Vom Jagdgift zur neuen Schmerztherapie: Tiergifte in der biomedizinischen Forschung

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148 | Biologie in unserer Zeit | 32. Jahrgang 2002 | Nr. 3 V on im Meer lebenden Polypen, Quallen oder Kegel- schnecken über Insekten wie Bienen oder Wespen bis hin zu an Land lebenden Reptilien, Amphibien, Vögeln oder Säugetieren – giftige Tiere sind in fast allen Klassen des Tierreichs vertreten [1, 6]. Abbildung 1 zeigt eine Auswahl. Gifttiere werden anhand unterschiedlicher Merkmale klassifiziert: nach ihrem Lebensraum, nach dem Bau ihrer Giftapparate oder der Beschaffenheit des Giftes, das sie produzieren und nach der Rolle, welche die Gifte in ihrem natürlichen Umfeld spielen. Wir stellen im Folgenden giftige Vertreter unterschiedlicher Tierklassen vor, be- schreiben ihre „chemischen Waffen“ und erläutern einige Anwendungen biogener Gifte in der Grundlagenforschung sowie in der Entwicklung neuer medizinischer Therapie- verfahren. Warum gibt es Gifte im Tier- und Pflanzenreich? Tiere und Pflanzen leben oft eng nebeneinander in Biotopen, in de- nen es nur begrenzt Wasser, Nahrung, Luft, Beutetiere oder Sexualpartner gibt. Betrachtet man zum Beispiel ein Koral- lenriff – ein Paradebeispiel für das perfekt funktionierende Zusammenleben von Tieren und Pflanzen – sieht man eine Vielzahl von Organismen der unterschiedlichsten Klassen und Ordnungen: Die Grundstruktur, das Korallenriff, wird von Kalkskelett bildenden Polypen geformt, auf denen sich auch andere Arten von Nesseltieren oder Algen niederlas- sen. Viele Fische und andere marine Lebewesen müssen ei- nem starken innerartlichen und zwischenartlichen Konkur- renzdruck widerstehen, um überleben zu können. Unent- wegt findet ein Kampf um Nahrung und Ansiedlungsfläche sowie zur Abwehr von Fressfeinden und Infektionen durch Pilze oder Bakterien statt. Neben guter Tarnung steht einigen Tieren im Riff eine Batterie hochgiftiger Substanzen zur Feindabwehr und zum Beutefang zur Verfügung. Der ständige Selektionsdruck, dem die Bewohner des dicht besiedelten Korallenriffs aus- gesetzt sind, bewirkt ein unentwegtes Wettrüsten, ein Per- fektionieren der eigenen chemischen Waffen, aber auch der Abwehr gegen die Gifte der anderen Bewohner. Dieses Phänomen bezeichnet man als Koevolution, ein Prozess, der im Laufe der Evolution überaus wirksame Jagdgifte, aber gleichzeitig auch verblüffende Beispiele von Schutz- mechanismen gegen Gifte hervorgebracht hat. Die Jagdgifte der Tiere sind ein unerschöpfliches Reservoir interessanter bioaktiver Substanzen – der Toxine. Jedes Toxin erfüllt eine besondere Aufgabe bei der Jagd und sorgt entweder für Lähmung, Verkrampfung oder Verdauung des Beutetiers. Für die biologische Grundlagenforschung und für die Entwicklung neuer therapeutischer Wirkstoffe sind diese spezialisierten Jagdmoleküle von großem Nutzen. In der Schmerztherapie werden sie schon erfolgreich eingesetzt. Tiergifte in der biomedizinischen Forschung Vom Jagdgift zur neuen Schmerztherapie I LVA P UTZIER , S TEPHAN F RINGS ABB. 1 (A) Die Fangarme der Seeanemone (Anemonia sulcata) tragen winzige Nesselzellen. (B) Die Würfelqualle (Chironex fleckeri) gehört zu den giftigsten Bewohnern tropischer Meere. (C) Kugelfische blasen sich bei Gefahr zu grotesker Größe auf. Zu ihrer Verteidigung setzen sie das Nervengift Tetrodotoxin ein.

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Von im Meer lebenden Polypen, Quallen oder Kegel-schnecken über Insekten wie Bienen oder Wespen bis

hin zu an Land lebenden Reptilien, Amphibien, Vögelnoder Säugetieren – giftige Tiere sind in fast allen Klassen desTierreichs vertreten [1, 6]. Abbildung 1 zeigt eine Auswahl.Gifttiere werden anhand unterschiedlicher Merkmale klassifiziert: nach ihrem Lebensraum, nach dem Bau ihrerGiftapparate oder der Beschaffenheit des Giftes, das sieproduzieren und nach der Rolle, welche die Gifte in ihremnatürlichen Umfeld spielen. Wir stellen im Folgenden giftige Vertreter unterschiedlicher Tierklassen vor, be-schreiben ihre „chemischen Waffen“ und erläutern einigeAnwendungen biogener Gifte in der Grundlagenforschungsowie in der Entwicklung neuer medizinischer Therapie-verfahren.

Warum gibt es Gifte im Tier- und Pflanzenreich? Tiere undPflanzen leben oft eng nebeneinander in Biotopen, in de-nen es nur begrenzt Wasser, Nahrung, Luft, Beutetiere oderSexualpartner gibt. Betrachtet man zum Beispiel ein Koral-lenriff – ein Paradebeispiel für das perfekt funktionierendeZusammenleben von Tieren und Pflanzen – sieht man eineVielzahl von Organismen der unterschiedlichsten Klassenund Ordnungen: Die Grundstruktur, das Korallenriff, wirdvon Kalkskelett bildenden Polypen geformt, auf denen sichauch andere Arten von Nesseltieren oder Algen niederlas-sen. Viele Fische und andere marine Lebewesen müssen ei-nem starken innerartlichen und zwischenartlichen Konkur-renzdruck widerstehen, um überleben zu können. Unent-wegt findet ein Kampf um Nahrung und Ansiedlungsflächesowie zur Abwehr von Fressfeinden und Infektionen durchPilze oder Bakterien statt.

Neben guter Tarnung steht einigen Tieren im Riff eineBatterie hochgiftiger Substanzen zur Feindabwehr und zumBeutefang zur Verfügung. Der ständige Selektionsdruck,dem die Bewohner des dicht besiedelten Korallenriffs aus-gesetzt sind, bewirkt ein unentwegtes Wettrüsten, ein Per-fektionieren der eigenen chemischen Waffen, aber auchder Abwehr gegen die Gifte der anderen Bewohner. DiesesPhänomen bezeichnet man als Koevolution, ein Prozess,der im Laufe der Evolution überaus wirksame Jagdgifte,aber gleichzeitig auch verblüffende Beispiele von Schutz-mechanismen gegen Gifte hervorgebracht hat.

Die Jagdgifte der Tiere sind ein unerschöpfliches Reservoir interessanter bioaktiver Substanzen – der Toxine. Jedes Toxinerfüllt eine besondere Aufgabe bei der Jagd und sorgt entweder für Lähmung, Verkrampfung oder Verdauung des Beutetiers. Für die biologische Grundlagenforschung und fürdie Entwicklung neuer therapeutischer Wirkstoffe sind diesespezialisierten Jagdmoleküle von großem Nutzen. In derSchmerztherapie werden sie schon erfolgreich eingesetzt.

