Pizza - Gueti Gschichtesiert vor dem Spiegel, seift das Gesicht mit dem Rasierpinsel ein, rasiert...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 54 Pizza Proschuhto Teig und Leder, Saucen und Sohlen. EDOARDO ABBIASINI, 80, ist Schuhmacher und Pizzaiolo. Gleichzeitig! Ein neapolitanisches Doppelleben in Bern. Macht Pizza und Schuhe Edoardos zwei Geschäfte im Lorraine-Quartier: links die Schuh- macherei, rechts die Pizzeria Tricolore.

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PizzaProschuhto

Teig und Leder, Saucen und Sohlen. EDOARDO ABBIASINI, 80, ist

Schuhmacher und Pizzaiolo. Gleichzeitig! Ein neapolitanisches Doppelleben in Bern.

Macht Pizza und Schuhe Edoardos zwei Geschäfte im Lorraine-Quartier: links die Schuh-macherei, rechts die Pizzeria Tricolore.

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Der Beizer Seit 1982 hat Edoardo das «Tricolore», der erste Pizza-Take-away in Bern.

Glanzgarantie Schon als Zehn-jähriger lernte er das Hand-werk beim Dorfschuster.

Der Schuster Seit 1974 be-treibt Edoardo seine Schuh-macher- Werkstatt.

Das Geheimnis Das Teigrezept stammt von seiner Nonna. Wichtig: ja kein Zucker!

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Heizer Nach zehn Minuten Backzeit angelt er eine Pizza aus dem Elektro-Ofen.

Schneider Dünn gehobelte Scheiben Schinken für einen Stapel Pizza Prosciutto.

Schleifer Edoardo schmir-gelt einen eben angeklebten Absatz zurecht.

Autofan Seinen 29-jährigen Mercedes fährt er eigentlich nur bei trockenem Wetter.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS REMO NÄGELI

Der Teigboden und die Schuhsohle. Die richtige Unter-lage, sagt Edoardo Abbiasini, sei am

wichtigsten. Das gelte für seine Pizza und seine Schuhe. Er legt die weisse Kochschürze ab, bin-det die blaue Schusterschürze um und eilt aus seiner Pizzeria hinüber in seine Schuhmacherei. Eilt, so gut das eben geht mit 80 Jahren, mit operierten Knien, mit fünf Bypässen am Herzen.

Die Zeit, die sein angerührter Pizzateig benötigt, um aufzu quel-len, reicht, um ein Paar Lederhalb-schuhe neu zu besohlen. «Das ische kei Probleme!», be teuert Edoardo. Diesen Satz, im Italo-Bärndütsch-Mix, wird er im Lau-fe des Tages viele Male äussern. Ist gewissermassen sein Leitsatz. Zwar bescherte ihm das Leben in der Schweizer Fremde eine Menge Schwierigkeiten, genau diese aber, beteuert er, hätten ihn angetrieben, vorwärtsgebracht und aus ihm das gemacht, was er heute ist. «Pro bleme in mine Läbe», philosophiert Edoardo, der Schuh-, Pizza- und Gschäft-limacher, «ische kei Probleme.»

Stadt Bern, Lorraine. Einst ein A-Quartier (Arme, Arbeits-lose, Ausländer, Alternative) mit Ghetto-Image, heute am Kippen zum hippen Trendviertel. Überall Ateliers, Velokuriere, Fachstellen und Juso-Plakate («jung! laut! links!»); Flugblätter für Genos-senschaftssachen, Höcks, Treffs, IGs, ein Biergarten, in dem zwei von sechs Menüs vegan sind – und mittendrin Edoardos Welt.

Eigentlich zwei Welten. Im Haus an der Lorraine stras-

se 32 befindet sich links eine Schuhmacherei, rechts ein Res-

taurant. Auf dem linken Schau-fenster klebt das stilisierte Port-rät von Edoardo samt dem Slogan «Wenn der Schuh drückt, nicht verzagen, Abbiasini fragen». Auf dem rechten Schaufenster prangt das gleiche Porträt, dazu «Pizze-ria Tricolore» und die Leucht-schrift «offen» – «Und nicht ‹open›, wie überall üblich, schliess-lich sind wir hier in der Schweiz!», brummt Edoardo Abbiasini. Bei-de Geschäfte gehören ihm und sind im Innern (via seine winzige Wohnung) durch einen Flur mit-einander verbunden. So kann Edoardo zwischen seinen Läden hin- und herhuschen, zwei Jobs erledigen, zweierlei Kundschaft bedienen. Mit bald 81? «Ma no, ische kei Probleme!» Seine Tages-ration Hochstimmung singt er sich jeden Morgen an.

