressourcenfreund-lichen, nachhaltigen Energieversorgung wurden in den letz-ten Jahren in zahlreichen Studien eingehend untersucht [5–8]. Basis hierfür sind zumeist Computermodelle, mit denensich die unterschiedlichen Eigenschaften und Auswirkungenverschiedener Technologien auf die Energieversorgung un-tersuchen lassen. Während sich einige Studien auf eine de-taillierte Betrachtung der deutschen Energieversorgung kon-zentrieren, befassen sich andere mit der Energieversorgunggrößerer Regionen und auch von ganzen Kontinenten. Da-bei wird oft die Energieversorgung stundengenau in denModellen aufgelöst, um den Einfluss des Angebotes der va-riablen erneuerbaren Energiequellen und den Bedarf an Re-gelenergie zur Kompensation von Schwankungen auf einerstündlichen bis saisonalen Skala zu simulieren.

Wir betrachten in diesem Artikel die Elektrizitätsver-sorgung Europas bis 2050. Dabei untersuchen wir die Fra-ge, was ein schrittweiser Umstieg bis zur Vollversorgungmit erneuerbarer Energie an Regelenergie und damit Ener-giespeicherkapazitäten erfordert. Unsere Basis sind Mo-dellsimulationen. Dabei beschäftigt uns auch die Frage, wel-chen Einfluss die Größe von Europa als Verbundgebiet aufden Um- und Ausbau des Netzes und des Kraftwerkparks zurErzeugung und Speicherung elektrischer Energie hat.

Das EnergiemodellWir verwenden ein Energiemodell, das wir derzeit am In-stitut für Umweltphysik der Universität Heidelberg im Rah-men des Energieprojektes des Heidelberg Center for theEnvironment (HCE) entwickeln. Um das vielschichtige The-ma der Energieversorgung besser abzudecken, sind daranauch die Bereiche Umweltökonomik, Geographie undRechtswissenschaften der Universität beteiligt. Die Um-weltökonomik entwickelt hierbei in Zusammenarbeit mitdem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)in Mannheim ein eigenes Modell namens GREET (GlobalResource Extraction and Energy Transformation) [9]. BeideComputermodelle sind für eine globale Betrachtung aus-gelegt und unterteilen die Welt in elf Regionen. Eine davonist Europa, inklusive dem Großteil der EU-27-Staaten undweiterer Staaten wie Norwegen, Island und der Schweiz.

Europas Stromversorgung mit Speicherbedarf bis 2050

Erneuerbare Energie für EuropaTOBIAS TRÖNDLE | ULRICH PLAT T | WERNER AESCHBACH-HERTIG | KLAUS PFEILSTICKER

Ein weitgehender Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger in Europa erfordert ein Umdenken in der Elektri-zitätsversorgungsstruktur. Regelbare Kraftwerke, Energie -speicher und ein leistungsfähiges Elektrizitätsnetz sind hierbeiwichtige Bausteine. Das zeigt das vorgestellte Szenario fürEuropa bis 2050.

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DOI: 10.1002/ piuz.201201301

Die Nutzung fossiler Energieträger und somit der Groß-teil der anthropogenen Treibhausgasemissionen muss

weltweit stark reduziert werden, um die Folgen des Klima-wandels einzuschränken [1]. Auch die begrenzte Verfüg-barkeit fossiler Energieträger und die sinkende Akzeptanzder Nutzung von Nuklearenergie geben Anlass, die Ener-gieversorgung zu überdenken. Das Ziel ist daher, zukünftigEnergie effizienter zu verwenden und verstärkt erneuerba-re Energiequellen einzusetzen.

Unter den erneuerbaren Energiequellen bieten globalgesehen – je nach Schätzung – die solare Einstrahlung miteiner mittleren Leistung von rund 124 000 TW [2] und derWind mit bis zu 190 TW [2] die größten theoretischen Po-tenziale. Deren Aufkommen ist jedoch zeitlich und räumlichso variabel, dass für eine bedarfsgerechte Elektrizitätsver-sorgung ein erheblicher Einsatz von sogenannter Regel-energie [3] zum Ausgleichen der Schwankungen erforder-lich wird. Diese könnte aus kurzfristig zuschaltbaren kon-ventionellen Kraftwerken oder aus Energiespeichernstammen. Zur Ergänzung eignet sich regelbare erneuerba-re Energie, dazu zählt die Biomasse mit einem Potenzial voncirca 49 TW geschätzter mittlerer Leistung [2]. Theoretischkönnte Biomasse damit sogar die 15,6 TW mittlere Leistung

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

I N T E R N E T |Jahresgang der Windenergie in längeren Zeiträumenwindmonitor.iwes.fraunhofer.de

Erträge von Photovoltaik-Standorten in Europare.jrc.ec.europa.eu/pvgis/index.htm

Modell für Wellenenergiekonverterwww.wavedragon.net

Page 39: Physik.in.Unserer.zeit 2012 6

bare und wetterunabhängige Biomasse- und Geothermie-kraftwerke. Die zweite Klasse bilden die wetterabhängigenEnergieproduzenten, also Photovoltaik- (PV), Wellenkraft-anlagen und On- wie Offshore-Windenergieanlagen. Kon-zentrierende solarthermische Kraftwerke (CSP), die vor al-lem in südlichen Regionen eine attraktive Alternative in derSolarenergienutzung bieten, sind derzeit im Modell nichtimplementiert und werden daher durch eine komplemen-täre Stromproduktion mittels PV simuliert.

Wie Wetter- und Klimamodelle überzieht unser Modelldie Regionen mit einem Gitterraster. Die Verteilung der Pro-duzenten erneuerbarer Energie auf diesem Gitter richtetsich momentan nach den energiereichsten Standorten. Sosind im Europaszenario PV-Anlagen primär im mediterranenRaum mit Spanien als Präferenz angeordnet und Wind-kraftanlagen entlang der Küstenregion in der Westwindzo-ne sowie in Schottland und vereinzelt in Osteuropa. Off-shore-Wind- und Wellenkraftanlagen kommen entlang derAtlantik- und Nordseeküste zum Einsatz.

Die Leistung der Windkraftanlagen wird aus der Wind-geschwindigkeit in Nabenhöhe berechnet. Diese liegt beiden im Modell stellvertretend verwendeten Anlagen bei100 m für Nordex N90/2.5 onshore und bei 135 m für

E N E R G I E S P E I C H E R I M N E T Z E R N E U E R B A R E E N E R G I E

Jeder Modellregion geben wir den Jahreselektrizitäts-bedarf und die benötigte elektrische Leistung mit einemJahresgang vor, mit Maximum im Winter und Minimum imSommer. Dieser saisonalen Schwankung der nachgefragtenLeistung sind ein Wochen- und ein mittlerer Tagesgang [10]überlagert, der realistische Schwankungen berücksichtigt[6].

Zur Simulation der zeit- und raumabhängigen Erzeugungder erneuerbaren Energie in den Modellgebieten sind glo-bale Wetterdaten für das Jahr 2000 hinterlegt. Sie kommenvom ERA-40-Projekt des Europäischen Zentrums für mittel-fristige Wettervorhersage EZMW im englischen Reading.Für detailliertere Studien müssten eigentlich die Wetterda-ten aus einem mehrjährigen Zeitraum einfließen, doch dieStandardabweichung etwa bei Windenergie liegt im Zeit-raum von 1993–2008 nur bei 9 % [11]. Es sind daher keinefundamentalen Schwankungen bei einer mehrjährigen Be-trachtung zu erwarten, zumal diese bei einem so großen Ge-biet wie Europa eher kleiner ausfallen dürften.