Tiergifte in der biomedizinischen Forschung

Vom Jagdgift zur neuenSchmerztherapieILVA PUTZIER, STEPHAN FRINGS

A B B . 1 (A) Die Fangarme der Seeanemone (Anemonia sulcata) tragen winzige Nesselzellen. (B) Die Würfelqualle (Chironexfleckeri) gehört zu den giftigsten Bewohnern tropischer Meere. (C) Kugelfische blasen sich bei Gefahr zu grotesker Größe auf. Zu ihrer Verteidigung setzen sie das Nervengift Tetrodotoxin ein.

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Die tödliche Umarmung der NesseltiereNesseltiere machen eine Vielzahl der im Riff lebenden Tiereaus. Zu dieser Klasse gehören Quallen, Korallen und auchSeeanemonen. Der Giftapparat der Nesseltiere besteht ausNesselkapseln, die meist auf Tentakeln sitzen und beiBerührung aktiv werden, wobei sich projektilartig Wider-haken aus den Nesselzellen entladen. Diese bleiben in derHaut des Opfers stecken, während das Gift ausgeschüttetwird.

Seeanemonen bilden eine Ordnung, die nicht nur inFarbe und Erscheinungsbild vielfältig ist, sondern auch eineVielzahl giftiger Substanzen produziert. Sie leben auf fes-tem Meeresgrund, dem Kalkskelett einiger Korallenartenoder sitzen auf anderen Tieren, wie zum Beispiel Einsied-lerkrebsen. Seeanemonen ernähren sich sowohl von Plank-ton als auch von Fischen, die sie mit ihren Nesselorganenfangen. Einige Anemonenarten leben allerdings auch inSymbiose mit anderen Tieren, wie zum Beispiel den Ane-monenfischen (Amphiprion percula). Anemonenfischeschützen sich durch einen speziellen Schleim, der die Ent-ladung der Nesselzellen verhindert. Die Fische können sichso vor Fressfeinden in die Tentakeln des Wirts zurückzie-hen ohne sich an den Nesselorganen zu vergiften: ein schö-nes Beispiel für Koevolution. Im Unterschied zu Seeane-monen, deren Tentakeln eher eine geringe Reichweite be-sitzen, gehen Quallen mit ihren zum Teil meterlangen,dicht mit Nesselzellen besetzten Fangarmen in allen Welt-meeren auf Beutezug. Ihre Beute, meist Planktonorganis-men, aber auch kleine Fische, wird durch Nesselgift ge-lähmt, was das Fangen und Verspeisen erleichtert. Ihr Giftdient aber auch zum Schutz vor Fressfeinden. Geraten Menschen in die Tentakeln von Quallen der vorherrschen-den Arten in Nord- und Ostsee, ruft diese Begegnung zu-meist nur harmlose, lokale Hautreizungen hervor. Quallendes indopazifischen Raums, wie die Seewespe (auch Wür-felqualle, Chironex fleckeri, Abbildung 1), dem giftigstenMeerestier überhaupt, besitzen allerdings sehr starke Nes-selgifte. Sie verursachen Vergiftungssymptome, die vonOhnmacht bis zum Herzversagen reichen. Das Gift der Nes-seltiere enthält Hilfsstoffe wie Enzyme, die Haut und Blut-

zellen des Beutetieres auflösen und damit den Weg freima-chen für die Hauptkomponenten der Giftgemische: hoch-wirksame Nerven- und Herzgifte. Zu den nachgewiesenenGiften gehören einerseits kleine Polypeptide, die auf � Ionenkanäle in tierischen Membranen wirken, anderer-seits aber auch hämolytisch wirksame Proteine wie im Giftder Portugiesischen Galeere (Physalia physalis).

Fugu – eine giftige DelikatesseEin äußerst giftiger Bewohner des Pazifiks ist der Kugelfisch(Vertreter der Familie Tetradontidae) (Abbildung 1). Erzählt, anders als Seeanemonen, zu den passiv giftigen Tie-ren: Er setzt sein Gift Tetrodotoxin (TTX) nicht zum Beute-

DA S PRO B L E M D E R K L E I N E N M E N G E N |Ein wichtiger Aspekt bei der Untersuchung von Giften biologischer Herkunft ist die Gewin-nung des Giftes aus Tieren und seine Aufreinigung, also das Trennen der einzelnen Bestandteile und deren Charakterisierung [8]. Schlangen und Skorpione lassen sich relativeinfach „melken“. Schlangen werden am Kopf gepackt und dazu gebracht, ihr Gift in einenBehälter auszustoßen. Skorpione können ebenfalls leicht zum Stich gereizt und ihr Giftkann aufgefangen werden. Anders sieht das bei Seeanemonen, Fischen, Fröschen oder Ke-gelschnecken aus, da sie entweder keine wirklichen Giftorgane besitzen, oder weil diese zuklein sind, um einzeln entladen zu werden. Bei Fröschen beispielsweise wird deshalb nichtnur ihr Sekret gesammelt, sondern gleich die gesamte Haut, so dass man sehr viele Fröschezur Giftgewinnung töten muss. Ein Beispiel für die Schwierigkeit, die die Bestimmung einzelner aktiver Substanzen aus giftigen Tierextrakten bereitet, ist die Aufreinigung desGiftes des ecuadorianischen Baumsteigerfrosches Epipedobates tricolor. Nachdem J. W.Daly bereits in den siebziger Jahren festgestellt hatte, dass das Hautsekret dieses Froschsopiatähnliche Eigenschaften besitzt, sammelte er ganze 750 Froschhäute dieser Art undisolierte daraus insgesamt 60 mg Alkaloide. Nach weiteren Aufreinigungen waren aus 750Froschhäuten gerade mal 0,75 mg einer fast reinen Substanz übrig geblieben, viel zu wenig, um mit den damaligen spektroskopischen Methoden die Struktur der gesuchtenschmerzstillenden Substanz zu ermitteln. Neues Material konnte nicht mehr gewonnenwerden, da die Anzahl der in Freiheit lebenden Tiere bereits stark zurückgegangen war.Deshalb musste man eine Weiterentwicklung der Messmethoden abwarten, bis Ende der80er Jahre die Struktur des Epibatidin mit Hilfe der Kernresonanzspektroskopie aufgeklärtwurde. Wenn die Struktur eines für die Wissenschaft interessanten Toxins aufgeklärt ist,bemüht man sich deshalb, die Substanz synthetisch herzustellen.

(D) Das Gift der schwarzen Mamba (Dendroaspis polylepis) enthält gewebezerstörende Enzyme, die bei der Verdauung derBeute helfen. (E) Im Gift von Skorpionen (hier Tityus spec.) findet man Toxine, die eine Rolle bei der Erforschung von Ionen-kanälen spielen. (F) Die Schwarze Witwe (Latrodectus mactans) besitzt das krampferzeugende αα-Latrotoxin. A und E: aus Teuscher und Lindequist, 1994 [9]; B, C, D und F: aus Habermehl, 1994 [1].

Die mit einem grünen Pfeil markierten Begriffewerden im Glossarerklärt.