Sechs Uhr in der Früh. Nach nur zwei, höchstens drei Stunden Schlaf steht Edoardo im Bade-zimmer. Zwei Regale an der Wand, das linke für Frotteewäsche, das rechte für Rotweinflaschen, an der Tür eine Kinderzeichnung, «per il mio nonnino». Edoardo po-siert vor dem Spiegel, seift das Gesicht mit dem Rasierpinsel ein, rasiert sich, frisiert sich (auf sein volles Haar ist er sehr stolz) – und singt dazu.

Laut. Stimmig. Italienisch. Opernarien, Schlager, Kinder-

lieder, die ihm seine Mamma einst vorsang, O-sole-mio-Gassenhau-er und Canzone napoletana, die Volkslieder aus seiner Heimat.

Im Frühjahr 1955, nach zwei Tagen und Nächten Bahnfahrt, nachdem er sich von seinen El-tern und vier Geschwistern im Dorf Pietravairano bei Neapel verabschiedet und sein Daheim mit den zwei Räumen (im einen die siebenköpfige Familie, im anderen die Haustiere) verlassen hat, kommt Edoardo Abbiasini,

17 Jahre jung, mittellos, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, mit einem Vertrag als Knecht im Sack, in Bern an. Er sei erschrocken da-mals, erinnert sich Edoardo, was für ein «himmeltruurigs» Loch dieser Bahnhof Bern war, wo man ihm doch verheissen hatte, in der Schweiz sei alles so schön, hell, sauber und reich. Sein Entsetzen legt sich erst, als er in Berns Gassen die Blumenpracht vor den Fenstern erblickt. «Ein mare aus Geranien!» Er sei sich, mio dio, vorgekommen wie im Himmel.

Der junge Neapolitaner ar-beitet bei einem Bauern in der Agglomeration, «genau vier Mo-nate und zehn Tage lang», dann sei ihm klar geworden, dass die Landwirtschaft nichts für ihn sei

– und er bewirbt sich im «Löwen» in Worb. Die ersten drei Jahre verrichtet er einfache Arbeiten, «Schissi putze, abwäsche, Holz hacke», dann wird er zum Kellner befördert, lernt die Gastronomie kennen – und die Italienerin Al-bina, die ebenfalls in Worb arbei-tet und die er später heiraten und mit ihr drei Kinder haben wird.

Während seiner Zeit als Kell-ner flickt Edoardo nach Feier-abend den Serviertöchtern die Schuhe, später auch für einen Fünfliber die Militärschuhe der Soldaten. Das könnte ein prima Geschäft werden, denkt sich der junge Mann. Schon als Zehn jäh riger tadelte ihn seine Mutter, statt nach der Schule «um evagante», solle er gescheiter dem Dorfschuhmacher bei der Arbeit zuschauen, so lerne er «öppis fürs Läbe – also het Edo-ardo das gmacht». Redet er über seine Vergangenheit, spricht er von sich in der dritten Person.

1974 eröffnet Abbiasini seine Schuhwerkstatt in der Lorraine. Das Geschäft läuft gut, so gut, dass er einen zweiten Schuhladen in

Kundschaft Der Patron serviert drei Schülern das Zmittag zum Mitnehmen.

O so(h)le mio! Beim Rasieren singt Edoardo Lieder aus seiner neapolitanischen Heimat.

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Worb eröffnet. Tag und Nacht, Samstag und Sonntag habe er Schuhe geflickt. Und «Gschäftli gmacht», aus seiner Heimat importiert er Jeans und Stahl-kappenschuhe. 1982 eröffnet er im Laden neben der Schuhwerk-statt seine Pizzeria Tricolore, die erste Take-away-Pizzeria der Stadt Bern, wie er stolz ergänzt.

Das Paar Lederhalbschuhe ist neu besohlt. Blaue Schuster-schürze weg, weisse Kochschürze an. Edoardo stellt ein Schild auf die Schuhmachertheke, «Bitte einen Moment Geduld, ich kom-me sofort!», dann eilt er in die Piz-zeria hinüber. Jeder der beiden Läden hat eine Türglocke, so hört Edoardo, wo er gebraucht wird.

Der Pizzateig ist mittlerweile aufgegangen. Edoardo wallt ihn aus, bettet ihn in runde Bleche, bestreicht ihn mit Tomaten- sauce, schneidet Schinken, düns-tet Champignons, kocht Pasta vor, bereitet alles für den Zmittag-ansturm vor. Und er putzt. Im-merfort und picobello. Sämtliche seiner Küchenmöbel und Ma-schinen seien auf Rollen, erklärt Edoardo, damit er sie herum-schieben und so auch in den hin-tersten Ecken putzen könne.