In unserem Energiemodell geben wir derzeit neun Kraft-werkstypen vor, die wir in zwei Klassen unterteilen. EineKlasse bilden konventionelle Erdgas-, Kohle- und Kern-kraftwerke, grundlastfähige Wasserkraftwerke sowie regel-

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Pumpspeicherkraftwerke können als große Energiespeicher im elektrischen Netz die fluktuierende Energieerzeugung aus Windund Sonne abpuffern helfen. Die beiden Stauseen und die Staumauer im Foto gehören zum österreichischen SpeicherkraftwerkLimberg II, das 2011 in Betrieb ging. Die Fallhöhe des Wassers beträgt knapp 370 m, seine beiden Pumpturbinen leisten zusam-men maximal 480 Megawatt (Foto: Voith).

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Enercon E126 offshore. Die Leistung von PV-Anlagen ist direkt proportional zur solaren Einstrahlung am Boden, ver-ringert sich aber auch mit steigender Modultemperatur. DasEU-Projekt PVGIS (s. „Internet“ auf S. 300) bietet dabei ei-nen guten Einblick in Erträge für typische PV-Standorte inganz Europa. Im Energiemodell wurde als Wirkungsgradder Module 0,17 angenommen und ihre Neigung auf 30° (ty-pisch für Hausdachmontage) gesetzt. Bei Wellenkraftwerkenhaben wir die Leistung aus Daten zur vorherrschenden Wel-lenhöhe und deren Periode berechnet, Stellvertreter im Modell ist hier ein Wave-Dragon-Modul mit 7 MW Leistung(s. „Internet“ auf S. 300).

Derzeit müssen wir in unserem Energiemodell noch ei-ne starke Vereinfachung machen. Wir nehmen den Idealfalleines perfekten Leitungsnetzes an, bei dem die im Modell-gebiet hergestellte elektrische Energie überall sofort ver-lustfrei zur Verfügung steht. In zukünftigen Versionen desModells sollen aber die erforderlichen Energieflüsse unddamit Leitungskapazitäten zwischen den Gitterzellen desModells mit aufgezeichnet werden.

Aus der Bilanz aller Beiträge der erneuerbaren Energie-quellen berechnet das Energiemodell die Regelenergie, dienötig ist, um Elektrizitätsangebot und Nachfrage innerhalbder Regionen zur Deckung zu bringen. Ein zentrales Ele-ment unseres Energiemodells ist der Einsatz von Anlagen,die überschüssige elektrische Energie speichern und diesebei Bedarf wieder ins Netz abgeben können. Damit könnenwir die wichtige Frage angehen, welchen Bedarf an Ener-giespeichern eine durch erneuerbare Energie geprägte Ver-sorgung nach sich zieht. Bei den Energiespeichern nehmenwir einen Gesamtwirkungsgrad von 80 % an.

Reicht der Speicherinhalt nicht aus, um Angebot undNachfrage zur Deckung zu bringen, werden im Modell re-gelbare konventionelle Kraftwerke zugeschaltet. Weil Bio-masse- und Geothermiekraftwerke regenerative Energie nut-zen, werden sie bevorzugt. Die Fahrpläne der übrigen kon-ventionellen Kraftwerkstypen würden sich in einemökonomischen Strommarktmodell üblicherweise aus der„Merit-Order“ ergeben, also der Reihenfolge der jeweilsgünstigsten variablen Kosten der Elektrizitätserzeugung.Hier sind jedoch die Reaktions- und Stillstandszeiten derunterschiedlichen Kraftwerkstypen nach einer Vollabschal-tung maßgebend für die Reihenfolge bei der Zu- und Ab-

schaltung. Wir halten so im Modell die für unterschiedlicheAnsprüche ausgelegten Kraftwerkstypen weitgehend in ih-rem technisch sinnvollen Einsatzbereich. Deshalb speisenKern- und Kohlekraftwerke, soweit im Szenario noch vor-handen, vorrangig zur Deckung von Grund- und Mittellastins Netz ein. Die flexiblen Gaskraftwerke dienen primär zurDeckung der Spitzenlast.

EuropaszenarioUnser „100 % EE-Szenario“ nimmt an, dass Europas Strom-versorgung aus erneuerbaren Energiequellen schrittweisewächst und im Jahr 2050 die 100 % erreicht. Ob diese An-nahme realistisch ist, wird natürlich erst die Zukunft er-weisen, denn schließlich spielen viele Faktoren wie etwader politische Wille eine Rolle. Mit diesem Szenario könnenwir aber die Anforderungen an den Umbau des europäi-schen Kraftwerkparks und insbesondere den Ausbau derEnergiespeicher abschätzen.

Das Portfolio an installierter Leistung, die das 100 % EE-Szenario erfordert, stammt aus Ergebnissen des ökonomi-schen Energieversorgungsmodells GREET unter der Ziel-vorgabe, im Elektrizitätssektor kostenminimal auf erneuer-bare Energiequellen umzusteigen. Den Bedarf Europas anelektrischer Energie um 2050 setzen wir dank Effizienz-steigerung bei den Verbrauchern nur geringfügig höher alsden Bedarf des Jahres 2007 an. Dieser lag bei 2935 TWh [5],wir rechneten für 2050 mit 3224 TWh.

Tabelle 1 zeigt, wie die installierte Kraftwerksleistungzur Deckung dieses Bedarfs dann aussehen könnte. Darindominieren die wetterabhängigen erneuerbaren Energie-quellen mit fast 80 % der installierten Leistung und 75 %der Jahreselektrizitätsproduktion, da Biomasse und Was-serkraft im Potenzial limitiert sind [2]. Die leichte Über-produktion in den 3274,6 TWh gegenüber dem angenom-menen Bedarf erklärt sich durch die Verluste bei der Ener-giespeicherung.

2007 dagegen entfiel noch 63,4 % der installierten Er-zeugungskapazität auf konventionelle Kraftwerke mit fos-silen und nuklearen Brennstoffen. Der bei weitem größteAnteil der Kapazität aus erneuerbarer Energie stammte 2007mit 27,9 % vor allem von Wasserkraftwerken aus Ländernwie Norwegen, hinzu kommen Biomassekraftwerke und ei-nige Geothermiekraftwerke (Island, Italien). Somit waren

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TA B . 1 S T RO M E R Z E U G U N G I M J A H R 2 0 5 0 AU S H U N D E R T PRO Z E N T E R N E U E R BA R E R E N E RG I E

Wind (onshore) 225,0 17,8 436,5 13,3Wind (offshore) 225,0 17,8 808,9 24,7Wellen 97,3 7,7 274,8 8,4Photovoltaik 452,5 35,7 928,5 28,4Biomasse und Geothermie 76,5 6,0 323,3 9,9Wasser 190,7 15,0 502,6 15,3Summe 1267,0 100,0 3274,6 100,0

Kraftwerke Installierte Anteil an Elektrizitäts- Anteil anLeistung installierter produktion Produktion in %in GW Leistung in % in TWh

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E N E R G I E S P E I C H E R I M N E T Z E R N E U E R B A R E E N E R G I E

2007 nur 8,7 % der installierten Leistung von schwanken-den Energieträgern, vor allem Wind, abhängig.

