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2010 Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München Zur Diskussion gestellt Viktor J. Vanberg, Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker, Wernhard Möschel, Peter Hampe, Hans-Werner Sinn Was ist Neoliberalismus? Kommentar Stefan Drews Finanzierungssituation der deutschen Unternehmen: Finanzierungsschwierigkeiten trotz Wirtschaftsaufschwung? Forschungsergebnisse Wolfgang Ochel und Anja Rohwer Institutionenindex: Ein Ranking für OECD-Länder Daten und Prognosen André Kunkel Kreditklemme: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Christian Breuer Steuerschätzung: Keine Entspannung der Haushaltslage Im Blickpunkt Marc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt Kurz zum Klima: Energieverbrauch und Energieintensität Klaus Abberger ifo Konjunkturtest April 2010 ifo Schnelldienst 63. Jg., 18.–19. KW, 14. Mai 2010 9

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2010

Institut fürWirtschaftsforschungan der Universität München

Zur Diskussion gestelltViktor J. Vanberg, Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker,Wernhard Möschel, Peter Hampe, Hans-Werner SinnQ Was ist Neoliberalismus?

KommentarStefan DrewsQ Finanzierungssituation der deutschen Unternehmen:

Finanzierungsschwierigkeiten trotz Wirtschaftsaufschwung?

ForschungsergebnisseWolfgang Ochel und Anja RohwerQ Institutionenindex: Ein Ranking für OECD-Länder

Daten und PrognosenAndré KunkelQ Kreditklemme: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Christian BreuerQ Steuerschätzung: Keine Entspannung der Haushaltslage

Im BlickpunktMarc Gronwald, Janina Ketterer und Jana LippeltQ Kurz zum Klima: Energieverbrauch und Energieintensität

Klaus AbbergerQ ifo Konjunkturtest April 2010

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ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam,Dr. Gernot Nerb, Dr. Wolfgang Ochel.Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design.Satz: ifo Institut für Wirtschaftsforschung.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

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Ordnungstheorie – Ordnungspolitik: Was ist Neoliberalismus?

Der Begriff Neoliberalismus ist angesichts der Finanzkrise in Misskredit geraten.Aber was bedeutet eigentlich Neoliberalismus? Viktor J. Vanberg, Walter EuckenInstitut, Freiburg, definiert Ordnungstheorie als das wirtschafts- und rechtswis-senschaftliche Forschungsprogramm der Freiburger Schule und ihr verwandterDenkansätze, das das Augenmerk auf die Steuerungswirkungen richtet, die dierechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen auf die in ihnen stattfindenden wirt-schaftlichen Prozessabläufe ausüben. Ordnungspolitik ist der angewandte Zweigdieses Forschungsprogramms. Die ordoliberale Ordnungsökonomik richte ihrForschungsinteresse auf die Frage, wie die institutionellen Rahmenbedingungen,unter denen Individuen agieren und kooperieren, in einer Weise gestaltet werdenkönnen, die ihnen bestmögliche Aussichten biete, in wechselseitig kompatiblerFreiheit ihre eigenen Zwecke zu verfolgen. Für Wernhard Möschel, Universität Tü-bingen, ist eine marktwirtschaftliche Ordnung nicht denkbar ohne inhaltliche Nor-mierungen. Auch bei einem neoliberalen Ansatz bleibe Raum für ergänzende undfür korrigierende Politiken. Heiner Flassbeck, UNCTAD, und Friederike Spieckersehen dagegen den Neoliberalismus »mit seiner undifferenzierten Vorstellung, denStaat auf ein ordnungspolitisches Minimum zur Organisation des freien Wettbe-werbs auf freien Märkten zu reduzieren«, als gescheitert an. Der Wirtschaftspolitiksollte ein klares Primat gegenüber spekulationsanfälligen Märkten eingeräumtwerden. Peter Hampe, Technische Universität Dresden und Münchner Hoch-schule für Politik, betrachtet die Entstehungsgeschichte des Neoliberalismus underläutert die Differenz zwischen Neo- und Paleoliberalismus.Hans-Werner Sinn erklärt die Position des Neoliberalismus anhand eines Fußball-spiels: Gute Spieler und ein Ball allein sind noch keine Garantie für ein gelungenesSpiel. Damit das Spiel fair verläuft und nicht im Chaos endet, müssen feste Regelngelten, und ein Schiedsrichter muss darüber wachen, dass diese Regeln einge-halten werden.

Finanzierungssituation der deutschen Unternehmen: Finanzierungsschwierigkeiten trotz Wirtschaftsaufschwung?Stefan Drews

Umfrageergebnisse deuten seit einiger Zeit auf eine leichte Verbesserung in derKreditversorgung der Unternehmen hin. Indikatoren, wie die Eigenkapitalausstat-tung der Unternehmen und der Banken oder auch die Kreditausfallraten in denBüchern der Kreditinstitute, weisen dagegen noch nicht eindeutig darauf hin, dassdie Effekte der Finanz- und Wirtschaftskrise überwunden sind. Stefan Drews,Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, beleuchtet das auf den erstenBlick paradox erscheinende Ergebnis, dass viele Unternehmen gerade bei demjetzt anlaufenden Konjunkturaufschwung überhaupt erst in Finanzierungsschwie-rigkeiten geraten, und verdeutlicht, dass bei der jetzt zu führenden Diskussionüber einen geplanten Ausstieg aus den Krisenbekämpfungsmaßnahmen nicht zufrüh und überhastet eine Entwarnung auf der Finanzierungsseite gegeben werdensollte. Erst im Laufe des Jahres 2011 wird sich verlässlich zeigen, ob die erstenStabilisierungstendenzen robust genug sind, um für die Masse der deutschen Un-ternehmen auch in den nächsten Monaten genügend Kapital bereitzustellen.

Institutionen und Wachstum – ein Ranking für OECD-LänderWolfgang Ochel und Anja Rohwer

Für einzelne Länder ist es von Interesse zu erfahren, ob ihre institutionellen Rege-lungen Eigenschaften aufweisen, mit denen erfahrungsgemäß ein hohes Wachs-tum des Pro-Kopf-Einkommens erreicht werden kann. Eine solche Einschätzung

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Forschungsergebnisse

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kann mit dem Institutionenindex vorgenommen werden, der vom ifo Institut in Zu-sammenarbeit mit Theo Eicher, University of Washington, Seattle, entwickelt wor-den ist. Der Index liefert einen Maßstab, um die Qualität der Institutionen einesLandes zu bewerten. Für das Jahr 2009 wiesen die Veränderungen des Index ei-nen gleichläufigen Verlauf mit den Veränderungen des Pro-Kopf-Einkommens inden OECD-Ländern auf. Das heißt, zeitlich verzögerte und gemittelte institutionel-le Indikatoren eignen sich gut für die Vorhersage des Wirtschaftswachstums inden OECD-Ländern. Für den Anstieg des Institutionenindex und damit auch fürdas Wachstum der OECD-Länder insgesamt waren vor allem die Erhöhung derEffizienz des Humankapitals, Reformen der Arbeitsmärkte und strukturelle Anpas-sungen bei den Staatsausgaben verantwortlich.

Kreditklemme: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?André Kunkel

Ende April 2010 verbesserte sich nach den Angaben der vom ifo Institut befragtenUnternehmen zum vierten Mal in Folge die Kreditvergabe seitens der Banken. Beider Umfrage für die gewerbliche Wirtschaft meldeten noch 36,1% der Firmen ei-ne zurückhaltende Kreditvergabe. Dennoch ist die Situation für die Unternehmennoch nicht zufriedenstellend. Immerhin klagt noch über ein Drittel der Firmen dergewerblichen Wirtschaft über eine schleppende Kreditversorgung, und nur 6%sind mit der Kreditzuteilung zufrieden.

Steuerschätzung wie erwartet: Keine Entspannung der HaushaltslageChristian Breuer

Die 136. Sitzung des Arbeitskreises Steuerschätzungen hat die Prognose für dasGesamtsteueraufkommen abermals nach unten korrigiert. Steuersenkungen wer-den angesichts der angespannten Haushaltslage ausgeschlossen. Das preisbe-reinigte Steueraufkommen wird im gesamten Schätzzeitraum bis 2014 hinter demNiveau der Jahre 2007 und 2008 zurückbleiben. Die gesamtwirtschaftliche Steu-erquote sinkt bis ins Jahr 2011 und bleibt auch mittelfristig auf verhältnismäßigniedrigem Niveau.

Kurz zum Klima: Energieverbrauch und EnergieintensitätMarc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt

Der Beitrag beschreibt den Primärenergieverbrauch im Jahr 2007 und ver-wendet zwei Normierungsgrößen. Betrachtet werden der Energieverbrauch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt der Länder und der Pro-Kopf-Ener-gieverbrauch.

ifo Konjunkturtest April 2010 in KürzeKlaus Abberger

Das ifo Geschäftsklima für die gewerbliche Wirtschaft Deutschlands hat sich imApril erneut kräftig verbessert. Die Unternehmen sind mit ihrer momentanenGeschäftssituation erheblich zufriedener als bislang. Der Geschäftslageindika-tor ist damit bereits den zweiten Monat in Folge stark gestiegen. Auch hin-sichtlich des weiteren Geschäftsverlaufs in den nächsten sechs Monaten sinddie Befragungsteilnehmer erneut optimistischer als im Vormonat. Die deutscheWirtschaft schaltet einen Gang höher. Das ifo Beschäftigungsbarometer ist imApril erneut klar gestiegen. Die Aussichten für den Arbeitsmarkt in Deutschlandhaben sich verbessert.

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63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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Ordnungsökonomik alstheoretische und angewandte Wissenschaft

Wie in anderen Erfahrungswissenschaf-ten kann man auch in der Ökonomik zwi-schen einem theoretischen und einemangewandten Zweig unterscheiden. Ihrtheoretischer Zweig, die Wirtschaftstheo-rie, bemüht sich um die Erklärung vonWirkungszusammenhängen in dem sieinteressierenden Bereich »wirtschaftli-cher« Phänomene. Ihr angewandterZweig, insbesondere die theoretischeWirtschaftspolitik, bemüht sich darum,auf der Grundlage theoretischer und em-pirischer Erkenntnisse Empfehlungen fürdie Lösung realweltlicher Probleme zuentwickeln. Wie in jeder anderen Erfah-rungswissenschaft ist auch in der Öko-nomik der Beitrag, den ihr angewandterZweig zur Lösung praktischer Problemeleisten kann, ein wesentlicher Prüfsteinfür den empirischen Gehalt und die Er-klärungskraft ihres theoretischen Zwei-ges. Und wie jede andere angewandteWissenschaft muss sich auch die Wirt-schaftspolitik auf ein normatives Kriteri-um stützen, nach dem beurteilt wird, wasals Problem gilt, und an dem die Eignungvon Vorschlägen zur Problemlösung ge-messen werden kann – so wie etwa ei-ne Ingenieurwissenschaft als »angewand-te Physik« ihre Aussagen nur auf derGrundlage einer praktischen Problemstel-lung (etwa den Bau einer Brücke mit be-stimmter Belastbarkeit) und einem Be-wertungskriterium (wie technische Effi-zienz) machen kann. Nur in diesem Sin-ne, nämlich in der Bestimmung des Pro-blemhorizontes, in dem sie agiert, ist(theoretische) Wirtschaftspolitik »norma-tiv«. Das macht sie selbst jedoch nicht,wie es bisweilen missverständlich ausge-drückt wird, zu einer Werturteile fällenden»normativen« Ökonomik. Es bedeutet le-

diglich, dass der gewählte normativeMaßstab die Auswahl und das Verständ-nis der praktischen Probleme bestimmt,zu deren Lösung die Wirtschaftspolitik mitihren Aussagen einen Beitrag zu leistensucht, mit Aussagen, die nicht wenigerals die Aussagen der theoretischen Öko-nomik der empirischen Prüfung ausge-setzt sind.

Unter Ordnungstheorie versteht man tra-ditionell das wirtschafts- und rechtswissen-schaftliche Forschungsprogramm der Frei-burger Schule und ihr verwandter Denkan-sätze, das das Augenmerk auf die Steue-rungswirkungen richtet, die die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen aufdie in ihnen stattfindenden wirtschaftlichenProzessabläufe ausüben. Ordnungspoli-tik ist der angewandte Zweig dieses For-schungsprogramms, der sich darum be-müht, theoretisches und empirisches Wis-sen über die Zusammenhänge zwischenOrdnungsrahmen und Prozessabläufen inEmpfehlungen für die Lösung politischerGestaltungsprobleme umzusetzen. Das At-tribut »ordo-« oder »neoliberal«, das her-kömmlich mit dem ordnungspolitischenAnsatz verbunden wird, weist auf den nor-mativen Maßstab hin, der den Gestaltungs-empfehlungen zugrunde liegt. Dieser istganz allgemein ein für den klassischen Li-beralismus charakteristischer normativerIndividualismus, der die individuelle Freiheitzum Ausgangspunkt von Wertungennimmt und in sozialen Angelegenheiten dasals wünschenswert oder gerechtfertigt an-sieht, worauf sich die beteiligten Perso-nen in freiwilliger Übereinkunft verständi-gen können. Mit der Hinzufügung der Kom-ponente »ordo« oder »neo« soll ausge-drückt werden, dass der Liberalismus des ordnungspolitischen Forschungspro-gramms, im Unterschied zur Akzentuie-rung eines Laissez-faire-Liberalismus, aus-drücklich die notwendige Rolle des Staa-tes bei der Gestaltung und Durchsetzungeines – im Sinne des unterstellten norma-tiven Maßstabs – geeigneten Ordnungs-rahmens betont.

Was ist Neoliberalismus?Ordnungstheorie – Ordnungspolitik:

Der Begriff Neoliberalismus ist angesichts der Finanzkrise in Misskredit geraten. Aber was be-

deutet eigentlich Neoliberalismus?

Viktor J. Vanberg*

* Prof. Dr. Viktor J. Vanberg, em., leitet das WalterEucken Institut, Freiburg im Breisgau.

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Zur Diskussion gestellt

Im heutigen Alltagsdiskurs dient der Begriff des Neolibera-lismus vornehmlich als abwertendes Etikett, das man miss-liebigen Ordnungsvorstellungen anheftet, wenn man sie alsapriori diskussionsunwürdig diskreditieren möchte. DieserSprachgebrauch hat den Begriff des Neoliberalismus jegli-chen greifbaren Gehalts entleert und seinen Bezug zu demursprünglich mit ihm verbundenen Forschungsprogrammvöllig verdunkelt. Will man ihm einen seinen Ursprüngengemäßen Sinn wiedergeben, so wird man freilich feststel-len müssen, dass die mit ihm umschriebene Tradition wirt-schaftspolitischen Denkens in sich keineswegs homogenist. Dieser Tradition üblicherweise zugerechnete Autoren –prominent etwa Eucken, Böhm, Müller-Armack, Rüstow oderRöpke – teilten zwar gewisse Grundauffassungen, insbe-sondere die Überzeugung, dass die Politik sich in ihren Ge-staltungsambitionen auf Korrekturen und Anpassungen desallgemeinen Regelrahmens (eben auf Ordnungspolitik) be-schränken und interventionistischer Eingriffe in den Wirt-schaftsprozess enthalten solle. Sie vertraten zum Teil aberauch recht unterschiedliche Auffassungen von der adäqua-ten Interpretation des liberalen Wertmaßstabs und der dar-auf zu gründenden spezifischen ordnungspolitischen Emp-fehlungen. Dies dürfte auch nicht weiter verwunderlich sein,da das ordnungsökonomische Forschungsprogramm – sowie jedes andere Forschungsprogramm auch – in seinerWeiterentwicklung natürlicherweise Fragen aufwirft, für diees im Vorhinein keine eindeutigen Antworten bereithält, diees vielmehr erst im Verlauf des wissenschaftlichen Diskur-ses durch kritische Prüfung konkurrierender Hypothesenzu klären gilt. Um den in diesem Klärungsprozess erfolgtenPräzisierungen Rechnung zu tragen und die mit dem heu-tigen Alltagsgebrauch des Begriffs »Neoliberalismus« ver-bundenen Missverständnisse zu vermeiden, empfiehlt essich, von Ordoliberalismus zu sprechen, wenn man auf dendiesem Forschungsprogramm zugrunde liegenden norma-tiven Maßstab Bezug nimmt.

Entscheidend beeinflusst wurde das ordnungsökonomi-sche Forschungsprogramm durch F.A. Hayeks Neuformu-lierung der Grundprinzipien des klassischen Liberalismusund seine Argumente zur Bedeutung der Beschränkun-gen menschlichen Wissens und des Wettbewerbs als Ent-deckungsverfahren für Fragen der zweckmäßigen Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft. Hayeks Überlegungen zurDynamik kultureller Evolution und des Ordnungswettbe-werbs haben dabei insbesondere den Blick auf die Fragedes Zusammenspiels von planvoller Ordnungsgestaltungund spontaner Entwicklung gelenkt, eine Frage, zu der auchdie evolutorische Ökonomik wichtige Forschungsbeiträgeleistet. Deutliche Impulse erfuhr die Ordnungsökonomikschließlich in den vergangenen Jahrzehnten durch theore-tische Entwicklungen in der angelsächsischen Ökonomik,die – wenn auch ohne direkte Verbindung zur entsprechen-den deutschsprachigen Tradition – zu zentralen Fragen die-ses Forschungsprogramms wichtige Klärungen beigetra-

gen haben. Dazu gehören diverse Ansätze, die sich um ei-ne stärkere Berücksichtigung der in der Mainstream-Öko-nomik lange vernachlässigten institutionellen Dimensionwirtschaftlichen Geschehens bemühen, wie etwa die NewInstitutional Economics, die Property Rights Theorie oderdie Law and Economics Schule, Ansätze, die unser Wis-sen über die Wirkungseigenschaften unterschiedlicherrechtlicher Regelungen und institutioneller Arrangementsdeutlich vermehrt haben. Dazu gehört die Public ChoiceTheorie, die der ökonomischen Theorie marktlichen Ge-schehens eine mit ihren paradigmatischen Grundannah-men konsistente, bis dahin aber nur rudimentär vorhande-ne, ökonomische Theorie der Politik an die Seite gestellt hatund die damit ein besseres Verständnis der Umsetzungs-probleme ordnungspolitischer Empfehlungen vermittelt. Unddazu gehört vor allem die maßgeblich von James M. Buchanan beeinflusste Constitutional Economics, die inihrer theoretisch-methodologischen Ausrichtung wie auchin ihrem angewandten Zweig und dem ihr zugrunde lie-genden normativen Maßstab die größte Nähe zur ordoli-beralen Tradition aufweist. Moderne Ordnungsökonomikund -politik sind in diesem Sinne als ein Forschungspro-gramm zu verstehen, das diese Tradition mit relevanten Bei-trägen der genannten angelsächsischen Theorieentwick-lungen, insbesondere der Constitutional Economics, zueinem kohärenten Theorieansatz zu verbinden sucht.

Eine aus den genannten Quellen gespeiste ordo- (oder neo-)liberale Ordnungsökonomik steht eindeutig in der klas-sischen Smithschen Tradition wirtschaftswissenschaftlichenDenkens, unterscheidet sich jedoch in wichtigen Punkten vonder neoklassischen Orthodoxie, und zwar sowohl im theore-tischen wie auch im angewandten Zweig. Sie teilt mit ihr den– für die ökonomische Theorietradition generell charakteristi-schen – methodologischen Individualismus, kann sich abernicht mit dem neoklassischen Standardmodell eines homooeconomicus zufrieden geben, der von Entscheidungsfall zuEntscheidungsfall seine Nutzenfunktion maximiert, noch kannsie sich die generösen Abstraktionen hypothetischer Modell-welten erlauben, die der Befriedigung neoklassischer For-malisierungsambitionen dienen. Ihr Anspruch, zu realweltli-chen Ordnungsproblemen etwas sagen zu können, nötigt sie,den Besonderheiten konkreter institutioneller Regime Rech-nung zu tragen. Sie muss den Umstand ernst nehmen, dassdie diese Regime bevölkernden Individuen aufgrund ihrer ko-gnitiven Beschränkungen mit den Entscheidungsproblemen,denen sie in einer komplexen Welt gegenüberstehen, nurdadurch umgehen können, dass sie eben nicht als rationalkalkulierende homines oeconomici von Fall zu Fall ihren Nut-zen maximieren. Vielmehr sind die Akteure weitgehend dar-auf verwiesen, erlernte Regeln zu befolgen, deren »Rationa-lität« darin liegt, dass sie zu einem für bestimmte Problem-klassen typischerweise zweckmäßigen Verhalten anleiten. Dieserfordert, an die Stelle einer reinen Logik der rationalen Wahlerfahrungswissenschaftliche Verhaltensannahmen zu setzen

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Zur Diskussion gestellt

– wie dies F.A. Hayek bereits in seinem 1937 veröffentlichtenAufsatz »Economics and Knowledge« gefordert hat.

Analog zum methodologischen Individualismus, den dieOrdnungsökonomik in ihrem theoretischen Zweig mit derneoklassischen Orthodoxie teilt, sind beide in ihrem ange-wandten Zweig, der neoklassischen Wohlfahrtsökonomikeinerseits und der ordoliberalen Ordnungspolitik anderer-seits, einem normativen Individualismus verpflichtet in demSinne, dass beide die Wertungen der betroffenen Individu-en zum Ausgangspunkt der Bewertung kollektiver Arran-gements oder politischer Maßnahmen nehmen. Allerdingsbestehen auch hier grundlegende Unterschiede in der Artund Weise, in der dieses Bewertungskriterium in dem ei-nen und in dem anderen Kontext spezifiziert wird. So wiedas neoklassische Homo-oeconomicus-Modell Individuenauf Nutzenfunktionen reduziert, deren Maximierung untergegebenen Restriktionen als Erklärung beobachtbaren Ver-haltens dienen soll, so nimmt auch die Wohlfahrtsökono-mik auf Individuen nur als Träger von Nutzenwerten Be-zug, die die Ausgangsdaten für die Kalkulation der gesell-schaftlichen Nutzen- oder Wohlfahrtswerte liefern, nach de-nen politische Entscheidungsalternativen beurteilt werdensollen. Diese Variante des normativen Individualismus kannman als Nutzen-Individualismus bezeichnen, da er Indivi-duen lediglich als »Messstationen« für Nutzenwerte betrach-tet, die im politischen Entscheidungsprozess nicht mehr alsautonome Akteure befragt zu werden brauchen, wenn derWohlfahrtsökonom erst einmal, wie stillschweigend unter-stellt, über die Nutzendaten verfügt, die er für seine Berech-nungen benötigt.

Im Gegensatz dazu kann man den normativen Individua-lismus der ordoliberalen Ordnungsökonomik als Wahlhand-lungs- oder Entscheidungs-Individualismus kennzeichnen.Wie eingangs bereits angedeutet, werden Individuen hierals autonome Akteure betrachtet, aus deren freien Entschei-dungen gesellschaftliche Wertungen abgeleitet werden müs-sen und deren freiwillige Übereinkunft die letztendliche Quel-le ist, aus der institutionelle Arrangements und politischeMaßnahmen ihre Legitimation beziehen müssen. Der Un-terschied zwischen dem Nutzen-Individualismus der Wohl-fahrtsökonomik und dem Entscheidungs-Individualismusordoliberaler Ordnungsökonomik hat bedeutsame Konse-quenzen für die Ausrichtung, die er dem jeweiligen For-schungsprogramm gibt. Die Wohlfahrtsökonomik ist auf diekalkulatorische Frage konzentriert, wie die individuellen Nut-zenwerte zu ermitteln und angemessen zu einem gesamt-gesellschaftlichen Wohlfahrtsmaß zu aggregieren sind. Dieordoliberale Ordnungsökonomik richtet ihr Forschungsin-teresse auf die Frage, wie die institutionellen Rahmenbe-dingungen, unter denen Individuen agieren und kooperie-ren, in einer Weise gestaltet werden können, die ihnen best-mögliche Aussichten bietet, in wechselseitig kompatiblerFreiheit ihre eigenen Zwecke verfolgen und durch freiwilli-

ge Vereinbarungen wechselseitige Kooperationsgewinnerealisieren zu können. Der Markt wird aus dieser Perspek-tive als eine institutionell gesicherte Arena für freiwillige Zu-sammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil analysiert undnicht als der Wohlfahrtsmaximierungsmechanismus, als derer in neoklassischer Sicht erscheint. In entsprechender Wei-se wird »der Staat« als Arena kollektiver Entscheidungenunter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwieweit die institu-tionellen Rahmenbedingungen politischen Handelns dieAussichten begünstigen oder behindern, dass die gemein-samen Interessen der Mitglieder des staatlichen Verban-des, also der Bürger, zur Geltung kommen, statt als dieBlack-box-Agentur, von der die Wohlfahrtsökonomik dieUmsetzung der von ihr identifizierten wohlfahrtsfördern-den Eingriffe erwartet.

In den letzten Jahren ist im Zuge der Auseinandersetzungum die angemessene Ausrichtung wirtschaftswissenschaft-licher Ausbildung an unseren Universitäten eine Diskussi-on um die Frage in Gang gekommen, ob es überhaupt nocheinen sinnvollen Platz für Wirtschafts- und speziell Ord-nungspolitik als Lehrfach geben könne, da doch die Tradi-tion der Ordnungstheorie und -politik einen »deutschen Son-derweg« darstelle, der durch die moderne Entwicklung inder Ökonomik längst überholt, dessen Rückständigkeit imVergleich zur mathematisch und ökonometrisch hochge-rüsteten modernen Wirtschaftstheorie augenfällig und derzudem durch seine Verbindung zum Ordo- (oder Neo-)Li-beralismus ideologisch belastet sei. Wenn man den Ent-wicklungstrend des Faches, wie er sich in den einschlägi-gen Fachzeitschriften, den Beurteilungskriterien bei Beru-fungen, Habilitationen etc. niederschlägt, zugrunde legt, sohaben die Advokaten einer Verabschiedung von der Ord-nungsökonomik womöglich die stärkeren Regimenter hin-ter sich. Aber dies mindert in keiner Weise die faktische Be-deutung der Fragen, denen sich das oben skizzierte For-schungsprogramm einer modernen Ordnungsökonomikwidmet. Ob einer sich als empirische und anwendungsre-levante Wissenschaft verstehenden Ökonomik damit ge-dient ist, diese Fragen aus ihrem Untersuchungsbereichauszugrenzen, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Soll-ten diese Fragen aber thematisiert werden, so können dieVertreter der Ordnungsökonomik mit großer Gelassenheitdem Wettbewerb darum entgegensehen, wer dazu ge-haltvollere und für realweltliche Probleme relevantere Aus-sagen zu machen in der Lage ist.

Literatur

Ausführlichere Begründungen zu in diesem Beitrag skizzier-ten Argumenten finden sich in:

Vanberg, V.J. (2004). »The Rationality Postulate in Economics: Its Ambiguity, its Deficiency and its Evolutionary Alternative«, Journal of Economic Methodology 11, 1–29.

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Zur Diskussion gestellt

-,- (2005), »Market and state: the perspective of constitutional political economy«, Journal of Institutional Economics 1, 23–49.-,- (2008), »On the complementary of liberalism and democracy – a readingof F.A. Hayek and J.M. Buchanan«, Journal of Institutional Economics 4, 139–161.-,- (2008), »Markt und Staat in einer globalisierten Welt: Die ordnungsöko-nomische Perspektive«, ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaftund Gesellschaft 59, 3–29.

»The market is always right« Der Neoliberalismus verurteilt den Staat zur Ohnmacht und führt damit die Marktwirtschaft an den Abgrund

Wie sich die Zeiten ändern. Vor zwei Jahren noch wäre einSzenario wie das folgende für jeden neoliberal orientiertenÖkonomen auf der ganzen Welt ein unvorstellbarer Albtraumgewesen: Der Staat sieht sich praktisch über Nacht gezwun-gen, mit Milliardensummen in Märkte einzugreifen. Er rettetBanken vor dem Bankrott, in den sie sich selbst durch ris-kante Geschäfte manövriert haben, er versucht mit Konjunk-turprogrammen, die abstürzenden Gütermärkte zu stützen,er engagiert sich sogar kurzfristig auf dem Arbeitsmarkt, in-dem er weit über die sonst übliche Frist hinaus Sozialversi-cherungsbeiträge für Kurzarbeiter übernimmt, damit die Un-ternehmen ihre Beschäftigten als Reaktion auf die beispiel-lose wirtschaftliche Talfahrt nicht sofort entlassen.