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fang ein, sondern macht sich selbst als Beutefisch unattrak-tiv. Das Gift wird wahrscheinlich durch Mikroorganismengebildet, die seine Haut und inneren Organe besiedeln.Zieht man einen solchen Fisch im Aquarium groß, wo ernicht in Kontakt mit diesen Mikroorganismen kommt, ist erungiftig. Fisch und giftbildende Bakterien leben in einerSymbiose, die den Fisch vor Fressfeinden schützt. Der Ku-gelfisch besitzt keine speziellen Giftorgane. Bei Bedrohungstößt er durch Hautdrüsen ein giftiges Sekret aus, das Fress-feinde meist nur abschreckt, nicht aber tötet. Etwa zweiWochen braucht der Kugelfisch, um seine Giftspeicher wie-der aufzufüllen. Beim Menschen treten Vergiftungen durchTTX nur nach Verzehr der giftigen Bestandteile wie derOvarien, der Leber oder der Haut auf. In Japan gilt Fugu, dasFleisch des Kugelfisches, als Delikatesse. Nur speziell aus-gebildete Köche dürfen es zubereiten und müssen als Beweis ihres Könnens selbst zubereiteten Fisch essen. TTXist ein komplexes Ringmolekül (siehe Kasten links). Esblockiert Natriumkanäle in elektrisch erregbaren Zellenund damit die Kontrolle der Muskulatur (siehe Kasten auf S. 151). Vergiftete spüren zunächst ein leichtes Kribbeln anGaumen und Mund (angeblich eine Empfindung, die beimGenuss von Fugu durchaus erwünscht ist), das sich zu einerLähmung der gesamten Körpermuskulatur ausdehnt. DerVergiftete stirbt schließlich an der Lähmung seiner Atem-muskulatur, bei vollem Bewusstsein, aber artikulationsun-fähig. Der Kugelfisch selbst vergiftet sich nicht mit TTX,denn er hat eine besondere Art von Natriumkanälen, dieTTX nicht binden kann – er ist also gegen TTX resistent.TTX ist ein auch bei Landtieren wie Fröschen und Krabbenoder anderen Meerestieren, wie dem blaugeringelten Octopus (Hapalochaena maculosa) und bei Meeres-schnecken verbreitetes Gift.

Schleichende TodesschützenVergiftungen durch Kegelschnecken (Conus spec.) beimMenschen geschehen meist beim Sammeln ihrer schönen,bis zu 18 cm großen Häuser an Pazifikstränden. Ist das Hausnoch bewohnt, schießt die Schnecke durch ihr rüsselarti-ges Schlundrohr einen Giftpfeil, der dafür sorgt, dass Gift indie Wunde eindringt. Vergiftungen treten zwar selten auf,aber die Hälfte der bisher bekannten Fälle endete tödlich.Das Gift der Kegelschnecken ist ein Gemisch aus kurzenPeptiden, den Conotoxinen, deren Grundstruktur unter-einander sehr ähnlich ist [7]. Kegelschnecken sind aktiv jagende Tiere. Je nachdem, auf welche Art Beute eineSchnecke spezialisiert ist, wirkt ihr Gift am besten auf Fische, Würmer oder andere Schnecken. Zur Jagd gräbt siesich derart im sandigen Meeresboden ein, dass nur noch ihrSchlundrohr aus dem Boden guckt. So werden zum BeispielFische angelockt, die das Schlundrohr für einen Wurm hal-ten. Doch wenn der Fisch versucht, den „Wurm“ zu fangen,schießt die Schnecke ihren Giftpfeil ab, der eine sofortigeLähmung der Beute bewirkt. Jetzt hat die Schnecke Zeit, ihrOpfer langsam in ihren großen Schlund zu ziehen und imInneren zu verdauen.

V E R S C H I E D E N E G I F T S TO F F E |

Toxine können sehr unterschiedliche Strukturen haben. Viele Neurotoxine sind kleinePeptide mit 25 bis 90 Aminosäuren. Solche Peptidtoxine können in einer Art Perlenketten-form dargestellt werden (Beispiel Cobrotoxin). Jede einzelne „Perle“ steht für eine Amino-säure und ist mit Ein-Buchstaben-Symbolen bezeichnet (beispielsweise L = Leucin, P = Prolin). Die Perlenketten werden durch die Wechselwirkungen zwischen Aminosäurenin Form gebracht, beispielsweise durch Schwefelbrücken, die zwischen jeweils zwei Cysteinen (C) ausgebildet werden. Die Darstellung des Cobrotoxins zeigt zwar die Reihen-folge der Aminosäuren und damit die Grundlage der Proteinfaltung, die räumliche Struk-tur des Proteins, die für dessen Wirkung ausschlaggebend ist, ist jedoch nicht zu erken-nen. Andere Arten von Giften werden oftmals aus einfachen Bestandteilen wie Zuckern,Fettsäuren oder Aminosäuren vom Organismus hergestellt. Manchmal müssen auch dieZutaten für die Herstellung eines Giftes über die Nahrung aufgenommen werden, wie zumBeispiel Alkaloide, die das Tier selbst nicht synthetisieren kann. Nicht immer sind Toxine so aufwendige Ringmoleküle wie das Batrachotoxin (BTX) oder das Tetrodotoxin (TTX)mit seiner einzigartig komplizierten Struktur. Manchmal reichen auch einfacher gebauteStoffe wie das Fettsäurederivat Prostaglandin A2 (PGA2), ein Stoff, der von Hornkorallen ingroßer Menge gebildet wird.

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Tödliche Cocktails aus ToxinenWährend es in gemäßigten Zonen nur wenige landlebendeGifttiere gibt, sind tropische und subtropische Gebiete einewahre Fundgrube. Im Regenwald spielen Gifte für dasÜberleben seiner Bewohner eine ähnliche Rolle wie im Ko-rallenriff.

Schlangen gehören von jeher zu den Tieren, die demMenschen Angst einjagen, dabei gilt nur etwa ein Fünftelder 2700 Schlangenarten als giftig. Giftschlangen bildenkeine eigene Klasse, sondern es gibt in allen Familien gif-tige Vertreter, die auf allen Kontinenten anzutreffen sind.Besonders giftige Exemplare sind die in Asien vorkommen-den Krait (Bungarus spec.). Durch sie geschehen viele Ver-giftungen, da sie Reisfelder lieben und auch oft in mensch-liche Siedlungen vordringen. Ihr Gift, das Bungarotoxin,bindet spezifisch an die � Azetylcholinrezeptoren der neu-romuskulären Synapse und lähmt damit die Muskulatur desBeutetiers. Andere Bestandteile des Schlangengifts zer-stören das Gewebe: Wer einmal gesehen hat, wie ein Armoder Bein des Opfers der Schwarzen Mamba (Dendroaspispolylepis, Abbildung 1) aussieht, der weiß, woher die ei-gentlich grüne Schlange ihren Namen hat. Das Gift derSchwarzen Mamba enthält neben einigen Nervengiften vorallem gewebsschädigende Enzyme, die zur Verdauung desOpfers beitragen und dafür sorgen, dass die Hauptbestand-teile des Giftes schnell zu ihren Bestimmungsorten gelan-gen. Durch die Zerstörung von Blutgefäßen färbt sich dasvergiftete Gewebe schwarz. Schlangengifte sind ein gutesBeispiel dafür, dass Tiergifte ein gut abgerundeter Desig-nercocktail von giftigen Substanzen sind. Sie sind genau abgestimmt auf ihre Funktion: die Beute rasch zu erlegenund das unzerkaut verschlungene Beutetier zu verdauen.So enthalten sie neben einigen starken Nervengiften vor al-lem gewebsschädigende und proteinzerstörende Toxinesowie Hemmstoffe der Blutgerinnung.