Von diesem Basisszenario 2007 aus haben wir die in-stallierte Leistung der Kraftwerke dem Portfolio im 100 %EE-Szenario für 2050 angenähert. Jede dazwischen be-trachtete Ausbaustufe der erneuerbaren Energiequellenmachte weitere 10 % der installierten Kraftwerksleistungaus. Diese Umstellung der Stromversorgung erfordert einenstarken Umbau der Energieinfrastruktur. Deshalb haben wirfür jede Ausbaustufe die Auslastungen der einzelnen Kraft-werkstypen untersucht.

Generell bewirkt ein steigender Anteil an erneuerbarerEnergie eine abnehmende Auslastung aller Kraftwerke unddamit höhere Stillstandskosten (Abbildung 1). Besonderstrifft es die ursprünglich zur Grundlastversorgung ausge-legten Kernkraftwerke. Ab etwa einem Anteil von 50 % imAnlagenportfolio generieren erneuerbare Energiequellenimmer öfter so viel Elektrizität, dass Kernkraftwerke wegender einspeisebevorzugten erneuerbaren Energie immer sel-tener zum Einsatz kommen.

Ein so großes Gebiet wie Europa mit Sonnenstandortenwie Spanien oder windreichen Regionen wie Schottland er-möglicht dort jeweils deutlich höhere Auslastungen von So-lar- oder Windenergieanlagen als etwa in Deutschland. Dochauch die wetterabhängigen Erneuerbare-Energie-Anlagenweisen in Abbildung 1 eine leichte Degression der Auslas-tung auf. Das liegt daran, dass ertragreiche Standorte be-grenzt verfügbar sind. Lediglich die flexibel regelbaren Gas-kraftwerke sowie die Biomasse- und Geothermiekraftwerkehalten oder erhöhen sogar ihr Auslastungsniveau zunächst.Erst ab einem Anteil der Erneuerbaren von rund 80 % sinktauch ihre Auslastung deutlich ab.

Bei steigendem Anteil an fluktuierender Stromproduk-tion aus erneuerbaren Energiequellen müssen also auch grö-ßere Überkapazitäten an Kraftwerksleistung vorgehaltenwerden, um eine stabile Stromversorgung zu garantieren.Die Überkapazität bezieht sich hierbei auf das Verhältnisvon installierter Kraftwerksleistung zu der Leistung, die imMittel zur Deckung des Jahreselektrizitätsbedarfs nötig ist.So waren im Erzeugungsportfolio des Jahres 2007 nur das1,8-Fache der im Jahresmittel benötigten Leistung an Kraft-werkskapazität erforderlich. Im 100 % EE-Szenario müsstediese Kapazität wegen der reduzierten Auslastung auf das3,4-Fache der mittleren nachgefragten Leistung ansteigen.

Ein zweites zentrales Ergebnis unserer Simulation be-trifft die Frage nach der Speicherkapazität, die die fluktuie-rende Energieproduktion aus Sonne, Wind und Wellen er-fordert. Wir konnten zeigen, dass der im Portfolio des Szenarios vorhandene, regelbare konventionelle Kraftwerk-spark noch recht lange Schwankungen in der Strompro-duktion kompensieren kann. Dies funktioniert bis zu einemAnteil der Erneuerbaren von etwa 50 % (Abbildung 2).

Bei weiter steigendem Anteil ist dann immer mehr Re-gelenergie aus anderen Quellen, wie etwa Biomasse, einemintelligenten Netz oder vor allem Energiespeichern, erfor-derlich – zunächst stündlich bis hin zu einem saisonalen

Ausgleich durch große Speicher. Der Bedarf an Energie-speicherkapazität steigt von 60 % bis 90 % Anteil der er-neuerbaren Energiequellen nahezu exponentiell an. Beim100 % EE-Szenario erreicht er schließlich nach unserem Mo-dell 122 TWh oder 3,8 % des JahreselektrizitätsbedarfesEuropas (Abbildung 2). Die erforderliche jährliche Regel-energie liegt etwa bei der doppelten Energiemenge, alsobei rund 216 TWh pro Jahr, was somit lediglich zwei Lade-zyklen der Speicher entspricht. Die derzeitige Speicher -kapazität von Europas Pumpspeicherkraftwerken liegt bei2,5 TWh [12].

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Wind (onshore)Wind (offshore)

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Biomasse und GeothermieKernkraft

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Kraftwerkauslastungen in Europa von heute bis 2050 für verschiedene Anteile aninstallierter Leistung aus erneuerbaren Energiequellen (EE).

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A B B . 2 E N E RG I E S PE I C H E R K A PA Z I T Ä T

Bedarf an Energiespeicherkapazität in Europa als Funktionder Anteile erneuerbarer Energiequellen (EE) an der instal-lierten Kraftwerksleistung.

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SpeichertechnikenDie heutige Kapazität an Speichern für große Mengen um-gewandelter elektrischer Energie besteht vor allem ausPumpspeicher-Kraftwerken mit einem typischen Wir-kungsgrad von 80 % [13]. Die Pumpspeicher Deutschlandshaben eine derzeitige Kapazität von insgesamt etwa40 GWh und sind nur wenig weiter ausbaubar. Das größte

Potenzial in Europa wird Norwegen mit bis zu 84 TWh zu-geschrieben [6].

Eine weitere Möglichkeit zur Energiespeicherung sindadiabatische Druckluftspeicher, die theoretisch einen Wir-kungsgrad um 70 % erreichen können [14]. Diese Technikkomprimiert Luft in unterirdischen Kavernen und ent-spannt sie bei Bedarf über eine Turbine wieder, wobei siedie Luft zuvor mit der separat gespeicherten Kompressi-onswärme vorheizt. Vorteilhaft gegenüber Pumpspeicher-kraftwerken ist das große Angebot an geeigneten geologi-schen Formationen, vorwiegend Salzstöcke, unter anderemin Norddeutschland und einigen weiteren RegionenEuropas. Das Potenzial für Druckluft-Speicherkavernen soll-te prinzipiell mehr als ausreichend sein.

Überschüssiger Strom könnte aber auch zur Methan-herstellung verwendet werden. Zwar beträgt der Wir-kungsgrad dieser Methanisierung von Strom mit Kraft-Wär-me-Kopplung nur etwa 60 % [15], dafür aber lässt sich Me-than in ausreichender Menge in der schon vorhandenenEnergieinfrastruktur wie in unterirdischen Erdgasspeichernund den Pipelines speichern und auch transportieren. DasSpeicherpotenzial alleine für Deutschland wird mit280 TWh angegeben [15], so dass die Speichergröße sichernicht der limitierende Faktor dieser Technologie wäre. Allerdings sind Methanisierung und adiabatische Druck-luftspeicher technisch weit weniger entwickelt als Pump-speicherkraftwerke, die auch den höchsten Wirkungsgradaufweisen.

Betrachtet man den Energiespeicherstand im Jahres-verlauf des 100 % EE-Szenarios (Abbildung 3), wird der sai-sonale Gang des Ein- und Ausspeicherns deutlich. Zwar er-streckt sich der Speichereinsatz vom Ausgleich kurzerSchwankungen im Tagesgang bis hin zur saisonalen Skala,doch der Ausgleich der jahreszeitabhängigen Produktionund Nachfrage bestimmt die insgesamt benötigte Spei-cherkapazität.