Um das alles zu stemmen, nimmt der Staat eine massiveVerletzung der Verschuldungskriterien des Maastricht-Ver-trags auf Jahre hinaus in Kauf, Kriterien, an deren korrekterEinhaltung angeblich das langfristige Wohl und Wehe derVolkswirtschaft hängt. Zwar bemüht sich die Politik, diesenoffenkundigen Verstoß gegen ihre jahrelang proklamiertePrioritätenliste durch die eilige Verankerung einer Schul-denbremse im Grundgesetz wieder gut zu machen, dochbleibt der fatale Eindruck zurück, dass hier im Interesse kurz-fristiger Schadensbegrenzung gegen hehre ordnungstheo-retische Grundsätze verstoßen wird.

Der Albtraum ist Wirklichkeit geworden. Und schlimmer: erist bei weitem noch nicht zu Ende, wie man an den ver-

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Heiner Flassbeck* Friederike Spiecker**

* Dr. Heiner Flassbeck ist Chefvolkswirt der UNCTAD und Direktor der Ab-teilung Globalization and Development Strategies sowie Honorarprofes-sor an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik.

** Friederike Spiecker ist Diplom-Volkswirtin und freie Wirtschaftspubli-zistin.

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zweifelten und zweifelhaften Bemühungen der EWU-Staa-ten sehen kann, der seit Jahren absehbaren1 und nun aus-gebrochenen Eurokrise Herr zu werden, ohne sich an dieLösung des ihr zugrunde liegenden Problems zu machen.Jean-Claude Trichet, der Chef der Europäischen Zentral-bank (EZB), bekräftigte auf der Pressekonferenz der EZB am8. April mit den Sätzen »The market is always right. ... It isthe truth at that moment in time.«2, dass die neoliberaleMarktgläubigkeit trotz aller Kapriolen der Finanzmärkte wei-terhin fest verankert ist in den Köpfen der führenden Wirt-schaftspolitiker.

Das neoliberale Marktdogma

Das neoliberale Gedankengebäude räumt den Märkten oh-ne Rücksicht auf ihre spezifischen Bedingungen absolutePriorität vor staatlicher Einflussnahme ein, weil dem Preis-mechanismus eine systematische Objektivität in der Spie-gelung von Ressourcenknappheiten zugesprochen wird, dieder Staat in den Augen neoliberaler Ökonomen nie zustan-de bringen kann. Dementsprechend empfiehlt der Neolibe-ralismus, die Rolle des Staates in der Wirtschaft darauf zureduzieren, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die freienund fairen Wettbewerb auf freien Märkten gewährleisten. Aufdiesem Ansatz basierten alle Bemühungen zur Liberalisie-rung der Finanzmärkte seit der Jahrtausendwende, derenErgebnis wir heute in Form der größten Finanz- und Wirt-schaftskrise seit 80 Jahren erleben. Mögen viele wirtschafts-politische Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre demDruck der Ereignisse geschuldet sein, so wird es jetzt höchs-te Zeit zu diskutieren, welche Substanz die vorherrschendeWirtschaftstheorie für die Erklärung der Abläufe in der rea-len Welt hat.

Unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten muss der Maß-stab für eine brauchbare Wirtschaftstheorie sein, dass sichaus ihr eine Ordnungspolitik und gegebenenfalls weitereHandlungsfelder des Staates ableiten lassen, die nicht nurzu Schön-Wetter-Zeiten, sondern auch und gerade in Kri-senzeiten eine konsistente Wirtschaftspolitik ermöglichen.Einen Kompass braucht man in der Regel dann, wenn mansich auf unbekanntem Terrain bewegt. Das ist in Krisen im-mer der Fall, sonst wären sie keine. Welche Kerngedankendes Neoliberalismus werden auch zukünftig zu einem sol-chen Kompass gehören?

Reicht hoher Wettbewerb, damit Preise realwirtschaftliche Knappheiten anzeigen?

Die Grundidee des freien und fairen Wettbewerbs auf ei-nem einzelnen Markt ist, dass er einen Preismechanismus

in Gang setzt, der Angebot und Nachfrage in Einklang bringt.Dabei sorgt der Wettbewerb nicht nur für eine effiziente Res-sourcenverwendung, sondern setzt auch mittels vorüber-gehender Pionier-Monopolrenten Anreize für innovatives unddamit Produktivität und Wohlstand steigerndes Investitions-verhalten. Der Preismechanismus ist die Grundlage jeder er-folgreichen Marktwirtschaft und kann deshalb von keinemBefürworter dieses Wirtschaftssystems generell zur Dispo-sition gestellt werden, ob er sich nun als neoliberal betrach-tet oder irgendeiner anderen »Schule« der marktwirtschaft-lichen Theorie zurechnet. Die beiden interessanten Fragensind, unter welchen Voraussetzungen Wettbewerb frei undfair ist und ob diese Voraussetzungen bereits hinreichenddafür sind, dass der Preismechanismus so funktioniert wieerhofft.

Zur ersten Frage gibt es eine Vielfalt wissenschaftlicher Ar-beiten, die Monopol-, Monopson- und Kartellstrukturen undihre Kontrolle behandeln. Jeder Verfechter der Marktwirt-schaft muss privatwirtschaftliche Machtpositionen ableh-nen, weil sie einem freien und fairen Wettbewerb im Wegestehen. Insofern nimmt es Wunder, weshalb in der durch dieFinanzkrise ausgelösten Debatte um die maximal zulässigeGröße von Banken und anderen Finanzinstituten (Stichwort»too big to fail«) gerade die Vertreter ansonsten neolibera-ler Auffassungen so zurückhaltend reagieren. Hier wird sichmit dem Hinweis auf die internationale Konkurrenzfähigkeitheimischer Finanzinstitute vor einer klaren Ablehnung kar-tellartiger Strukturen gedrückt.

Wichtiger jedoch, weil grundlegender und wegweisenderfür die Verhinderung von Finanzkrisen, ist die zweite Fra-ge: Leisten Preise eine optimale Steuerung von Angebotund Nachfrage schon dann, wenn freier und fairer Wett-bewerb gewährleistet ist? Preise sollten zu jedem Zeitpunktrealwirtschaftliche Knappheiten ausdrücken. Die signali-sieren sie aber nur, wenn auf atomistischen Märkten An-bieter und Nachfrager mit voneinander völlig unabhängi-gen Informationen aufeinander treffen. Das heißt, jederMarktteilnehmer kommt mit seinen individuellen Vorstel-lungen über das, was er heute kaufen oder verkaufen will,an den Markt, wo sich daraus der Marktpreis bildet. Ha-ben fast alle Teilnehmer eines Marktes hingegen identischeoder zumindest ähnliche Informationen und reagieren siebei einer Änderung der Informationslage in ähnlicher Wei-se, führt das dazu, dass Preisveränderungen auf solchenMärkten – egal ob ihr auslösendes Moment realer Naturoder lediglich durch Gerüchte bedingt ist – in der Regelselbst verstärkend wirken.3 Rennen alle in die gleiche Rich-tung, erreichen sie – im Sinne einer sich selbst erfüllenden

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1 Vgl. Flassbeck (1997); Flassbeck und Spiecker (2005).2 http://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2010/html/is100408.en.html.

3 Das gilt auch dann, wenn viele Anbieter und Nachfrager am Markt aufein-ander treffen, der Markt also atomistisch und insofern unter Wettbewerbs-gesichtspunkten »lupenrein« ist. Noch stärker wird dieser Effekt allerdings,wenn einige große »Spieler« durch ihre schiere Marktmacht solche Trendsinitiieren können, auf die die kleineren Marktteilnehmer dann aufspringen.

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Prognose – durch ihr Herdenverhalten genau das erwar-tete Ergebnis. Das Verhalten der Marktteilnehmer ist da-bei durchaus nicht irrational, denn es kann sehr wohl sinn-voll sein, auf einen spekulativen Preistrend zu setzen, auchwenn man dessen langfristige Unhaltbarkeit klar erkennt.Denn es kommt nur darauf an, dass man selbst sein En-gagement in dem betroffenen Markt »rechtzeitig« beendet,also aus dem Markt aussteigt, bevor die spekulative Preis-blase platzt.

Diese Zusammenhänge haben enorme Konsequenzen fürdie Ordnungstheorie. Sie bedeuten nämlich, dass Preise,die auf Märkten bestimmt oder von Märkten beeinflusstwerden, auf denen fast alle Teilnehmer durch ähnliche In-formationen miteinander verbunden sind, für lange Zeit kei-ne realwirtschaftlichen Knappheiten anzeigen müssen. Sol-che Märkte sind oft über Jahre hinweg spekulationsge-trieben. Zwar brechen die Spekulationen irgendwann insich zusammen und führen dann zu unterschießendenPreisreaktionen. Aber die Phase der Entstehung solcherPreisblasen wie auch die Phase nach ihrem Platzen sindgekennzeichnet von verzerrten, eben falschen Preisen aufdiesen Märkten – mit allen Rückwirkungen auf die restli-chen Märkte.

Finanzmärkte funktionieren anders

Auf welchen Märkten gibt es für alle Marktteilnehmer prak-tisch identische Informationen, ja sogar weitgehend glei-che und gleichzeitige Informationsverarbeitung und -ge-schwindigkeit? Auf den Finanzmärkten! Das wäre unpro-blematisch, stellten die Finanzmärkte eine Welt für sich dar.Dann könnten die Marktteilnehmer dort in einem immer-währenden Nullsummenspiel auf Trends setzen und ge-winnen oder verlieren wie im Kasino. Wichtig wäre ledig-lich, dass jeder Marktteilnehmer seine Wettspiele mit 100%Eigenkapital ausführen müsste, für derartige Spielereien al-so keine Kredite aufnehmen dürfte. Denn weil Nullsum-menspiele für alle Teilnehmer insgesamt betrachtet keineErträge abwerfen, können aus ihnen heraus auch keineZinsen bezahlt werden, ohne dass jemand pleite geht. Dadas Kreditwesen einerseits im wahrsten Sinne des Wor-tes von der Glaubwürdigkeit der Kreditnehmer lebt und an-dererseits der Realwirtschaft dienen soll, darf es nicht durchden Bankrott von Kasinospielern so in Verruf gebracht undan den Rand der Illiquidität manövriert werden, dass diemonetären Bedürfnisse der Realwirtschaft nicht mehr be-dient werden können.

Doch eine 100%ige Eigenkapitalhaftung für Wettspiele al-lein löst das Problem freier Finanzmärkte nicht.4 Denn in

Wirklichkeit stellen die Finanzmärkte gerade kein isolier-tes Kasino dar, wird auf ihnen nicht mit Spielgeld agiert undwerden keine Preise auf fiktiven Märkten wie bei einem Mo-nopoly-Spiel bestimmt. Denn die Finanzmärkte haben re-alwirtschaftliche Märkte zum Gegenstand: Immobilienmärk-te, Rohstoffmärkte, Märkte für ganze Unternehmen (Ak-tienmärkte) und solche für ganze Volkswirtschaften (Devi-senmärkte). Das ist so, weil auf Finanzmärkten mit der Wa-re »Geld« im weitesten Sinne gehandelt wird. Geld seiner-seits ist aber das Spiegelbild der vorhandenen realwirt-schaftlichen Größen. Die Anbindung der Finanzmärkte andie Realwirtschaft ist eben eine conditio sine qua non fürdie Existenz der Finanzwelt. Zwar ist jede arbeitsteilige,technischen Fortschritt generierende Realwirtschaft auchauf bestimmte Einrichtungen der Finanzwirtschaft ange-wiesen. Aber die Realwirtschaft kann nicht per se, also ein-fach durch das freie Schalten und Walten der Marktkräf-te, Macht über die Finanzwelt gewinnen, wie das umge-kehrt sehr wohl der Fall ist. Denn alle in der Realwirtschaftablaufenden Transaktionen haben eine güterwirtschaftli-che Komponente, d.h. neben dem Finanzstrom findet einRealtausch statt, der nicht durch Herden von Marktteilneh-mern beliebig oft nachgeahmt werden kann wie bei reinenFinanztransaktionen.

Die auf freien, d.h. unkontrollierten Finanzmärkten syste-matisch auftretenden Preisverzerrungen spielen für die Re-alwirtschaft eine verheerende Rolle. Sie zerstören die für ei-ne erfolgreiche Marktwirtschaft lebensnotwendige realwirt-schaftliche Signalfunktion von Preisen, weil nicht mehr zujedem Zeitpunkt realwirtschaftliche Knappheiten angezeigtwerden. Auf diesem Wege kommt es zu massiver Fehlal-lokation von Ressourcen durch eben die Marktkräfte, dieauf »normalen« Märkten gerade für Effizienz und Innovati-on sorgen.

Durch Spekulation verzerrte Preise schaden derRealwirtschaft

Auf den Finanzmärkten lässt sich durch Preisverzerrun-gen vorübergehend enorm viel Geld verdienen, obwohlkeine tatsächlichen Werte geschaffen werden. Wenn sichHerden von Zockern auf ein bestimmtes Papier stürzenund dadurch den Preis dieses Papiers nach oben trei-ben, ist noch kein einziger realer Wert geschaffen wor-den. Es ist nur die Illusion eines Wertes entstanden. Wennes den professionellen Zockern gelingt, rechtzeitig vomfahrenden Zug abzuspringen, d.h. das Papier an »düm-mere« Marktteilnehmer zu verkaufen, haben sie unglaub-liche Summen in kurzer Zeit in ihre Taschen gesteckt. DieFrage, wer die Zeche bezahlt, wenn sich herausstellt,dass die Preisentwicklung mit den sog. Fundamental-daten der realen Welt nichts mehr zu tun hat, interes-siert sie nicht.

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4 Dieses Argument geht über das praktische Problem, Wettspiele zu iden-tifizieren, weit hinaus.

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Das Argument, niemand sei gezwungen, an solch einemSchneeballsystem teilzunehmen, und daher genüge einehohe Eigenkapitalquote, um derartige Geschäfte nicht aus-ufern und die Finanzwelt destabilisieren zu lassen, igno-riert die Tatsache, dass es sehr wohl Wirtschaftsakteuregibt, die ihre Teilnahme an von Spekulationsattacken be-troffenen Märkten nicht zur Disposition stellen können.Ein armer Reiskonsument, der buchstäblich von der Handin den Mund lebt, kann seinen Reisbedarf weder antizy-klisch decken noch auf andere Märkte ausweichen. Er mussalle spekulativen Preisbewegungen am Reismarkt Tag fürTag mitmachen, die ihn in den Hunger und im Extremfallauch in den Tod treiben können. Ihm ist nicht damit ge-holfen, dass eines Tages ein Spekulant am Ende derSchneeballkette pleite geht. Der lapidare Hinweis, steigen-de Preise regten das Angebot an und führten so automa-tisch zu einer Dämpfung der Preisentwicklung, Spekulati-on beschleunige also nur die Beseitigung realwirtschaftli-cher Knappheiten, ist menschenverachtend. Denn nichteinmal das Versprechen der Anregung realwirtschaftlichenAngebots kann der Neoliberalismus einlösen: Ist die Preis-blase am Reismarkt erst einmal geplatzt, sind alle Klein-bauern, die sich auf den Preistrend verlassen, ihre An-bauflächen ausgedehnt und dafür in Geräte und teuresSaatgut investiert haben, ruiniert, weil sie dank unterschie-ßender Preise ihre Ernte nicht einmal zum Einkaufspreisdes Saatgutes verkaufen können. In der Folge sinkt dasReisangebot sogar.

Aber auch nicht so lebensbedrohlich direkt den Spekulati-onskräften ausgelieferte Marktakteure leiden unter denPreisverzerrungen, die die freien Finanzmärkte produzieren:Jeder im Außenhandel tätige Unternehmer muss zu Trans-aktionszwecken am Devisenmarkt direkt oder indirekt z.B.über seine Bank teilnehmen. Zwar kann er seine Geschäf-te gegen Wechselkursschwankungen absichern. Doch kos-tet ihn das Geld. Außerdem muss er feststellen, dass sei-ne realwirtschaftlichen Bemühungen trotz Risikobereitschaftweniger rentierlich sind als die kurzfristigen Zinsarbitrage-Geschäfte, die etwa carry trader unternehmen. Selbst wenner sich aus Gründen der Vorsicht, Moral oder Unkenntnistrotzdem nicht auf Devisenspekulationsgeschäfte einlässt,trägt er an den Folgen der Preisverzerrungen auf den De-visenmärkten mit: Seine Absatzmöglichkeiten in Ländernmit unterbewerteter Währung sind schlechter, aus Län-dern mit überbewerteter Währung importierte Vorleistungs-güter sind teurer, und bei Kreditbedarf können seine Pro-jekte nicht mit den Renditen der Spekulationsgeschäfte mit-halten. Daher findet der Unternehmer bereits beim Aufbauspekulativer Preisblasen schwerer Kreditgeber bzw. mussschlechtere Kreditkonditionen hinnehmen; erst recht ver-schlechtern sich die Finanzierungsbedingungen, wenn dasFinanzsystem beim Zusammenbruch spekulativer Preisbla-sen ins Wanken gerät und sich die klammen Banken beiKreditanfragen extrem risikoavers verhalten.

Die Eurokrise – jüngstes Beispiel für die Auswüchse des Neoliberalismus

Ein aktuelles Beispiel für die immensen Schäden, die neo-liberale Marktgläubigkeit anrichtet, ist die Eurokrise. In dergesamten aberwitzigen Diskussion um einen Staatsbank-rott Griechenlands hat es Europa nicht geschafft, das Pro-blem vor dem Hintergrund der Andersartigkeit der Finanz-märkte im Vergleich zu allen übrigen Märkten ruhig undsachlich zu diskutieren. Zwischenzeitlich hatte man sogareinen »Plan« in die Welt gesetzt, der wiederum den Her-den an den Finanzmärkten sehr viel Gewinn versprochenhätte. Deutschland war es wohl, das sich lange geweigerthatte zuzugestehen, dass Griechenland keine »Marktzin-sen« zahlen kann. Dass »Marktzinsen« die Zinsen sind, dievon den Herden selbst, von den Ratingagenturen und dermedialen Hetze gegen Griechenland gemacht werden, woll-te man nicht zur Kenntnis nehmen. »Marktzinsen« sugge-rieren, hier hätten sich Angebot und Nachfrage objektiv ge-troffen und zum »richtigen« Preis geführt. Dass man andiesen Märkten den Preis durch gezielte Informationen ma-nipulieren und in eine bestimmte Richtung drängen kann,will die Politik nicht wahr haben, weil sie auf die »Objektivi-tät« der Märkte fixiert ist.

Es steht zu befürchten, dass sich die Unkenrufe der Geg-ner der finanziellen Unterstützung Griechenlands, der deut-sche Steuerzahler werde von seinem Geld nichts wieder-sehen, weil es keinen Sinn habe, sich gegen die Markt-kräfte zu stemmen, bewahrheiten werden, wenn auch auseinem ganz anderen Grund, als ihn die Skeptiker anfüh-ren. Diese meinen ja entweder, dass Griechenland nichtsparsam genug sein werde, oder – etwas weitsichtiger –,dass die geplanten Sparorgien, wenn umgesetzt, eine sostarke Depression in Griechenland auslösen werden, dassan ein Begleichen der Staatsschulden mangels Steuerein-nahmen auf Jahre hinaus nicht zu denken sei. Jedoch wirddie eigentliche Ursache für die außenwirtschaftliche Über-schuldung Griechenlands wie die anderer südeuropäischerLänder nicht sinnvoll angegangen, nämlich das lohnbeding-te Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit der Län-der der Eurozone. Denn der Versuch der Defizitländer, dieWettbewerbslücke durch deflationäres Abwürgen der Kon-junktur zu schließen, wird nicht nur ein Herauswachsen ausden Schuldenbergen verhindern, sondern die seit Jahrenvon Deutschland betriebene Lohndeflationspolitik auch nochbefeuern. Damit setzt ein Hase-Igel-Wettlauf innerhalbEuropas ein, bei dem keiner gewinnen kann, auch der IgelDeutschland nicht. Letzten Endes wird die von Deutsch-land durchgesetzte Spar- und Deflationspolitik dazu führen,dass ganz Europa in Depression versinken und sich mit denWährungsräumen der großen Weltwährungen – Yen, Dol-lar und Renminbi – einen Abwertungswettlauf liefern wird,bei dem ebenfalls niemand gewinnen kann, aber alle ver-lieren werden.

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Kompass aus der Krise

Wie muss ein wirtschaftspolitischer Kompass aussehen, deruns aus dieser Misere heraushilft? Gibt es theoriegeleiteteund praktisch umsetzbare Wege, das Phänomen der durchFinanzmärkte verzerrten Preise abzustellen? Der Neolibe-ralismus weiß hier keinen Rat, da er den Glauben an die Rich-tigkeit der Preisbildung auf freien Märkten über alles stellt.Er räumt zwar ein, dass es spekulative Entwicklungen gibt,aber ihm genügt ihre langfristige Korrektur, auch wenn siekrisenhafte Züge tragen sollte. Das kann für Menschen, dieunter diesen Krisen leiden, obwohl sie sie nicht verursachthaben, keine zumutbare Antwort sein. Wären die unbestreit-baren Errungenschaften der Marktwirtschaft nur um denPreis immer wieder auftretender massiver Krisen mit all ih-ren ungerechten, ja inhumanen Verteilungsfolgen zu ha-ben, könnte sich keine Demokratie der Welt ein solches Wirt-schaftssystem auf Dauer leisten.

Die Alternative zum ohnmächtigen neoliberalen Marktdog-ma besteht in einer sorgfältigen Analyse, wie spekulativePreisentwicklungen von realwirtschaftlich bedingten unter-schieden und abgestellt werden können. Die hohe Korrela-tion täglicher Preisbewegungen auf Märkten, die in keinerrealwirtschaftlichen Beziehung zueinander stehen, stellt ei-nen ersten zuverlässigen Indikator für spekulative, alleinvon Finanzakteuren hervorgerufene Preisentwicklungen dar(vgl. Flassbeck und Boffa 2010). Da der Staat über die glei-chen exogenen Informationen verfügt wie Finanzspekulan-ten, kann er sich über die Angemessenheit einer Preisent-wicklung auf einem von Spekulation dominierten Markt einUrteil erlauben, das nicht systematisch »dümmer« und da-mit schädlicher ist als das Ergebnis, das ein unkontrollierterMarkt zustande bringt. Das gilt vor allem für Devisenmärk-te. Hier lädt das »freie Spiel« der Marktkräfte zu Zinsarbitra-gegeschäften ein, die Währungen wie etwa die isländischeKrone oder den ungarischen Forint über Jahre hinweg ein-deutig in die falsche Richtung treiben, weil sie zu Aufwertun-gen der Währungen von Hochinflationsländern führen. Da-mit werden die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaftenund die Wirkungen des gesamten internationalen Handels-systems massiv verzerrt. Hier ist die Lösung einfach: Mankann diesen Teil des Finanzkasinos austrocknen, indem einWeltwährungssystem installiert wird, das man strikt an derRegel möglichst konstanter realer Wechselkurse ausrichtet(vgl. UNCTAD 2009).

Viele Finanzprodukte leisten keinerlei produktiven volks-wirtschaftlichen Beitrag. Ihre Existenz wird normalerweisedamit begründet, dass behauptet wird, nur so könnten un-terschiedliche Risiken hinreichend durchmischt und jedemFinanzinvestor der ihm gemäße Mix an Risiko und Renditeangeboten werden. Jedem Finanzinvestor steht es aber frei,durch unterschiedlich hohe direkte Beteiligung an unter-schiedlich riskanten Sachinvestitionsprojekten seine Anla-

gestrategie zu optimieren. Dazu bedarf es nicht des Um-wegs über undurchsichtige Finanzprodukte, die das Finanz-system destabilisieren, weil sie unabhängig von ihrer Versi-cherungsfunktion wegen kurzfristiger Wertänderungen spe-kulativ gehandelt werden. Ihrer Abschaffung stehen keiner-lei ordnungspolitische Bedenken im Wege.

Komplexer ist die Kontrolle der Rohstoffpreisspekulation,aber gerade auf den Lebensmittelrohstoffmärkten ist sie vonzentraler Bedeutung für die Akzeptanz des marktwirtschaft-lichen Systems in ärmeren Ländern. Eine systematische Un-terscheidung in »commercial« und »non-commercial trader«,wie vom amerikanischen Parlament vorgeschlagen, wärehier ein erster Schritt in die richtige Richtung. Antizyklischekonzertierte Nachfragepolitik der Staatengemeinschaft zurStabilisierung von Preistrends ist aber der auf Dauer erfolg-versprechendste Weg.

Der Neoliberalismus ist mit seiner undifferenzierten Vorstel-lung, den Staat auf ein ordnungspolitisches Minimum zurOrganisation des freien Wettbewerbs auf freien Märkten zureduzieren, grandios gescheitert. Dennoch scheint die Zeitnicht reif, die Krise noch nicht heftig genug gewesen zu sein,um – dem neoliberalem Zeitgeist zum Trotz – der Wirtschafts-politik ein klares Primat gegenüber spekulationsanfälligenMärkten einzuräumen und die Finanzwirtschaft konsequentauf ihre der Realwirtschaft dienende Funktion zu begrenzen.Die Marktgläubigkeit hat, wie etwa im Fall der Eurokrise zubeobachten, schon wieder eingesetzt, noch ehe die Zecheauch nur annährend berechnet, geschweige denn bezahltwäre, die dieser Irrglaube in Form der Finanz- und Wirt-schaftskrise angerichtet hat.

Literatur

Flassbeck, H. (1997), »Und die Spielregeln für die Lohnpolitik? – Über Ar-beitnehmereinkommen und Wettbewerbsvorsprünge einer Volkswirtschaft inder Europäischen Union«, Frankfurter Rundschau, 31. Oktober.Flassbeck, H. und S. Boffa (2010), »The Wisdom of the Herd«, Swiss Deri-vatives Review (42), Spring, 28–30. Flassbeck, H. und F. Spiecker (2005), »Die deutsche Lohnpolitik sprengt dieEuropäische Währungsunion«, WSI-Mitteilungen 12.UNCTAD (2009), Trade and Development Report 2009, UNCTAD, Genf 2009.

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Neoliberalismus

Der Begriff Neoliberalismus wurde in den dreißiger Jahrendes vorigen Jahrhunderts geprägt. Er sollte gegenüber demPaläoliberalismus abgrenzen. Heute wird die Bezeichnungeher als politischer Kampfbegriff gebraucht. In der Sachedeckt er sich weitgehend mit dem Terminus »Soziale Markt-wirtschaft«. Diese hatte zwar – nach einem Bonmot von Ar-min Gutowski – von Anfang an ein Problem, nämlich ihr Ad-jektiv. Doch wies dieses im Gegensatz zu Laissez-faire-Ansätzen auf eine Rolle hin, welche einem Staat, gegebe-nenfalls einem starken Staat, zukommen sollte. In diesemSpannungsverhältnis ist der Begriff Neoliberalismus ange-siedelt.

Strukturmerkmale einer liberalen Wirtschaftsordnung

Eine liberale Wirtschaftsordnung lässt sich am einfachstenin Kategorien der Entscheidungstheorie kennzeichnen (vgl.Möschel 1975; Wissenschaftlicher Beirat 2010). Entschei-dungsträger sind die Einzelnen. Es gibt keinen kollektivenFunktionszuweiser von außen, etwa den Staat. Die Entschei-dungsgegenstände sind beliebig. Die in solcher Ordnung le-benden Menschen können einander entgegengesetzte Zwe-cke anstreben. Niemand fragt dabei nach ihrer Gesinnung.Das Entscheidungsverfahren ist der Vertrag, das friedlicheSich-einigen mit betroffenen Dritten. Wie bei solchen Vorga-ben eine Ordnung im Gegensatz zum Chaos entstehen kann,war bekanntlich die Frage der englischen Klassiker, und siefanden auch die grundsätzliche Antwort, nämlich den Markt.In dieser spontanen Ordnung koordinieren die Teilnehmerihre Tätigkeiten dezentral in Lieferung und Erhalt von Infor-mationen durch wechselseitige Anpassung. Bereits die Art

ihres Zustandekommens legitimiert dabei die Ergebnisse. Inden lapidaren Worten Olaf Sieverts: »Was von selbst ge-schieht, ist vorteilhaft. Was vorteilhaft ist, geschieht vonselbst« (Deregulierungskommission 1991, Tz 5). Dies ist nichtnur eine Frage der Systemlogik. Dahinter verbirgt sich derGegensatz zwischen interventionistischen Einflussnahmenund normativ-funktionalen Methoden bzw. Spielregeln. Dementspricht ein Gegensatz zwischen vertragstheoretischenund utilitaristischen Auffassungen von Recht und Gerech-tigkeit, der sich wiederum im Gegensatz von klassischerbzw. neoklassischer Wirtschaftstheorie einerseits und derreinen Wohlfahrtstheorie andererseits widerspiegelt (vgl.Mestmäcker 1975, 416 f.).