Für Toxinforscher sind neben den Giftschlangen vor al-lem die Skorpione der tropischen und subtropischen Re-gionen von besonderem Interesse (Abbildung 1). Jedochsind nur etwa 25 von insgesamt 1500 Arten so giftig, dasssie mit ihrem Stich einen Menschen töten könnten. Beson-ders häufig treten Vergiftungen in Mexiko, Tunesien, Ma-rokko und Brasilien auf. Skorpiongift ist ein Gemisch aushochwirksamen Polypeptid-Toxinen und auch Enzymen,die hier allerdings, anders als bei Schlangengiften, eine untergeordnete Rolle spielen. Ähnlich wie bei Kegel-schnecken hat sich bei Skorpionen eine enge Anpassung anden Beutetyp entwickelt: einige Gifte wirken bevorzugt aufInsekten, andere eher auf Wirbeltiere wie Schlangen undNagetiere, aber auch auf den Menschen. Ein Hauptbe-standteil des Giftes sind die α-Toxine, basische Polypeptid-toxine aus bis zu etwa 70 Aminosäuren, die durch vierSchwefelbrücken stabilisiert werden. Sie verursachendurch Daueraktivierung der Natriumkanäle erregbarerMembranen eine Verkrampfung der Muskulatur ihres Opfers (siehe Kasten rechts). Zu den vielen Toxinen der

Skorpione gehören auch Noxiustoxin und Charybdotoxin,die sehr spezifisch Kaliumkanäle blockieren.

Unter den mit den Skorpionen verwandten Spinnenfindet man ebenfalls einige giftige Arten. Spinnen besitzenkeinen Giftstachel, sondern beißen ihre Opfer mit kräftigausgebildeten Mundorganen. Spinnen sind Räuber undernähren sich hauptsächlich von Insekten. Spinnenbissesind für Menschen normalerweise nicht tödlich, die Vergif-tung verläuft aber oft sehr schmerzhaft. Einige für den Men-

TOX I N E V E R Ä N D E R N A K T I O N S P OT E N T I A L E |Ein Aktionspotential (gelbe Linie) ist eine kurzzeitige Depolarisation der Nervenmembran,die immer dann ausgelöst wird, wenn das Membranpotential vom Ruhewert (ca. –70 mV)über einen Schwellenwert (hier -55 mV, grüne Line) hinaus ansteigt. Das passiert zum Bei-spiel als Folge von Aktionspotentialen in benachbarten Ranvier-Schnürringen und ermög-licht so die Weiterleitung elektrischer Signale entlang der Faser eines Motoneurons bis zurneuromuskulären Synapse.

Bei Überschreiten der Schwellenspannung öffnen sich für kurze Zeit (etwa 1/1000 Sekunde)Natriumkanäle und leiten einen depolarisierenden Na+-Strom in die Zelle. Diese Depolarisation öffnet Kaliumkanäle, und der K+-Ausstrom bringt das Membranpotentialschnell wieder auf den Ausgangswert zurück. Tetrodotoxin verhindert die Öffnung vonNa+-Kanälen und damit die Entstehung von Aktionspotentialen. Auch beim Überschreitender Schwellenspannung wird kein Aktionspotential ausgelöst (schwarze Linie); die Signal-weiterleitung zum Muskel ist unterbrochen – die Folge ist Lähmung. Auch δ-Conotoxin undverschiedene Toxine von Seeanemonen greifen die Na+-Kanäle der Nervenfasern an. Allerdings verhindern diese Toxine nicht das Öffnen der Kanäle – bei Überschreiten derSchwellenspannung kommt es folglich zur Depolarisation (rote Linie); die Toxine verhin-dern aber das Schließen der Kanäle, und der anhaltende Na+-Einstrom verzögert die Repolarisation der Membran: das Aktionspotential dauert viel zu lang, die Membran wirdübererregt. Durch die verlängerten Akionspotentiale werden die Kalziumkanäle in der präsynaptischen Membran unmäßig lang geöffnet. Die Folge ist eine stark erhöhte Frei-setzung von Azetylcholin und eine Übererregung der Muskelmembran – die Ursache für eine krampfhafte Kontraktion des Muskels.

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schen eher ungefährliche Toxine, wie Argiopin oder Argio-toxin, sind Antagonisten des Rezeptors für die AminosäureGlutamat, den wichtigsten erregenden Neurotransmitterbei Wirbellosen. Denkt man an gefährliche Spinnen,kommt einem die Schwarze Witwe (Latrodectus spec.) inden Sinn – und das eindeutige Merkmal auf dem Rückendes Weibchens, eine rote, manchmal sanduhrförmigeZeichnung (Abbildung 1). Diese Spinne, die ihren Namenträgt, weil sie das Männchen nach der Begattung ermordetund frisst, wenn es nicht schnell genug das Weite sucht, besitzt ein wirksames Nervengift, das α-Latrotoxin. ZweiArten dieses Toxins wurden im Gift der Schwarzen Witwegefunden, das eine wirkt spezifisch auf Insekten, das an-dere auch auf Wirbeltiere. Beide Gifte binden an die prä-synaptische Membran von Nervenzellen, was zu einer über-mäßigen Ausschüttung von Neurotransmitter-Vesikeln führt.

Pfeilgiftfrösche – schön giftigZu den hübschesten Gifttieren gehören die Pfeilgift- oderBaumsteigerfrösche (Familie Dendrobatidae). Diese nurwenige (zwei bis sechs) Zentimeter großen, in den tropi-schen Wäldern Südamerikas heimischen Amphibien, signa-lisieren durch ihre auffälligen und bunten Zeichnungenhöchste Giftigkeit [2]. Indianer nutzen das Hautsekret derBaumsteigerfrösche für die Herstellung von Giftpfeilen, mitdenen selbst große Säugetiere erlegt werden können. DasGift wird in Hautdrüsen produziert, die über die gesamteKörperoberfläche verteilt sind. Sie bilden dieses Sekret, umihr wichtigstes Atmungsorgan – ihre empfindliche Haut –vor zerstörenden Mikroorganismen zu schützen. Da diesesSekret, das vor allem verschiedene � Alkaloide enthält, sehrbitter schmeckt, lassen potentielle Fressfeinde schnell vonihnen ab. Man hat festgestellt, dass in Terrarien gezüchteteTiere ihre Giftigkeit verlieren, da die Frösche zur Syntheseihrer giftigen Alkaloidgemische deren Vorstufen über ihreNahrung aufnehmen müssen. Solche Vorstufen findet manzum Beispiel in Ameisen oder anderen Insekten – typischenBeutetieren der Baumsteigerfrösche.

Meist reicht es nicht aus, mit der Haut der Frösche inBerührung zu kommen, um sich eine Vergiftung zuzufü-gen; das Gift muss ins Blut gelangen. Dabei ist die Menge angiftigen Substanzen in einem Tier meist zu gering, um einenMenschen zu vergiften. In Tieren der Art Phyllobates terri-bilis jedoch sind bis zu 0,5 Milligramm des potentesten Giftes der Pfeilgiftfrösche, dem Steroid-Alkaloid Batracho-toxin (BTX), enthalten. Die halbmaximale tödliche BTX-Dosis � (LD50) liegt für Mäuse bei diesem Gift bei bereits0,002 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. BTX istein komplexes Ringmolekül, das das Schließen von Natri-umkanälen verhindert und somit eine Dauererregung derMuskulatur erzeugt. Ein anderes Alkaloid, das man aus demGift von Pfeilgiftfröschen isolieren konnte, ist das Epibati-din. Man hat es entdeckt, als man das Gift des ecuadoriani-schen Baumsteigerfrosches Epipedobates tricolor aufschmerzstillende Eigenschaften untersucht hat. Nachlangjähriger Arbeit hat man das nur in winzigen Mengen

vorkommende Epibatidin als Hauptwirkstoff des Giftgemi-sches ausgemacht. Seine schmerzstillende Wirkung ist beiMäusen zweihundertmal stärker als � Morphin.