Schwankungen auf Tagesbasis könnten auch mit einemintelligenten Netz teilweise ausgeglichen werden. Es wür-de dazu relativ zeitunkritische Verbraucher wie etwa ausdem Bereich der Kälte- und Klimatechnik nach Bedarf ab-oder zuschalten. Auch eine Flotte an Elektrofahrzeugen, dieam Elektrizitätsnetz angeschlossen ist, könnte die Regel-energie- oder Speicherproblematik zumindest im Bereichdes Tagesganges entschärfen. Mit typischen Akkumulator-kapazitäten von 15 bis 20 kWh pro Fahrzeug würden Elek-trofahrzeuge auch in Masse schließlich nur wenige Prozentder insgesamt benötigten Speicherkapazität stellen, könntenaber wesentlich zur Glättung kürzerer Schwankungen im Ta-gesgang durch ihre Regelleistung beitragen.

So ließen sich durch Nutzen von Schwachlastzeiten undAbbau von Lastspitzen die Netze stabilisieren und Speicherentlasten. Diese Möglichkeit haben wir mit der Annahmeuntersucht, dass bis zu 10 % der anfallenden Lasten um ma-ximal 12 h durch ein intelligentes Netz verschoben werdenkönnen und somit nicht mittels Energiespeicher ausgegli-chen werden müssen. Der ausgleichende Effekt ist im Ta-

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Der massive Ausbau der Windenergieparks sorgt für eine stärker fluktuierendeStromerzeugung, hier ein Bild vom Bau des Windenergieparks alpha ventus in derNordsee (Foto: © REpower Systems AG/ Jan Oelker).

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Simulierter Jahresgang des Energiespeicherbedarfs in Europa, Basis sind Wetter -daten vom 1.1. bis 31.12.2000. Blaue Kurve: 100 % EE-Szenario bei 3,4-facherÜberkapazität des Kraftwerkparks. Rote Kurve: 100 % EE-Szenario, aber ein intelli-gentes Netz kann bis zu 10 % der anfallenden Last um maximal 12 h verschieben.

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E N E R G I E S P E I C H E R I M N E T Z E R N E U E R B A R E E N E R G I E

gesverlauf deutlich zu erkennen (Ausschnitt in Abbildung3). Durch diese kurzzeitige Verschiebung von Lasten wer-den im Jahresverlauf 9,6 TWh oder 18,8 % an Ein- und Aus-speicherverlusten vermieden, gemessen am Jahresstrombe-darf sind dies allerdings nur 0,3 % gegenüber dem reinen100 % EE-Szenario.

Da jede Form der Energiespeicherung mit zusätzlichenVerlusten und Kosten verbunden ist, muss der Speicherbe-darf möglichst gering gehalten werden. Demnach ist eswichtig, nicht nur auf einen einzigen schwankenden rege-nerativen Energieträger zu bauen. Um dies zu demonstrie-ren, haben wir auch ein Modellszenario gerechnet, in demEuropa keine Solarenergie nutzt und das Defizit mit ent-sprechend mehr On- und Offshore-Windenergieanlagen aus-gleicht. In diesem Fall würde sich der Bedarf an Energie-speicherkapazität oder entsprechender Regelenergie von3,8 % auf 8 % des Jahreselektrizitätsbedarfes verdoppeln,was 255 TWh statt 122 TWh an Speicherkapazität bedeu-tet.

Mehr Speicher oder Erzeuger?Um den Speicherbedarf zu senken, könnte man auch die Er-zeugungskapazität der Erneuerbare-Energie-Anlagen erhö-hen, um in ertragsärmeren Zeiten den Bedarf besser zu de-cken. Wir haben dies mit Simulationen untersucht, in denenwir die installierte Leistung der wetterabhängigen Anlagengegenüber dem 100 % EE-Szenario erhöhten. Steigern wirdie ursprünglich 3,4-fache Überkapazität der hundertpro-zentigen Vollversorgung weiter, dann sinkt die notwendigeEnergiespeicherkapazität von ursprünglich 122 TWh (3,8 %des Jahreselektrizitätsbedarfs) zunächst deutlich. Ab einerÜberkapazität des Faktors 3,9 oder zusätzlich installierten170 GW Leistung führt eine noch höhere Kraftwerks -leistung zu einer langsameren Reduktion des bis dahin be-reits auf 28,7 TWh (0,9 %) gefallenen Speicherbedarfs (Abbildung 4).

Ob und bis zu welchem Maße sich das Erhöhen derÜberkapazität lohnt, hängt letztlich von den jeweiligen Kos-ten für weitere Erneuerbare-Energie-Anlagen sowie für denAusbau von Speicherkapazität ab. Diese Investitionskostenkönnen wir mit einer einfachen Abschätzung näherungs-weise betrachten. Für den Mix aus Wind-, Wellen- und So-larenergie des 100 % EE-Szenarios ermittelten wir durch-schnittliche Kosten von etwa 2000 R pro kW installierterLeistung und für Wasser-, Biomasse- und Geothermiekraft-werke etwa 1000 R pro kW auf Basis von Zahlen des IPCCSRREN [2]. Dabei verwenden wir bei den Preisspannen dereinzelnen Technologien die jeweils günstigsten Preise.

Unsere Schätzung ergab bei den Investitionskosten füralle Kraftwerke und Energiespeicher des 100 % EE-Szenarioseine Spanne von rund 3·1012 – 11·1012 R, wobei diese vorallem durch die Unsicherheit bei den Kosten der Speicher-technologien bedingt ist. Das Bruttoinlandsprodukt der EUlag im Jahr 2009 bei rund 12·1012 R. Das zeigt, dass bei güns-tigen Speichertechnologien die notwendige Gesamtinvesti-tion vermutlich finanzierbar wäre. Für eine Amortisations-

zeit von 20 Jahren und einen Kalkulationszinssatz von 6 %[6] ergäbe der günstigste Fall einen Anteil der Kraftwerks-und Speicherinvestitionskosten von rund 7,2 ct / kWh amStrompreis. Dieser würde allerdings durch Betriebskosten,Kosten des Netzausbaus etc. noch deutlich steigen.

Bei einer Steigerung der Überkapazität vom Faktor 3,4auf 3,9 dagegen ändern sich die Gesamtkosten für den Kraft-werkspark samt Energiespeicher auf etwa 3·1012 – 5·1012 R.Im oberen Bereich der Preisspanne der Speicherkosten wür-de sich demnach das Errichten von Überkapazitäten zurEinsparung von Energiespeichern stets lohnen. Die untereGrenze ist dagegen so günstig, dass zusätzliche Erneuerba-re-Energie-Anlagen nicht rentabel wären. Letztlich muss al-so geprüft werden, bei welcher Überkapazität an Erzeu-gungsanlagen die Kombination an regenerativen Erzeugernund Speichern von Energie die geringsten Kosten verursa-chen.

Ein großes, leistungsfähiges Elektrizitätsnetz und im Fal-le der Methanisierung eine gut ausgebaute Gasinfrastruktursind ebenfalls für eine Vollversorgung mit erneuerbarerEnergie wichtig. Als Gewinn sinkt die benötigte Regel-energie und damit der Speicherbedarf mit wachsender Grö-ße des Verbundnetzes. Der Grund: Die Schwankungen inder Erzeugung erneuerbarer Energie hängen in unserenBreiten vor allem von der Größe von Wettersystemen, etwaTiefdruckgebieten, und deren Lebensdauer ab. Typisch sindDurchmesser von etwa 1000 km bei einigen Tagen Exis-tenz.

Daher empfiehlt sich ein Stromverbund, der mindestensein Gebiet dieser Größenordnung abdeckt, mit angemesse-ner Speicherkapazität. So zeigt sich bei einem 100 % EE-Ver-sorgungsszenario, dass der Speicherbedarf bezogen auf dievon der Region benötigte Jahreselektrizitätsmenge zum Bei-spiel für das deutsche Gebiet allein 43 TWh bei einem Jah-reselektrizitätsbedarf von 534 TWh [16] beträgt, also 8 %.