Werturteile

Eine Präferenz für eine in diesem Sinne neoliberale Wirt-schaftsordnung beruht auf Werturteilen. Sie lassen sich sys-tematisieren (vgl. Möschel 1974, 10 f.; 1975, 13 f.):

– Handlungsfreiheit im Bereich des Ökonomischen ist einwesentlicher Teil der Freiheit des Individuums schlechthin(Freiheitsargument). Die Gewährung wirtschaftlicher Frei-heitsrechte lässt sich dabei nicht in der Dimension einesVerzichts aus der Sicht des Staates erfassen, sie werdenauch nicht in eine Sphäre des Vorrechtlichen entlassen (vgl.Mestmäcker 1975, 411 f.). Solche Handlungsfreiheit spie-gelt sich in Grundrechten der Verfassung (allgemeine Hand-lungsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgewährleistung, In-vestitionsfreiheit, Freiheit zur Verbandsbildung). Die Funk-tionszusammenhänge zwischen diesen Grundrechten sindunbestritten. Die missverständliche Redeweise des Bun-desverfassungsgerichts, das Grundgesetz gewährleistekeine bestimmte Wirtschaftsordnung, besagt nur, es gibt– anders als in der Weimarer Reichsverfassung – keine ei-gene Prüfungskategorie der Wirtschaftsordnung. Das Ge-richt prüft hoheitliche Maßnahmen auf ihre Verfassungs-mäßigkeit hin vielmehr direkt anhand der einzelnen Grund-rechte (vgl. BVerfG 1954).

– Eine dezentral und nichtautoritär sich im Wettbewerb ko-ordinierende Wirtschaftsordnung führt allgemein zu öko-nomischen Ergebnissen, die überwiegend als positiv be-wertet werden (Allokationseffizienz, Wachstum, Induzie-rung und Entfaltung des technischen Fortschritts). Diesist das Effizienzargument. Als unverfänglicher Beobach-ter sei insoweit Karl Marx zitiert: »Erst sie (sc. die Bour-geoisie) hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschenzustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwer-ke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Was-serleitungen und gotische Kathedralen… Die Bourgeoi-sie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produkti-onsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kom-munikationen alle, auch die barbarischsten Nationen indie Zivilisation« (Marx und Engels 1969, 26, 28).

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* Prof. Dr. Wernhard Möschel ist emeritierter Ordinarius für Wirtschafts-recht an der Universität Tübingen.

Wernhard Möschel*

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– Die Überantwortung wirtschaftlicher Austauschvorgän-ge in den Bereich der Gesellschaft vermag einen wesent-lichen Beitrag zu einer Art Gewaltenteilung in einem Ge-meinwesen darzustellen. Die Chance, auf diese Weiseökonomische Macht zu dezentralisieren und mit den Mit-teln des Rechts zu bändigen, erscheint höher, als wennsich zentrale politische Macht und zentralisierte ökono-mische Macht vereinigen (vgl. Mestmäcker 1973, 191 f.).Die marxistische These, dass die Akkumulation privaterökonomischer Macht zu einer Usurpation politischerMacht führe, gilt nicht weniger für den Staat selbst.

– Schließlich werden auf diese Weise die Konfliktlösungs-mechanismen zwischen den Individuen dezentralisiert(Rechtsstaatsargument). Ein System inhaltlich konkreti-sierbarer subjektiver Rechte – Beispiel Privateigentum –wird ermöglicht und zugleich abstrakt-genereller Rege-lung zugänglich. Zwischen rechtlich gebundener Markt-wirtschaft und Rechtsstaat besteht eine strukturelle Kom-plementarität (vgl. Mestmäcker 1975, 416 f.).

Funktionsbedingungen

Schon im theoretischen Ansatz ist eine marktwirtschaftli-che Ordnung nicht denkbar ohne inhaltliche Normierun-gen. Dafür kommen neben Public Ordering auch Private Ordering und Mischformen von beiden in Betracht. Dochliegt das Schwergewicht bei staatlicher Setzung von Rah-menbedingungen. Das gilt unbestritten für die Gewährleis-tung und Anpassung der formalen Spielregeln, nach denensich die inhaltlich unbestimmten Einzelpläne koordinierenkönnen. Die Deregulierungskommission spricht von »kons-titutiven Regulierungen« (Deregulierungskommission 1991, Tz 4). Hierher gehören Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit, ei-ne Rechtsordnung, die subjektive Rechte anerkennt undihre Verwirklichung ermöglicht. Eigentum an Produktions-mitteln ist ein Teilaspekt der Gewerbefreiheit selbst, ermög-licht Zielautonomie der Unternehmen gegenüber dem Staatund ist in der darin eingeschlossenen Anreizfunktion mitder Möglichkeit zugeordneter Gewinne und Verluste ein Ins-trument zur Deckung von Entscheidungszuständigkeit undVerantwortung (vgl. Möschel 1975, 7). Weitere zentrale Funk-tionsbedingung ist die Erhaltung der Teilnahmefreiheit derEinzelnen, der Versuch, das Ordnungssystem vor endoge-nen Pervertierungen zu schützen. Marktteilnehmer verlas-sen die Legitimationsbasis ihrer Freiheitsrechte, wenn dieWirkungen ihres freien Handelns die Funktionsbedingungender Freiheitsrechte zerstören. Das ist das Problem zu gro-ßer privater wirtschaftlicher Macht und die bislang nur be-grenzt gelöste Aufgabe des Rechts der Wettbewerbsbe-schränkungen, die Entstehung solcher Machtstellungen zuverhindern bzw. sie in Rechtsregeln zu bändigen. Dabei han-delt es sich um Maß- und Gradfragen. Schneidige Antwor-ten sind selten am Platze. Die Schwierigkeiten liegen imGegenstand selbst. Versuche, hier Antworten zu finden un-

ter direkter Anknüpfung an beobachtbare Marktergebnisse(more economic approach), missachten diese Zusammen-hänge. Nach welchem Maßstab auch immer als »gut«be-wertete Marktergebnisse erlauben keinen Rückschluss auffunktionierenden Wettbewerb. Sie können auch bei Vorhan-densein von Wettbewerbsbeschränkungen entstanden sein.Das Werturteil eines Betrachters hinsichtlich »guter« Markt-ergebnisse gibt nur die Präferenz des Betrachters für diesichtbare Realität wieder im Unterschied zu den prinzipiellunbekannten Ergebnissen wettbewerblicher Prozesse.

Ergänzende und korrigierende Politiken

Eine solche Perspektive ermöglicht es, staatliche Maßnah-men auf einen ordnungspolitischen Prüfstand zu nehmen,ob Konformität, Neutralität, Beeinträchtigung oder gar Zer-störung im Hinblick auf einen allgemeineren Ordnungsrah-men vorliegen. Sie erzwingt indes nicht die Entscheidungvon Zielkonflikten in einer bestimmten Richtung. Auch beieinem neoliberalen Ansatz bleibt Raum für ergänzende undfür korrigierende Politiken. Für Ersteres steht ein bekannterDreiklang aus Wohlfahrtsökonomik, Stabilitätspolitik und Ver-teilungspolitik (vgl. Möschel 1988, 891 f.). Auf wohlfahrts-ökonomischer Ebene ist an die Sachverhalte des natürlichenMonopols, zum Beispiel bei der leitungsgebundenen Ener-gieversorgung, der ruinösen Konkurrenz, angeblich auf denMärkten für abhängige Arbeit, und der externen Effekte, zumBeispiel beim Zusammenbruch einer Bank, zu erinnern. Invielen Fällen – sie sind Gegenstand der Regulierungsdiskus-sion – geht es um die allgemeinere Frage, wie man durcheine positive Gestaltung von Rahmenbedingungen Markt-prozesse überhaupt erst möglich macht (vgl. Möschel 1992,74 f.). Die Schaffung von Emissionsrechten im Bereich desUmweltschutzes ist ein wichtiges Beispiel. Dies geht überein traditionelles Wettbewerbsrecht, das sich negativ mitdem Wegräumen von Wettbewerbsbeschränkungen begnü-gen kann, weit hinaus.

Die stabilitätspolitische Ebene betrifft die Frage, ob eine neo-liberale Ordnung in dem Sinne instabil ist, dass es immerwieder zu Ungleichgewichten kommt (vgl. Wissenschaftli-cher Beirat 1973). Exogene Störungen, Störungen, die vomGeldkreislauf ausgehen, Folgen eines Nachfragemangels,Friktionen auf der Angebotsseite kommen als Ursache inBetracht. Keynesianische Auffassungen bejahen dies be-kanntlich im Gegensatz zu ihren monetaristischen, stärkeran Regelmechanismen orientierten Opponenten. Wer denStaat in der Verantwortung für Preisstabilität, Vollbeschäfti-gung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemes-senes Wachstum sieht, öffnet die Tür zu gegebenenfalls weit-reichenden Eingriffen. Die Bandbreite reicht dabei von einermittelfristigen Verstetigung des Konjunkturprozesses durchGlobalsteuerung (im Wesentlichen Mittel der Geld- und Fis-kalpolitik) bis hin zu perfektionistischer Feinsteuerung.

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Zur Diskussion gestellt

Staatliche Eingriffe unter dem Aspekt der Einkommensver-teilung sind nicht mit ökonomischem Marktversagen be-gründbar. Es handelt sich bereits um eine Korrektur vonErgebnissen. Soweit sie sich nicht anreizanalytisch recht-fertigen lässt, haben wir im hier verfolgten Gedankengangeine Form korrigierender Politik. Ein Marktsystem ohne je-des Umverteilungselement könnte dazu führen, dass zwardie Katzen der Reichen genügend Milch haben, Kinder derArmen dabei aber verhungern (H. Giersch). Dies ist eineextreme Entgegensetzung. Die oben genannten Wertur-teile, die für ein liberales Ordnungskonzept sprechen, las-sen sich durch weitere, auch gegenläufige Ziele ergän-zen. Entsprechende Konflikte können auftreten. Ein Ge-setzgeber mag nach politischer Opportunität entscheiden.Die hier benannte neoliberale Sicht kann ihm Orientierunggeben. Zwingend gebunden ist er nur durch die Verfas-sung. Zu dieser gehört heute faktisch auch das Europäi-sche Gemeinschaftsrecht.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (1954), Urteil vom 20. Juli 1954 – 1 BvR 459/52,Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 4, 7–27.Hoppmann, E. und E.-J. Mestmäcker (1974), Normenzwecke und System-funktionen im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Mohr, Tübingen.Deregulierungskommission (1991), Marktöffnung und Wettbewerb, Poeschel,Stuttgart.Marx, K. und F. Engels (1969), Manifest der Kommunistischen Partei, Reclam, Stuttgart.Mestmäcker, E.-J. (1973), Markt – Recht – Wirtschaftsverfassung, in: H.K. Schneider und Chr. Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz,1. Band, Duncker & Humblot, Berlin, 183–201.Mestmäcker, E.-J. (1975), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: H. Sauermann und E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift zum 80. Geburts-tag von Franz Böhm, Mohr, Tübingen, 383–419.Möschel, W. (1974), Der Oligopolmissbrauch im Recht der Wettbewerbsbe-schränkungen, Mohr, Tübingen.Möschel, W. (1975), Rechtsordnung zwischen Plan und Markt, Mohr, Tübingen.Möschel, W. (1988), »Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerbsord-nung«, JuristenZeitung 43, 885–893.Möschel, W. (1992), »Wettbewerbspolitik vor neuen Herausforderungen«,in: Ordnung in Freiheit, Symposium aus Anlass des 100. Jahrestages desGeburtstages von Walter Eucken, am 17. Januar 1991, Mohr, Tübingen,61–78.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1973),Grundfragen der Stabilitätspolitik, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundes-ministerium für Wirtschaft (1987), Sammelband der Gutachten von 1973–1986, Otto Schwartz, Göttingen, 619–660.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-nologie (2010), Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chan-cengleichheit und die Rolle des Staates, Gutachten Nr. 01/10, Berlin.

Neoliberalismus

Zur Entstehungsgeschichte und zum Bedeutungswandel eines verqueren Begriffes

Seit geraumer Zeit ist der Begriff Neoliberalismus in der öf-fentlichen Debatte national wie international zu einem meistpejorativ verstandenen, politischen Kampfbegriff verkommen.Er wird synonym mit Marktradikalismus oder Laissez-faire-Kapitalismus verwendet und soll in der Regel, alle der Markt-wirtschaft bzw. dem Kapitalismus zugeschriebenen Übel aufeinen einfachen Nenner bringen. So heißt es z.B. im Bun-destagswahlkampfprogramm der Partei »Die Linke« vom Ju-ni 2009 einleitend: »Der Marktradikalismus hat versagt.« Vie-le Bürgerinnen und Bürger sind »enttäuscht von neoliberalerPolitik und dem kapitalistischen System … Der Kapitalismushat die Welt in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit80 Jahren getrieben … Die Politik des Sozialabbaus, der De-regulierung und Privatisierung, der entfesselten Finanzmärk-te, der einseitigen Ausrichtung auf den Export und der Ver-nachlässigung von Kaufkraft und Binnenmärkten – diese Po-litik dient dem Profit von Wenigen und geschieht auf demRücken und auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung.«

Diese unreflektierte Begriffsverwendung greift schon seit ge-raumer Zeit um sich und dient vor allem – so sogar der »SPIE-GEL« – »der Diffamierung des politischen Gegners, gleich-gültig ob innerhalb oder außerhalb der eigenen Partei. Dasgilt für den (damaligen, Anm. der Redaktion) CSU-Vize HorstSeehofer genauso wie für die SPD-Vizin Andrea Nahles undderen ehemaligen Parteigenossen und jetzigen OberlinkenOskar Lafontaine.« Wie zur Bestätigung hat soeben HeinerGeissler das Leipziger Programm seiner eigenen Partei als»kapitalen Fehler«, weil »neoliberal«, verdammt.1

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Peter Hampe*

* Prof. Dr. Peter Hampe lehrt an der Technischen Universität Dresden undan der Münchner Hochschule für Politik.

1 Spiegel online vom 8. Februar 2008; Heiner Geissler, Interview im »Tages-spiegel« vom 7. Mai 2010.

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Zur Diskussion gestellt

Unabhängig davon, inwieweit die jeweilige Beschreibungder Inhalte »neoliberaler« Politik und ihrer Folgen sachadä-quat ist, liegen einer derartigen Begriffsverwendungdrei Missverständnisse zugrunde, die ich im Folgendenaufzeigen möchte. (1) Der Begriff ist zum einen keine Er-findung der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, obwohl sichin diesem Zeitraum in der Tat liberale Tendenzen der De-regulierung und Privatisierung, der Steuersenkung und derAußenwirtschaftspolitik weltweit durchgesetzt haben. (2)Inhaltlich war das ursprüngliche neoliberale Konzept ge-rade nicht auf Laissez-faire-Politik ausgerichtet, sondernauf Reformüberlegungen, die dem Staat wichtige Funk-tionen bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenord-nung zuwiesen. (3) Allerdings ist bei seinen Vertretern ei-ne breite Meinungsvielfalt zu registrieren. Neoliberalismuskann also nicht auf einen einfachen Nenner reduziert wer-den, wie es die aktuelle Diskussion vortäuscht.

Die Entstehung des Begriffs Neoliberalismusin der Zwischenkriegszeit

Die wirkliche Geschichte des Begriffs Neoliberalismus be-ginnt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.Vermutlich benutzte ihn der schwedische Ökonom Eli F.Heckscher 1921 in seiner Schrift »Alter und neuer ökono-mischer Liberalismus« zum ersten Male. 1925 veröffentlich-te dann der Züricher Ökonom Hans Honegger sein Buch»Volkswirtschaftliche Gedankenströmungen«, in dem einKapitel mit »Neoliberalismus« überschrieben ist. 1932 ver-trat Alexander Rüstow auf einer Tagung des »Vereins fürSocialpolitik« einen »neuen Liberalismus«. In Frankreich ent-warf Louis Rougier das Konzept eines »konstruktiven Li-beralismus«. Als die eigentliche Geburtsstunde des Neoli-beralismus gilt aber ein Kolloquium, das auf Initiative desamerikanischen Ökonomen Walter Lippmann 1938 in Pa-ris stattfand. Die 23 teilnehmenden Liberalen aus Deutsch-land, Österreich, Frankreich und den USA entwickelten Ide-en eines zeitgemäßen Liberalismus, den sie nicht zuletzt aufVorschlag Alexander Rüstows »Neoliberalismus« nannten,obwohl nicht alle Teilnehmer über diese Wortwahl glück-lich waren. Um den Ideenaustausch unter Gleichgesinntenfortzusetzen und in der Hoffnung, die Praxis freier Gesell-schaften stärken zu können, gründeten nach dem 2. Welt-krieg 35 liberale Denker auf Einladung Friedrich A. von Hayeks am Genfer See die »Mont Pèlerin Society« (unterihnen Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Milton Friedman, Karl Popper; später stieß auch Ludwig Erhard dazu).

Anlass und Grundidee des Neoliberalismus

Nach dem 1. Weltkrieg und verstärkt nach der Weltwirt-schaftskrise von 1929 stand der Liberalismus mit dem Rü-cken zur Wand. Sozialismus und Nationalsozialismus bzw.

Faschismus beherrschten die Szene. Die sozialen Proble-me des 19. Jahrhunderts, die Konzentrations- und Mono-polisierungs- bzw. Kartellierungstendenzen, aber auch dieKrisenerfahrungen bis hin zur »Great Depression« hatten denKapitalismus diskreditiert. Eindrucksvoll beschrieb Ludwigvon Mises 1922 den Zeitgeist. »Sozialismus ist die Losungunserer Tage… Eine grundsätzliche Gegnerschaft findet derSozialismus nirgends. Es gibt heute keine einflussreiche Par-tei, die es wagen dürfte, frank und frei für das Sondereigen-tum an den Produktionsmitteln einzutreten.« (von Mises1922, 1 f.; Sondereigentum meint Privateigentum).

Für liberale Denker galt daher die Devise: Wenn man, wiesie, von den politischen und wirtschaftlichen Vorteilen einesfreiheitlichen, also dezentralen Wirtschaftssystems über-zeugt war und dieses für die Zukunft erneut propagierenwollte, wenn man also weder im Sozialismus, noch in staats-interventionistischen Einzelmaßnahmen zur Bekämpfung dergenannten Probleme bessere Alternativen sah, konnte mandennoch nicht einfach zur Laissez-faire-Strategie des19. Jahrhunderts zurückkehren. Man musste vielmehr einneues Konzept entwickeln, das die Vorteile eines markt-wirtschaftlichen Systems zu erhalten, die offenkundigenSchwächen aber auszumerzen versprach. Wilhelm Röpke(1942) nannte folglich sein Konzept einen »Dritten Weg zwi-schen Liberalismus und Kollektivismus«, Müller-Armack(1956, 390) sprach von einer »neuartigen Synthese«: »Mitdem Neoliberalismus teilen die Vertreter der sozialen Markt-wirtschaft die Überzeugung, dass der Altliberalismus zwardie Funktionsbedeutung des Wettbewerbs richtig gesehenhat, die sozialen und soziologischen Probleme jedoch nichtausreichend beachtet. Im Gegensatz zum Altliberalismus er-streben sie keine Wiederherstellung einer Laissez-faire-Wirt-schaft; ihr Ziel ist eine neuartige Synthese.« (Vgl. auch Bes-ters 1993) Im Kern ist daher der Neoliberalismus als Reform-modell entwickelt worden. Wer dagegen, wie insbesonde-re Ludwig von Mises, wenig Reformbedarf sah und schlichtzum »Nachtwächterstaat« zurückkehren wollte, wurde nichtals Neo-, sondern als »Paleoliberaler« charakterisiert.

Die Schulen des Neoliberalismus

Worin bestand nun aber die Reform? Schon auf dem Lipp-mann-Kolloquium wurde deutlich, dass es einen Pluralismusvon Denkrichtungen gab und damit kein einheitliches Pro-gramm. Gemeinsam traten die Neoliberalen vor allem für diemarktwirtschaftlichen Grundprinzipien ein, für die Garantiedes Privateigentums, für Wettbewerb, freie Preisbildung undFreihandel. Die legitime Rolle des Staates, gerade in Abgren-zung gegenüber dem Laissez-faire-Denken, war stärker um-stritten. Man sprach sich aber zumindest für einen »starkenStaat« aus, der die marktwirtschaftlichen Rahmenbedin-gungen schaffen und schützen, aber nicht in die Wirtschafts-prozesse eingreifen sollte. Mit der Formel vom »starken Staat«

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war kein autoritäres, diktatorisches Regime gemeint, son-dern ein »Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Inte-ressenten, da, wo er hingehört.« (Rüstow 1932, 69)

Angesichts der konzeptionellen Unterschiede ist es üblichgeworden, verschiedene Richtungen des Neoliberalismuszu unterscheiden, insbesondere die österreichische Schu-le, die Freiburger Schule des Ordo-Liberalismus und dieChicago School. Als prominente Vertreter der österrei-chischen Schule gelten Ludwig von Mises und (sein Schü-ler) Friedrich A. von Hayek; zur Chicago School zählenvor allem Walter Lippmann, Frank H. Knight, Henry C. Si-mons, Gustav Stigler und last but not least Milton Fried-man. Repräsentanten der Freiburger Schule bzw. – brei-ter gefasst – des deutschen Ordo-Liberalismus sind ne-ben Alexander Rüstow vor allem Walter Eucken, FranzBöhm, Wilhelm Röpke, Friedrich A. Lutz, Leonhard Miksch,schließlich Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, diefür die Umsetzung des ordoliberalen Denkens in die Pra-xis der Sozialen Marktwirtschaft stehen (vgl. Grossekett-ler 1999, 50). Daneben gab es natürlich auch neoliberaleDenker in anderen Ländern. Ohne Anspruch auf Vollstän-digkeit erwähne ich Edwin Cannan und seine Kollegen bzw.Schüler von der London School of Economics, die wieder-um von v. Mises und v. Hayek beeinflusst waren. Der letz-tere lehrte ja von 1935–1950 an der LSE und beeinfluss-te dann auch Karl Popper, der nach dem 2. Weltkrieg andie LSE kam. In Frankreich sind Louis Rougier und JacquesRueff, in Italien Luigi Einaudi zu nennen.

Die Konzepte der einzelnen Denker sind allerdings zu eigen-ständig, um sie bestimmten neoliberalen Schulen eindeutigund befriedigend zuordnen zu können. Am deutlichsten wirddas bei von Hayek, der zunächst in Wien studierte und lehr-te, dann, wie erwähnt, nach London ging, anschließend andie University of Chicago (1950–1962), bis er schließlich inFreiburg den Lehrstuhl von Walter Eucken übernahm. Ersteht sozusagen mit seinem Denken für alle drei Schulen.Wirklich gerecht wird man den Neoliberalen daher nur, wennman sich die konkreten Überlegungen einzelner Autoren vorAugen führt, zumal diese sich ja auch während der jeweili-gen Lebensspanne teilweise verändert haben.

Walter Eucken

Zur Demonstration konkreter neoliberaler Konzepts wäh-le ich zwei Autoren aus. Zunächst Walter Eucken mit sei-ner »Politik der Wettbewerbsordnung«. Dies bietet sich zumeinen an, weil Eucken als Vater der Freiburger Schule, vorallem im Hinblick auf die spätere Gestaltung der westdeut-schen Wirtschaftsordnung eine herausragende Rolle ge-spielt hat. Zum anderen ist seine »Wettbewerbsordnung«eine besonders klare Konzeption, die aus sieben konsti-tuierenden und vier regulierenden Prinzipien besteht (vgl.

Eucken 1950, Kap. XVI–X). Sie lassen vor allem deutlicherkennen, worin bei Eucken neben grundsätzlichen markt-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Privateigentum, Ver-tragsfreiheit und offene Märkte) das »Neue« besteht: (1) DieWirtschaftspolitik hat sich an der Herstellung eines funk-tionsfähigen Preissystems basierend auf der Marktform dervollständigen Konkurrenz zu orientieren. Dabei hat sie dieEntstehung von Monopolen zu verhindern bzw. diese zukontrollieren. (2) Via Währungsverfassung ist die Stabilitätdes Geldwertes zu sichern. Sie sollte möglichst automa-tisch funktionieren, da Eucken die Träger einer staatlichenGeld- und Kreditpolitik mit der Aufgabe der Währungssi-cherung wegen potentieller Interessenkonflikte überfordertsieht. Er präferiert daher eine »Waren-Reserve-Währung«.(3) Die Wirtschaftspolitik soll Konstanz aufweisen, um ei-ne ausreichende Investitionstätigkeit zu gewährleisten. (4)Das Prinzip der Haftung ist einzuhalten. »Wer den Nutzenhat, muss auch den Schaden tragen« – ein sehr aktuellesThema. Eucken hatte hierbei zunehmende Haftungsbe-schränkungen insbesondere im Gesellschaftsrecht im Au-ge und sprach sich z.B. für die Haftung des Vorstands ei-ner AG aus, soweit dieser eigenverantwortliche Entschei-dungen trifft. Bei den regulierenden Prinzipien ist neben derMonopolkontrolle erwähnenswert, dass Eucken für eineprogressive Einkommensteuer eintritt, um die Verteilunggerechter zu machen, dass er das Problem externer Effek-te aufgreift (am Arbeitsmarkt und im Umweltbereich!), diestaatliche Eingriffe erfordern und dass er bei anomalemAngebotsverhalten (z.B. am Arbeitsmarkt) für Mindestprei-se eintritt.

Alles in allem zeigt schon diese komprimierte Darstellung,dass Eucken dem Staat bzw. der Wirtschaftspolitik weit mehrAufgaben zuweist, als es der Idee des Nachtwächterstaa-tes entspricht.

Milton Friedman

Milton Friedman als einflussreichsten Vertreter der ChicagoSchool in den Blick zu nehmen, lohnt sich nicht nur, weil ihnals Amerikaner von vorneherein besondere Skepsis gegen-über staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft auszeich-net, sondern auch weil seine Rezepte beim Paradigmen-wechsel von keynesianischer Nachfragepolitik zur angebots-orientierten Wirtschaftspolitik der Industrieländer Ende dersiebiger Jahre, die von den angelsächsischen Ländern aus-ging (»Reagonomics and Thatcherism«), eine federführen-de Rolle gespielt hat. Und die spätere Kritik am »marktradi-kalen Neoliberalismus« nahm und nimmt oft auf Friedmanund die Chicago School Bezug.

Friedman selbst war aber kein direkter Laissez-faire-Prota-gonist. Wie die übrigen Neoliberalen war er der Ansicht, dassRegierungen zwar in ihren Aufgaben zu beschränken sei-

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en, aber daraus folge nicht, dass sie durch den Markt über-flüssig werden. Sie müssen die Rahmenregeln gestalten undihre Einhaltung überwachen. Das betrifft neben den klassi-schen »Nachtwächteraufgaben« vor allem die Wettbewerbs-politik, die allerdings auch auf Gewerkschaften anzuwendensei. Die Regierung müsse daneben für ein stabiles Geld-system sorgen, sollte aber nicht eine diskretionäre Geldpo-litik betreiben, sondern eine regelgebundene Geldmengen-politik (»Monetarismus«). Ähnlich sollten die Staatsausga-ben und die erforderlichen Steuereinnahmen mittelfristig aus-gerichtet, insbesondere keine schuldenfinanzierte antizykli-sche Politik betrieben werden. Staatlicher Umverteilungspo-litik z.B. via progressiver Einkommensteuern oder im Rah-men staatlicher Zwangsversicherungen erteilte er eine Ab-sage. Sozialpolitische Ziele könnten am besten durch einenegative Einkommensteuer erreicht werden. Daneben soll-te der Staat ein Mindestmaß an Ausbildung finanzieren (auchvia Bildungsgutscheine) (vgl. Friedman 1962).