Wie Schnecken Fische fangenFür viele Tierarten ist die hohe Wirksamkeit ihrer Gifte le-bensnotwendig: Je besser das Gift, desto größer ist ihreChance zu überleben und sich fortzupflanzen. Infolge die-ses über Jahrmillionen anhaltenden Evolutionsdrucks hinzur Perfektion der Toxine in Jagd- und Verteidigungsgiftensind Substanzen mit nahezu unvorstellbarer Wirksamkeitentstanden. Der Toxinforscher Heinrich Terlau vom Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingenfand heraus, dass schon winzige Mengen des Giftes der Kegelschnecke Conus purpurascens genügen, um einenFisch im Verlauf weniger Sekunden zunächst in schockar-tige Erstarrung und dann in einen hilflosen Lähmungszu-stand verfallen zu lassen [10]. Um eine solch dramatischeWirkung auszulösen, müssen die Toxine sich schnell vomOrt des Einstichs durch den Organismus ausbreiten unddann schlagartig genau diejenigen Strukturen blockieren,die der Fisch für die Flucht benötigt: die neuromuskulärenSynapsen, die Schlüsselstellen der willkürlichen Steuerungder Muskulatur. Abbildung 2 zeigt den Aufbau einer Sy-napse, wie sie in der Flossenmuskulatur von Fischen, aberebenso in der Bewegungsmuskulatur aller Wirbeltiere zufinden ist. Der Befehl zum Flossenschlag entsteht im Ge-hirn, wird über Nervenfasern ins Rückenmark geleitet unddort an Motoneurone übergeben, das sind Nervenzellen,die auf die Kontrolle der Muskulatur spezialisiert sind. EineVielzahl von Motoneuronen leitet das Signal zur Flossen-muskulatur, und an dem Ort, an dem das Nervensignal aufdie Muskelfasern übertragen wird, der neuromuskulärenSynapse, schlagen die Toxine der Kegelschnecke zu.

Das Signal erreicht die Synapse in Form von Aktions-potentialen, kurzen elektrischen Impulsen, die mit Ge-schwindigkeiten um 100 m/sec vom Rückenmark zur neu-romuskulären Synapse laufen. Aktionspotentiale entstehendurch das zeitlich fein abgestimmte Öffnen und Schließenvon Natrium- und Kaliumkanälen. Beim Eintreffen der Akti-onspotentiale in der Synapse werden Kalziumkanäle geöff-net und leiten Kalziumionen (Ca2+) in die präsynaptischeNervenendigung. Dieses Kalziumsignal setzt einen kom-plexen Mechanismus in Gang, der zur Freisetzung des Neurotransmitters Azetylcholin aus Speichervesikeln führt.Azetylcholin gelangt in den synaptischen Spalt und über-trägt das Signal von der Nervenendigung auf die Muskelfa-ser. Denn in der gegenüberliegenden Membran, der post-synaptischen Membran der Muskelfaser, werden spezielleIonenkanäle, die Azetylcholinrezeptoren, geöffnet und lei-ten Strom in die Muskelfaser. Sofort entstehen auch hier Aktionspotentiale durch das gleiche Wechselspiel von Natrium- und Kaliumkanälen wie in der Nervenmembran,und die Erregung ist in der Muskelfaser angekommen. DerMuskel kontrahiert, die Flosse bewegt sich, und der Fischbringt sich in Sicherheit.

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Aber nicht, wenn er von einer Kegelschnecke gestochenwird. Denn die Conotoxine verhindern die Signalüber-tragung, indem sie jeden der beteiligten Ionenkanäle mit einem spezifischen, hochwirksamen Toxin blockieren unddamit die Flucht vereiteln. δ-Conotoxin und κ-Conotoxinlösen durch die Überaktivierung von Natrium- und die

Hemmung von Kaliumkanälen in den Ranvier-Schnürrin-gen (Abbildung 2) ein Dauerfeuer von Aktionspotentialenin den Motoneuronen aus. Die Wirkung ist die gleiche wiebei einem elektrischen Schock: Der Fisch erstarrt in einemMuskelkrampf, er ist bewegungsunfähig. Dann wird die Sig-nalübertragung an der Synapse ausgeschaltet: ω-Contoxin

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Manche Kegelschnecken jagen Fische. Sie können ihre Beute innerhalb weniger Sekunden lähmen, indem sie die Kontrolle der Flossenmuskulatur an der neuromuskulären Synapse (links) unterdrücken. Die schematische Darstellung (rechts) derSynapse zeigt ein Motoneuron (blau) mit den azetylcholinhaltigen Vesikeln sowie die Muskelfaser (gelb). Das elektrische Signal erreicht die Synapse in Form von Aktionspotentialen, die an den Ranvier-Schnürringen durch ein genau festgelegtesProgramm der Aktivierung von Ionenkanälen entstehen (rechts oben). Adenosintriphosphat (ATP)-abhängige Ionenpumpenhalten Konzentrationsgradienten über der Membran der Nervenfaser aufrecht: Die K+ Konzentration ist innen etwa dreißig-mal so hoch wie außen, bei Na+ ist das umgekehrt. Beim Eintreffen eines elektrischen Signals vom vorhergehenden Schnür-ring öffnen sich für kurze Zeit Na+-Kanäle und gleich danach K+-Kanäle. Es kommt wegen der gegensinnigen Konzentrations-gradienten der beiden Ionensorten zunächst zu einem Na+-Einstrom in die Nervenfaser, dann zu einem K+-Ausstrom. Die dadurch verursachte Änderung des Membranpotentials ist das Aktionspotential, die grundlegende Informationseinheit desNervensystems. In der präsynaptischen Membran öffnen die Aktionspotentiale Kalziumkanäle (rechts unten). Der Einstromvon Ca2+ führt zur Freisetzung von Azetylcholin in den synaptischen Spalt und zur Öffnung der entsprechenden Ionenkanäle inder postsynaptischen Membran der Muskelfaser. Na+-Einstrom löst die elektrische Erregung der Muskelmembran aus – der Muskel kontrahiert. Die Angriffspunkte einer Reihe von spezifischen Neurotoxinen sind rechts gezeigt.Kegelschnecke Conus purpurascens aus Terlau et al., 1996 [10], Bermuda Kaiserfisch Holacanthus bermudensis aus www.aquarium-berlin.de

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blockiert die präsynaptischen Kalziumkanäle und damit dieAusschüttung von Azetylcholin, α-Conotoxin blockiertAzetylcholinrezeptoren, und µ-Conotoxin blockiert post-synaptische Natriumkanäle, so dass keine Aktionspoten-tiale in der Muskelmembran entstehen können. Jedes ein-zelne der fünf Conotoxine würde ausreichen, um die Steu-erung der Muskulatur zu blockieren und den Fisch zulähmen. Aber durch die gleichzeitige Vergiftung von fünfbeteiligten Ionenkanälen mit jeweils spezifischen Toxinenerreicht die Schnecke einen sehr schnellen Vergiftungsef-fekt: Erstarrung und Lähmung treten in wenigen Sekundenein, so dass sich der gestochene Fisch nicht mehr weit vonder Kegelschnecke entfernen kann – und das ist wichtig fürdas nur langsam kriechende Raubtier.