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3,6 3,8 4 4,2

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Überkapazitätsfaktor

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Rückgang der benötigten Speicherkapazität mit steigenderÜberkapazität an installierter Leistung aus erneuerbarenEnergiequellen.

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Damit wäre die nötige Speicherkapazität pro Jahreselektri-zitätsbedarf mehr als doppelt so groß wie die 3,8 %, die wirin unserer Studie für Europa ermittelt haben.

ZusammenfassungSoll Europas Elektrizitätsversorgung von konventioneller aufhundert Prozent erneuerbare Energie umgestellt werden,dann muss diese Energie hauptsächlich aus Sonne und Windkommen. Damit wächst der schwankende Anteil in der Netz -einspeisung. Ein schrittweiser Umbau des europäischen Net-zes und Kraftwerkparks auf hundert Prozent regenerativenStrom bis 2050 hätte deshalb zwei Konsequenzen. Zum einenmuss die Überkapazität an vorhandener Kraftwerksleistungim Verhältnis zur im Jahresmittel nachgefragten Leistung imNetz vom heutigen Faktor 1,8 auf 3,4 ansteigen. Zum ande-ren erfordert das Ausgleichen der Schwankungen „Regel -energie“. Diese muss entweder aus regelbaren konventionel-len Kraftwerken oder aus Energiespeichern kommen. LetzteVariante wäre voll regenerativ. Sie würde aber einen Ausbauder Speicherkapazität von heute 2,5 TWh auf 122 TWh oder 3,8 % des Jahresenergiebedarfs bei zwei Ladezyklen pro Jahrerfordern. Durch das Installieren zusätzlicher Erzeugerleistungkann dieser Speicherbedarf deutlich reduziert werden.

StichworteStromversorgung Europas, Energiespeicher, erneuerbareEnergie, schwankende Energiequellen, Modellierung derEnergieversorgung.

DanksagungEin herzlicher Dank gilt den Mitgliedern des Energieprojektes desHCE; speziell O. Grogro und N. Vollweiler. Dem EZMW danken wirfür die Bereitstellung der ERA 40-Daten.

Literatur[1] IPCC, Climate Change 2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability.

Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Reportof the Intergovernmental Panel on Climate Change, CambridgeUniversity Press 2007.

[2] IPCC, Special Report on Renewable Energy Sources and ClimateChange Mitigation, final report. Working Group III Mitigation ofClimate Change, Intergovernmental Panel on Climate Change,Cambridge University Press 2011.

[3] S. Tenbohlen, A. Probst, P. Wajant, Phys. Unserer Zeit 2011, 42(5),220.

[4] A. Kleidon, Phys. Unserer Zeit 2012, 43(3), 136.[5] S. Teske, energy [r]evolution, Greenpeace International and

European Renewable Energy Council (EREC) 2010.[6] Sachverständigenrat für Umweltfragen, Wege zur 100 % erneuerba-

ren Stromversorgung, Sondergutachten, SRU Hausdruck Berlin2011.

[7] Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit (BMU), Langfristszenarien und Strategien für den Ausbau dererneuerbaren Energien in Deutschland bei Berücksichtigung derEntwicklung in Europa und global. „Leitstudie 2010“, BMU, Berlin2010.

[8] International Energy Agency (IEA), Energy Technology Perspectives2008, Scenarios & Strategies to 2050, IEA 2008, www.iea.org/techno/etp/index.asp.

[9] O. Grogro, Global Energy Trade Flows and Constrains on Conventio-nal and Renewable Energies – A Computable Modeling Approach,ZEW Mannheim 2012.

[10] VDE, Smart Distribution 2020, Virtuelle Kraftwerke in Verteilungs-netzen, Energietechnische Gesellschaft (ETG) im VDE 2008, www.e-energie.info/documents/VDE_Studie_Smart_Distribution.pdf.

[11] B. Hahn, K. Rohrig, ISET-Wind-Index, Assessment of the AnnualAvailable Wind Energy, Fraunhofer-Institut für Windenergie undEnergiesystemtechnik (IWES) 2003.

[12] EURELECTRIC, Hydro in Europe: Powering Renewables (Full Report),Union of the Electricity Industry – EURELECTRIC 2011.

[13] VDE, Energiespeicher in Stromversorgungssystemen mit hohemAnteil erneuerbarer Energieträger, Energietechnische Gesellschaft(ETG) im VDE 2009.

[14] S. Vardag, Druckluftspeicherkraftwerke und ihr Potential, Bachelor-arbeit Universität Heidelberg 2010.

[15] M. Sterner et al., Energiewirtschaftliche und ökologische Bewer-tung eines Windgas-Angebotes, Fraunhofer Institut für Windener-gie und Energiesystemtechnik (IWES), Kassel 2011.

[16] A. von Oehsen et al, Large Scale energy storage for a 100% renewa-ble electricity system in Germany, 6th PhD Seminar on Wind Energyin Europe, European Academy of Wind Energy (EAWE), Trondheim,Norway, Seminar Proceedings 2010, Seite 149.

Die Autoren

Tobias Tröndle studierte Meteorologie an der Universität Karlsruhe (TH). Seit2009 ist er Doktorand am Institut für Umweltphysik der Universität Heidel-berg und befasst sich mit der Modellierung und Untersuchung von Optionender Energieversorgung. Ulrich Platt studierte Physik an der UniversitätHeidelberg. Danach arbeitete er am FZ Jülich und an der University ofCalifornia/Riverside sowie seit 1989 an der Universität Heidelberg an derErforschung chemischer Prozesse in der Atmosphäre und der spektroskopi-schen Messung von Spurengasen. 2010 erhielt der den Robert-Wichart-Pohl-Preis der DPG. Werner Aeschbach-Hertig, Diplom in Physik 1989 ETH Zürich.Promotion in Umweltphysik 1994 an ETH und Eawag (Wasserforschungsinsti-tut des ETH-Bereichs). 1994–96 Postdoc am Lamont-Doherty Earth Observa-tory of Columbia University, New York. 1996–2002 wissenschaftlicherMitarbeiter an ETH und Eawag. Seit 2003 Professor am Institut für Umwelt-physik, Universität Heidelberg. Klaus Pfeilsticker, Diplom in Physik 1982Universität Heidelberg, Promotion in Umweltphysik 1986, Postdoc am MPI fürKernphysik in Heidelberg und am FZ Jülich, danach in Heidelberg wissen-schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Umweltphysik, 1998 Habilitation,danach am NOAA/Boulder. Seit 2005 apl. Professor am Institut für Umwelt-physik, Heidelberg.

AnschriftTobias Tröndle, Institut für Umweltphysik, Im Neuenheimer Feld 229, D-69120 [email protected]

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R A SA N T E PH YS I K |Prost Neujahr: die Physik von Champagnerflaschen

Sekt und Champagner gehören zur Silvesterfeier wie ein prächtigesFeuerwerk. Physiker verfallen hierbei leicht in Diskussionen über dieWurfparabeln der Sektkorken oder das akustische Phänomen desKnalls. Hochgeschwindigkeitskameras [1] eröffnen zusätzlich die Mög-lichkeit, sehr schnell ablaufende Prozesse bei der Handhabung der edlenTropfen sichtbar zu machen, zum Beispiel die adiabatische Expansiondes Treibgases.

weitere Stöße das thermische Gleich-gewicht bei nahezu Raumtemperaturwieder hergestellt wird.