Der neoliberale Begriffswandel

Vergleicht man Friedman mit Eucken, so zeigt sich eine deut-liche Spannbreite vor allem bei den konkreten wirtschafts-politischen Vorstellungen. Wenn man andere neoliberale Au-toren einbezieht, werden die Unterschiede zum Teil sogarnoch größer.2 Sie beschränken sich aber vor allem auf dasInstrumentelle, nicht auf den schon oben skizzierten grund-sätzlichen Reformansatz. Da die verschiedenen neolibera-len Denker mit ihren Überlegungen den ökonomischen Li-beralismus vor allem in der Nachkriegszeit wieder ins Ge-spräch bringen und damit eine der sozialistischen Planwirt-schaft oder interventionistischen Systemen gegenüber über-legene Ordnung präsentieren wollten, war der Begriff Neo-liberalismus entsprechend positiv besetzt. Er blieb auchweitgehend ein akademischer Begriff; in den öffentlichen De-batten scheint er keine wesentliche Rolle gespielt zu haben.3

Dazu trug auch bei, dass die Wirtschaftspolitik der westli-chen Länder in den fünfziger und sechziger Jahren immerstärker vom Keynesianismus geprägt wurde. Er wurde 1967sogar in die zunächst ordoliberal geprägte Soziale Markt-wirtschaft inkorporiert.4

In der Folge verschwand der Begriff Neoliberalismus fast völ-lig von der Bildfläche, bis ihn ein politisches Ereignis zu ei-nem neuen Leben erweckte: der Militärputsch in Chile un-

ter Pinochet. Er führte zu einer neuen liberalen Wirtschafts-politik, die federführend von Chilenen verantwortet wurde,die zuvor in Chicago studiert hatten (»Chicago boys«), undnun für einen weitgehenden Rückzug des Staates aus derWirtschaft sorgten. Die radikale Wirtschaftsreform wurdevon den Kritikern als »neoliberalismo« gebrandmarkt. Hierstartete die neue Karriere des Neoliberalismus, die sich an-schließend über die angelsächsische Welt weit verbreitete.Der Begriff wurde nunmehr hauptsächlich von den Kritikernder monetaristischen und angebotsorientierten Reformenbenutzt, die in den westlichen Ländern nach dem Vertrau-ensverlust des Keynesianismus seit Ende der siebziger Jah-re schrittweise durchgesetzt wurden. Er erfuhr damit eineverquere Inhaltsänderung – statt Neoliberalismus hätte eherder Paleoliberalismus, der Manchester-Kapitalismus oderder Laissez-faire-Kapitalismus als Zielscheibe der Kritik die-nen müssen –, verlor entsprechend an wissenschaftlicherSchärfe und verkam, wie schon eingangs beschrieben, zueinem antikapitalistischen Kampfbegriff.

Literatur

Besters, H. (1993), »Neoliberalismus«, in: R. Vaubel und H. D. Barbier (Hrsg.),Handbuch Marktwirtschaft, 2. Aufl., Stuttgart.Eucken, W. (1950), Grundsätze der Wirtschaftspolitik.Friedman, M. (1962), Capitalism and Freedom, Chicago.Grossekettler, H. (1999), »Der ›starke‹ Staat als Garant einer ›sozialen‹ Markt-wirtschaft«, in: P. Hampe und J. Weber (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Mark(t)wirt-schaft, München.Mises, L. von (1922), Die Gemeinwirtschaft, Jena.Müller-Armack, A. (1956), »Soziale Marktwirtschaft«, in: Handwörterbuch derSozialwissenschaften, Bd. 6.Röpke, W. (1932), Krise und Konjunktur, Leipzig.Röpke, W. (1942) Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Zürich.Rüstow, A. (1932), Freie Wirtschaft – starker Staat, Schriften des Vereins fürSocialpolitik, Bd. 187, München.

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2 Müller-Armack (1956, 391) z.B. befürwortete durchaus staatliche Sozial-leistungen zur Korrektur der Einkommensverteilung und bestimmte kon-junkturpolitische Maßnahmen zur Sicherung des Beschäftigungsstandes;ähnlich auch schon Röpke (1932). Ansonsten einte die Neoliberalen dieAblehnung prozesspolitischer Wirtschaftspolitik, insbesondere keynesia-nischen deficit spendings!

3 Eine heftige öffentliche Debatte gab es aber ab Ende der vierziger Jahrein Westdeutschland über die Frage der »Sozialen Marktwirtschaft«.

4 Karl Schiller feierte dies mit der berühmten Formel von der »Versöhnungdes Freiburger Imperativs mit der keynesianischen Botschaft«.

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Neoliberalismus – Wettbewerb mit Regeln und einem starken Staat*

Das deutsche Feuilleton wettert gegen den Neoliberalismus,dessen Geist angeblich die Hirne der Politiker vernebeltund sie zu den Deregulierungsaktionen veranlasst habe,die die Finanzkrise hervorbrachte. Der Nebel kommt abernicht von den Neoliberalen, sondern von den Neosozialis-ten, die in den vergangenen Jahren mit ihren Neiddebattenwieder die Lufthoheit im deutschen Medienhimmel gewon-nen haben. Das Feuilleton erzeugt in den Köpfen der Deut-schen eine neue Wirklichkeit, die mit den Fakten wenig ge-mein hat.

In Wahrheit ist der Neoliberalismus nämlich das genaueGegenteil dessen, was seine Kritiker behaupten. Der Neo-liberalismus betont den starken Staat und redet keinesfallseiner Deregulierung das Wort, sondern fordert eine wirksa-me staatliche Regulierung.

Der Begriff des Neoliberalismus wurde auf einer französi-schen Konferenz in Paris definiert, dem »Colloque WalterLippmann«. Die Konferenz wurde vom französischen Philo-sophen Louis Rougier vom 26. bis 30. August 1938 orga-nisiert. Die Teilnehmer – unter ihnen die beiden deutschenÖkonomen Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke – disku-tierten explizit über die richtige Bezeichnung für ihr neuesVerständnis von Liberalismus. Vorgeschlagen wurden un-ter anderem »Neo-Kapitalismus« und »positiver Liberalis-mus« doch am Ende setzte sich der Begriff »Neoliberalis-mus« durch.1 Noch im Bann der Weltwirtschaftskrise, ge-gen die ein schwacher Staat nichts hatte ausrichten kön-nen, formulierten Rüstow, Röpke und ihre Mitstreiter ihre

Grundaussage, dass Wettbewerbsprozesse nur innerhalbeines starken, staatlich gesetzten Ordnungsrahmens ge-deihlich funktionieren können.

Rüstow hatte seine Ideen übrigens schon im Jahr 1932bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, des Fach-verbandes der deutschsprachigen Volkswirte, vorgetragen.Nach dem Protokoll der Sitzungen hatte er seine Stellung-nahme mit den folgenden Worten beendet: »Der neue Li-beralismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ichmit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat,einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interes-senten, da, wo er hingehört. Und mit diesem Bekenntniszum starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitikund zu liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines star-ken Staates – denn das bedingt sich gegenseitig – mit die-sem Bekenntnis lassen Sie mich schließen.«2

Die Betonung des Ordnungsrahmens und des dafür not-wendigen starken Staates ist das Kernelement, das denNeoliberalismus vom so genannten Paleoliberalismus, alsodem Alt-Liberalismus oder auch Manchester-Liberalismus,unterscheidet. Deswegen nennt man den Neoliberalismusin Deutschland auch meistens Ordoliberalismus. Der Paleo-liberalismus vertraut auf die Selbstregulierung der Wirtschaftund weist dem Staat kaum mehr als die Rolle des Eigen-tumsschutzes zu. Er hat durch seine Vertreter in Chicagound anderswo in der Tat der Deregulierung das Wort gere-det, aus der heraus der Kasino-Kapitalismus entstand, derin der Finanzkrise kollabierte und nun mit riesigen staatlichenHilfsprogrammen, die weltweit tausende von Milliarden Euroumfassen, gerettet werden muss (vgl. Sinn 2009).

Der Neo- oder Ordoliberalismus vertraut zwar auf die Selbst-steuerung der Wirtschaft innerhalb eines Ordnungsrahmens,glaubt aber nicht, dass dieser Ordnungsrahmen selbst vonder Wirtschaft geschaffen werden kann. Zu den Aufgabendes Staates gehört es deshalb nach der Auffassung der Neo-liberalen, die Märkte zu regulieren, wirtschaftliche Macht zubegrenzen und durch Sozialpolitik für Gerechtigkeit und Si-cherheit zu sorgen (vgl. Eucken 1952).

Leider gab es immer wieder Versuche, den Begriff Neoli-beralismus auch anders zu besetzen. So werfen linke Po-litiker die radikalen Konzepte der Chicagoer Schule um Mil-ton Friedman gerne mit dem deutschen Neoliberalismusin einen Topf, um alle, die anders argumentieren als sieselbst, gleichermaßen als »neoliberal« verteufeln zu kön-nen. Das erspart ihnen die inhaltliche Diskussion über gra-

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Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn,Präsident des ifo Instituts

* Eine gekürzte Version des Artikels erschien in Welt am Sonntag, 16. Mai2010.

1 Vgl. Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann, 26.–30. August 1938, Paris 1939, in: Travaux du Centre International d’ Etu-des pour la Renovation du Liberalisme. Cahier l, 7–29.

2 Vgl. Deutschland und die Weltkrise. Verhandlungen des Vereins für Soci-alpolitik in Dresden 1932, Duncker & Humblodt, München 1932, 62–69,hier 69. Der Verein für Socialpolitik (manchmal auch Verein für Sozialpoli-tik) wurde im Jahr 1873 gegründet, 1936 unter dem Druck der Nazis auf-gelöst und 1948 wieder neu gegründet. Er bereitete im 19. Jahrhundertdie Bismarckschen Sozialreformen vor, die noch heute die Basis der so-zialen Marktwirtschaft sind.

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duelle Reformen des marktwirtschaftlichen Systems undlässt die eigenen sozial-radikalen Ideen plausibler erschei-nen, als sie sind. Ein solches Verhalten ist entweder einZeichen von tiefer Ignoranz oder Unehrlichkeit im öffentli-chen Diskurs.

Meinen Studenten erkläre ich die die Position des Neolibe-ralismus gerne anhand eines Fußballspiels. Gute Spieler undein Ball allein sind noch keine Garantie für ein gelungenesSpiel. Damit das Spiel fair verläuft und nicht im Chaos en-det, müssen feste Regeln gelten, und ein Schiedsrichtermuss darüber wachen, dass diese Regeln eingehalten wer-den. Diese banale Erkenntnis kann der Zuschauer der Sport-schau jeden Samstag aufs Neue gewinnen.

Wenn schon ein Spiel von 22 Akteuren auf einem über-sichtlichen Sportplatz nur mit klaren Spielregeln funktioniert,so brauchen die Millionen Akteure einer Volkswirtschaft erstrecht einen Ordnungsrahmen, der Vertrauen schafft und Cha-os verhindert. Nur so kann der Wettbewerb auf den Märk-ten seine segensreichen Kräfte entfalten.

Dass wir alle von der Wirkung des Wettbewerbsprinzips pro-fitieren, liegt auf der Hand. Die geradezu astronomische Er-höhung des Lebensstandards der breiten Massen seit dem19. Jahrhundert ist dafür der beste Beleg. Das versuchteGegenkonzept zum Wettbewerb, die kommunistische Plan-wirtschaft, ist dagegen grandios gescheitert.

Wettbewerb funktioniert aber nicht von allein. Wie beim Fuß-ball bedarf er einer funktionierenden Wettbewerbsordnung,der die Spieler unterworfen sind. Dafür ist ein starker Staatvonnöten, der die Spielregeln definiert und ihre Einhaltungüberwacht. Markwirtschaft ist alles andere als Anarchie,wo jeder tun und lassen kann, was er will.

Allerdings ist die Marktwirtschaft auch kein Zentralpla-nungssystem. Jeder Versuch, Fußballern die Spielzügeim Einzelnen vorzuschreiben, würde den Spielfluss kaputtmachen. Genauso ist es, wenn der Staat den Unterneh-men und Konsumenten vorschreibt, was sie herstellen oderkaufen sollen, oder welche Unternehmen in der Krise zuretten sind, wie es manche linke Politiker heute wiederfordern. Das Setzen von Spielregeln ist nicht dasselbe wiedie Detailsteuerung des Spiels. Deshalb ist es kein Wider-spruch, wenn man die Selbstregulierung der Marktwirt-schaft verneint, doch die Selbststeuerung innerhalb einesOrdnungsrahmens bejaht.

Die Spielregeln der Marktwirtschaft umschließen das Preis-system, die Eigentumsordnung, das Geldwesen sowie ins-besondere das Bürgerliche Gesetzbuch, das festlegt, wel-che Vertragsformen erlaubt sind und welche nicht. Ergänztwird ein solches System durch eine Vielzahl von Spezial-gesetzen, die die freien Entscheidungen der Individuen

einengen. Nicht dazu gehören freilich Gesetze, die die freieBildung der Preise und Löhne einschränken, denn sol-che Gesetze würden zu Marktungleichgewichten im Sin-ne übermäßiger Lagerhalden bei den Verkäufern oder War-teschlangen bei den Käufern führen, die gravierende In-effizienzen mit sich bringen. Die schlimmste Form der La-gerhalden ist die Arbeitslosigkeit. Sie wird von der Politikin Kauf genommen, weil sie Verteilungspolitik auf dem We-ge von Lohndiktaten betreibt, anstatt ihre verteilungs-politischen Ziele auf dem Wege über Lohnzuschüsse zurealisieren.

Innerhalb eines gut gesetzten Ordnungsrahmes ist der Markt,konkret das freie Spiel der Preise und Löhne, gemäß denvorgegebenen Knappheiten in der Lage, die Handlungenvon Millionen von Menschen, die alle unkoordiniert ihren in-dividuellen Vorteil suchen, wie mit einer unsichtbaren Handzu einem geordneten Ganzen zusammenzufügen. DieseAussage geht bekanntlich auf Adam Smith (1976) zurückund wurde später von Kenneth Arrow und Gérard Debreumittels eines formal-mathematischen Modells nachgewie-sen, wofür sie mit dem Nobelpreis für Volkswirtschaftsleh-re geehrt wurden.3

In einem schlecht gesetzten Ordnungsrahmen führt das freieSpiel der Marktkräfte indes nicht zu einem befriedigendenErgebnis, wie die Finanzkrise ja eindringlich beweist. DieseKrise ist entstanden, weil es den Banken erlaubt war, ihr Ge-schäft mit viel zu wenig Eigenkapital zu betreiben. Wer nurwenig Eigenkapital einsetzt, hat wenig zu verlieren und neigtdeshalb zum Glücksspiel. In Normalzeiten erzielt er großeErträge, aber diese Erträge sind großenteils nur das Spie-gelbild der externen Kosten, die den Gläubigern der Bankoder dem Steuerzahler für die Rettungsaktionen in der Kri-se entstehen.

Nach dem Neo- oder Ordoliberalismus ist die Haftung ei-nes der konstitutiven Prinzipien einer funktionierendenMarktwirtschaft (vgl. Eucken 1952, 279–285). Diese Er-kenntnis hat die Politik sträflich missachtet, als sie mit demBasel-System der Bankenregulierung und der Lockerungder Eigenkapitalvorschriften für die amerikanischen Invest-ment-Banken im Jahr 2004 eine jeweils dramatische Ver-ringerung des haftenden Eigenkapitals zuließ. Wer nicht haf-tet, zockt, und wer zockt, baut darauf, dass andere dieWettschulden begleichen, wenn die Wette schiefgeht. DieZockerei hat die Krise maßgeblich verursacht. Eine drasti-sche Erhöhung der Mindestgrenzen für das Eigenkapital,das die Banken ihren Geschäften unterlegen müssen, ist

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3 Kenneth Arrow und John Hicks erhielten 1972 den Nobelpreis »für ihrebahnbrechenden Arbeiten zur allgemeinen Theorie des ökonomischenGleichgewichts und zur Wohlfahrtstheorie«, Gérard Debreu bekam ihn 1983»für die Einführung neuer analytischer Methoden in die volkswirtschaftli-che Theorie und für eine rigorose Neuformulierung der Theorie des allge-meinen Gleichgewichts der Märkte«.

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deshalb der Königsweg für die notwendige Schaffung ei-nes stabileren Bankensystems.

Speziell Deutschland muss zudem seine Staatsbanken andie Kandare nehmen, wo sich Bürokraten beim Glücksspielversucht haben, die ihr eigenes Geld nicht einsetzen muss-ten. Über Jahre hinaus wurde das Geld der Steuerzahlerfür spekulative Engagements in den entlegensten Teilen derWelt riskiert, und die Finanzierung des Mittelstands, die ei-gentliche Aufgabe der Landesbanken, geriet zu einer Ne-bensache.

Dass das neosozialistische Feuilleton heute den Neolibe-ralen den Schlamassel in die Schuhe schieben will, ist ver-logen, denn weder die Existenz von Staatsbanken nochdie lasche Regulierung der Privatbanken haben eine Ba-sis im neoliberalen Denken. Ich selbst werde von man-chen Medien wegen meiner Kritik an den Anreizstruktu-ren des Sozialstaates immer wieder als Neoliberaler ge-schmäht, obwohl mein Hang zu keynesianischen Rezep-ten zur Krisenbewältigung überhaupt nicht mit dem tra-ditionellen Neoliberalismus harmoniert. Aber sei es drum:Wenn ich denn ein neoliberaler Ökonom bin, so sollte dasFeuilleton zur Kenntnis nehmen, dass dieser Ökonom dieMissstände bei den Landesbanken schon 1997 und diezu lasche Regulierung der Privatbanken bereits 2003 inaller Schärfe angeprangert hat (vgl. Sinn 1997a, 2002,2003), ja dazu sogar eine wissenschaftliche Debatte mitpaleo-liberalen Ökonomen ausgelöst hat (vgl. Baltensper-ger 2003, Spencer 2003, Sinn 2003 und 2008). Ich ver-stehe nur allzu gut, warum Neosozialisten die Unterschie-de zwischen Neo- und Paleoliberalismus verwischen undsich selbst als Retter aus der Krise präsentieren wollen.Nur müssen Sie sich vorhalten lassen, mit gezinkten Kar-ten zu spielen und die Öffentlichkeit für dumm verkaufenzu wollen.

Die lasche Regulierung der privaten Banken ist übrigens, wieich seinerzeit ausgeführt habe, das Ergebnis eines Stand-ortwettbewerbs, dessen Versagen aus der Sicht des Neo-oder Ordoliberalismus keineswegs verwunderlich ist. Für dieInteraktion der Staaten gibt es schließlich keine übergeord-nete Instanz, die den Ordnungsrahmen definieren und sei-ne Einhaltung prüfen würde. Es ist noch nicht einmal klar,ob sich dafür überhaupt jemals geeignete Spielregeln findenlassen, die denen für das Innenleben einer Marktwirtschaftähneln. Im Gegenteil: Es gibt Anlass zu der Befürchtung,dass der staatliche Wettbewerb grundsätzlich nicht funk-tionieren kann, weil die Staaten die Ausnahmen des Wett-bewerbs verwalten. Da Staaten dort aktiv werden, wo derprivate Markt versagt, muss man befürchten, dass die Wie-dereinführung des Marktes durch die Hintertür des staatli-chen Wettbewerbs die alten Marktfehler, die den Staat ur-sprünglich auf den Plan riefen, von neuem hervorbringt. Die-

sen Zusammenhang habe ich mit dem Begriff »Selektions-prinzip« beschrieben (Sinn 1997b, 2002 und 2003).

Die Finanzkrise hat uns die Bedeutung des Selektionsprin-zips schmerzlich vor Augen geführt. In den Jahren vor derKrise hatten nämlich die nationalen Regulierungsbehördender Versuchung nicht widerstehen können, ihre Regulierungzurückzunehmen, um ihren Banken im Wettbewerb derBankplätze einen Vorteil zu verschaffen. So wie die einzel-ne Bank selbst ihre Eigenkapitalquote verringert, um mit demRisiko bessere Geschäfte machen zu können, versuchteauch die nationale Regulierungsbehörde durch die zuneh-mende Vernachlässigung der Eigenkapitalregulierung dennationalen Banken Vorteile zu Lasten ihrer internationalenGläubiger zu verschaffen. Es entstand eine Deregulierungs-wettbewerb, der letztlich für die Erosion der Eigenkapital-quoten der Banken verantwortlich war, aus der die Krisen-anfälligkeit und das Glücksrittertum entstanden, die wir nunalle beklagen.

Auch die aktuelle Krise des Euro passt in dieses Bild. DerStabilitätspakt war zwar ein Versuch, der Verschuldung derEuro-Staaten Grenzen zu setzen und so eine stabile Basisfür die gemeinsame Währung zu schaffen. Doch wie wir jetztwissen, war dieses Regelwerk völlig unzureichend. Indemder Ecofin-Rat als Schiedsrichter für die Festlegung von Stra-fen für Schuldensünder eingesetzt wurde, saßen die Sün-der über sich selbst zu Gericht. Kein Wunder, dass sich kaumjemand um die vereinbarten Defizitgrenzen scherte, und sicheinige Staaten auf Pump ein gutes Leben machten. Die süd-europäischen Schuldenstaaten und ihre Geldgeber speku-lierten darauf, dass die reichen Euro-Partner sie schon vordem Bankrott retten würden, und wie wir wissen, ist dieseSpekulation aufgegangen. Die Währungsunion wurde ent-gegen aller Verträge zur Transferunion – mit Deutschland alsgrößtem Zahlmeister. Nur ein neuer Stabilitätspakt, der die-sen Namen auch verdient, kann diese fatale Entwicklungstoppen.

Die mangelnde Regulierung des Bankensektors und die Kon-struktionsfehler der europäischen Währungsunion haben dieWeltwirtschaft in die Krise geführt. Sie sind jedoch kein Zei-chen für ein Scheitern des Neoliberalismus, sondern im Ge-genteil ein Beleg für die unveränderte Relevanz der neoli-beralen Forderung nach einem klaren Ordnungsrahmen undeinem starken Staat.

Jetzt müssen wir uns freilich davor hüten, ins Gegenteil zuverfallen und den Wettbewerb grundsätzlich zu verdammen.Wenn die Regeln klar sind und der Schiedsrichter aufpasst,ist Freiheit für die Spieler noch immer die Voraussetzung fürein gutes und erfolgreiches Spiel. Das gilt für die Fußball-WM in ein paar Wochen genauso wie für den permanentenWettbewerb um die Weltmeisterschaft auf den internationa-len Märkten.

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Zur Diskussion gestellt

Literatur

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Aktuelle Lage bei Unternehmens-finanzierungen unübersichtlich

Setzt man die ausgereichten Kreditvolu-mina als Indiz für oder gegen eine restrik-tive Wirkung der Finanzierungsseite auf diegesamtwirtschaftliche Entwicklung, so las-sen sich keine, über alle Unternehmens-größenklassen hinweg, allgemeingültigenAussagen treffen. In der Vergangenheit ha-ben sich zum einen gerade große Konzer-ne öffentlich über eine restriktive Geldpo-litik der Banken beklagt (vgl. Financial Ti-mes Deutschland vom 31. März 2010;Deutsche Bundesbank 2010, 14). Ande-rerseits geben verschiedene Indizien An-lass zu der Vermutung, dass sich geradekleine Unternehmen ohne eigenen Zugangzum Kapitalmarkt schwer tun, ausreichendFinanzierungsmittel zu bekommen (vgl. ifoInstitut 2010). Die Daten zum durchschnitt-lichen Kreditzins und den Kreditvergabenin Deutschland und Europa belegen eben-falls eine noch unklare Entwicklung.1

Der vom ifo Institut seit 2003 erhobeneUmfrageindikator (»Kredithürde«), welcher4 000 Unternehmen der gewerblichen

Wirtschaft in einer Paneldatenuntersu-chung nach der von den Unternehmenselbst eingeschätzten Kreditversorgung2

befragt, listet für die Monate Januar, Feb-ruar und März 2010 jeweils leichte Ver-besserungen in der Kreditversorgung derUnternehmen auf. Ob sich diese Werteauf die Krisenbekämpfungsmaßnahmender öffentlichen Hand3, eine großzügige-

Eine Analyse der Finanzierungssituation der deutschen Unternehmen nach der großen Krise

Stefan Drews*

Finanzierungsschwierigkeiten trotz Wirtschaftsaufschwung?

In regelmäßigen Abständen vollzieht sich in der deutschen Wirtschaft ein Phänomen, das den natürli-

chen und gut bekannten Zusammenhängen bei der Bienenzucht ähnelt, aber, im Gegensatz zu den Im-

kern, dennoch immer wieder zu Missverständnissen in der öffentlichen Meinung führt:

Kommt es nämlich, wie in diesem Jahr, zu einem extrem strengen und langen Winter, einem Winter, der

den Frühling stark herauszögert und dann in einer umso stärkeren und kurzweiligeren Blühperiode

mündet, bekommen unsere fleißigen gestreiften Helferchen Probleme: Die Bienen schwärmen bei den

ersten Frühlingsanzeichen aus, finden draußen aber in den ersten Tagen und Wochen noch keine Blü-

ten und drohen zu verhungern, da sie, im Gegensatz zum Herbst, im Frühling kurzfristig keine Zucker-

lösung als Ersatzfutter mehr annehmen.

Der folgende Artikel soll dieses auf den ersten Blick paradox erscheinende Ergebnis, dass viele Unter-

nehmen gerade bei dem jetzt anlaufenden Konjunkturaufschwung überhaupt erst in Finanzierungsschwie-

rigkeiten geraten, beleuchten und verdeutlichen, dass bei der jetzt zu führenden Diskussion über einen

geplanten Ausstieg aus den Krisenbekämpfungsmaßnahmen nach der Wirtschafts- und Finanzkrise

Vorsicht angezeigt ist.

* Dr. Stefan Drews arbeitet seit Ende 2009 in derFinanzierungsabteilung des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Technologie (BMWi) und warvon 2007 bis 2009 bei der Europäischen Kommis-sion (Generaldirektion Unternehmen und Industrie)tätig. Dieser Beitrag liegt in der alleinigen Verantwortungdes Autors und legt ausschließlich dessen persön-liche Meinung dar.

1 Nach dem Bank Lending Survey der DeutschenBundesbank vom Januar 2010 erwarten jeweilsgleich viele Banken in Deutschland, dass die Kre-ditvergabestandards in den kommenden drei Mo-naten gelockert oder gestrafft werden.

2 Der Indikator des ifo Instituts »Kredithürde« befragtdie Unternehmen nach deren eingeschätzter Kre-ditversorgung (restriktiv/normal/entgegenkom-mend) und weist im März 2010 einen Wert von38,7% für restriktiv aus. Der Indikator ist damit zumdritten Mal in Folge besser geworden. Die Kredit-versorgung der gewerblichen Wirtschaft ist dem-nach heute besser als z.B. in den Jahren 2004,2005 und Anfang 2006. Die »Kredithürde« ist da-mit in der gesamten Krisen- und Nachkrisenzeit2008/2009/2010 deutlich besser als der vom ifoInstitut angegebene Normalwert von 50%. Auf wel-che Ursachen diese Verbesserungen zurückzufüh-ren sind (z.B. auf die außergewöhnlichen Krisen-bekämpfungsmaßnahmen der Europäischen Kom-mission und der Mitgliedstaaten), lässt sich jedochaus dem Indikator selbst nicht ableiten.

3 Zu nennen sind für Deutschland auf der Bundes-ebene etwa der mit 115 Mrd. € ausgestattete Wirt-schaftsfonds Deutschland mit seinen Bürgschafts-und Kreditprogrammen. Bis April 2010 profitier-ten ca. 12 000 Unternehmen von den im Wirt-schaftsfonds Deutschland aufgelegten Maßnah-men. Ein Großteil der Verpflichtungsermächtigun-gen für Kredite und Bürgschaften wurde jedochnoch nicht abgerufen und würde eventuell gegenEnde des Jahres wieder an den Bundeshaushaltabgeführt, falls der beihilferechtliche Rahmen derEuropäischen Kommission, auf welchem der Wirt-schaftsfonds Deutschland basiert, auslaufen sollte.

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Kommentar

re Kreditvergabepraxis der Banken oder sonstige Faktorenzurückführen lassen, bleibt jedoch angesichts der umfra-gebasierten Erhebungsmethode des Indikators offen. Indi-katoren, wie die Eigenkapitalausstattung der Unternehmenund der Banken oder auch die Kreditausfallraten in den Bü-chern der Kreditinstitute, weisen hingegen noch nicht ein-deutig darauf hin, dass die Effekte des großen Wirtschafts-einbruchs im Jahr 2008/2009 überwunden sind (vgl. Pro-jektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2010, 43). Diese wider-sprüchlichen und vorsichtigen Einschätzungen decken sichmit der nüchternen Grundhaltung, welche auch die letztenÄußerungen des Präsidenten der Europäischen Zentralbank4

untermauert, wonach die geldpolitische Exit-Strategie an-gesichts der aktuellen Entwicklungen auf den Finanzmärk-ten nicht mehr so schnell umgesetzt werden soll, wie diesursprünglich geplant war.

Angesichts des massiven Einbruchs der Unternehmensin-vestitionen zum Jahresende 2009 um – 14,5% gegenüberdem Vorjahr 2008 (aufgrund des für Deutschland historischscharfen Einbruchs der Wirtschaftsleistung um – 5%), kön-nen derzeit aber auch aus statistischen Gründen noch kei-ne verlässlichen Einschätzungen hinsichtlich der Ausschlä-ge einzelner Indikatoren und der zugrunde liegenden Ursa-chen gemacht werden. Grundsätzlich leiden alle statistischenoder empirischen Aussagen im Moment an einer »Unschär-fe«, welche durch die historischen Ausschläge des Jahres2009 ausgelöst wurden.5 Folglich sollten alle nachfolgendaufgeführten Umfrage- oder Indikatorenergebnisse immerim Gesamtkontext gesehen werden, um nicht zu einer ver-frühten Lageeinschätzung zu kommen.