Toxine als Werkzeuge in der ForschungWas für die Schnecke lebensnotwendige Jagdwaffen sind,maßgeschneiderte Toxine für jede Art von Ionenkanal, das

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Schematische Darstellung der Reini-gung von Azetylcholinrezeptoren ausden elektrischen Organen des Zitter-rochens (Torpedo californica). αα-Bun-garotoxin wird aus dem Gift derKrait-Schlange (Bungarus multicinc-tus) gereinigt und an das Trägerma-terial einer Chromatographiesäulegekoppelt. Ein Extrakt von Membran-proteinen wird aus den elektrischenOrganen eines Rochens (die rotenKreise bezeichnen die ungefähre Lageder Organe) gewonnen und auf dieChromatographiesäule aufgetragen.Alle Proteine, die nicht an αα-Bungaro-toxin binden (schwarze Punkte)fließen durch die Säule und werdenverworfen. Nur die Azetylcholinre-zeptoren (gelbe Punkte) binden andas Toxin und werden so auf derSäule zurückgehalten. Um die Rezep-toren abzuwaschen, wird ein Über-schuss an Azetylcholin über die Säulegegeben. Der Transmitter verdrängtdas Toxin von seiner Bindestelle anden Rezeptoren, so dass die gereinig-ten Rezeptoren von der Säule abge-waschen und aufgefangen werdenkönnen. Zitterrochen Torpedo californica von Phillip Colla Photography

sind für die biologische Forschung hochinteressante Werk-zeuge zur Erforschung eben der Kanäle, welche dieSchnecke ausschalten will. So blockiert beispielsweise ω-Conotoxin in winzigen Konzentrationen die präsynapti-schen Kalziumkanäle, ist aber völlig wirkungslos an allenanderen Kanälen der Synapse. Tatsächlich kann das Toxinsogar zwischen einzelnen Arten von Kalziumkanälen un-terscheiden und blockiert ausschließlich die Kalzium-kanäle in der präsynaptischen Membran, nicht aber andereSorten von Kalziumkanälen, beispielsweise solche, die inHerzzellen oder in der Gefäßmuskulatur zu finden sind. Ge-nau diese Kombination von hoher Wirksamkeit und Spezi-fität macht dieses Toxin überaus wertvoll für die Erfor-schung der präsynaptischen Kalziumkanäle. Eine Vielzahlvon Tiergiften enthält Toxine, die spezifisch gegen be-stimmte Ionenkanäle gerichtete sind. Diese Toxine spieleneine zentrale Rolle in der Ionenkanalforschung, insbeson-dere in der Neurobiologie [8].

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Die enorme Spezifität von Toxinen kann beispielsweise fürdie Darstellung von Ionenkanälen in der Ultrastruktur-forschung nutzbar gemacht werden. Aus dem Gift der Krait-Schlange (Bungarus multicinctus) wurde das α-Bungaro-toxin isoliert, das mit hoher Affinität an die Azetylcholin-rezeptoren in der postsynaptischen Membran bindet.Dadurch wird die Öffnung der Kanäle und die Erregungs-übertragung auf die Muskelfaser verhindert, und das Beutetier der Schlange ist gelähmt. In der Anatomie machtman sich die selektive Bindung des Toxins zunutze, umAzetylcholinrezeptoren im Gewebe sichtbar zu machen.Dazu wird ein fluoreszierender Farbstoff an das α-Bungaro-toxin gekoppelt, und das auf diese Weise sichtbar gemachteToxin wird auf einen Gewebeschnitt gegeben. Nur dort,wo das Toxin bindet, also nur an Strukturen, die Azetylcho-linrezeptoren tragen, kann man dann im Mikroskop ein Fluoreszenzsignal erkennen.

In der Biochemie nutzt man die hohe Bindungsaffinitätund Spezifität von Toxinen zum Aufreinigen von Proteinen.So begann die detaillierte Erforschung von Azetylcholin-rezeptoren mit ihrer Reinigung durch α-Bungarotoxin-Affinitätschromatographie (Abbildung 3). Eine ergiebigeQuelle für Azetylcholinrezeptoren sind die elektrischen Or-gane des Zitterrochens (Torpedo californica). Umgewan-delte Muskelzellen in diesen Organen tragen eine extremhohe Dichte von Azetylcholinrezeptoren, die den Stromzur Erzeugung starker Spannungsschläge (bis zu 1000 V)liefern, mit denen das Tier sich sehr wirkungsvoll verteidi-gen kann. Um die Azetylcholinrezeptoren aus den elektri-schen Organen zu gewinnen, koppeln Biochemiker α-Bun-garotoxin an das Trägermaterial einer � Chromatographie-säule, über die dann ein Proteinextrakt aus elektrischenOrganen gegeben wird. Das Toxin fischt die Azetylcholin-rezeptoren aus dem Extrakt heraus, und man kann einereine Präparation der Rezeptoren von der Säule waschen.

Ein drittes Beispiel für die vielfältige Anwendung vonToxinen in der Forschung ist die Aufklärung der Strukturvon Proteinen, insbesondere bei Ionenkanälen, derenStrukturaufklärung besonders schwierig ist. Hier liegt fol-gende Überlegung zugrunde: Toxine binden an Ionenka-nalproteine mit außerordentlich hoher Affinität, die Folgeeiner starken Wechselwirkung zwischen den Oberflächenvon Kanalprotein und Toxin. Man nimmt an, dass der bin-dende Teil des Toxins eine komplementäre Fläche zurOberfläche des Ionenkanals bildet, sozusagen einen negati-ven Abdruck der Kanaloberfläche. Ermittelt man die Ober-flächenstruktur eines Toxins, dann kennt man auch dieStruktur der Toxinbindestelle an der Oberfläche eines Io-nenkanals. Strukturaufklärung an kleinen neurotoxischenPeptiden ist verhältnismäßig einfach und kann Informationüber die Struktur von Ionenkanälen geben. In Abbildung 4ist schematisch dargestellt, wie Charybdotoxin eingesetztwird, um die extrazelluläre Oberfläche von Kaliumkanälenzu "vermessen". Wir verdanken diesen Untersuchungennicht nur Informationen über die Topographie der äußerenKanalmündung, sondern auch die Erkenntnis, dass Kalium-

kanäle Proteinkomplexe bilden, die aus vier Untereinhei-ten zusammengelagert sind [4]. Toxine mit bekannterGröße und Raumstruktur können also wie molekulare Son-den zur Erforschung der Struktur von Proteinen eingesetztwerden.