Sofern während des Abkühlensdie benachbarte Raumluft kurzzeitigunter die Taupunkttemperatur sinkt,kann bei Vorliegen von Kondensa-tionskeimen (was fast immer der Fallist) der Wasserdampf kondensieren(Abbildung 1). Ein Video hierzufinden Sie auf siehe www.phiuz.deSpecial Features/Zusatzmaterial zuden Heften.

Um den Effekt besser studierenzu können, haben wir die relativeLuftfeuchtigkeit in der Nähe desFlaschenhalses auf etwa 70 % erhöht.

Abbildung 2 (Video 2 aufwww.phiuz.de) zeigt ein Beispiel,bei dem das Gas durch das vorherigeLösen des Korkens leicht asymme-trisch ausströmt. Durch die höhereLuftfeuchte entstand eine deutlichbesser ausgebildete Kondensations-wolke, die für etwa 9 ms sichtbarwar. Diese Kondensation hat übri-gens nichts zu tun mit den sich lang -sam bewegenden Dampfwolken, dieman gelegentlich später aus dem Fla -schenhals ausströmen sieht (Video 3auf www.phiuz.de). Diese entste-hen, nachdem die Flasche geöffnetist und sich bereits ein Druckaus-gleich eingestellt hat. Die umgeben-de Raumluft kann sich dann beiKontakt mit dem kalten Champagnerund/oder kalt ausströmenden CO2-Gasbläschen bis unter den Taupunktabkühlen.

Die Aufnahmen gestatten aucheine quantitative Analyse, beispiels-weise des Korkenflugs. Der innere

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Durchmesser der Flaschenöffnungbetrug 17,8 mm, was einer Quer-schnittsfläche von 2,5 cm2 ent-spricht. Der Korken verließ die Fla -sche mit einer gemessenen Anfangs-geschwindigkeit von 12 m/s (43,2 km/h). Dies wäre bei Vernach-lässigung von Luftreibung ausrei-chend für eine maximale Flughöhevon etwa 7,3 m.

Die Anfangsgeschwindigkeit istauch konsistent mit den Angaben des Drucks in der Flasche. Mit Δp =4 · 105 N/m2 ergibt sich eine anfäng-liche Kraft F = Δp · A ≈ 100 N aufden Korken. Bei der Kor kenmassem = 9,1 g führt dies zu einer an -fänglichen Beschleunigung vona = F/m ≈ 11000 m/s2. Die Beschleu-nigung während des Ausströmensdes Gases wirkt nur für 1 bis 2 ms.

Adiabatische Prozesse laufen soschnell ab, dass das beteiligte Gaskeine thermische Energie mit seinerUmgebung austauschen kann. Daherwird die entsprechende Arbeit beiKompression (oder Expansion) vomGas selbst aufgenommen (aufge-bracht), was sich durch Erwärmen(Abkühlen) manifestiert.

Typische Beispiele aus dem Alltagsind adiabatische Kompressionsvor-gänge beim schnellen Aufpumpeneines Fahrradreifens (das erhitzte Gaswärmt das Ventil) oder Expansions-vorgänge beim Lösen eines Fahrrad-oder Autoreifenventils, bei denensich das anfangs unter hohem Druckbefindliche schnell ausströmendeGas abkühlt. Sekt- und Champagner-flaschen bieten eine Möglichkeit, dieAbkühlung des schnell ausströmen-den Gases sichtbar zu machen: Esbildet sich nämlich eine Kondensa-tionswolke [2].

In Champagnerflaschen befindetsich über der Flüssigkeit [3] einVolumen von wenigen Kubikzentime-tern Gas, das im Wesentlichen ausCO2 mit hohem Druck von 3 bis4 · 105 N/m2 (3 bis 4 bar) besteht.Wenn der Korken abhebt, strömt daseingeschlossene Gas nun schnelldurch den zylinderförmigen Fla-schenhals aus. Bei dieser näherungs-weise adiabatischen Expansion kühltes sich deutlich ab. Gleichzeitigerleiden die ausströmenden Gasmole-küle viele Stöße mit den Molekülender umliegenden wärmeren Raum-luft, die auch Wasserdampf enthält.Dadurch kühlt sich auch die benach-barte Raumluft ab, bevor durch

Abb. 1 Nach dem Öffnen einer Cham-pagnerflasche strömt CO2 in die relativtrockene Raumluft. Während der adia -batischen Expansion ist für etwa 2 mseine Kondensationswolke sichtbar(Bildrate 4000 Bilder/s, Integrationszeit1/5000 s).

Download:

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Wäre sie konstant, so würden sichGeschwindigkeiten von 11 m/s(Δt = 1 ms) beziehungsweise 22 m/s(Δt = 2 ms) ergeben. Tatsächlichnimmt die Beschleunigung wegender Druckabnahme während desAusströmens stark ab. Unter derNäherung, dass die Beschleunigungdes Korkens linear innerhalb der2 ms dauernden Beschleunigungs-phase vom Maximalwert auf Nullabnimmt, findet man wieder eineKorkengeschwindigkeit von 11 m/s.

Abbildung 2 gestattet auch, dieAusbreitungsgeschwindigkeit derKondensationswolke zu bestimmen.Innerhalb der ersten 0,25 ms breitetsich die Begrenzung der Wolke seit -lich mit bis zu 92 m/s zwar schnelleraus als der Korken, aber immer nochdeutlich langsamer als mit der mittle-ren Geschwindigkeit der Gasmolekü-le. Diese beträgt für CO2 als idealesGas etwa 375 m/s bei 20 °C (305 m/sbei –80 °C).

Die entsprechenden mittlerenfreien Weglängen der Gasmolekülezwischen zwei Stößen betragen etwa100 nm bei Normaldruck von etwa1000 hPa und nur etwa 20 nm für5000 hPa. Dies führt dazu, dass jedesGasmolekül deutlich mehr als 106 Stöße innerhalb der ersten

0,25 ms ausführt. Dies reicht aus, um das umgebende Gas effektiv zukühlen, während das ausströmendeCO2-Gas sich gleichzeitig langsamerwärmt. Die Kondensationswolkewird sich daher zunächst rasch aus -breiten. Dieser Prozess verlangsamtsich und endet, wenn immer mehrwarme Luftmoleküle an den Stößenteilnehmen. Letztlich bildet sich einthermisches Gleichgewicht beiRaumtemperatur weit über demTaupunkt, so dass die Kondensations-wolke verdampft.

Mit Hilfe der Gasgesetze lassensich zudem Abschätzungen über diebeteiligten Energien machen. DieseRechnungen finden Sie ebenfalls zumfreien Download auf www.phiuz.deSpecial Features/Zusatzmaterial zuden Heften.

Man sieht: Physikbegeistertenliefert das Thema Champagner jedeMenge Gesprächsstoff. Ob dies jederGast auf einer Silvesterfeier ebensosieht, sollte man vorsichtig ausprobie-ren.

Literatur[1] M. Vollmer, K.-P. Möllmann, Phys.Unserer

Zeit 2011, 42(3), 144.[2] M. Vollmer, K.-P. Möllmann, Phys. Ed.

2012, 47 (5), 608.

[3] G. Liger-Belair, Uncorked: The Science ofChampagne, Princeton University Press,Princeton 2004.

Michael Vollmer, Klaus-Peter Möll-mann, FH Brandenburg

308 Phys. Unserer Zeit 6/2012 (43) www.phiuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Abb. 2 Für etwa 9 ms sichtbare Kondensationswolke nach Öffnen einer Champagnerflasche in Raumluft mit etwa 70 % relativer Feuchte (4000 Bilder/s, 1/4000 s).