Indikationen für eine im Konjunkturverlauf verzögerte Verbesserung der Finanzierungs-bedingungen

Zum Jahresende 2009 schrumpfte das von der KfW-Ban-kengruppe berechnete Kreditneugeschäft aller deutschenKreditinstitute mit Unternehmen und Selbständigen (ohneWohnungsbau, kurzfristige Kredite an Finanzierungsins-titutionen und Versicherungsgewerbe) um knappe 18% ge-genüber dem Vorjahresquartal.6 In der Nachrezessionspha-se (Jahr 2010) bekommen Unternehmen in der Regel zu-nehmende Finanzierungsschwierigkeiten, da eine im Zugeder anziehenden Produktions- und Investitionstätigkeit7 ge-stiegene Kreditnachfrage auf ein zunächst restriktives Kre-

ditangebot trifft.8 Aus Unternehmenssicht kommt gerade fürinnovative und technologieorientierte Betriebe erschwerendhinzu, dass nach Ergebnissen des ZEW und des Stifterver-bandes für die deutsche Wissenschaft, das FuE- und Inno-vationsverhalten der Unternehmen nach der Stagnation imJahr 2009 in diesem Jahr erst richtig unter Druck gerät. Diemit Geschäftseinbußen meist einhergehenden Kostenein-sparungen und »Umstrukturierungen« werden auch über dievermeintlich überwundene Konjunkturschwäche hinaus ne-gative Implikationen haben. Diese Zeitverzögerung und diedamit prognostizierten zukünftigen Schwierigkeiten dürftenfür Betriebsmittel- wie Investitionsfinanzierungen gelten undließen sich beispielsweise auch nach dem Wirtschaftsein-bruch im Jahre 2003 und den Folgejahren beobachten. Zahl-reiche wissenschaftliche Studien haben sich bereits mit derFrage beschäftigt, von welcher Seite des Kreditmarkts eineVerknappung ausgeht bzw. ausgehen könnte (vgl. KfW-Bankgruppe 2010b, 2; Projektgruppe Gemeinschaftsdiag-nose 2010, 43; Deutsche Bundesbank 2009). Derzeit wirdnoch nicht flächendeckend von einer angebotsseitigen Kre-ditrestriktion ausgegangen, was mit den oben genanntennachfrageseitigen Einflussfaktoren korrespondiert. Neues-te Studien legen jedoch den Schluss nahe, dass diese Ge-fahr für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. DieKfW-Bankengruppe (2010b) hat zur Abschätzung der Fra-ge, welche zukünftigen Tendenzen auf dem Kreditmarkt zuerwarten sind, ein ökonometrisches Modell entwickelt. DasModell analysiert in seinem Stützzeitraum von 1994 (Q1)bis 2007 (Q2) die Kreditneuzusagen und versucht dann, fürden aktuellen Rand der Krise ökonomische Aussagen aufBasis der gängigen Determinanten des Kreditgeschäfts auf-zustellen. Das Modell sieht in dem, in Relation zu der im Mo-dell erfassten Investitionsschwäche, außergewöhnlich nied-rigen Kreditneugeschäft im vierten Quartal 2009 ein Indiz füreine angebotsseitige Gefährdung der zukünftigen Kreditver-sorgung. Diese ökonometrisch unterlegte These lässt sichdurch eine Reihe angebotsseitig wirkender Faktoren unter-mauern:

• Wesentlicher Einflussfaktor auf diese Entwicklung istdie Trägheit der so genannten »Bonitätsmigration« inden bankinternen Unternehmensratings. Neue Ge-schäftszahlen kommen in der Regel erst ab März bisJuli des Folgejahres in die bankinternen Beurteilungs-systeme, so dass im Falle eines weiterhin stabilen Wirt-schaftsaufschwungs aus technischen Gründen frühes-

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4 Vgl. Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, in sei-nen Äußerungen am 22. März 2010 im monetären Dialog mit dem Euro-päischen Parlament.

5 Die materielle Beurteilung der aktuellen Konjunkturlage wird aufgrund tech-nischer Schwierigkeiten der Extremwertbereinigung erschwert: Wenn sichein Indikator sehr stark verändert, lassen sich z.B. traditionelle Ableitun-gen, wie etwa saisonale Veränderungen, nicht mehr exakt fortschreiben.

6 Im vierten Quartal 2009 sanken die nominalen Unternehmensinvestitio-nen in Deutschland noch um 14,5%.

7 Nach Aussagen der volkswirtschaftlichen Abteilung der KfW bestätigen dieneuesten Zahlen (7. April 2010) des KfW-ifo-Mittelstandsbarometers (»Mit-telstand startet gut gelaunt in den Frühling«) diese These (vgl. KfW-Ban-kengruppe 2010a).

8 Diese Entwicklung spielt sich zudem vor dem Hintergrund von – über dieletzten zwei Jahre verschärften – Kreditstandards ab (Banken verlangenz.B. mehr Prämien und höhere Sicherheiten als vor der Krise). Derzeit istdiese Verschlechterung der Kreditbedingungen für die Unternehmen zwarfast zum Stillstand gekommen (vgl. Bank Lending Survey der EZB), je-doch bleiben diese angebotsseitigen Beeinträchtigungen der Kreditver-gabe als Basiseffekt weiterhin bestehen.

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Kommentar

tens ab Juli 2011 mit verbesserten Finanzierungsmög-lichkeiten für den Großteil der deutschen Unternehmenzu rechnen ist.– Derzeit gehen vielmehr die sehr schlechten Geschäfts-

zahlen des Jahres 2009 in die Beurteilung ein, so dassnicht ausgeschossen werden kann, dass sich die Si-tuation ab Juli 2010 eintrübt. Die voraussichtlichenDownratings werden bei den IRBA-Banken (IRBA =bankinternes Ratingsystem; diese stellen ca. 60 bis70% des Unternehmenskreditbestandes in Deutsch-land) eine zusätzliche Eigenkapitalunterlegung bei denBanken erforderlich machen. Im Mittelstandsbereich(gehobener B-Bereich; nach S&P-Systematik) führt al-lein eine Absenkung um eine Ratingstufe zu einer Er-höhung der nötigen Eigenkapitalunterlegung um rund20%. Angesichts der angespannten Eigenkapitalaus-stattung der deutschen Banken dürfte sich eine sol-che Entwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit in ver-schärften bzw. verschlechterten Finanzierungsbedin-gungen für die Unternehmen widerspiegeln.

– Hinzu kommen infolge wahrscheinlich9 vermehrter In-solvenzen10 bei den Unternehmen der Realwirtschaftund Verschlechterungen bei der Sicherheitenbewer-tung in den Unternehmen Maßnahmen der Risiko-vorsorge (Abschreibungen) hinzu, welche die Ban-ken im Laufe dieses und wahrscheinlich auch desnächsten Jahres mit zweistelligen Milliardenbeträgenbelasten können. Schätzungen des Deutschen Spar-kassen- und Giroverbandes sowie der DeutschenBundesbank (Finanzstabilitätsbericht von November2009) gehen von hohen zweistelligen Milliardenbe-trägen (ca. 60–90 Mrd. €)11 und einer deutlichen Stei-gerung der Wertberichtigungen im Laufe des Jahres2010 im Vergleich zu 2009 aus.

– Die für das Jahr 2010 aus quantitativ-ratingtechnischenGründen zu erwartenden Verschlechterungen könn-ten jedoch geringer ausfallen, als dies für die Vergan-genheit zu erwarten gewesen wäre, da durch die Ban-kenaufsicht stabilisierende Faktoren in die bankenin-terne Bonitätsbewertung eingebaut werden mussten.So müssen Kreditinstitute in Deutschland bei einer Bo-nitätsbewertung nach IRBA-Standard für eine Justie-rung ihrer Ratings auf eine vierjährige Datenreihe zu-rückgreifen, so dass die negativen prozyklischen Wir-kungen des Jahres 2009 begrenzt werden könnten.Hinzu kommt etwa für den Bereich der Sparkassen(welche sich in der Regel grundsätzlich am IRBA ori-entieren), dass diese seit Mitte des Jahres 2009 ver-suchen, durch den stärkeren Einfluss von qualitativenFaktoren, die bisher stark vergangenheitsbezogeneRatingnote zu adjustieren. So können auch positiveZukunftserwartungen (Produktbeurteilungen, Bran-chenentwicklung, Absatzmärkte, persönliche Eigen-schaften des Kreditnehmers oder auch historisch ge-wachsene Geschäftsbeziehungen) zu einem Anteil vonmaximal 50% in die Bonitätsbeurteilung einfließen. Insolchen gemischten Modellen ließe sich also ein dras-tischer Einbruch der quantitativen Zahlen des Jahres2009 mit anderen »weichen« Zukunftsfaktoren in ei-nem gewissen Maße ausgleichen. Ein für das Jahr 2010verbesserter Finanzmittelzugang ließe sich daraus abernicht herleiten, da die 50% quantitativer Einfluss(schlechte Geschäftszahlen 2009) bestehen bleiben.

– Im Umkehrschluss kann (für den 50%igen quantitati-ven Anteil an den Ratingnoten) vielmehr für das Jahr2011 nicht ausgeschlossen werden, dass sich aus demoben genannten Grund eine verzögerte Verbesse-rungsperspektive bis hinein ins Jahr 2012 für die Un-ternehmen ergeben könnte, so dass die für Mitte 2011erwarteten Bonitäts- und Kreditzugangswerte schwä-cher als bei früheren Aufschwungsphasen ausfallendürften. Im Übrigen dürfte sich auch das BIP entge-gen früherer Konjunkturzyklen erst im Jahre 2013 wie-der auf dem Vorkrisenstand befinden (vgl. Projektgrup-pe Gemeinschaftsdiagnose 2010, 60).

Neben den Gesetzmäßigkeiten der Bonitätsmigration (Nach-laufen der Kreditentwicklung) kommen noch eine Reihe wei-terer Faktoren hinzu, welche eine schnelle und stabile Ver-besserung der Finanzierungssituation in den nächsten zwölfMonaten für nicht sehr wahrscheinlich erachten lassen:

• In Deutschland wurden Maßnahmen zur Bankenregulie-rung beschlossen bzw. werden Maßnahmen diskutiert,welche den Spielraum der Banken auf der Aktivseite ein-schränken dürften. Kommen alle derzeit diskutierten Vor-schläge zusammen, benötigt das deutsche Bankensys-tem nach ersten überschlägigen Schätzungen in erheb-licher Größenordnung zusätzliches Eigenkapital. Der Bun-

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9 Im Jahr 2009 gab es einen Anstieg der Insolvenzen gegenüber dem Vor-jahreszeitraum von 11,6%. Für 2010 erwartet Euler-Hermes einen weite-ren Anstieg der Unternehmensinsolvenzen gegenüber dem Vorjahreszeit-raum von 10%. In der Insolvenzstatistik zeigen sich ebenfalls nachlaufen-de Tendenzen, so dass in der Regel der Höchststand der Insolvenzenerst am Beginn des nächsten Wirtschaftsaufschwungs zu erwarten ist.Creditreform schätzt, dass die gestiegenen Insolvenzen des Jahres 2009Abschreibungen privater Gläubiger in Höhe von 37,1 Mrd. € nachsichzie-hen. Das Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute vomFrühjahr 2010 schließt aus diesen Zahlen und dem Vergleich mit der Re-zession des Jahres 1993 auf auch für das Jahr 2010 nochmals deutlicherhöhte Insolvenzschäden (vgl. Creditreform 2010; Projektgruppe Gemein-schaftsdiagnose 2010, 43).

10 Nach Aussagen des Verbandes Creditreform hat sich das Verhältnis derEigenkapitalausstattung des Mittelstandes im Verhältnis zur Bilanzsum-me vom Jahr 2008 auf 2009 weiter verschlechtert, so dass in 2009 nurnoch 24,5% der Mittelständler über 30% Eigenkapital an der Bilanzsum-me, aber 33,1% der KMU weniger als 10% Eigenkapital aufwiesen. Daunterkapitalisierte Unternehmen bei Kreditverhandlungen schlechtere Kon-ditionen erwarten müssen, schränkt diese Entwicklung nach Aussagender KfW die positiven Effekte einer etwaigen Konjunkturbelebung wiederein.

11 Von diesen 60–90 Mrd. € entfallen dabei ca. 50–75 Mrd. € auf Buchkre-dite (Zusammenhang mit Insolvenzen) und nur 10–15 Mrd. € auf Verbrie-fungsinstrumente (sog. »toxische«Wertpapiere). Zum Vergleich: Das Kern-kapital aller deutschen Banken beläuft sich auf unter 350 Mrd. €. Wegender Deckung der Abschreibungen durch laufende und künftige Erträgesowie vorausschauender Verlustrückstellungen entspricht der Abschrei-bungsbedarf jedoch nicht direkt dem Eigenkapitalbedarf.

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Kommentar

desverband Deutscher Banken rechnet mit 60 bis zu ca.160 Mrd € (inkl. verbindliche Leverage-Ration und Eigen-kapitalunterlegungen für systemische Institute oder oh-ne diese Faktoren).12 Auch wenn die Regelungen langeÜbergangsfristen enthalten sollten, ist ihre Vorwegnah-me durch die Kapitalmärkte wahrscheinlich (Banken könn-ten versuchen, die Belastungen sofort auf die Kredit-nehmer zu überwälzen). Damit würden sich diese Effek-te und der für das Jahr 2010 zu erwartende Downra-tingprozess der Unternehmen an der Eigenkapitalseitetreffen und gegenseitig verstärken.

• Auch die in einigen Europäischen Ländern geplante Ban-kenabgabe wird sich hier auf den Geschäftsbetrieb derBanken und die Finanzierungsposition der Unterneh-men auswirken.

Fazit: Keine vorschnellen Einschätzungen der Lage

Sei es bei der auf der europäischen Ebene geführten Dis-kussion über den stufenweisen Ausstieg aus den staatlichenFinanzierungsprogrammen für die Unternehmen13, bei derEinführung von neuen Eigenkapitalregeln für Banken oderauch bei der Diskussion um die Einführung einer Banken-steuer, die inhärenten Verzögerungsmechanismen des Fi-nanzierungssystems sollten frühzeitig in die Planungen ein-bezogen werden, um nicht zu früh und überhastet eine »Ent-warnung« auf der Finanzierungsseite zu geben. Erst im Lau-fe des Jahres 2011 wird sich verlässlich zeigen, ob die ers-ten Stabilisierungstendenzen robust genug sind, um für dieMasse der deutschen Unternehmen auch in den nächstenMonaten genügend Kapital bereitzustellen.14

Wir sollten uns also verhalten wie ein vorausschauenderImker: Vorsorgen und noch im Spätherbst Zuckerlösung zu-füttern, so dass die Honigbienen auch bei einem längerenWinter genügend Reserven für den »Frühlingsaufschwung«haben. Hoffen wir, dass es auch für unsere 23 Mill. Unter-nehmen in Europa eine vorausschauende ordnungspoliti-sche Hand geben wird.

Literatur

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12 Die KfW-Bankengruppe hat im Februar 2010 insgesamt fünf europäi-sche Eigenkapital-Bedarfsstudien ausgewertet und kommt zum selbenErgebnis von 60–160 Mrd. € Bedarf für die deutschen Kreditinstitute.

13 Vgl. hierzu die Definition einer glaubwürdigen Ausstiegsstrategie in Kapi-tel 4.1 der von der Europäischen Kommission vorgelegten EU-2020-Stra-tegie. Darin fordert die Europäische Kommission, unterstützt vom Euro-päischen Rat (Schlussfolgerungen vom 25./26. März 2010), eine »sequen-zielle« Ausstiegsstrategie, nach welcher die Maßnahmen, die den Zugangvon Unternehmen zu Finanzierungsmöglichkeiten erleichtern, fortgesetztwerden sollten, bis deutliche Anzeichen für eine weitgehende Wieder-herstellung der normalen Bedingungen erkennbar sind (vgl. EuropäischeKommission 2010).

14 Vgl. auch die Aussagen des Gemeinschaftsgutachtens der Wirtschafts-forschungsinstitute (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2010), wo-nach für die nächsten Monate noch kein robuster Aufschwung und nochkeine stabile Kreditversorgung für die Unternehmen prognostiziert wer-den kann.

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63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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Zum Erklärungsgehalt des Institutionenindex

Der Institutionenindex verfolgt das Ziel,Veränderungen des Pro-Kopf-Einkom-mens zu erklären. Um den Grad der Rea-lisierung dieses Zieles zu prüfen, werdenin Abbildung 1 die Veränderungen des Ins-titutionenindex und die Wachstumsratendes Pro-Kopf-Einkommens einander ge-genübergestellt. Dabei wird auf einen glei-

tenden Durchschnitt für Vierjahreszeiträu-me abgestellt. Der Institutionenindex fürdie Gesamtheit der 24 OECD-Länder wirdals ungewichteter Durchschnitt der Index-werte der einzelnen Länder ermittelt. DieWachstumsrate des Pro-Kopf-Einkom-mens aller 24 OECD-Länder wird eben-falls als ungewogener Durchschnitt ausden Wachstumsraten der einzelnen Län-der gebildet. Es wird davon ausgegan-gen, dass Veränderungen von Institutio-

für OECD-Länder

Wolfgang Ochel und Anja Rohwer

Institutionen und Wachstum – ein Ranking

Seit der bahnbrechenden Arbeit von Douglas North und Robert Thomas im Jahr 1973 wuchs die

Erkenntnis, dass Institutionen (z.B. staatliche Regulierungen) das Wirtschaftswachstum beeinflus-

sen. Dieser Zusammenhang ist inzwischen durch eine Vielzahl von Untersuchungen belegt wor-

den (einen Überblick über die relevante Literatur liefern Eicher und Röhn 2007).

Für einzelne Länder ist es von Interesse zu erfahren, ob ihre institutionellen Regelungen diejeni-

gen Eigenschaften aufweisen, mit denen erfahrungsgemäß ein hohes Wachstum des Pro-Kopf-

Einkommens erreicht werden kann. Eine solche Einschätzung kann mit dem Institutionenindex vor-

genommen werden, welcher vom Bereich Internationaler Institutionenvergleich des ifo Instituts in

Zusammenarbeit mit Theo Eicher von der University of Washington in Seattle entwickelt worden

ist. Dieser Index liefert einen Maßstab, um die Qualität der Institutionen eines Landes zu bewer-

ten. Er basiert auf einem Verfahren, mit dem solche Institutionen identifiziert werden, die in ho-

hem Maße zum Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens beitragen (vgl. die Box).

Box Das Verfahren zur Bildung des Institutionenindex

Das Verfahren beinhaltete in einem ersten Schritt, Zeitreihen von institutionellen Regelungen zusammenzustellen, die möglichst viele OECD-Länder und einen möglichst langen Zeitraum abdecken. Es zeigte sich, dass für 24 OECD-Länder und den Zeitraum 1988 bis 2004 Werte von insgesamt 61 institutionellen Indikatoren zur Verfügung standen. Diese Indika-toren wurden einer Faktoranalyse unterzogen, um so die Dimensionalität der unabhängigen Indikatoren zu reduzieren (vgl. Eicher und Röhn 2007).

In einem zweiten Schritt wurden die ökonomisch relevanten Indikatoren durch Regressionsanalysen mit dem durchschnitt-lichen Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in den 24 OECD-Ländern in den Zeiträumen 1990–1994, 1994–1998 und 1998–2002 ermittelt. Auf diese Weise wurde bestimmt, welche Indikatoren besonders wichtig für das wirtschaftliche Wachstum sind und in welchem Maße dies der Fall ist.

Die Faktor- und die Regressionsanalyse führten zu folgenden Ergebnissen: Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in den OECD-Ländern wird durch acht Institutionenbereiche mit 23 institutionellen Segmenten geprägt. Diese erklären 44% des Wachstums. Die acht Bereiche und 23 Segmente bildeten die Grundlage für die Ermittlung eines aggregierten Institu-tionenindex. Sie werden in Hinblick auf ihre Stellung bei der Bildung des Institutionenindex im Folgenden als Subindizes und Komponenten bezeichnet (für eine detailliertere Beschreibung der Methodik siehe http://www.cesifo-group.de/ portal/page/portal/ifoHome/a-winfo/d3iiv/_DICE_division?_id =6746666&_div=7209869). Es wurden folgende institutionelle Subindizes identifiziert (in Klammern ihr Beitrag zum gesamten Index): Optimale Besteuerung (21,2%), Institutionelle Grundausstattung (21,0%), Steuerbelastung (16,7%), Effizienz des Humankapitals (14,9%), Handelsliberalisierung (8,2%), Arbeitsmärkte (8,1%), Struktur der Staatsausgaben (6,6%) und Kapitalmärkte (3,3%). Die meisten Subindizes sind wieder aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt (vgl. Tab. 1).

Alle Komponenten wurden für jedes Land zu einem Indexwert aggregiert. Dabei wurden die Werte der einzelnen Kompo-nenten auf einen Bereich zwischen 0 und 1 normiert. Folgende Berechnungsformel wurde zugrunde gelegt:

)()(

)()(

,,

,,

,

titi

titi

ti

KMinKMax

KMinKKNorm =

Dabei ist ti

K,

der Wert der Komponente des Landes i zum Zeitpunkt t. Min )( ,tiK und Max )( ,tiK sind der Mindest- bzw.

der Höchstwert der betrachteten Komponente unter allen 24 OECD-Ländern. Anschließend wurden die normierten Kom-ponenten gewichtet und zu dem Gesamtindex eines Landes aggregiert. Dazu wurden die in der Tabelle angegebenen Gewichte verwendet. Je höher der Indexwert eines Landes ist, umso besser ist die Qualität seiner Institutionen.

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Forschungsergebnisse

nen erst mit einer zeitlichen Verzögerung das Wirtschafts-wachstum beeinflussen. Das heißt, dass der Indexwert z.B.für das Jahr 2000 auf den durchschnittlichen Werten derinstitutionellen Komponenten der Jahre 1994–1998 beruht.Wie Abbildung 1 zeigt, weisen Veränderungen des Institu-tionenindex einen gleichläufigen Verlauf im Hinblick auf dieVeränderungen des Pro-Kopf-Einkommens auf.1 Dies ist be-merkenswert, da zur Bestimmung der Gewichte nur dreiQuerschnitte in die Regression eingegangen sind (1994,

1998, 2002) und sieben Jahre als »Out-of-Sample«-Vor-hersagen gelten.

Institutionelle Determinanten desWirtschaftswachstums

Angesichts des Zusammenhangs zwischen institutionellerEntwicklung und Wirtschaftswachstum stellt sich die Fra-ge, welche institutionellen Subindizes für den Anstieg desInstitutionenindex und damit für das Wachstum in denOECD-Ländern insgesamt verantwortlich waren. Die folgen-de Betrachtung bezieht sich auf die Jahre 1994–2009. InAbbildung 2 sind die (ungewichteten) Subindexwerte fürdie OECD-Länder insgesamt abgetragen.

Es zeigt sich, dass der Institutionenindex und das Wirt-schaftswachstum in diesem Zeitraum vor allem durch die

i fo Schne l ld ienst 9/2010 – 63. Jahrgang

26

1 Eine Ausnahme des gleichläufigen Verlaufs bildet das Jahr 2002. Zwischendem Jahr 2001 und 2002 zeigt der Index einen starken Anstieg, währendsich das durchschnittliche Wachstum verlangsamt hat. Diese Divergenz istvor allem auf den Subindex Handelsliberalisierung in den EU-Ländern zu-rückzuführen. Da sich die Indexwerte des Jahres 2002 auf Institutionendes Jahres 2000 beziehen, schließen wir daraus, dass sich der Indexan-stieg zu einem Großteil auf die Einführung des Euros bezieht. Die Einfüh-rung des Euro hat jedoch nicht zu einem Anstieg des Wachstums in demMaße geführt, wie es der Index vorhergesagt hat. Nach 2002 verlaufenIndex und durchschnittliches Wachstum wieder gleichgerichtet.

Tab. 1 Institutionenindex: Subindizes und Komponenten

Subindizes

Beitrag zum gesamten Index

in % Komponenten Quelle

Beitrag zum gesamten Index in %

Spitzensteuersatz EFW 9,8 Optimale Besteuerunga) 21,2 Steuer- und Abgabenlast OECD 11,4

21,0 Politische Stabilität WES 6,1 Qualität der Verwaltung ICRG 4,5 Recht und Ordnung ICRG 4,0 Eigentumsrechte/Rechtsordnung EFW 4,0 Korruption ICRG 1,9 Vertrauen in die Wirtschaftspolitik WES 0,4

Institutionelle Grundausstattung

Investitionsbeschränkungen WES 0,1 Steuerbelastung 16,7 Steuerquote OECD (16,7)

14,9 Hochschulbesuchsquote Weltbank 4,8 Durchschnittliche Ausbildung der

Bevölkerung in Jahren OECD 4,0

Sekundarschulbesuchsquote Weltbank 3,2

Effizienz des Humankapitals

Öffentliche Ausbildungsausgaben Weltbank 2,9 Handelsliberalisierung 8,2 Zölle EFW 3,8 Handelsverflechtung EFW 2,9 Existenz eines

Schwarzmarktwechselkurses EFW 1,5

Arbeitsmärkte 8,1 Frühverrentungsindex OECD 4,1 Arbeitsmarktregulierungen EFW 3,2 Frauenerwerbsquote Weltbank 0,8

6,6 Öffentlicher Konsum EFW 4,1 Struktur der Staatsausgaben Öffentliche Unternehmen und

Investitionen EFW 2,5

Kapitalmärkte 3,3 Kredite an den Privatsektor Weltbank 1,8 Kapitalmarktkontrollen EFW 1,5 100,0 100,0 Anmerkung: EFW: Fraser Institute, Economic Freedom of the World (2009); OECD: Taxing Wages, Revenue Statistics und Employment and Labour Force Statistics (2009); ICRG: International Country Risk Guide (2006; 2009); WES: Ifo World Economic Survey (2010); Weltbank: Educational Statistics und Development Indicators (2009). a) Der Subindex »Optimale Besteuerung« weist Ländern mit sehr niedrigen bzw. sehr hohen Steuersätzen einen niedrigen Indexwert zu. Dahinter steht die Überlegung, dass zwischen der Besteuerung und dem Wirtschaftswachstum eine nicht-lineare Beziehung besteht. Ein zu geringes Steueraufkommen würde Infrastrukturinvestitionen behindern, eine zu hohe Besteuerung der Unternehmen andererseits die private Investitionstätigkeit beeinträchtigen. Die nicht-lineare Beziehung zwischen Besteuerung und Wachstum wird durch das Quadrat der beiden Komponenten berücksichtigt und geht in den Subindex ein, obwohl er hier nicht explizit ausgewiesen wird.

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

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Forschungsergebnisse

Erhöhung der Effizienz des Humankapitals, Reformen derArbeitsmärkte und strukturelle Anpassungen bei den Staats-ausgaben stimuliert wurden. In der positiven Entwicklungdieser Subindizes kommt zum Ausdruck, dass in den letz-ten Jahren in vielen OECD-Ländern umfangreiche Reformender Bildungssysteme, der Arbeitsmarktinstitutionen und desöffentlichen Sektors eingeleitet worden sind. Außerdem sindder Internationale Handel und die Kapitalmärkte liberalisiertworden, wobei die Handelsliberalisierung seit 2000 wiederrückläufig war.

Der positiven Entwicklung der institutionellen Qualität ineinigen Bereichen standen allerdings auch negative Ent-wicklungen in anderen Bereichen gegenüber. So ver-schlechterten sich die Subindizes Optimale Besteuerungund Steuerbelastung. Die Institutionelle Grundausstattungblieb in etwa unverändert, mit einem leichten Anstieg inden neunziger Jahren und einem leichten Rückgang seit

2002. Dieser Subindex behält aber nach wievor ein hohes Niveau.

Die bisherigen Ausführungen bezogen sich aufdie OECD-Länder insgesamt. Im Folgendensollen einzelne Länder betrachtet werden.

Länderrankings 1994 und 2009

In Tabelle 2 sind die Indexwerte und die Rang-positionen der 24 OECD-Länder für die Jahre1994 und 2009 wiedergegeben. Der Vergleichder Rangpositionen im Zeitablauf zeigt folgen-de Ergebnisse. Im Jahr 1994 nahmen die Ver-einigten Staaten, Japan, Kanada und dieSchweiz die vier Spitzenpositionen ein. Im Jahr2009 lagen Australien, Finnland, Dänemark unddie Niederlande vorn. Am unteren Ende derRangskala befanden sich 1994 Mexiko, Ita-

lien, Griechenland und die Türkei. Im Jahr 2009 gehörte Süd-korea statt Griechenland zum Kreis dieser Länder.