Gifte können Schmerzen lindernDie ausgeprägte Spezifität vieler Toxine, ihre Eigenschaft,mit hoher Affinität an eine bestimmte Art von Protein zubinden, alle anderen Proteine aber unbehelligt zu lassen,diese verblüffende Zielgenauigkeit interessiert Pharmako-logen und Mediziner seit langem. Denn für die klinische An-wendung sucht man nach spezifischen Substanzen, Wirk-stoffen, die nur den erwünschten therapeutischen Effektund möglichst keine Nebenwirkungen haben. Wie erfolg-reich Toxine aus Tiergiften in der Medizin eingesetzt werden können, zeigt das Beispiel des ω-Conotoxins, demPeptidtoxin aus dem Jagdgift der Kegelschnecke Conus

Modell eines Kaliumkanals (gelb), der in die Plasmamembran einer Zelle (blau)eingebettet ist. Der Kanal besteht aus vier Untereinheiten; die beiden vorderensind nicht gezeichnet, um Einblick in die Kanalpore zu gewähren. K+-Ionen drin-gen von der Zellinnenseite in den Kanal ein und treffen auf eine enge Stelle, dieKanalpore, die nur K+-Ionen, nicht aber Na+- , Ca2+- oder Cl-- Ionen passierenlässt. Auf der Zellaußenseite hat der Kanal einen weiten Vorhof, in dem Charyb-dotoxin (grün) binden und damit den Kanal blockieren kann. Die Raumstrukturkleiner Peptidtoxine ist relativ leicht aufzuklären, und man kann aus der Ober-flächenstruktur des Toxins auf die seiner Bindestelle am Kanal schließen. Dazumuss allerdings bekannt sein, mit welcher Seite sich das Toxin an die Kanalober-fläche anlagert. Diese Information gewinnt man aus � Mutagenese-Experimen-ten: Einzelne Aminosäuren werden im Toxin oder im Kanal gegen eine Testami-nosäure (beispielsweise Alanin) ausgetauscht, und die Auswirkung dieser Punkt-mutation auf das Bindeverhalten des Toxins wird untersucht. Aus solchenStudien erhält man Aufschluss darüber, welche Aminosäuren von Toxin und Kanal miteinander wirken (rote Punkte), und die Bindungsfläche kann ermitteltwerden. Der Durchmesser eines Charybdotoxinmoleküls beträgt ungefähr 1,5 nm (1 nm = 1 Millionstel mm).

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magus. Dieses hochwirksame Toxin wird heute in derSchmerztherapie eingesetzt und hilft Patienten, denenselbst Morphin keine Schmerzlinderung verschafft [5].ω-Conotoxin kann Schmerzen unterdrücken, weil es an ei-ner Schlüsselstelle der Erzeugung von Schmerzsignalen ein-greift – den Synapsen von Schmerzrezeptorzellen (Nozi-zeptoren) im Rückenmark. Schmerz entsteht, wenn starke,normalerweise gewebsschädigende Reize die sensorischenFasern der Nozizeptoren erregen. Diese Fasern durch-wachsen jeden Quadratzentimeter unserer Haut und zu-dem Gelenke, Knochen und Organe (Abbildung 5). DieNervenfaser eines Nozizeptors leitet elektrische Impulse(Aktionspotentiale) zum Rückenmark und überträgt dort ineiner Synapse das Schmerzsignal auf eine nachgeschalteteNervenzelle. Diese Synapse ist ganz ähnlich gebaut wie die

oben beschriebene neuromuskuläre Synapse, und ω-Cono-toxin greift an der gleichen Stelle ein: an den präsynapti-schen Kalziumkanälen, deren Öffnung auch hier die Frei-setzung von Neurotransmittern auslöst. Die Kalziumkanälein der Synapse der Nozizeptoren zeigen eine interessanteBesonderheit: Sie stehen unter der Kontrolle von Mem-branproteinen, die Opiate wie Morphin binden können.Diese Opioidrezeptoren gehören zum körpereigenen Sys-tem der Schmerzunterdrückung, das bei starkem Stress dieSchmerzwahrnehmung vollständig auszuschalten vermag.Erhält ein Patient zur Schmerzlinderung Morphin, bindetdie Substanz an die Opioidrezeptoren und verhindert dasÖffnen der Kalziumkanäle. Die hemmende Wirkung derOpioidrezeptoren wird durch ein sogenanntes � G-Proteinauf die Kalziumkanäle übertragen (Abbildung 5). Morphin

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Schmerzsinneszellen (Nozizeptoren) detektieren Schmerzreize mit ihren sensorischen Nervenendigungen und leiten dasSchmerzsignal zum Hinterhorn des Rückenmarks (links). Dort wird das Signal in einer Synapse durch den NeurotransmitterGlutamat an eine nachgeschaltete Nervenzelle übergeben und zum Gehirn weitergeleitet - erst im Gehirn entsteht schließlichdie Schmerzempfindung. Die Signalübertragung in der Synapse von Nozizeptoren kann durch Morphin, aber auch durch ωω-Conotoxin blockiert werden (Mitte; µµ symbolisiert Opioidrezeptoren vom µµ-Typ, gelb dargestellt ist das G-Protein, das fürdie Wirkung von Morphin, nicht aber für die von ωω-Conotoxin notwendig ist). ωω-Conotoxin ist ein kleines Peptid, dessenRaumstruktur durch drei Schwefelbrücken stabilisiert wird (Mitte unten). Beide Substanzen unterbrechen die Weiterleitungdes Schmerzsignals zum Gehirn und sind deshalb wirksame Schmerzmittel. Die direkte Form der Anwendung von ωω-Conoto-xin ist die kontinuierliche Injektion kleiner Toxinmengen in die Rückenmarksflüssigkeit mit Hilfe einer programmierbarenPumpe, die dem Patienten implantiert wird (rechts). Mit dieser Methode kann ωω-Conotoxin über einen langen Zeitraum hinweg gleichmäßig appliziert und eine andauernde Schmerzlinderung erreicht werden. Abbildung rechts: Medtronic GmbH,Düsseldorf

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unterdrückt auf diese Weise die Freisetzung von Transmit-tern und unterbricht die Signalweiterleitung, so dass dasSchmerzsignal nicht zum Gehirn gelangen kann. Selbst beiAktivierung von Nozizeptoren kommt es deshalb nicht zurSchmerzwahrnehmung.

Schon vor einigen Jahren hat man erkannt, dass ω-Co-notoxin an den Synapsen der Nozizeptoren ähnlich wirkenmüsste wie Morphin – dass das Toxin durch die Blockie-rung der präsynaptischen Kalziumkanäle die Weiterleitungdes Schmerzsignals unterbrechen müsste. In ausführlichenStudien an Tiermodellen hat sich diese Vermutung be-stätigt. Um das Toxin lokal an die Rückenmarkssynapsen zubringen, ohne die neuromuskulären Synapsen zu hemmen,wurde ω-Conotoxin direkt in die Rückenmarksflüssigkeitinjiziert. Das Ergebnis war eine deutliche Verminderungder Schmerzempfindlichkeit bei den Versuchstieren. Be-sonders interessant war bei diesen Studien, dass dieschmerzhemmende Wirkung des Toxins auch bei Langzeit-anwendung nicht nachließ, während sich bei kontinuier-licher Gabe von Morphin schon nach wenigen Tagen eineMorphintoleranz einstellt; die Wirksamkeit der Morphinan-wendung nimmt ab und muss durch steigende Dosen kom-pensiert werden. Ein biochemischer Mechanismus, denman für die Entstehung von Morphintoleranz verantwort-lich macht, ist die Entkopplung der Opioidrezeptoren vonihren G-Proteinen und damit der Verlust der Morphinwir-kung auf die Kalziumkanäle. ω-Conotoxin aber wirkt direkt– also ohne Vermittlung von G-Proteinen – auf die Kalzi-umkanäle, und aus diesem Grund kann sich keine Wirk-stofftoleranz ausbilden; das Toxin bleibt auch über längereAnwendungszeit hin in geringen Dosen wirksam. Die Er-folge der Erprobung von ω-Conotoxin an Versuchstierenwaren so ermutigend, dass man seit 1996 den Einsatz desToxins zur Schmerzlinderung bei Menschen erprobt [3].