Jahresregister 2012 onlineNach mehr als 40 Jahren Physik inunserer Zeit hat sich die Redaktionentschlossen, das Jahresregister nichtmehr in gedruckter Form zu liefern.Stattdessen finden Sie es aufwww.phiuz.de in der linken Spaltemit den SPECIAL FEATURES unter„Jahres- und Gesamtregister.“ DasRegister in Form eines PDF hat denVorteil, dass sich darin leichter nachStichworten suchen lässt als in dergedruckten Variante. Darüber hinaushat jeder Leser die Möglichkeit, dasPDF in eine Word-Datei umzuwandelnund sich so sein eigenes Register zuschaffen.

An dieser Stelle möchten wir auchnoch darauf hinweisen, dass Sie aufderselben Seite das Gesamtregisterseit 1994 finden, aufgetrennt in einSach- und ein Autorenregister.

TB

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H I S TO R I S C H E S R Ä T S E L |Der Radar-RitterBei seinem Tod ging ein Rauschen durch den Blätterwald. Schließlichwar ein echter Ritter gestorben, der nicht nur wegen seiner Verdiens tein der Radioastronomie in diesen Ehrenstand gekommen war: Als Radar-Experte hatte er im Kalten Krieg an vorderster Front gestanden.

militärischen Radartechnik: SeineAnlagen hatten im Krieg aufgetauch-te deutsche U-Boote aufgespürt undFlugzeuge geleitet.

So konnte er auch durchsetzen,auf dem Parkplatz ein stationäresTeleskop mit 76 Metern Durchmes-ser zu errichten. Heute trägt esseinen Namen. Weil die Baukostendamals in die Höhe schossen, ver-schuldete er sich persönlich mit50000 Pfund. Doch mit dieser Anten-ne – seinerzeit der Größten seinerArt weltweit – konnte der Physikernicht nur die Bahn der Rakete verfol-gen, die Sputnik I ins All trug. Ermusste damit auch vor Kontinental -raketen mit atomaren Sprengköpfenwarnen, was ihn zu einem der wich-tigsten Wissenschaftler im KaltenKrieg machte. (Immerhin wurdenihm nach dem Sputnik-Erfolg seineSchulden erlassen.)

So lange allerdings keine militäri-schen Raketen flogen, durfte der

Physiker das Teleskop auch fürandere Aufgaben nutzen, für die er sich mehr interessierte – etwa dieUntersuchung von Pul -saren und anderer Radio-quellen im All. Der Radar-Ritterwurde so zu einem der wichtigstenRadioastronomen seiner Zeit.

Andreas Loos, Berlin

Wer war der angeblich verstrahltePhysiker? Schreiben Sie die Lösungauf eine Postkarte an: Physik in unserer Zeit, Wiley-VCH,Boschstraße 12, 69469 Weinheim,oder schreiben Sie eine Email an:[email protected]. Absendernicht vergessen! Einsendeschluss istder 15.12.2012. Der Rechtsweg istausgeschlossen. Wir verlosen dreiExemplare des Buches Der perfekteTipp von Andreas Heuer.

Lösung aus Heft 5/2012Die verkannte Physikerin war Chien-Shiung Wu (31.5.1912 bis16.2.1997).

Gewinner aus Heft 4/2012A. Kuthe, München,B. Schomaker, Rahden,D. Willems, Mendig.

© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 6/2012 (43) Phys. Unserer Zeit 309

Schließlich konnte niemand so wieer per Teleskop über den EisernenVorhang blicken, was ihn angeblichsogar in Lebensgefahr brachte. Beieinem Besuch in der Sowjetunion imJahre 1963 glaubte er sich starkerelektromagnetischer Strahlung aus -gesetzt. „Ich war heilfroh, auf derRückreise die Lichter von Londonwiederzusehen“, erinnerte er sichspäter. „Ich war für eine ziemlicheZeit krank, aber ich habe michwieder erholt.“

Fast fünfzig Jahre lang schwiegder Physiker über seinen Verdacht –und selbst danach blieb er vage. „Ich habe ein Memorandum überden ganzen Besuch geschrieben, undauch über meine Besuche in derSowjetunion davor und danach. Dasist nun im John Rylands Archive undich habe darum gebeten, es nicht zuveröffentlichen, so lange ich lebe.“Man darf gespannt sein, was darin zu lesen sein wird.

Im Internet sind noch keineAuszüge daraus zu finden, dafüranderes: Große Teile seiner Kindheitund Jugend verbrachte er auf demKricketplatz. Das Spiel blieb seinePassion, ebenso wie die Orgel, mitder er Jahrzehnte hindurch das ganzeKirchspiel unterhielt. Bäume scheinter auch geliebt zu haben – so er-weiterte er einen Teil des Botani-schen Gartens der Universität Man-chester zu einem 14-Hektar-Gartenmit exotischen Bäumen in JodrellBank bei Manchester.

Genau dort parkte er in den1940er Jahren eine mobile Radaran -lage der Armee, auf der Flucht vorelektrischen Störungen durch Stra-ßenbahnen und andere städtischeStromquellen Manchesters. In dieserZeit war der promovierte Physikerdie Nummer Eins der britischen

T R E F F P U N K T T V |

19.11., 10.00 Uhr, hr: Ein Motor-rad unter Druck. Die SendereiheAchtung! Experiment zeigt die Gül-tigkeit physikalischer Gesetze undbeweist: Wissenschaft ist aufregendund macht Spaß.

19.11., 11.00 und 11.45 Uhr, ZDFInfo: Die Geburt des Universumsund Suche nach neuen Sonnen-systemen. Zweiteilige Sendungüber neue Erkenntnisse der Astro-physik und Kosmologie.

21.11., 23.05 Uhr, ntv: MysteriumUniversum: Extreme Energien.Verschiedene Energieformen im Uni-versum.

23.11., 17.35 Uhr, Arte: Die Son-nenöfen der Pyrenäen. Doku überdie derzeit größte Solarthermie-Anla-ge der Welt In Südspanien. Sie giltals Modell für das Projekt Desertec:Solarthermie-Kraftwerke in der Wüste.

26.11., 19.30 Uhr, Bayern-alpha:Fusion – Die Energiequelle derSterne.

28.11., 23.05 Uhr, ntv: MysteriumUniversum: Todessterne. Super-novae und ihre Überreste, Neutro-nensterne und Schwarze Löcher.

2.12., 19.15 Uhr, Bayern alpha:Heinrich Hertz – der Nachweisder elektromagnetischen Wellen.

11.12., 21.00 Uhr, WDR: DerMars. Neues vom Roten Planetenzeigt Ranga Yogeswar in Quarks &Co.

13.12., 22.15 Uhr, Arte: Das Rät-sel der Dunklen Materie: Doku-mentation über die gemeinsamenAnstrengungen von Teilchen- undAstrophysikern, diesem Phänomenauf die Spur zu kommen.