Die im Ranking vorne liegenden Länder weisen bestimm-te institutionelle Charakteristika auf. Die InstitutionelleGrundausstattung ist vorbildlich. Die Regierungen schüt-zen die Eigentumsrechte, Recht und Ordnung werdendurchgesetzt und Korruption verhindert. Die Länder un-ternehmen große Bildungsanstrengungen. Die Hoch-schul- und Sekundarschulbesuchsquoten sind hoch. Einerheblicher Teil des Bruttoinlandsprodukts wird für dieAusbildung ausgegeben. Der Subindex Optimale Be-steuerung weist gute Werte auf. Des Weiteren setzen sich diese Länder dem internationalen Wettbewerb aus (vgl.Tab. 3).

Umgekehrt weisen die Länder am Ende der Rangskala ge-rade in den institutionellen Bereichen Schwä-chen auf, in denen die führenden Länder ihrekomparativen Vorteile haben. Die grundlegen-den institutionellen Bedingungen sind eher un-günstig und die Ausbildung wird – sieht manvon Südkorea ab – vernachlässigt. Außerdemsind die Kapitalmärkte inflexibel. Das Gleichegilt auch für die Arbeitsmärkte in Italien und inder Türkei.

Gewinner im internationalen Ländervergleich

Die stärkste Verbesserung ihrer institutionel-len Wachstumsbedingungen gemessen an derRangposition konnten Neuseeland, Finnland,Australien und Dänemark erreichen. Musste

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

27

0.00

0.01

0.02

0.03

0.04

1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008

0.57

0.58

0.59

0.60

0.61

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

Anmerkung: Der Wert des Institutionenindex gibt die Qualität der Institutionen vergangener Jahre wieder. Der Wert des Jahres 2009 z.B. beruht auf den durchschnittlichen Werten der institutionellen Komponenten der Jahre 2003–2007. Die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens 2009 stellt das durchschnittliche Wachstum der Jahre 2006–2009 dar.

Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens und Institutionenindex in OECD-

Ländern

Wachstum p.K. (gleitender Durchschnitt) Index

Abb. 1

0.4

0.5

0.6

0.7

0.8

1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008

Optimale Besteuerung Institutionelle Grundausstattung Effizienz d. HumankapitalsHandelsliberalisierung Arbeitsmärkte Struktur d. StaatsausgabenKapitalmärkte Steuerbelastung

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

Anmerkung: Bei den Subindexwerten handelt es sich um die Durchschnittswerte über alle OECD-Länder. Die Subindexwerte sind ungewichtet.

Die institutionellen Determinanten des Wirtschaftswachstums in den

OECD-Ländern, 1994–2009 (Subindizes)

Abb. 2

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sich Neuseeland im Jahr 1994 noch mit Rang 19 zufriedengeben, erreichte es im Jahr 2009 Rang 6. Einen Sprung nachvorne machte ebenfalls Finnland, das sich von Rang 14 aufRang 2 verbessern konnte. Aufstrebende Länder sind auchAustralien und Dänemark, die sich um neun Rangpositionenverbessern konnten (vgl. Tab. 2).

Die Gründe für den Aufstieg der vier genannten Länder sindnicht einheitlich. Neuseeland begann seine Wirtschaft schonin den achtziger Jahren zu reformieren und setzte diesen Re-

formprozess in den neunziger Jahren fort. Zu-erst sind hier die Arbeitsmarktreformen zunennen. Die Frühverrentung wurde gebremst,die Frauenerwerbsquote erhöht. Deregulie-rungen im Energiesektor und im Transport-wesen (die von dem Institutionenindex nichterfasst werden) waren begleitet von einer Öff-nung der Märkte. Vermehrte Bildungsanstren-gungen trugen ihre Früchte. Sozialausgabenwurden gekürzt und gleichzeitig Privatisierun-gen vorangetrieben (zu einer ausführlicherenAnalyse des Reformprozesses vgl. Ochel undOsterkamp 2007). Finnland leitete Anfang derneunziger Jahre einen umfassenden Reform-prozess ein, der das Land aus dem wirtschaft-lichen Nationalismus hin zu einer weltoffenenVolkswirtschaft führte (vgl. Eicher et al. 2008).Wie das Update des Institutionenindex für2009 zeigt, hält die positive Entwicklung inFinnland bis in die jüngste Zeit an. Austra-liens Erfolg ist vor allem auf seine Bildungsre-formen zurückzuführen. Seine Reformansät-ze sind teilweise vorbildlich. Darüber hinaussetzte Australien seine Wirtschaft zunehmenddem internationalen Wettbewerb aus, refor-mierte seinen öffentlichen Sektor und konntedas Vertrauen der Bevölkerung in die staatli-che Politik steigern.

Dänemark hat seine institutionellen Wachstumsbedingun-gen seit Anfang der neunziger Jahre durch eine Reihe vonReformen verbessern können. Unser nördlicher Nachbarreformierte seinen Kapitalmarkt und verbesserte die Rah-menbedingungen für die Kreditversorgung des Privatsek-tors. Es erhöhte die Flexicurity seiner Wirtschaft und re-formierte die Arbeitsmarktinstitutionen mit dem Ergebnis,dass die Arbeitslosen in hohem Maße aktiviert wurden. Dä-nemark baute seine Universitäten aus und steigerte dieHochschulbesuchsquote erheblich. Durch den Abbau von

i fo Schne l ld ienst 9/2010 – 63. Jahrgang

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Tab. 2 Länderrankings

1994 2009 Rang Länder Index

Wert Länder Index

Wert 1 Vereinigte Staaten 0,679 Australien 0,688 2 Japan 0,665 Finnland 0,654 3 Kanada 0,648 Dänemark 0,654 4 Schweiz 0,639 Niederlande 0,651 5 Irland 0,622 Irland 0,650 6 Ver. Königreich 0,618 Neuseeland 0,650 7 Deutschland 0,616 Vereinigte Staaten 0,650 8 Norwegen 0,613 Kanada 0,646 9 Niederlande 0,610 Deutschland 0,641 10 Australien 0,609 Ver. Königreich 0,640 11 Belgien 0,582 Japan 0,625 12 Dänemark 0,572 Schweden 0,624 13 Österreich 0,570 Schweiz 0,623 14 Finnland 0,563 Norwegen 0,617 15 Schweden 0,560 Österreich 0,610 16 Südkorea 0,559 Portugal 0,588 17 Portugal 0,548 Griechenland 0,587 18 Frankreich 0,542 Spanien 0,585 19 Neuseeland 0,540 Belgien 0,584 20 Spanien 0,537 Frankreich 0,548 21 Mexiko 0,506 Südkorea 0,539 22 Italien 0,498 Italien 0,486 23 Griechenland 0,498 Türkei 0,474 24 Türkei 0,460 Mexiko 0,472

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

Tab. 3 Qualität der Institutionen in % des Subindexwertes des Best-practise-Landes, 2009

Länder Optimale Be-

steuerung

Institutio-nelle

Grundaus-stattung

Steuer-belastung

Effizienz des

Human-kapitals

Handels-liberali-sierung

Arbeits-märkte

Struktur der

Staats-ausgaben

Kapital-märkte

Australien 73 93 61 98 75 79 78 61 Finnland 99 100 22 97 86 49 57 56 Dänemark 100 98 5 96 85 81 47 98 Niederlande 95 92 40 75 96 63 39 99 Südkorea 32 49 80 89 75 68 75 53 Italien 93 36 27 62 86 37 75 63 Türkei 74 35 80 27 75 22 91 26 Mexiko 21 32 100 39 85 77 89 27

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

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Investitionsbeschränkungen und Privatisierungen gelanges, einen privatwirtschaftlichen Sektor zu errichten, derim internationalen Wettbewerb gut bestehen kann. Schließ-lich konnte die ausgezeichnete Institutionelle Grundaus-stattung noch weiter verbessert werden. Dies alles hatteallerdings einen Preis: die hohe Steuerbelastung der Be-völkerung (vgl. Abb. 3).2

Verlierer im internationalen Ländervergleich

Den Gewinnern im internationalen Ländervergleich stehenVerlierer gegenüber. Die stärksten Einbußen im Länderran-king mussten Japan und die Schweiz hinnehmen. Lag Ja-pan 1994 noch auf Rang 2, so nahm es 2009 die Rangpo-sition 11 beim Institutionenindex ein. Einbußen im Rankingverzeichnete ebenfalls die Schweiz. Im Jahre 1994 nahm sienoch die Rangposition 4 ein. 2009 war sie auf Rang 13 ab-gerutscht. Weitere Länder, die relativ zu an-deren Ländern verloren haben, sind Norwe-gen und die Vereinigten Staaten. Sie ver-schlechterten sich um jeweils sechs Rang-positionen (vgl. Tab. 2).

Die Verschlechterung der Rangposition Ja-pans ist auf die wirtschaftliche Krise Japansin den neunziger Jahren und die Antwor-ten der japanischen Wirtschaftspolitik aufdiese Krise zurückzuführen. Die Entwick-

lung in der Schweiz ist durch verschiede-ne, eher geringfügige Einbußen der insti-tutionellen Qualität gekennzeichnet. So verschlechterten sich die grundlegendeninstitutionellen Rahmenbedingungen ge-genüber anderen Ländern. Die Korruptionnahm zu. Die Steuerbelastung der Bürgererhöhte sich und die Kreditversorgung desprivaten Sektors wurde im Laufe der Jah-re als weniger vorteilhaft bewertet (vgl.Ochel und Osterkamp 2007). Norwegen re-duzierte die Offenheit seiner Wirtschaft, dieSteuerbelastung nahm zu, und die Finan-zierungsbedingungen wurden von Seitender Privatwirtschaft als zunehmend schwie-rig eingeschätzt.

Die Qualität der Institutionen in den Verei-nigten Staaten hat vor allem deshalb abgenommen, weil dieInstitutionelle Grundausstattung sich verschlechtert hat. DiePolitische Stabilität nahm ab. Die Eigentumsrechte sowieRecht und Ordnung wurden weniger geschützt und die Kor-ruption nahm erheblich zu. Die Besteuerung wurde als we-niger optimal empfunden. Diese Einbußen an institutionel-ler Qualität konnten nicht dadurch kompensiert werden, dasssich die Rahmenbedingungen für die Kreditversorgung desprivaten Sektors verbessert und die Konsumlastigkeit deröffentlichen Ausgaben abgenommen haben (vgl. Abb. 4).

Deutschland in guter Mittelage

Das deutsche Institutionengefüge weist eine im Vergleichmit anderen OECD-Ländern relativ gute Qualität auf. Im Jahr 1994 nahm Deutschland die 7. und 2009 die 9. Rang-position ein (vgl. Tab. 2).

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0.000.100.200.300.400.500.600.700.800.901.00

Optimale Besteuerung

Politische Stabilität

Qualität der Verwaltung

Recht und Ordnung

Eigentumsrechte/Rechtsordnung

Korruption

Vertrauen i.d. Wirtschaftspolitik

Investitionsbeschränkungen

Steuerquote

Hochschulbesuchsquote

Durchschnittliche AusbildungSekundarschulbesuchsquoteÖffentliche Ausbildungsausgaben

Zölle

Handelsverflechtung

Existenz einesSchwarzmarktwechselkurses

Frühverrentungsindex

Arbeitsmarktregulierungen

Frauenerwerbsquote

Öffentlicher Konsum

Öffentliche Unternehmen undInvestitionen

Kredite an den privaten Sektor

Kapitalmarktkontrollen

1994

2009

Qualität der Institutionen in Dänemark, 1994 und 2009 (23 Komponenten)

in % des Best-practise-Landes

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

Abb. 3

0.000.100.200.300.400.500.600.700.800.901.00

Optimale Besteuerung

Politische Stabilität

Qualität der Verwaltung

Recht und Ordnung

Eigentumsrechte/Rechtsordnung

Korruption

Vertrauen i.d. Wirtschaftspolitik

Investitionsbeschränkungen

Steuerquote

Hochschulbesuchsquote

Durchschnittliche AusbildungSekundarschulbesuchsquoteÖffentliche Ausbildungsausgaben

Zölle

Handelsverflechtung

Existenz einesSchwarzmarktwechselkurses

Frühverrentungsindex

Arbeitsmarktregulierungen

Frauenerwerbsquote

Öffentlicher Konsum

Öffentliche Unternehmen undInvestitionen

Kredite an den privaten Sektor

Kapitalmarktkontrollen

1994

2009

Qualität der Institutionen in USA, 1994 und 2009 (23 Komponenten)

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

in % des Best-practise-Landes

Abb. 4

2 Mit Hilfe des Spinnwebdiagramms können Verände-rungen der einzelnen Komponenten des Institutionen-index dargestellt werden. Die Werte der Komponen-ten Dänemarks werden als Prozentsatz des Kompo-nentenwertes des Best-practise-Landes dargestellt.Veränderungen der Komponentenwerte Dänemarkskönnen sich dabei durch absolute Veränderungen inDänemark als auch durch absolute Veränderungendes Best-practise-Landes ergeben.

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Deutschland zeichnet sich insbesondere durch eine guteInstitutionelle Grundausstattung aus. Es verfügt über eineausgezeichnete Verwaltung, die Eigentumsrechte werdengeschützt, das Land ist politisch stabil, und es herrscht weit-gehend Recht und Ordnung. Andererseits ist Deutschlandnicht frei von Korruption und das Vertrauen in die Politik istvergleichsweise niedrig. Ein weiterer Pluspunkt neben deninstitutionellen Rahmenbedingungen ist die Offenheit desLandes. Die deutsche Wirtschaft ist dem internationalenWettbewerb ausgesetzt und nutzt die von der Konkurrenzausgehenden wachstumsfördernden Impulse. Des Weite-ren entspricht die Komponente Öffentlichen Unternehmenund Investitionen dem Best-practise-Land, d h. Deutsch-land hat seine öffentlichen Unternehmen in starkem Maßeprivatisiert (vgl. Abb. 5).

Die Schwachpunkte Deutschlands liegen zum einen bei denRegelungen des Arbeitsmarktes. Die Arbeitsmarktregulie-rungen weisen Mängel auf, und die Frühverrentung befindetsich immer noch auf einem im internationalen Vergleich ho-hen Niveau. Neben dem Arbeitsmarkt fällt auch der Bildungs-bereich hinter dem anderer Länder zurück. Deutschland gibteinen vergleichsweise geringen Anteil seines Bruttoinlands-produktes für Bildung aus. Die Hochschul- und Sekundar-schulbesuchsquoten sind relativ niedrig, und die heutigenErwachsenen haben eine nur durchschnittlich lange Schul-ausbildung genossen. Schließlich ist die Steuerbelastung re-lativ hoch (vgl. Abb. 5).

Die leichte Verschlechterung der Rangposition Deutsch-lands ist zum einen auf einen Qualitätsrückgang bei deninstitutionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen, auchwenn diese nach wie vor ein im internationalen Vergleichhohes Niveau haben. Die Korruption nahm zu, das Ver-trauen in die Politik ging zurück, und bei der Einhaltung vonRecht und Ordnung wird Deutschland nicht mehr in einer

internationalen Spitzenposition gesehen.Zum anderen haben die Bildungsanstren-gungen im Vergleich zu anderen Ländernnachgelassen. Was den Anteil der Öffentli-chen Ausbildungsausgaben am Bruttoin-landsprodukt betrifft, ist Deutschland ge-genüber dem Best-practise-Land zurück-gefallen. Das Gleiche gilt für die Sekundar-schulbesuchsquote. Lediglich bei der Hoch-schulbesuchsquote konnte Deutschlandaufholen. Positionsverluste bei den beidengenannten Subindizes konnten durch rela-tive Verbesserungen insbesondere bei derStruktur der Staatsausgaben nicht vollstän-dig kompensiert werden (vgl. Abb. 5).

Ausblick

Der Institutionenindex für OECD-Länder gestattet es, dasInstitutionengefüge von Ländern und seine Veränderungenmiteinander zu vergleichen. Er hat gegenüber anderen Ver-fahren von Länderrankings (vgl. hierzu Ochel und Röhn 2008)den Vorteil, dass die für das Wachstum des Pro-Kopf-Ein-kommens wichtigen institutionellen Determinanten und ih-re Gewichte ökonometrisch ermittelt wurden.

Dieser Artikel stellte die neuen Ergebnisse des Institutio-nenindex für OECD-Länder im Jahr 2009 vor. Es wurdegezeigt, dass die Veränderungen des Index einen gleich-läufigen Verlauf im Hinblick auf die Veränderungen desPro-Kopf-Einkommens aufweisen. Das heißt, zeitlich ver-zögerte und gemittelte institutionelle Indikatoren eignensich gut für die Vorhersage des Wirtschaftswachstums inden OECD-Ländern. Für den Anstieg des Institutionenin-dex und damit auch für das Wachstum der OECD-Län-der insgesamt waren vor allem die Erhöhung der Effizienzdes Humankapitals, Reformen der Arbeitsmärkte undstrukturelle Anpassungen bei den Staatsausgaben ver-antwortlich.

Im Jahre 2009 wiesen Australien, Finnland, Dänemark unddie Niederlande die qualitativ besten Institutionen auf. Amanderen Ende der Rangskala befanden sich Südkorea, Ita-lien, Türkei und Mexiko. Gemessen an der Rangpositionkonnten Neuseeland, Finnland, Australien und Dänemarkdie stärkste Verbesserung ihrer institutionellen Wachstums-bedingungen gegenüber 1994 erreichen. Die stärksten Ein-bußen mussten hingegen Japan, die Schweiz, Norwegenund die Vereinigten Staaten hinnehmen.

Literatur

Eicher, T., W. Ochel, O. Röhn und A. Rohwer (2008), »Institutionen und Wirt-schaftswachstum in OECD-Ländern«, ifo Schnelldienst 61(11), 28–36.

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0.000.100.200.300.400.500.600.700.800.901.00

Optimale Besteuerung

Politische Stabilität

Qualität der Verwaltung

Recht und Ordnung

Eigentumsrechte/Rechtsordnung

Korruption

Vertrauen i.d. Wirtschaftspolitik

Investitionsbeschränkungen

Steuerquote

Hochschulbesuchsquote

Durchschnittliche AusbildungSekundarschulbesuchsquoteÖffentliche Ausbildungsausgaben

Zölle

Handelsverflechtung

Existenz einesSchwarzmarktwechselkurses

Frühverrentungsindex

Arbeitsmarktregulierungen

Frauenerwerbsquote

Öffentlicher Konsum

Öffentliche Unternehmen undInvestitionen

Kredite an den privaten Sektor

Kapitalmarktkontrollen

1994

2009

Qualität der Institutionen in Deutschland, 1994 und 2009 (23 Komponenten)

Quelle: Institutionenindex für OECD-Länder.

in % des Best-practise-Landes

Abb. 5

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Forschungsergebnisse

Eicher, T. und O. Röhn (2007), »Institutional Determinants of Economic Per-formance in OECD Countries – An Institutions Climate Index«, CESifo DICEReport 5(1), 38–49.North, D. und R. Thomas (1973), The Rise of the Western World, CambridgeUniversity Press, Cambridge.Ochel, W. und R. Osterkamp (2007), »What Does the Institutions Climate In-dex for OECD Countries Tell us about Institutonal Change and EconomicPolicy Reform?«, CESifo DICE Report 5(1), 50–62.Ochel, W. und O. Röhn (2008), »Indikatorenbasierte Länderrankings«, Pers-pektiven der Wirtschaftspolitik 9(2), 226–251.

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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i fo Schne l ld ienst 9/2010 – 63. Jahrgang

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Die gegenwärtige Gefahr einer allgemei-nen Kreditklemme für Unternehmen istkein neues Phänomen. Bereits in der jün-geren Vergangenheit sorgte man sich umdie Bereitstellung von frischem Kapital fürdie Wirtschaft. Nach dem Platzen der»New Economy Blase« und im Vorfeld derEinführung der Basel-II-Vorschriften wardies schon einmal der Fall. Damals führ-ten die Abschreibungen auf Fehlinvesti-tionen und die geforderten höheren Eigen-kapitalanforderungen an die Kreditinstitu-te zu einer nach heutigen Maßstäbenmessbaren Kreditklemme. Über 60% derantwortenden Unternehmen bescheinig-ten im August 2003 den Banken eine res-triktive Kreditvergabe. Im Baugewerbewaren es sogar 75%!

Gegenwärtig, Ende April 2010, verbes-serte sich, nach den Angaben der vom ifoInstitut befragten Unternehmen, zum vier-ten Mal in Folge die Kreditvergabe seitensder Banken. Bei der so genannten »Kre-dithürden«-Umfrage für die gewerblicheWirtschaft meldeten noch 36,1% der Fir-men eine zurückhaltende Kreditvergabe.1

In diesem Artikel werden nun weitere De-tailergebnisse aus den 4 400 Antwortender Umfrage veröffentlicht. Dabei werdendie einzelnen Sektoren, also das verarbei-tende Gewerbe, das Bauhauptgewerbeund der Handel, genauer betrachtet.2 Die-se Analyse soll für den Leser ein weiteresMosaiksteinchen zum Bild der Kreditfinan-zierung der Unternehmen sein.

Seit dem Beginn der Befragung im Som-mer 2003 bis zum Sommer 2007 zeich-nete sich ein gleichmäßiger Trend ab. Fastalle befragten Unternehmen bescheinig-ten den Banken kontinuierlich einen leich-teren Zugang zu Krediten.

Dabei trübte der ab Ende 2005 einsetzen-de Anstieg des Zinsniveaus vorerst nichtdie Stimmung der Unternehmen. So wur-de zum Beispiel der durchschnittliche Ef-fektivzins3 bei einem Überziehungskreditfür Kapitalgesellschaften von 5,8% im No-vember 2005 auf 7,3% im September2008 erhöht. Die Banken aber musstentrotz höherer Zinsen in dieser Zeit ihreBruttomargen4 bei Firmenkrediten kürzen(vgl. Abb. 1).

André Kunkel

Kreditklemme: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Seit dem Frühjahr 2003 erhebt das ifo Institut in seinen regelmäßigen Konjunkturumfragen bei

deutschen Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft Aussagen zur Kreditvergabe der Banken. En-

de April 2010 verbesserte sich, nach den Angaben der vom ifo Institut befragten Unternehmen,

zum vierten Mal in Folge die Kreditvergabe seitens der Banken. Bei der Umfrage für die gewerb-

liche Wirtschaft meldeten noch 36,1% der Firmen eine zurückhaltende Kreditvergabe. In diesem

Artikel werden weitere Detailergebnisse aus den 4 400 Antworten der Umfrage veröffentlicht.

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2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

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Bruttozinsmarge bei Überziehungskredite an Kapitalgesellschaften und

ifo Kredithürde für die gewerbliche Wirtschaft

Quelle: Deutsche Bundesbank; Berechnungen des ifo Instituts.

Bruttozinsmarge

Kredithürde

in %

Abb. 1

1 Die Unternehmen werden gebeten, folgende Fra-ge zu beantworten: »Wie beurteilen Sie zurzeit dieBereitschaft der Banken, Kredite an Unternehmenzu vergeben?«. Die möglichen Antworten sind:»entgegenkommend«, »normal« und »restriktiv«.

2 Für die Zusammenfassung zur Kredithürde für diegewerbliche Wirtschaft werden die Prozentanteileim verarbeitenden Gewerbe, im Bauhauptgewer-be und im Handel mit den durchschnittlichen Kre-ditvolumen der Wirtschaftsbereiche im Jahr 2005gewichtet.

3 Vgl. Deutsche Bundesbank, Effektivzinssatz vonBanken in Deutschland im Neugeschäft bei Über-ziehungskredite an nichtfinanzielle Kapitalgesell-schaften, Effektivzins, http://www.bundesbank.de/statistik/statistik_zeit-reihen.php. Zu den Überziehungskrediten zähleneingeräumte und nicht eingeräumte Dispositions-kredite sowie Kontokorrentkredite.

4 Die Bruttomarge wird hier als Differenz von Effektivzinssatz und Hauptrefinanzierungszinssatzdefiniert.

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Daten und Prognosen

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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Die Kürzung der Zinsmargen resultiert wahrscheinlich inerster Linie aus dem härteren internationalen Wettbewerb,der seit der Euro-Einführung auf dem Kreditmarkt mög-lich ist.

Deutlich wird dies auch an Daten zum Kreditbestand im ver-arbeitenden Gewerbe. Dort verdoppelten in diesen drei Jah-ren die ausländischen Banken ihren Anteil von ca. 7% auffast 16%5, was auf einen stark forcierten Wettbewerb zuLasten der inländischen Banken deutet. Gewonnen habenindes die Kunden, die von den gesunkenen Margen profi-tieren konnten.

Mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 verschärf-ten die Banken ihre Kreditrichtlinien.6 Dies führte ab März 2008zu einer schlechteren Bewertung der Kreditvergabe durch dievom ifo Institut befragten Unternehmen.7 Der Anteil der Fir-men aus der ifo-Umfrage, die den Banken eine restriktive Ver-gabepolitik bescheinigten, erhöhte sich im März 2008 in dergewerblichen Wirtschaft um 3,7 auf 26,6%.

Die Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 zwangdie Banken zu ungewöhnlichen Maßnahmen. In der kurz zu-vor im August durchgeführten Umfrage des ifo Instituts zur Kre-ditvergabe gaben noch 28,7% der Unternehmen einen schlech-teren Zugang zu Krediten an. Dies entsprach nur einer leichtenSteigerung. Im November lag der Wert bereits bei 35,2%.

Die Subprime-Krise hatte also ihre Fahrt aufgenommen. DasRisiko auf den Finanzmärkten war für die Banken schwer

einzuschätzen. In der Folge verteuerten sienun auch Neukredite an die Wirtschaft, ins-besondere die mit mittlerer und langer Lauf-zeit8, exorbitant (vgl. Abb. 2).

Bei diesen Produkten verdreifachten sie ih-re Bruttomarge im Neugeschäft gegenüberdem Vorjahr. So erhöhten sie bis zum Mai2009 die Bruttozinsmarge im Neugeschäftmit Krediten an nichtfinanzielle Kapitalge-sellschaften um 196% gegenüber dem Vor-jahr (vgl. Abb. 2)! Bei kurzfristigen Kredit-geschäften unter einem Jahr und unter ei-ner Million Euro gab es keine so starkenAbweichungen. Die Aufschläge lagen in et-wa auf dem Niveau der letzten Jahre. Beiden größeren kurzfristigen Krediten übereine Million Euro weiteten sie in der Spitze

die Bruttomarge aber um 54% aus.

Die Verteuerung der Kredite für Unternehmen und die sehrselektive Zuteilung spiegelten sich anschließend in den Um-frageergebnissen zur ifo Kredithürde wider. Weitere Unter-suchungen des ifo Instituts ergaben, dass die Restriktionennicht gleichermaßen stark über alle Bankengruppen erfolg-te, sondern spezifisch ausgeprägt waren.9

Verarbeitendes Gewerbe

Der Bestand an Krediten im verarbeitenden Gewerbe istim Jahr 2009 geschrumpft. Er sank von 160,8 Mrd. € imersten Quartal auf 145,8 Mrd. € im letzten Quartal.10 Ausdem reduzierten Kreditbestand kann man aber nicht un-mittelbar auf eine Verknappung des Angebots schließen,da z.B. bei gleichbleibendem Kreditneugeschäft und er-höhter Tilgung ebenfalls der Bestand sinken würde. OhneKenntnis des Nachfragevolumens, also bewilligte und ab-gelehnte Kreditanträge, bietet diese Größe keine weiterenHinweise auf eine Kreditverknappung. Das Volumen desKreditbestands zeigt aber die Bedeutung für den jeweili-gen Wirtschaftssektor.

Betrachtet man die älteren Befragungsergebnisse im ver-arbeitenden Gewerbe, stellt man fest, dass etwas Unge-wöhnliches zwischen dem Sommer und dem Herbst desJahres 2008 geschehen ist. Bis dahin schätzten große Un-ternehmen (mit mehr als 250 Mitarbeitern oder 50 Mill. €Umsatz) die Kreditvergabe der Banken stets besser ein als

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2004 2005 2006 2007 2008 2009

<1 Mill. €, Laufzeit: 1–5 Jahre

<1 Mill. €, Laufzeit: >5 Jahre

>1 Mill. €, Laufzeit: >5 Jahre

>1 Mill. €, Laufzeit: 1–5 Jahre

Veränderung der Bruttozinsmarge für Kredite an Kapitalgesellschaften nach

Laufzeit gegenüber Vorjahr

Quelle: Deutsche Bundesbank; Berechnungen des ifo Instituts.

in %

Abb. 2

5 Vgl. Deutsche Bundesbank, Kreditbestand an das verarbeitende Gewer-be, http://www.bundesbank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php. Berech-nung des ifo Instituts.