Sein Restaurant sei blitzblank, nicht wie andere … Er verdreht die Augen, murmelt ein Schimpf-wort oder Gebet aus der Heimat, sagt dann, er selber gehe nicht gern auswärts essen, das sei ihm zu gruusig. Sauberkeit ist ihm so wichtig, dass er auch noch den Hauswartsdienst des Mehr-familienhauses Lorrainestrasse 32 besorgt. Den Job auch noch? Er lächelt nur. Und sagt – ja was wohl? – «ische kei Probleme».

Eine Glocke erklingt. Kund-schaft drüben in der Schuh-macherwerkstatt. Schürze weg, Schürze an, Edoardo eilt davon. Seine Reparaturarbeiten sind ge-

fragt: neue Sohlen, neue Absätze, das Ausweiten von Druckstellen. Die Stammkundschaft ist treu, meist italienisch und wird immer älter. Die Jungen, die Giele, trügen heute nur noch Turnschuhe, trau-ert Edoardo, und solche Finken taugten nicht zum Flicken. Also bleiben ihm seine alten Kun- den mit den richtigen Schuhen, «wo Halt gänd ime Läbe». Ein Schwätzchen, ein Spässchen, aber auch ihre Sorgen bereden die Leute mit Edoardo. Wer, wenn nicht er, weiss besser, wo seine Kunden der Schuh drückt?

Mittagszeit. Hochbetrieb. Zehn Sorten Pizza, Napoli natür-lich, aber auch Svizzera (mit Greyerzer). Viele Gewerbeschüler verköstigen sich im «Trico lore», Handwerker, Anwohner. Früher sei in seinem Lokal oft getanzt worden, gefeiert, viel Wein ge-trunken, bis gegen Mitternacht, immer friedlich; die Giele heute hätten ja schon Lämpe, wenn sie bloss Mineralwasser tränken.

Was, Edoardo, ist richtig gutes, italienisches Essen? «Ma, woher soll ich das wissen? Ich verliess meine Heimat mit 17, ich kenne kein italienisches Essen.» Und als dann der Mittagsstress vorbei ist, gegen halb zwei Uhr, setzt er sich an einen Tisch («selbst ge-baut, solche Tische habe ich auf einer Autobahnraststätte zwi-schen Thun und Bern entdeckt und nachgemacht») und sagt, am liebsten esse er Kalbskopf, suure Mocke und Berner Platte.

Die plötzliche Ruhe nach dem Stress lässt Edoardo nachdenk-lich werden. Er erzählt, warum er nie den Schweizer Pass beantragt hat («mini Huut verkaufeni nid!»),

erzählt von seiner Frau Albina, die «vor einiger Ziit» beschloss, nach Italien zurückzukehren, ohne ihn. «Vor einiger Ziit» – ent-puppt sich beim Nachfragen als vor 25 Jahren. Seine Frau habe den Tod von Sohn Franco nie wirklich verkraftet. Franco, der 1970, neun-jährig, am Tag nach seiner Erst-kommunion in der Badi ertrank. Er selber, sagt Edoardo, habe sich damals einfach in noch mehr Arbeit gestürzt. Hat geschäftet, Neues ausprobiert, Neues gegrün-det, hat als Erster hier einen Ke-bab-Stand eröffnet, hat gekocht, geschustert und zwischenzeitlich zehn Angestellte beschäftigt.

Im August wird Edoardo 81. Er höre auf mit Arbeiten, wenn

er tot sei. Er hat sogar eine neue Idee. In seinem Heimatdorf Pie-travairano möchte er eine Pizze-ria eröffnen, in den Räumen einer alten Mühle. Pizzeria del Vecchio Mulino soll das Lokal heissen, einer seiner Enkel sei Koch, vielleicht habe der ja Interesse … Wobei: Dann müsste Edoardo die Schweiz verlassen, seine beiden Geschäfte schliessen, Pizza und Schuhe, Teig und Leder, Saucen und Sohle, sein Doppelleben endgültig aufgeben. «Und das», sagt er, sagt das heute zum ersten Mal, «ische eine Probleme!».

Als Edoardo Abbiasini 1955 als 17-Jähriger nach Bern reiste, trug er das Wenige, das er besass, in einer Kartonschachtel mit sich. So arm sei er gewesen, noch nicht einmal einen Koffer habe er be-sessen. Wenn er dann, beteuert er, eines Tages endgültig heimkehre nach Italien, in sein Dorf, «nehme ich mini Sache im schönsten und grössten Rollkoffer mit».

«So geihte das!» Neuer-dings hat Edoardo einen Helfer, José Fernandez (l.).

Feierabend Der 80-Jährige wohnt sehr be-scheiden, grad hinter seiner Werkstatt.

«Ig tue schaffe, bis ig tot umgheie»

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