Schmerztherapie mit ω-Conotoxin ist nur ein Beispielfür die Bedeutung von Tiergiften in der Medizin. Wenn manbedenkt, dass die etwa 500 Arten von Kegelschneckenüber 50.000 unterschiedliche Toxine herstellen, von denennur ein kleiner Bruchteil (circa 0,2 Prozent) bisher er-forscht worden ist, erkennt man das große Potential annützlichen Wirkstoffen, das sich in den Giften allein dieserTiergattung verbirgt. Klinische Prüfungen mit verschiede-nen Conotoxinen werden zur Therapie von Schmerz, Epi-lepsie, Schlaganfall, Hypertonie, Asthma und Herzrhyth-musstörungen durchgeführt, wobei in allen Fällen die hoheWirksamkeit und Spezifität der Conotoxine für neue The-rapieansätze nutzbar gemacht wird. Auch aus dem Gift an-derer Tiere hat man therapeutisch wirksame Substanzenisolieren können. So führte ein kleines Peptid aus dem Gift der Viper Bothrops jaracusa zur Entwicklung der � ACE-Hemmer (beispielsweise Captopril), einer wichtigenWirkstoffgruppe zur Behandlung von Bluthochdruck. Sub-stanzen aus Schlangengift, welche die Blutgerinnung imBeutetier unterdrücken, führten zur Entwicklung von therapeutischen Wirkstoffen, die zur Vorbeugung gegenThrombenbildung bei Herzinfarkt- und Schlaganfallpatien-

ten dienen (beispielsweise Streptokinase). Toxine aus Tier-giften können also bei ganz unterschiedlichen Therapienhilfreich sein, wobei genau der Vergiftungseffekt, der denTieren zum Jagderfolg verhilft, beim Patienten eine heil-same Wirkung entfaltet.

ZusammenfassungDie Jagd- und Verteidigungsgifte vieler Tierarten enthaltenToxine, die mit hoher Spezifität gegen Ionenkanäle oder an-dere Proteine im Beuteorganismus gerichtet sind. Unter denToxinen findet man Proteine, kleine Peptide, Steroide undviele andere Verbindungen. Ihre Wirksamkeit und Spezifitätsind unter starkem evolutionärem Druck in fast unvorstellba-rem Maße optimiert worden. Damit verhelfen sie der biome-dizinischen Forschung zu aussagekräftigen Experimenten,und eine große Zahl von Toxinen wird heute als Werkzeug inder biologischen Grundlagenforschung eingesetzt. Protein-reinigung, Untersuchung von Expressionsmustern und Struk-turaufklärung sind nur einige Beispiele für ihren vielfältigenNutzen in der Forschung. Wegen ihrer hohen Spezifität bietensie das Potential für gezielte Anwendung als therapeutischeWirkstoffe mit wenigen Nebenwirkungen. Ein Beispiel für dietherapeutische Anwendung ist das ω-Conotoxin aus dem Gifteiner marinen Kegelschnecke, das erfolgreich zur Schmerz-therapie eingesetzt wird.

G LOSSA R |ACE-Hemmer: blutdrucksenkende Wirk-stoffe, deren therapeutischer Effekt aufder Hemmung des angiotensin-conver-ting-enzyme beruht.

Alkaloide: vor allem in Pflanzen vorkom-mende, meist heterocyclische organischeVerbindungen mit einem oder mehrerenStickstoffatomen. Viele pflanzliche Wirkstoffe sind Alkaloide, beispielsweiseNikotin, Koffein und Morphin.

Azetylcholin: Substanz, die als Neuro-transmitter die Signalübertragung anSynapsen vermittelt.

Chromatographie: Trennverfahren, mitdem Substanzgemische aufgrund chemi-scher oder physikalischer Eigenschaften ineinzelne Komponenten aufgetrennt werden.

Ionenkanäle: Proteine in der Zellmem-bran, die Ionen (z. B. Na+, K+ oder Ca2+)über die ansonsten undurchlässige Mem-bran leiten. Der Strom durch Ionenkanäleist die Grundlage aller bioelektrischenPhänomene wie der Signalleitung in Nervenzellen und der Muskelkontraktion.

G-Protein: Guanosintriphosphat-(GTP)-bindende Proteine, die als Vermittler inzellulären Signaltransduktionketten wir-ken. G-Proteine leiten zum Beispiel hormo-nelle Signale von Hormonrezeptoren inder Zellmembran zu Effektorproteinen imZellinneren.

LD50-Wert: halbmaximale tödliche (letale) Dosis eines Stoffes bezogen auf einen bestimmten Organismus. Die Dosis,bei der die Hälfte der Versuchstiere getötetwird.

Morphin: Alkaloid aus dem SchlafmohnPapaver somniferum, das als wichtigsterWirkstoff des Opiums stark schmerzstil-lende Wirkung zeigt.

Mutagenese: die Erzeugung von Verände-rungen (Mutationen) an Proteinen durchÄnderung der kodierenden DNA-Sequenz.Der gezielte Austausch einzelner Amino-säuren (Punktmutation) ist eine wichtigeMethode für die Erforschung von Struktur-Funktions-Beziehungen bei Proteinen.

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Literatur[1] G. G. Habermehl, Gift-Tiere und ihre Waffen. Springer-Verlag, Berlin,

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[4] R. MacKinnon, Determination of the subunit stoichiometry of a vol-tage-activated potassium channel. Nature 11999911, 350, 232-235.

[5] J. M. McIntosh, R. M. Jones, Cone venom – from accidental stings todeliberate injection, Toxicon 22000011, 39, 1447-1451.

[6] D. Mebs, Gifttiere. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart,2000.

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[10] H. Terlau, K.-J. Shon, M. Grilley, M. Stocker, W. Stühmer, B. M. Oli-vera, Strategy for rapid immobilization of prey by a fish-hunting marine snail, Nature 11999966, 381, 148-151.

DanksagungWir danken Ulrike Lindequist, Gerhard Habermehl, Baldomero Olivera,Phillip Colla und Andreas Wolf für Abbildungen. Die Arbeiten der Autorenan Screeningverfahren für Toxine werden von der Deutschen Forschungs-gemeinschaft gefördert (FOR 450).

Die AutorenIlva Putzier, geboren 1976. Von 1995-2000 Studiumder Biologie an der Universität zu Köln. Für ihre Diplomarbeit untersuchte sie am Institut für Biologi-sche Informationsverarbeitung, ForschungszentrumJülich, Ionenkanäle in Schmerzsinneszellen. Im Rah-men ihrer Doktorarbeit gilt ihr Forschungsinteresseder Suche nach Toxinen, die gegen Ionenkanäle inSchmerzzellen gerichtet sind und möglicherweisezur Entwicklung neuer Substanzen für die Schmerz-therapie führen können.

Stephan Frings, geboren 1956. Von 1980 – 1985 Studium der Biologie in Konstanz. 1989 Promotionan der University of Otago, Dunedin, Neuseeland.1997 Habilitation im Fach Zoologie an der Uni-versität zu Köln. Sein Forschungsinteresse gilt den molekularen Mechanismen der Signalverarbeitungin Sinneszellen, insbesondere der Rolle von Ionen-kanälen bei der Funktion von Riech- und Schmerz-sinneszellen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist dieEntwicklung automatisierter Verfahren zur Suchevon Ionenkanal-Toxinen in Tiergiften.

Anschrift:Ilva Putzier, Dr. Stephan FringsInstitut für Biologische InformationsverarbeitungForschungszentrum Jülich52428 JülichE-mail: [email protected]@fz-juelich.de