6 Vgl. Deutsche Bundesbank: Ergebnisse der Bank Lending Survey fürDeutschland, http://www.bundesbank.de/volkswirtschaft/vo_veroeffentlichungen.php.

7 Bis November 2008 wurden die Firmen nur im März und August eines Jah-res zur Kreditvergabe befragt.

8 Mittlere Laufzeit = ein bis fünf Jahre und lange Laufzeit über fünf Jahre.9 Vgl. Abberger, K., Chr. Hainz und A. Kunkel (2009), »Kreditvergabepolitik

der Banken: Warum leiden große Unternehmen besonders?« ifo Schnell-dienst 62(14), 32–34.

10 Vgl. Deutsche Bundesbank, Bestand an Krediten an das verarbeitendeGewerbe, http://www.bundesbank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php.

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Daten und Prognosen34

mittlere und kleine Unternehmen. Bei der Umfrage im No-vember 2008 meldeten die großen Unternehmen erstmalseinen schlechteren Zugang zu Krediten als die kleinen undmittleren Unternehmen. Der Bruch in diesem Muster hält ge-genwärtig noch an, wie in Abbildung 3 zu sehen ist.

Seit Februar 2009 pendelte der Anteil der Firmen des ver-arbeitenden Gewerbes, die die Kreditvergabe als restriktivempfinden, um etwa 45%. Bei den großen Unternehmenwurde zu dieser Zeit sogar die 50%-Schwelle überschritten.Damit wurde die Bedingung einer Kreditklemme in diesemBereich erfüllt.11

Die Ergebnisse im April 2010 zeigten aber auch den vier-ten Monat in Folge eine Entspannung bei der Kreditverga-be. Der Anteil der »Restriktiv«-Antworten bei den großenUnternehmen sank von Dezember 2009 von 51,2 auf43,4%. Bei den mittleren Unternehmen verringerte sich der

Anteil in der gleichen Zeit von 43,7 auf34,6% und bei den kleineren Unternehmen(mit wenigen als 50 Mitarbeitern oder einemUmsatz der kleiner als 10 Mill. €) von 43,2auf 38,5%.

Insgesamt ist im verarbeitenden Gewerbealso eine leichte Entspannung zu messen.Dabei zeigt Abbildung 4, dass die größteWanderung, nämlich auf 55,4%, in dieGruppe derjenigen stattgefunden hat, dieden Banken eine normale Kreditvergabe at-testieren. Die Firmen, die von einer entge-genkommenden Kreditvergabe berichten,sind mit 6,4% noch klar in der Minderheit.Dennoch kann man diejenigen, die die Kre-ditvergabe als »entgegenkommend« unddie, die sie als »normal« empfinden, zurGruppe der »Zufriedenen« zusammenfas-sen. Ihr Anteil ist mit fast 62% sichtbar grö-

ßer, als die der »Unzufriedenen« mit etwa 38%.

Groß- und Einzelhandel

Im dritten Quartal 2007 gab es erstmals seit sechseinhalbJahren eine Ausweitung des Kreditbestands im Handel, derbis zum vierten Quartal 2008 weiter auf 138 Mrd. € anwuchs.Seither ist das Volumen der Kredite in diesem Sektor wie-der auf 122 Mrd. € gesunken. Dies entspricht dem Standvon 1991.12

Etwas weniger als ein Drittel der Handelsfirmen (31,2%) mein-ten im April 2010, dass die Banken Kredite nur zurückhal-tend vergeben. Dagegen antworteten über zwei Drittel(68,8%) der Handelsfirmen, dass sie mit der Kreditzutei-lung zufrieden oder sehr zufrieden sind (vgl. Abb. 5). Die

Handelsfirmen sind bei ihren negativen Ur-teilen also zurückhaltender und bei den po-sitiven Urteilen (7,4%) bereitwilliger als die Fir-men des verarbeitenden Gewerbes oder desBaugewerbes.

Auch wenn man nach Groß- und Einzelhan-del unterscheidet, sind die Abweichungengering. 30,4% der Großhändler und 32,3%der Einzelhändler berichteten von einer res-triktiven Kreditvergabe.

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Kreditvergabe "restriktiv" im verarbeitenden Gewerbe nach Größenklassen

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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Abb. 3

2.6 2.7 4.6 5.7 8.2 10.4 12.4 15.0 15.1 13.0 11.23.6 5.0 6.4

41.147.7 48.2

56.157.2

63.565.3

68.3 69.868.0 67.3

53.1 49.155.4

56.349.6 47.2

38.2 34.726.1 22.3

16.7 15.1 19.0 21.5

43.3 45.938.3

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Aug. 03

März 03

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März 05

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Aug. 06

März 07

Aug. 07

März 08

Aug. 08

März 09

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Apr.10

entgegenkommend normal restriktiv

Urteile zur Kreditvergabe im verarbeitenden Gewerbe

Quelle: ifo Konjunkturtest.

in %

Abb. 4

11 Nach der Definition des ifo Instituts besteht die Ge-fahr einer Kreditklemme, wenn mehr als die Hälfteder Antwortenden angeben, die Kreditvergabe ist»restriktiv«.

12 Vgl. Deutsche Bundesbank, Bestand an Krediten anden Groß- und Einzelhandel, http://www.bundes-bank.de/statistik/statistik_zeitreihen.php.

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Daten und Prognosen

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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Betrachtet man die einzelnen Größenklas-sen im Handel, ist der Anteil der »Restrik-tiv«-Urteile mit 38% bei den kleinen Händ-lern13 am größten. Darauf folgen die gro-ßen Unternehmen mit 29,9% und mittle-ren mit 29,6% (vgl. Abb.6).

Die Finanzkrise hat in Form schlechterer Ur-teile der Handelsfirmen zur Kreditvergabezwar auch ihre Spuren hinterlassen, dennochist der »Einbruch« nicht ganz so stark wie inden anderen beiden Sektoren erfolgt. Die Ur-teile der Handelsfirmen zur Kreditvergabe ha-ben sich insgesamt weniger verschlechtertals im Baugewerbe und im verarbeitendenGewerbe. Bis zum Herbst 2008 waren Fir-men des verarbeitenden Gewerbes mit ih-ren Banken zufriedener, aktuell finden sichaber die wenigsten unzufriedenen Firmen im Handelsgewerbe.

Baugewerbe

Das Baugewerbe hat im vierten Quartal 2008seine Verbindlichkeiten gegenüber den Fi-nanzinstituten erhöht. In diesem Quartal klet-terte der Bestand an Krediten um 10,9% auf52 Mrd. €. Im ersten Quartal 2009 war derKreditbestand gegenüber dem Vorjahr sogarum 31% höher und lag bei 62,7 Mrd. €. Vordem Hintergrund des sich abzeichnendenKonjunkturprogramms waren Kredite an dasBaugewerbe auch nach Ausbruch der Finanz-krise noch vertretbar. Insbesondere die Sparkassen (+ 9,1 Mrd. €), die Landesban-ken (+ 2,2 Mrd. €), die Realkreditinstitute(+ 1,7 Mrd. €) sowie Banken mit Sonderauf-gaben (+ 1 Mrd. €) weiteten ihr Kreditgeschäftmit dem Baugewerbe vom dritten Quartal2008 bis zum ersten Quartal 2009 aus.14

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass dieUmfrageergebnisse bei dem Firmen desBaugewerbes nicht so stark abstürzten wiebeim verarbeitenden Gewerbe. Trotzdemverschlechterte sich seit Anfang 2009 die Be-wertung der Kreditvergabe weiter. Die »Res-triktiv«-Urteile erreichten im Dezember 2009sogar knapp über 50%. Zuletzt lag der Wertim April bei 43,5%. Etwas über die Hälfte,

4.5 3.0 3.3 6.1 4.9 8.6 8.3 12.8 12.3 7.7 8.0 6.4 5.6 7.4

29.8 30.740.5 38.8 44.7

51.5 54.157.2 61.9

63.3 60.554.6 52.8

61.4

65.7 66.356.2 55.1 50.4

39.9 37.630.1 25.7 28.9 31.6

39.0 41.731.2

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Aug. 03

März 03

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März 05

Aug. 05

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Aug. 07

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Aug. 08

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Apr.10

entgegenkommend normal restriktiv

Urteile zur Kreditvergabe im Handel

Quelle: ifo Konjunkturtest.

in %

Abb. 5

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Quelle: ifo Konjunkturtest.

%

Abb. 6

13 Umsatz < 10 Mill. €.14 Vgl. Deutsche Bundesbank, Kreditbestand nach Ban-

kengruppen,

2.3 0.7 1.5 3.0 2.9 4.5 8.7 7.3 6.2 5.8 3.1 3.7 4.9

22.1 24.028.6 29.4

35.742.8

53.9 56.953.4 54.2

50.4 49.8 51.7

75.6 75.369.8 67.6

61.552.7

37.4 35.8 40.4 40.146.5 46.5 43.5

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Aug. 03

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März 05

Aug. 05

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Aug. 06

März 07

Aug. 07

März 08

Aug. 08

März 09

Aug. 09

Apr.10

entgegenkommend normal restriktiv

Urteile zur Kreditvergabe im Baugewerbe

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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Abb. 7

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Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 9/2010 – 63. Jahrgang

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nämlich 51,7% der Baufirmen, empfanden die Kreditzutei-lung als normal, und weitere ca. 5% stellen ihrer Bank eineentgegenkommende Kreditvergabe aus. Damit umfasst dieGruppe der zufriedenen Kunden im Bauhauptgewerbe et-wa 57% (vgl. Abb. 7).

Differenziert nach Größenklassen meldeten im April 2010 gro-ße Baufirmen leicht geringere Schwierigkeiten (42,1%) als mitt-lere (44,3%) und kleine Firmen (44,5%) (vgl. Abb. 8). Dage-gen sind bei den kleinen Baufirmen aktuell nur 3% der Fir-men mit der Kreditvergabe sehr zufrieden. Bei den großensind es 5,2% und bei den mittleren 8,2%.

Bei den großen Firmen des Baugewerbes hat sich die Ein-schätzung zur Kreditvergabe am häufigsten gebessert. Nochim März 2010 sagte die Hälfte von ihnen, die Kreditverga-be sei zurückhaltend. Damit scheint sich auch im Bauge-werbe langsam eine Entspannung abzuzeichnen.

Fazit

Kann man bereits von einer Entwarnung auf dem Kredit-markt für Unternehmen sprechen? Die Tendenz stimmt zu-versichtlich. Mit dem Beginn des Jahres 2010 scheint eineBlockade gefallen zu sein. Über alle hier betrachteten Wirt-schaftsbereiche hinweg hat sich die Situation bei der Kre-ditfinanzierung der Unternehmen weiter entspannt. Dennochist die Situation für die Unternehmen noch nicht zufrieden-stellend. Immerhin klagt noch über ein Drittel der Firmender gewerblichen Wirtschaft über eine schleppende Kredit-versorgung, und nur 6,5% sind mit der Kreditzuteilung zu-frieden. Es gibt noch genug Spielraum für die Banken, ihreZügel wieder zu lockern, wenn ihre eignen finanzielle Lagees zulässt und keine weiteren Schocks sie paralysieren.

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Quelle: ifo Konjunkturtest.

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Zur Prognose

Vom 4. bis 6. Mai 2010 fand die 136. Sit-zung des Arbeitskreises Steuerschätzun-gen in Lübeck statt. Dabei wurden die Ge-samtsteuereinnahmen für die mittlere Fristbis einschließlich 2014 geschätzt. Im Ver-gleich zu den Schätzungen vom Mai undNovember 2009 wurden die Zahlen fürdas zu erwartende Steueraufkommen derJahre 2010 bis 2014 abermals nach un-ten korrigiert.

Das Steueraufkommen wird voraus-sichtlich 510,3 Mrd. € im laufenden Jahrbetragen, während die Schätzung imNovember 2009 noch 511,5 Mrd. € veranschlagte. Ohne Berücksichtigungdes Wachstumsbeschleunigungsgeset-zes (– 6 Mrd. €) hätten sich hier Mehr-einnahmen aufgrund der leicht verbes-serten konjunkturellen Aussichten er-geben.

Für die Jahre 2011 bis 2013 wird das jährliche Steueraufkommen nach der aktu-ellen Prognose 515,0 Mrd. €, beziehungs-weise 539,8 Mrd. € und 561,3 Mrd. € be-tragen. Dies bedeutet negative Abweichun-gen zur Prognose vom Mai 2009 in Höhe von 11,7 Mrd. €, beziehungsweise12,3 Mrd. € und 13,7 Mrd. €. Im Jahr 2014sollen die gesamten Steuereinnahmen auf 581,5 Mrd. € ansteigen und somit nur ge-ringfügig den Wert übertreffen, der noch voreinem Jahr bereits für das Jahr 2013 prog-nostiziert wurde.

Zwar übertrifft das erwartete nominaleSteueraufkommen im Jahr 2014 damitden Wert der Jahre 2007 und 2008; daspreisbereinigte Steueraufkommen bleibtjedoch im gesamten Schätzzeitraum hinter diesen Spitzenwerten zurück (vgl.Abb. 1 und 2).

Gesamtwirtschaftliche Annahmen

Die Steuerschätzung basiert auf der Früh-jahrsprojektion der Bundesregierung. Für diekommenden Jahre erwartet die Projektioneine moderate, aber stetige Erholung derWirtschaft. Im laufenden Jahr soll das rea-le Bruttoinlandsprodukt wieder um 1,4%wachsen. Im Jahr 2011 erwartet die Bun-

HaushaltslageErgebnisse der Steuerschätzung vom Mai 2010

Christian Breuer

Steuerschätzung wie erwartet: Keine Entspannung der

Die 136. Sitzung des Arbeitskreises »Steuerschätzungen« hat die Prognose für das Gesamtsteu-

eraufkommen abermals nach unten korrigiert. Langfristige Steuersenkungen erscheinen ange-

sichts der angespannten Haushaltslage ausgeschlossen. Das preisbereinigte Steueraufkommen

wird im gesamten Schätzzeitraum bis 2014 hinter dem Niveau der Jahre 2007 und 2008 zurück-

bleiben. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote sinkt bis ins Jahr 2011 und bleibt auch mittelfris-

tig auf verhältnismäßig niedrigem Niveau.

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Quelle: BMF (2010a).

Ergebnis der Steuerschätzung vom Mai 2010

Wachstumsrate in %in Mrd €

2014

Schätzung

des AKS

Steueraufkommen in jeweiligen Preisen

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Quelle: BMF (2010a).

Ergebnis der Steuerschätzung vom Mai 2010

Wachstumsrate in %in Mrd €

2014

Schätzung

des AKS

Steueraufkommen in Preisen von 2009

Abb. 1

Abb. 2

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Daten und Prognosen

desregierung ein Wachstum von 1,6%. Dies ist mit den Ergeb-nissen der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungs-institute vom Frühjahr vergleichbar. Die Institute erwarteten für2010 und 2011 ein Wachstum von 1,5 bzw. 1,4%.

Trotz der verbesserten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung– im Frühjahr 2009 wurde das Wachstum für 2010 von derBundesregierung noch auf nur 0,5% geschätzt – ist bei denSteuereinnahmen nur mit einem sehr langsamen Aufwärts-trend zu rechnen. Hierfür ist auch die leicht nach unten kor-rigierte mittelfristige Projektion des nominalen Wachstumsdes BIP verantwortlich.

Da die Steuerschätzung grundsätzlich in laufenden Preisenerfolgt, gehen veränderte Preiserwartungen für den Prog-nosezeitraum ebenfalls in die Schätzergebnisse ein.

Das nominale BIP steigt entsprechend der Projektion der Bun-desregierung um 1,8 bzw. 2,4% in den Jahren 2010 und 2011.Für die Folgejahre wird ein nominales Wachstum von 2,9% un-terstellt. Die Institute erwarten 2010 und 2011 ein nominalesWachstum von 2,3 bzw. 1,8%. 2012 bis 2014 wird hingegenein nominales Wachstum von etwa 3,3% erwartet.1

Rechtsänderungen

Die Steuerschätzung basiert grundsätzlich auf der aktuellenRechtslage. Wie bereits nach der letzten Schätzung im Novem-ber 2009 erwartet worden ist, haben die steuerpolitischen Maß-nahmen der neuen Bundesregierung zu einer negativen Schät-zungskorrektur geführt (vgl. Breuer 2009b). Insbesondere dasWachstumsbeschleunigungsgesetz, aber auch das Gesetz zurUmsetzung steuerlicher EU-Vorgaben, konnten in der vorheri-gen Schätzung noch nicht berücksichtigt werden.

Die im Zuge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzesumgesetzte Erhöhung des Kindergelds um 20 € hat dasNettoaufkommen der Lohnsteuer insgesamt um rund4,2 Mrd. € jährlich reduziert, da das Kindergeld hier mitder Bruttolohnsteuer verrechnet wird.

Weitere Maßnahmen des Wachstumsbeschleunigungsgeset-zes sind Änderungen der Unternehmens- und Erbschaftsteu-er. Zudem wurde der Mehrwertsteuersatz im Hotelgewerbe aufnun 7% reduziert. Insgesamt werden sich die Einschnitte desGesetzes auf etwa 8,5 Mrd. € jährlich belaufen.

Die Steuerschätzung im Detail

Die größten Änderungen für das Jahre 2010 im Vergleich zurSchätzung vom November 2009 ergeben sich bei der ver-

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-2 000 -1 000 0 1 000 2 000 3 000

Zölle

sonstige Gemeindest.

Grunderwerbsteuer

Grundsteuer B

Grundsteuer A

Gewerbesteuer

Feuerschutzsteuer

Rennwett-, Lotteriesteuer

Erbschaftsteuer

Grunderwerbsteuer

Biersteuer

Vermögensteuer

sonstige Bundesst.

Pauschal. Einfuhrabgab.

Kraftfahrzeugsteuer

Solidaritätszuschlag

Alkopopsteuer

Zwischenerzeugnissteuer

Schaumweinsteuer

Kaffeesteuer

Versicherungsteuer

Branntweinsteuer

Tabaksteuer

Stromsteuer

Energiesteuer

darunt.: Einfuhrumsatzst.

darunt.: Umsatzsteuer

Steuern vom Umsatz

Körperschaftsteuer

AbgSt. a. Zins- u. V.-ertr.

nicht veranl. St. v. Ertrag

veranl. Einkommenst.

Lohnsteuer

Veränderungen der Schätzansätze 2010 im Vergleich zur

Schätzung von November 2009

Quelle: BMF (2010a; 2009b).

Korrektur in Mill. €

Abb. 3

1 In der vergangenen Schätzung wurde von der Bundesregierung mittel-fristig ebenfalls ein nominales Wachstum des BIP von 3,3% erwartet.

-8 000 -6 000 -4 000 -2 000 0 2 000 4 000 6 000

Zölle

sonstige Gemeindest.

Grunderwerbsteuer

Grundsteuer B

Grundsteuer A

Gewerbesteuer

Feuerschutzsteuer

Rennwett-, Lotteriesteuer

Erbschaftsteuer

Grunderwerbsteuer

Biersteuer

Vermögensteuer

sonstige Bundesst.

Pauschal. Einfuhrabgab.

Kraftfahrzeugsteuer

Solidaritätszuschlag

Alkopopsteuer

Zwischenerzeugnissteuer

Schaumweinsteuer

Kaffeesteuer

Versicherungsteuer

Branntweinsteuer

Tabaksteuer

Stromsteuer

Energiesteuer

darunt.: Einfuhrumsatzst.

darunt.: Umsatzsteuer

Steuern vom Umsatz

Körperschaftsteuer

AbgSt. a. Zins- u. V.-ertr.

nicht veranl. St. v. Ertrag

veranl. Einkommenst.

Lohnsteuer

Veränderungen der Schätzansätze 2011 im Vergleich zur

Schätzung von Mai 2009

Quelle: BMF (2010a; 2009a).

Korrektur in Mill.

Abb. 4

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Daten und Prognosen

anlagten Einkommensteuer und der Gewerbesteuer (vgl.Abb. 3). Für die Jahre 2011 bis 2013 ergeben sich zudemstarke Korrekturen bei der Lohnsteuer sowie der Körper-schaftsteuer (vgl. Abb. 4 bis 6).

Das Aufkommen der Lohnsteuer wird ab 2010 erheblichdurch die Auswirkung des Wachstumsbeschleunigungs-gesetzes reduziert. Im Jahr 2010 saldiert sich diese Kor-rektur jedoch mit der Wirkung der optimistischeren Projek-tion der Bruttolöhne und Gehälter.

Die Entwicklungen bei den Unternehmensteuern lassen sichzu einem Teil durch Veranlagungs- und Zahlungsverzöge-rungen erklären. Weiterhin ist die Aufteilung des gesamtenUnternehmensteueraufkommens auf die unterschiedlichenSteuerarten nur auf Basis zusätzlicher Annahmen über dieVerteilung der Gewinngrößen möglich. Insofern können sichsaldierende Korrekturen ergeben.

So wurde die Schätzung der veranlagten Einkommensteu-er deutlich nach oben korrigiert, während andere Unter-nehmensteuern zum Teil erheblich nach unten korrigiert wor-den sind.

Die nunmehr recht positive Einschätzung der Einkommen-steuer ist auf die Annahme zurückzuführen, dass die Gewin-ne der einkommensteuerpflichtigen Unternehmen im Jahr2009 weniger stark von der Krise betroffen waren als vermu-tet. Außerdem lassen die Veranlagungsergebnisse der Ein-kommensteuer am aktuellen Rand für das Steuerjahr 2008weiterhin hohe Nachzahlungen erwarten (vgl. Abb. 7); aller-dings nehmen die Erstattungen ebenfalls zu. Deutlich sicht-bar ist die Auszahlung der Pendlerpauschale für das Jahr 2007im Frühjahr 2008, während die Erstattungen bei der Einkom-mensteuer für das Jahr 2008 im gesamten Zeitraum – auchaufgrund der Auszahlung der Pendlerpauschale – über demursprünglichen Niveau liegen (vgl. Abb. 8). Deutlich zu sehenist das asymmetrische Zahlungsverhalten der Steuerpflichti-gen, da Erstattungen grundsätzlich deutlich früher kassen-wirksam werden als Nachzahlungen. Für das kritische Ka-lenderjahr 2009 liegen zum aktuellen Zeitpunkt jedoch kaumVeranlagungsergebnisse vor. Die Schätzung im Novemberwird überprüfen müssen, ob für das Krisenjahr 2009 eben-falls weitere Erstattungen zu berücksichtigen sind.

Denn die noch gute Entwicklung der veranlagten Einkom-mensteuer könnte sich auch aufgrund der Veranlagungsver-zögerung ergeben haben (vgl. Breuer 2009a). Darüber hin-aus ist das realisierte Aufkommen des Jahres 2009 etwasniedriger ausgefallen, als es die Schätzung im Novembervermuten ließ. Insofern bestehen hier Risiken für die Jahre2010 und 2011 fort (vgl. Breuer 2008; 2009a).

Die positive Korrektur der Einkommensteuer saldiert sich mitnegativen Korrekturen bei der Körperschaftsteuer. Hier wird

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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-8 000 -4 000 0 4 000 8 000

Zölle

sonstige Gemeindest.

Grunderwerbsteuer

Grundsteuer B

Grundsteuer A

Gewerbesteuer

Feuerschutzsteuer

Rennwett-, Lotteriesteuer

Erbschaftsteuer

Grunderwerbsteuer

Biersteuer

Vermögensteuer

sonstige Bundesst.

Pauschal. Einfuhrabgab.

Kraftfahrzeugsteuer

Solidaritätszuschlag

Alkopopsteuer

Zwischenerzeugnissteuer

Schaumweinsteuer

Kaffeesteuer

Versicherungsteuer

Branntweinsteuer

Tabaksteuer

Stromsteuer

Energiesteuer

darunt.: Einfuhrumsatzst.

darunt.: Umsatzsteuer

Steuern vom Umsatz

Körperschaftsteuer

AbgSt. a. Zins- u. V.-ertr.

nicht veranl. St. v. Ertrag

veranl. Einkommenst.

Lohnsteuer

Veränderungen der Schätzansätze 2012 im Vergleich zur

Schätzung von Mai 2009

Quelle: BMF (2010a; 2009a).

Korrektur in Mill. €

Abb. 5

-10 000 -5 000 0 5 000 10 000

Zölle

sonstige Gemeindest.

Grunderwerbsteuer

Grundsteuer B

Grundsteuer A

Gewerbesteuer

Feuerschutzsteuer

Rennwett-, Lotteriesteuer

Erbschaftsteuer

Grunderwerbsteuer

Biersteuer

Vermögensteuer

sonstige Bundesst.

Pauschal. Einfuhrabgab.

Kraftfahrzeugsteuer

Solidaritätszuschlag

Alkopopsteuer

Zwischenerzeugnissteuer

Schaumweinsteuer

Kaffeesteuer

Versicherungsteuer

Branntweinsteuer

Tabaksteuer

Stromsteuer

Energiesteuer

darunt.: Einfuhrumsatzst.

darunt.: Umsatzsteuer

Steuern vom Umsatz

Körperschaftsteuer

AbgSt. a. Zins- u. V.-ertr.

nicht veranl. St. v. Ertrag

veranl. Einkommenst.

Lohnsteuer

Veränderungen der Schätzansätze 2013 im Vergleich zur

Schätzung von Mai 2009

Quelle: BMF (2010a; 2009a).

Korrektur in Mill. €

Abb. 6

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Daten und Prognosen

ein nachhaltig niedrigeres Niveau erwartet,auch weil die Veranlagungsergebnisse wei-terhin außerordentlich hohe Erstattungen undNegativanpassungen für das Veranlagungs-jahr 2008 anzeigen. Die Erstattungen für dasJahr 2009 sind bisher allerdings verhältnis-mäßig gering, was für eine Entspannungspricht (vgl. Abb. 9 und 10).

Da die Schätzung vom November 2009 be-reits vom realisierten Aufkommen der Kör-perschaftsteuer im Jahr 2009 übertroffenwurde, könnten hier auch positive Risikenentstehen.

Das prognostizierte Aufkommen der Gewer-besteuer liegt ebenfalls deutlich unterhalb dervorherigen Schätzungen (vgl. Abb. 3 bis 6).Insbesondere die starke Korrelation mit derEntwicklung der Körperschaftsteuer führt da-zu, dass auch die Erwartungen an das Auf-kommen der Gewerbesteuer deutlich redu-ziert werden müssen.

Deutlich sinkende Steuerquote bis 2011

Die Steuerquote wird entsprechend deraktuellen Schätzung über drei Jahre in Fol-ge von 22,5% des Bruttoinlandsproduk-tes im Jahr 2008 auf 20,5% im Jahr 2011sinken. Bis 2014 wird sie dann voraus-sichtlich moderat auf 21,3% ansteigen (vgl.Abb. 11).

Eine solche Entwicklung der Steuerquoteist nicht allein auf das Wirken der automati-schen Stabilisatoren zurückzuführen. Schät-zungen zufolge beträgt die BIP-Elastizität desSteueraufkommens etwa 1; ein Wachstumdes BIP von 1% sollte daher mit einer Erhö-hung des Steueraufkommens um 1% ein-hergehen (vgl. Büttner et al. 2006; Sachver-ständigenrat 2007). Bei einer solchen BIP-Elastizität sollte die Steuerquote jedoch überden Konjunkturzyklus hinweg konstant blei-ben. Dies ist nicht der Fall.

Die von der Steuerschätzung erwartete star-ke Dynamik des Steueraufkommens ist des-halb nicht nur auf das Wirken der automati-schen Stabilisatoren infolge der konjunktu-rellen Lage, sondern vielmehr auf das Wir-ken langfristiger steuerpolitischer Maßnah-men zurückzuführen. In den vergangenen

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

2005

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2007

2008

2009

Quelle: BMF (2010b).

Verzögerung der Nachzahlungen der Einkommensteuer für die

Veranlagungsjahre 2005 bis 2009

in Mill. €

Zahlungsverzögerungen in Monaten nach Jahresende

Abb. 7

-3 000

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

2005

2006

2007

2008

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Quelle: BMF (2010b).

Verzögerung der Erstattungen der Einkommensteuer für die

Veranlagungsjahre 2005 bis 2009

in Mill. €

Zahlungsverzögerungen in Monaten nach Jahresende

Abb. 8

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

2005

2006

2007

2008

2009

Quelle: BMF (2010b).