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M O LG A S T RO N O M I E |Explosionen in der Champagnerflöte„Sterne, Sterne, ich trinke Sterne“ rief Dom Perignon verzückt, als ihmdas erste Glas Champagner die Nase reizte und er davon probierte. Sodie Anekdote. Kohlendioxidbläschen und deren Spiel im Glas, auf derZunge, in der Nase, ist der ganz besondere Reiz des Schaumweins. Wasaber bewirkt das Perlen überhaupt?

landen die nach wie vor druckbela-denen Bläschen an der Oberfläche,werden weiter nach oben gedrückt,ragen somit immer weiter aus derFlüssigkeit und sind auf ihrer Kappenoch von einem dünnen Champag-nerfilm umschlossen. Bald ist dieOberflächenspannung dem Drucknicht mehr gewachsen. Dann zerbirstder Champagnerfilm schlagartig.Winzige Tröpfchen werden in dieHöhe geschleudert, das Gas ent-weicht. Gleichzeitig füllen sich dievon den Blasen hinterlassenen„Löcher“ auf, Champagner schwapptvon unten hinein, so dass er in Formwinziger Tröpfchen nach obenschießt, die beim allzu tiefen Schnup-pern in der Champagnerflöte dieNase kitzeln.

Aber das ist noch nicht alles,denn Ähnliches geschieht auch beiMineralwasser in abgeschwächterForm. Entscheidend ist die Aromen-komplexität des Grundweins. Wäh-rend der ersten Gärung entwickelnsich charakteristische Aromen mit

ausgewiesenen Attributen. Dazugehören Alkohole wie Butanol (fürsich riecht es fuselölig, süßlich,balsamisch), Pentanol (süßlich,kräuterartig, nussig-wachsig), Phenyl-2-ethanol (floral, rosenartig, miteinem Hauch Rosenwasser), aberauch Aldehyde wie Butanal (ste-chend moderig, ein Hauch Kakao,grünlich-malzig) und Hexanal (frischgrün leicht fettig, fruchtig) tragenzum Bukett bei. Selbst die an und fürsich übel riechende Buttersäure darfnicht fehlen. Eingebettet und wohl-dosiert trägt sie zur Abrundung desSchaumweins bei, wie auch vieleSchwefelverbindungen.

Diese Aromenverbindungen lösensich bei den Genusstemperaturen um10 °C nur mäßig in Wasser und fin -den daher in der CO2-Atmosphäreder Bläschen das bevorzugte Lö-sungsmittel. Jedes platzende Bläs-chen erzeugt somit eine Wolke und schleudert flüchtige Aromenheraus.

Voilà, darauf erst mal einenkräftigen Schluck Schampus auf diekleinen „Aromabooster“. Wir trinkenSterne. À la votre!

LiteraturG. Liger-Belair, Entkorkt – Wissenschaft imChampagnerglas, Spektrum Verlag, Heidelberg2006.

Thomas Vilgis, MPI für Polymerforschung, Mainz

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Der Druck in der Flasche, aufgebautdurch das Kohlendioxid von derFlaschengärung, beträgt beachtliche3,5 bis 6,5 bar. Das Gas ist in Mikro-bläschen gelöst, wobei die Größen-ordnung für ihren Radius R aus demPascalschen Druck p ≈ 2γ/R zu rund500 μm abgeschätzt werden kann,wenn die Oberflächenspannung γmit etwa 50 mN/m gemessen wird.

Nach dem Öffnen und dem Ein -schenken wachsen die Bläschen undsteigen nach oben, sammeln dabeiimmer mehr CO2 auf und werdengrößer – und mit dem Quadrat desRadius schneller (Physik in unsererZeit 2011, 42(1), 50). Schließlich

So gelangen die Aromastoffe in die Nase: Ein Bläschen zer-platzt an der Oberfläche, ein Jetstrom schießt nach oben.

Am Fuße von Mount Sharp Der erfolgreich gelandete Mars-Rover Curiosity übermittelte dieses Foto von Mount Sharp. Er befindet sich im Innern des Kraters Gale und erhebt sich bis in rund 5000 Meter Höhe. Auf welche Weise sich die erkennbaren Schichten gebildethaben, ist noch weitgehend unklar. Der Krater entstand vor 3,8 bis 3,5 MilliardenJahren durch einen Meteoriteneinschlag. Möglicherweise floss anschließend Wasserin ihn hinein und bildete einen See, in dem sich Tonminerale am Boden absetzten.Schließlich trocknete das Gewässer aus, und am Boden blieben Sedimentschichtenzurück. Im Laufe der folgenden Jahrmilliarden erodierte der Wind das abgelagerteMaterial, wobei Mount Sharp stehen blieb. In der Analyse der Sedimentschichtensehen die Forscher eine einzigartige Möglichkeit, die Klimageschichte des Mars zurekonstruieren (marsprogram.jpl.nasa.gov/msl).

PH YS I K I M B I L D |

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© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 6/2012 (43) | Phys. Unserer Zeit | 311

R Ü C K B L I C K | VO R SC H AU

I M N Ä C H S T E N H E F T |R Ü C K B L I C K |Heft 4/2012 Von Luftschauern zu kosmischen TeilchenbeschleunigernEditorialEine Ballonfahrt mit FolgenPhysikgeschichteDas Antimaterie-RätselTeilchenphysikAuf der Spur von KohlendioxidTechnische PhysikOlympische RekordeSportphysikAus der Erde in die ErdeEnergietechnikEin Geodreieck als optisches GitterSpielwiese

Heft 5/2012 Seltsame MyonenEditorialBedrohliche WirbelAtmosphärenforschungDie Vermessung des ProtonsTeilchenphysikDiskrete Physik und schnelle TransformationenDiskrete PhysikLeonardos Kreuz in der TeetasseSpielwieseEntropie entmystifiziertPhysikdidaktik

PHIUZ 1/2013 erscheint Mitte Januar

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Die VerbrennungDie Verbrennung ist in der Technik, etwa in Motoren, ein elementarer Vorgang. Dabei laufenkomplexe chemische und physikalische Prozessesehr schnell und auf kleiner Skala ab. Computer-simulation und Laserdiagnostik ermöglichenheute tief gehende Einblicke in ein Phänomen,das die menschliche Kultur seit jeher befeuert.

Chemische Reaktionen in SuperzeitlupeEiner der großen wissenschaftlichen Träume istes, Superzeitlupen-„Filme“ von extrem schnellenchemischen Reaktionen aufzunehmen. Idealer-weise zeigen diese Bilder in Femtose kunden auf-gelöst, was dabei in den Molekülen geschieht.Entscheidend für solche Aufnahmen ist das rich-tige „Licht“, das zum Beispiel ein Freie-Elektro-nen-Laser liefert. Mit FLASH in Hamburg gelan-gen erste, tiefe Einblicke in die Mole kül dynamik.

Das neue Bild der HeliosphäreJahrzentelang ließ sich die Frage nach der Struk-tur der Heliosphäre ausschließlich mit Computer-simulationen angehen. Erst Messungen des Satelliten Interstellar Boundary Explorer liefertenjüngst ein Bild dieser, das Planetensystem umge-benden Plasmablase. Das zeigt völlig unerwartetbeim Übergang zum interstellaren Medium keineStoßfront.

Das Putt-putt-Boot alsWärmekraftmaschine Ein Dampfjetboot ist eine einfache Wärmekraft-maschine. Ohne bewegliche Teile verwandelt sie thermische Energie einer Kerzenflamme inmechanische Energie, die sich in periodisch aus-und einströmendem Wasser äußert und das Boot in Bewegung versetzt.

Das EntropieradEin Entropierad nutzt reversible Konformations-änderungen von Polymermolekülen als Arbeits-mittel. Auf diese Weise lässt sich thermische Energie bei einer relativ geringen Temperatur in mechanische Energie umwandeln.

Kraftvolle EleganzBeim Turnen können enorm hohe Kräfte auftre-ten, etwa am Reck und an den Ringen. Trotzdemfordern die Jurys elegante und flüssige Bewegun-gen, zudem müssen die Athleten unangestrengtwirken.

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