Verzögerung der Nachzahlungen der Körperschaftssteuer für die

Veranlagungsjahre 2005 bis 2009

in Mill. €

Zahlungsverzögerungen in Monaten nach Jahresende

Abb. 9

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Daten und Prognosen

zwei Jahren sind hier außerordentliche Impulse auf das Steu-eraufkommen ausgegangen.2

Daher wird die Steuerquote ohne weitere politische Maß-nahmen ein verhältnismäßig niedriges Niveau halten.

Fazit und finanzpolitische Implikationen

Die Steuerschätzung hat – wie erwartet – keine Entspan-nung der Haushaltslage aufgezeigt. Vielmehr wirken sich diebereits beschlossen finanzpolitischen Maßnahmen sowie die

krisenbedingten Mindereinnahmen erst inden Jahren 2010 und 2011 vollständig ne-gativ auf das Steueraufkommen aus.

Das preisbereinigte Gesamtsteueraufkom-men bleibt bis einschließlich 2014 noch un-ter dem – verhältnismäßig starken – Niveauder Vorkrisenzeit zurück. Die Steuerquotewird erst im Jahr 2011 mit 20,5% des BIP ih-ren vorläufigen Tiefpunkt erreichen.

Abb. 11 zeigt den Zusammenhang zwischender volkswirtschaftlichen Steuerquote (Fi-nanzstatistik) und dem Finanzierungssaldodes Staates (VGR).3 So dürfte eine mittel-fristig prognostizierte Steuerquote von 21,3%des BIP kaum ausreichen, um den Staats-haushalt zu konsolidieren. Vielmehr dürfte –legt man den durchschnittlichen Zusammen-hang der vergangenen 20 Jahre zugrunde –hieraus ein strukturelles Defizit von etwa 3%des BIP resultieren.

Insofern besteht weiterhin erheblicher Kon-solidierungsbedarf, wenn sowohl die Krite-rien von Maastricht, sowie die Maßgaben derVerfassung eingehalten werden sollen. DieAnkündigung der Bundesregierung, nun vonallgemeinen Steuersenkungen Abstand zunehmen, erscheint deshalb sinnvoll. Mittel-fristig dürfte ein Haushaltsausgleich auch inDeutschland ohne Einnahmeerhöhungenkaum zu erwarten sein.

Daher sollten im Rahmen der Vereinfachungdes Steuersystems alle steuerlichen Subven-tionen detailliert hinsichtlich ihrer Zweckmä-ßigkeit überprüft werden, um die Einnahme-basis des Staates zu stärken. Das deutsche

Steuersystem enthält kaskadenartige Subventions- und Aus-nahmetatbestände, die sehr kostspielig sind: Allein mit ei-ner generellen Abschaffung der reduzierten Sätze im Um-satzsteuerbereich würden man etwa 27 Mrd. € Mehreinnah-men erzielen können. Zudem wäre eine Überprüfung derSteuerbefreiungen ratsam.

Auf viele Ausnahmen, wie etwa die Reduktion der Sätzeauf Hoteldienstleistungen, dürfte die verteilungspolitisch mo-tivierte Verteidigung dieser Subventionen kaum zutreffen.

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2005

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Quelle: BMF (2010b).

Verzögerung der Erstattungen der Körperschaftssteuer für die

Veranlagungsjahre 2005 bis 2009

in Mill. €

Zahlungsverzögerungen in Monaten nach Jahresende

Abb. 10

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1991 1995 1999 2003 2007 2011

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-2

-1

0

1

Quelle: BMF (2010a) und GD (2010).

Volkswirtschaftliche Steuerquotea)

und Finanzierungssaldob)

des Staates

2014

in % des BIP

a) Lt. Finanzstatistik, ab 2010: Prognose des Arbeitskreises "Steuerschätzungen".b) Lt. VGR, ohne Vermögenstransfers im Zusammenhang mit der Übernahme der Schulden der Treuhand-anstalt und der Wohnungswirtschaft der ehemaligen DDR (per saldo 119,6 Mrd. Euro) und ohne Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen; ab 2010: Prognose der Gemeinschaftsdiagnose.

FinanzierungssaldoSteuerquote

Abb. 11

2 Zu nennen sind insbesondere die Unternehmenssteuerreform 2008 unddie im Rahmen der Konjunkturprogramme vereinbarten Steuersenkungen,sowie die Sofortmaßnahmen der neuen Bundesregierung.

3 Sichtbar ist auch die leicht verzögerte Entwicklung des Kassensaufkom-mens, welches sich aus den Zahlungsverzögerungen der verschiedenenSteuerarten ergibt, die in der Finanzstatistik enthalten sind, in den VGR je-doch nicht. Außerdem haben nichtsteuerliche finanzpolitische Impulse inder Krise 2009 schneller wirken können, weshalb der gesamtstaatliche Fi-nanzierungssaldo schneller reagiert als das Steueraufkommen.

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Daten und Prognosen

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Tab. 1

Ergebnisse der Steuerschätzung vom Mai 2010

Steuereinnahmen in Mill. realisiert Prognose Mai 2010

2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Gemeinsch. Steuern 396 472 370 676 359 702 361 697 382 759 400 592 417 396

Lohnsteuer 141 895,4 135 165,1 125 200 125 450 132 000 138 300 144 650

veranl. Einkommensteuer 32 684,7 26 429,9 26 450 23 900 29 000 33 050 35 250

nicht veranl. St. v. Ertrag 16 575,3 12 474,0 11 170 10 915 12 480 13 675 14 930

Abgeltungssteuer 13 459,3 12 442,2 9 962 9 842 10 349 10 907 11 566

Körperschaftsteuer 15 868,1 7 173,1 7 020 9 440 11 880 13 910 15 550

Steuern vom Umsatz 17 5989 176 991,3 179 900 182 150 187 050 190 750 195 450

dar: Umsatzsteuer 130 789 141 907,3 139 600 137 000 140 650 143 450 147 000

Einfuhrumsatzsteuer 45 200,1 35 084,0 40 300 45 150 46 400 47 300 48 450

Bundessteuern 86 302 89 318 92 146 92 046 92 766 93 386 93 916

Energiesteuer 39 247,5 39 821,7 39 200 39 200 39 200 39 200 39 200

Stromsteuer 6 260,6 6 277,9 6 150 6 200 6 200 6 200 6 200

Tabaksteuer 13 574,3 13 366,0 13 210 13 220 13 240 13 260 13 290

Branntweinsteuer 2 125,9 2 100,9 2 040 2 040 2 040 2 040 2 040

Versicherungsteuer 10 478,3 10 548,4 10 480 10 420 10 420 10 420 10 420

Kaffeesteuer 1 008,1 996,7 1 010 1 010 1 010 1 010 1 010

Schaumweinsteuer 429,6 445,9 425 425 425 425 425

Zwischenerzeugnissteuer 27,1 25,7 26 26 26 26 26

Alkopopsteuer 2,7 2,2 2 2 2 2 2

Solidaritätszuschlag 13 145,8 11 926,8 11 150 11 100 11 850 12 500 13 050

Kraftfahrzeugsteuer 0 3 803,1 8 450 8 400 8 350 8 300 8 250

Pauschal. Einfuhrabgaben 2,2 2,7 3 3 3 3 3

Sonstige Bundessteuern 0,2 0,0 0 0 0 0 0

Ländersteuern 21 937,3 16 375,4 11 495 11 603 11 821 11 928 12 076

Kraftfahrzeugsteuer 8 841,8 4 397,8 0 0 0 0 0

Vermögensteuer – 6,6 7,2 0 0 0 0 0

Biersteuer 739,5 729,6 720 715 710 705 700

Grunderwerbsteuer 5 728,3 4 856,8 4 850 4 801 4 850 4 850 4 850

Erbschaftsteuer 4 771,1 4 549,8 4 175 4 297 4 471 4 583 4 736

Rennwett- u. Lotteriesteuer 1 536 1 510,7 1 410 1 410 1 410 1 410 1 410

Feuerschutzsteuer 327,2 323,3 340 380 380 380 380

Gemeindesteuern 52 468,2 44 013,8 43 189 45 704 48 419 51 334 53 949

Gewerbesteuer 41 036,9 32 355 31 150 33 450 35 950 38 650 41 050

Grundsteuer A 355,8 362 362 362 362 362 362

Grundsteuer B 10 451,3 10 630 11 010 11 225 11 440 11 655 11 870

Grunderwerbsteuer 0 0 0 0 0 0 0

Sonstige Gemeindesteuern 624,2 667 667 667 667 667 667

Zölle 4 002,4 3 603,6 3 800 3 900 4 000 4 100 4 200

Steuern insgesamt 561 182 523 986 510 332 514 950 539 765 561 340 581 537

Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen.

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Daten und Prognosen

Literatur

BMF (2009a), Ergebnis der 134. Sitzung des Arbeitskreises »Steuerschät-zungen« vom 12. bis 14. Mai 2009 in Bad Kreuznach, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4156/DE/ Wirtschaft__und__Ver-waltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Ergebnis__der__Steuerscha-etzung/0905151a6002,templateId=raw,property=publicationFile.pdf.BMF (2009b), Ergebnis der 135. Sitzung des Arbeitskreises »Steuerschät-zungen« vom 3. bis 5. November 2009 in Hamburg, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4156/DE/ Wirtschaft__und__Ver-waltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Ergebnis__der__Steuerscha-etzung/0911061a6002,templateId=raw,property=publicationFile.pdf.BMF (2010a), Ergebnis der 136. Sitzung des Arbeitskreises »Steuerschät-zungen« vom 4. bis 6. Mai 2010 in Lübeck, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4156/DE/ Wirtschaft__und__Ver-waltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Ergebnis__der__Steuerscha-etzung/1005071a6002,templateId=raw,property=publicationFile.pdf.BMF (2010b), Zahlungsstrukturstatistik bis März 2010, Berlin.Breuer, Chr. (2008), »Steuerschätzung: Mehreinnahmen trotz Rezession?«,ifo Schnelldienst 61(22), 14–17.Breuer, Chr. (2009a), »Steuerschätzung: Verzögerter Absturz der Staatsein-nahmen«, ifo Schnelldienst 62(11), 30–34.Breuer, Chr. (2009b), »Steuern im Sinkflug. Ergebnisse der Steuerschätzungvom November 2009«; ifo Schnelldienst 62(22), 11–14.Büttner T., A. Dehne, G. Flaig, O. Hülsewig und P. Winker (2006), Berech-nung der BIP-Elastizitäten öffentlicher Ausgaben und Einnahmen zu Prog-nosezwecken und Diskussion ihrer Volatilität, ifo Forschungsberichte 28, ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München.Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2010), Erholung setzt sich fort – Risiken bleiben groß, Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2010, ifo Schnell-dienst 63(8), Sonderheft.Sachverständigenrat (2007), »Staatsverschuldung wirksam begrenzen«, Ex-pertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie.

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i fo Schne l ld ienst 9/2010 – 63. Jahrgang

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Dieser Artikel der Reihe »Kurz zum Klima« betrachtet denPrimärenergieverbrauch im Jahr 2007 und verwendet zweiNormierungsgrößen, um eine Vergleichbarkeit über die Län-der zu gewährleisten.

Die obere Karte (Abb. 1) stellt den Primärenergieverbrauchim Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt der Länder dar.So lässt sich zeigen, mit welch unterschiedlichem Einsatzvon Energie die Länder ihren Wohlstand erzeugen. Die Da-ten zum Primärenergieverbrauch werden von der interna-tionalen Energieagentur (IEA) zur Verfügung gestellt. DerPrimärenergieverbrauch umfasst sowohl die Produktionvon verschiedenen Energieträgern als auch deren Im- undExport. Für die obere Karte wird zunächst der Energiever-brauch in Tonnen Öläquivalent (toe) pro 1000 US-DollarBruttoinlandsprodukt (PPP in Preisen vom Jahr 2000) be-rechnet.

Ein Blick auf die Länder, die in der gegenwärtigen klimapo-litischen Diskussion oft angesprochen werden, zeigt, dassdie Energieintensität in den mitteleuropäischen Staaten, wieDeutschland, Italien und Spanien, vergleichsweise niedrigausfällt und dass die Vereinigten Staaten von Amerika so-wie Australien, einen höheren Wert aufweisen. Kasachstanund auch einige afrikanische Staaten haben die höchstenEnergieintensitäten. Dass Kasachstan an dieser Stelle ge-nannt wird, ist wenig verwunderlich, die hohen Energiein-tensitäten in afrikanischen Staaten wie Tansania oder Sam-bia mögen aber durchaus überraschen. Dabei ist grund-sätzlich bemerkenswert, in welchem Maße sich die Ener-gieintensitäten in Afrika und auch in Südamerika unter-scheiden. Gleichermaßen bemerkenswert ist, dass Finnlandeine deutlich höhere Energieintensität aufweist als viele Län-der Mitteleuropas.

Wird, wie in der unteren Karte, nicht mehr das Bruttoin-landsprodukt, sondern die Einwohnerzahl eines Landes alsNormierungsgröße verwendet, so ergibt sich ein anderesBild. Hier stellt sich insbesondere Afrika deutlich homoge-ner dar, der Pro-Kopf-Energieverbrauch ist in den meistenLändern sehr gering, Ausnahmen stellen lediglich Südafri-ka und Libyen dar. Die Mehrzahl der west- und mitteleuro-päischen Länder hingegen weist einen im weltweiten Ver-gleich eher hohen Verbrauch auf, gleiches gilt für Russland.China und Indien bewegen sich in diesem Vergleich eher beiden Ländern mit niedrigem Pro-Kopf Verbrauch; allerdingsist davon auszugehen, dass sich dies ändern wird, falls diewirtschaftliche Aktivität in diesen beiden Ländern wie in denletzten Jahren zunehmen wird und sich die Struktur dieserÖkonomien nicht wesentlich ändert. Im Kopenhagen Ac-cord (vgl. ifo Schnelldienst 4/2010) haben China und Indienzwar angekündigt, ihre Energieintensität zu reduzieren – dader Accord aber keine bindende Wirkung hat, ist zumin-dest fraglich, ob dies eingehalten wird. Unter den Ländernmit dem höchsten Pro-Kopf-Energieverbrauch befinden sich

wieder die »üblichen Verdächtigen« USA und Kanada, aberauch Finnland sowie Island.

Die Gegenüberstellung von Energieintensität und Ener-gieverbrauch gibt zum einen in der öffentlichen Debatte oftangeführte Aspekte wieder, offenbart zum anderen aberauch einige Überraschungen. Dazu gehört sicherlich dashohe Maß an Heterogenität in der Energieintensität der afri-kanischen Länder sowie die Tatsache, dass Finnland hin-sichtlich beider Maßzahlen höhere Werte aufweist als vie-le Länder Mitteleuropas und dass dessen Pro-Kopf-Ener-gieverbrauch zu den weltweit höchsten zählt. Es liegt aufder Hand, dass diese Gegebenheiten bei einer Vielzahl po-litischer Problembereiche eine Rolle spielen. Neben der be-reits erwähnten Problematik des Klimawandels gehört da-zu sicherlich auch die Frage der Energieversorgungssi-cherheit. Natürlich wird die Höhe des Primärenergiever-brauchs entsprechende politische Entscheidungen be-einflussen, aber auch die unterschiedlichen Strukturen inden einzelnen Ländern spielen eine Rolle. Ein besonderesProblem ist sicherlich dadurch gegeben, dass energiepo-litische Weichenstellungen langfristiger Natur sind und sichzudem gegebene Strukturen in den einzelnen Ländernnur schwerlich werden ändern lassen. Die weltweite Kli-ma- und Energiepolitik, die vor großen Herausforderungensteht, wird mit den vielfältigen Besonderheiten einzelnerLänder hinsichtlich der Energieverbrauchsgewohnheitenumgehen müssen.

Marc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt

Kurz zum Klima: Energieverbrauch und Energieintensität

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Im Blickpunkt 45

Primärenergie-verbrauch pro BIP(toe/1000 $)

keine Daten

0 - 0,15

0,16 - 0,2

0,21 - 0,3

0,31 - 0,5

> 0,5

Primärenergie-verbrauch pro Kopf(toe/capita)

keine Daten

0 - 0,5

0,6 - 0,8

0,9 - 1,5

1,6 - 3,0

3,1 - 6,0

> 6,0

Energieintensität

Quelle: IEA, 2010.

Abb. 1

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Das ifo Geschäftsklima für die gewerbliche WirtschaftDeutschlands hat sich im April erneut kräftig verbessert.Die Unternehmen sind mit ihrer momentanen Geschäftssi-tuation erheblich zufriedener als bislang. Der Geschäftslage-indikator ist damit bereits den zweiten Monat in Folge starkgestiegen. Auch hinsichtlich des weiteren Geschäftsverlaufsin den nächsten sechs Monaten sind die Befragungsteil-nehmer erneut optimistischer als im Vormonat. Die deutscheWirtschaft schaltet einen Gang höher.

Die aktuelle Geschäftslage hat sich in allen befragten Wirt-schaftsbereichen verbessert – im verarbeitenden Gewer-be, im Bauhauptgewerbe sowie im Groß- und im Einzel-handel. Die Geschäftsperspektiven werden zudem von denUnternehmen in drei Wirtschaftsbereichen günstiger be-wertet. Die Ausnahme ist das Bauhauptgewerbe. Die Bau-firmen blicken nicht mehr ganz so optimistisch auf die Ge-schäfte in der nächsten Zeit. Allerdings waren die Erwar-tungen der Bauunternehmen während der ungewöhnlichstrengen Wintermonate in die Höhe geschnellt – die Firmenrechneten mit einem Anziehen der Geschäfte im Frühjahr.Nachdem die Witterung die Bautätigkeit nun kaum noch be-hindert, erwarten nicht mehr ganz so viele Bauunternehmeneine weitere Belebung.

Das ifo Beschäftigungsbarometer ist im April erneut klargestiegen. Die Aussichten für den Arbeitsmarkt in Deutsch-land haben sich verbessert. Auch in der Industrie dürftesich die Beschäftigungsentwicklung allmählich beruhigen.Im verarbeitenden Gewerbe planen die Unternehmen, er-neut deutlich seltener Personal abzubauen als in den ver-gangenen Monaten. In fast allen Industriebranchen habendie Unternehmen die Auslastung ihrer Geräte und Maschi-nen im Vergleich zum Jahresbeginn gesteigert. Mit den vor-handenen Auftragsbeständen sind die Industriefirmen nichtmehr ganz so unzufrieden, und für die nahe Zukunft rech-nen sie mit einer weiteren Belebung des Exportgeschäfts.Nahezu unverändert sind die Personalplanungen der Un-ternehmen im Bauhauptgewerbe. Im Großhandel und imEinzelhandel haben sich die Beschäftigungsperspektivenaufgehellt.

Das Geschäftsklima im verarbeitenden Gewerbe hat sicherneut deutlich verbessert. Damit ist der Geschäftskli-maindex den zweiten Monat in Folge sprunghaft gestie-gen. Die Industriefirmen schätzen ihre Geschäftslage merk-lich günstiger ein. Auch bezüglich der Geschäftsentwick-lung im kommenden halben Jahr sind sie hoffnungsvollerals im vergangenen Monat. Im Exportgeschäft rechnensich die Unternehmen erneut größere Chancen aus. Der-

Klaus Abberger

ifo Konjunkturtest April 2010 in Kürze1

1 Die ausführlichen Ergebnisse des ifo Konjunkturtests, Ergebnisse vonUnternehmensbefragungen in den anderen EU-Ländern sowie des Ifo World Economic Survey (WES) werden in den »ifo Konjunkturpers-pektiven« veröffentlicht. Die Zeitschrift kann zum Preis von 75,– EUR/Jahrabonniert werden.

75

80

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100

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115

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2005 2006 2007 2008 2009 2010

Geschäftserwartungen

Gewerbliche Wirtschafta)

Geschäftslage Geschäftsklima

Indexwerte, 2000 = 100, saisonbereinigt

a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

Geschäftsentwicklung

90

95

100

105

110

2005 2006 2007 2008 2009 2010

ifo Beschäftigungsbarometer Deutschland

Gewerbliche Wirtschafta)

a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß und Einzelhandel.

im April 2010

Indexwerte, 2000 = 100, saisonbereinigt

-50

-40

-30

-20

-10

0

10

20

30

40

50

-20 -16 -12 -8 -4 0 4 8 12 16 20

Klima positiv

aber verschlechtert

Klima positiv

und verbessert

Klima negativ

aber verbessertKlima negativ

und verschlechtert

Geschäftsklima nach Wirtschaftsbereichen

Salden, saisonbereinigte Werte

Veränderung in Prozentpunkten

verarbeitendes Gewerbe

Einzelhandel

Großhandel

im April 2010

Bauwirtschaft

Abb. 1

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 2

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 3

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Im Blickpunkt 47

zeit lasten die Firmen ihre vorhandenen Geräte und Ma-schinen deutlich stärker aus als zu Jahresbeginn. Der Aus-lastungsgrad der Industrie liegt damit momentan etwasunterhalb des langjährigen Durchschnittswerts. Die Vor-leistungsgüterhersteller und die Investitionsgüterprodu-zenten haben seit Jahresbeginn den Einsatz ihrer Gerätedeutlich erhöht. Leicht gestiegen ist die Kapazitätsaus-lastung bei den Konsumgüterherstellern, allerdings warsie hier bereits in den vergangenen Quartalen nicht soniedrig wie in den vorgenannten Hauptgruppen. Insge-samt schätzen die Industrieunternehmen ihre vorhande-nen technischen Kapazitäten im Hinblick auf die erwarte-te Nachfrage in den nächsten zwölf Monaten bei weitemnicht mehr so häufig als zu groß ein. Die Fertigwarenla-ger werden erneut seltener als zu voll erachtet, und imDurchschnitt wird der Warenbestand als nahezu ange-messen bewertet. Bei ihren Preiskalkulationen planen dieUnternehmen vermehrt mit Preisaufschlägen. Insgesamthat die Industrie im März und im April einen großen Schrittin Richtung Normalisierung getan.

Im Bauhauptgewerbe ist der Geschäftsklimaindex etwasgesunken. Die befragten Baufirmen bewerten ihre Ge-schäftslage merklich günstiger als im Vormonat. Allerdingssind sie hinsichtlich der Geschäftsentwicklung im kom-menden halben Jahr nicht mehr ganz so optimistisch wieim März. Die Erwartungen der Bauunternehmen warenwährend der vergangenen Wintermonate sehr zuver-sichtlich. Trotz des Rückgangs liegt der Erwartungsindi-kator daher weiterhin über den Werten, die zum Jahres-wechsel gemessen wurden. Sowohl im Tiefbau als auchim Hochbau ist die Auslastung im Vergleich zum Märzgestiegen. Allerdings werden die technischen Kapazitä-ten derzeit geringer ausgelastet als im vergleichbaren Vor-jahresmonat. Im Tiefbau ist der Geschäftsklimaindex sicht-lich gesunken. Dagegen hat er sich im Hochbau minimalnach oben bewegt. Sowohl im gewerblichen Hochbau alsauch im Wohnungsbau hat sich das Geschäftsklima leichtverbessert. Dagegen hat es sich im öffentlichen Hoch-bau geringfügig abgekühlt.

Das Geschäftsklima im Großhandel hat sich deutlich auf-gehellt. Die befragten Großhändler sind mit ihrer Ge-schäftssituation zufriedener als im Vormonat, und sie blickenzuversichtlicher auf die Entwicklung in der nahen Zukunft.Die Unternehmen klagen erneut seltener über zu hohe La-gerbestände, neue Waren wollen sie nicht mehr so zurück-haltend bestellen. Bei den Verkaufspreisen streben sie ver-stärkt Preisanhebungen an. Das Geschäftsklima hat sich so-wohl im Konsumgütergroßhandel als auch im Produktions-verbindungshandel gebessert. In den bauaffinen Sparten hatsich das Geschäftsklima ebenfalls aufgehellt: In den Han-delssparten Elektroinstallationszubehör, Baustoffe und Ins-tallationsbedarf für Gas, Wasser, Heizung ist der Ge-schäftsklimaindex einhellig gestiegen.

-40

-30

-20

-10

0

10

20

2005 2006 2007 2008 2009 2010

saisonbereinigt

saisonbereinigt, geglättet

Großhandel

Salden

Salden aus den Prozentsätzen der Meldungen über erhöhte und verringerte Bestellplanungen.

Bestellpläne

-30

-25

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-15

-10

-5

0

5

10

2005 2006 2007 2008 2009 2010

saisonbereinigt

saisonbereinigt, geglättet

Salden aus den Prozentsätzen der Meldungen über steigende und sinkende Baupreise.

Salden

Bauhauptgewerbe

Preiserwartungen

Abb. 5

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 6

70

75

80

85

90

2005 2006 2007 2008 2009 2010

a) Ohne Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung.

Verarbeitendes Gewerbea)

in Prozent, saisonbereinigt

Grad der Kapazitätsauslastung

Abb. 4

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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Im Blickpunkt

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Im Einzelhandel hat sich das Geschäftsklima ebenfalls ge-bessert. Die Befragungsteilnehmer sind zufriedener mit ih-rer Geschäftslage und blicken zuversichtlicher auf die Ent-wicklung in der nahen Zukunft. Die Umsätze konnten ge-genüber dem Vorjahresmonat gesteigert werden, und derLagerdruck hat sich verringert. Bei den Verkaufspreisen wol-len die Einzelhändler in nächster Zeit vermehrt Preisanhe-bungen durchsetzen. Das Geschäftsklima hat sich im Ver-brauchsgüterbereich und noch stärker im Gebrauchsgü-terbereich aufgehellt. Stark gebessert hat sich auch das Ge-schäftsklima im Einzelhandel mit Kfz. Zwar sind die Befra-gungsteilnehmer in dieser Sparte weiterhin vorwiegend un-zufrieden mit ihrer Geschäftssituation, doch haben die Kla-gen über unbefriedigende Geschäfte im Vergleich zum Vor-monat stark abgenommen. Auch der Ausblick der Kfz-Ein-zelhändler fällt nicht mehr ganz so trübe aus wie bisher. Sieplanen in der nahen Zukunft ebenfalls vermehrt mit Preis-anhebungen.

Im Dienstleistungsgewerbe2 ist der Geschäftsklimaindi-kator zum dritten Mal in Folge gestiegen. Die befragtenDienstleister sind mit ihrer Geschäftslage spürbar zufrie-dener als im vergangenen Monat. Im Gegenzug hat ihr Op-timismus hinsichtlich des weiteren Geschäftsverlaufs ge-ringfügig abgenommen. Die Nachfrage nach den Dienst-leistungen hat sich den Firmenmeldungen zufolge weiterbelebt, und die Befragungsteilnehmer sind nicht mehr sounzufrieden mit ihren Auftragsbeständen wie im Vormonat.Die Beschäftigungspläne der Dienstleister sind vermehrtauf eine Erhöhung der Mitarbeiterzahl ausgerichtet. Deut-lich aufgeklart hat sich das Geschäftsklima im Bereich Gü-terverkehr. Die Unternehmen sind sichtlich zufriedener mitihrer Geschäftslage und schätzen die weitere Entwicklungnochmals optimistischer ein. Die Mitarbeiterzahl wollen sievermehrt erhöhen. Die Unternehmens- und Public-Relati-ons-Berater berichten von einer deutlich besseren Ge-schäftslage. Für die Geschäfte in den nächsten sechs Mo-naten sind sie nahezu unverändert optimistisch. Das Ge-schäftsklima hat sich in diesem Bereich daher gebessert.Auch die Geschäftslage der DV-Dienstleister hat sich po-sitiv entwickelt. Da die Befragungsteilnehmer kaum weni-ger optimistisch hinsichtlich der weiteren Geschäftsent-wicklung sind als im März, ist der Geschäftsklimaindikatorbei den DV-Dienstleistern ebenfalls gestiegen. Im BereichPersonal- und Stellenvermittlung, Überlassung von Ar-beitskräften – zu dem die Zeitarbeitsfirmen gehören – zeigtsich das Geschäftsklima weiter aufgehellt. Die Unterneh-men sind mit ihrer aktuellen Geschäftslage erheblich zu-friedener. Für die Geschäftsentwicklung in der nahen Zu-kunft sind sie euphorisch, allerdings nicht mehr ganz soausgeprägt wie im vergangenen Monat. Die Mitarbeiter-zahl soll aber weiterhin stark erhöht werden.

2 In den Ergebnissen für die »gewerbliche Wirtschaft« nicht enthalten.

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2005 2006 2007 2008 2009 2010

Geschäftserwartungen

Geschäftslage

Geschäftsklima

Dienstleistungen

Salden, nicht saisonbereinigt

Geschäftsentwicklung

Abb. 7

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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im Internet: http://www.cesifo-group.de

ifo Institut für Wirtschaftsforschung

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