Russland HEUTE

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MEHR DAZU AUF SEITE 5 SEITE 9 SEITEN 2 UND 10 Die Demokratie Russlands er- scheint vielen nicht ganz lupen- rein, aber wenigstens gibt es dort echte Winter. Und so schnüren die Russen ab November ihre Schlitt- schuhe: Allein Moskau bietet über 70 offene und geschlossene Eis- laufbahnen, „Katok“ genannt. Als zentraler „Katok“ des Landes gilt, prominent an den Mauern des Kremls und vor dem Lenin-Mau- soleum gelegen, der „GUM-Ka- tok“ auf dem Roten Platz. Vom Kreml immer der Moskwa entlang, kommt man zum Gorki Park, in dem schon seit Novem- ber der wohl ungewöhnlichste Eislaufpark Europas seine Tore geöffnet hat: Die Parkverwaltung lässt zum Winter auf einer Flä- che von 18 000 Quadratmetern Wege und Plätze mit einer künst- lichen Eisschicht bedecken, die bis ins Frühjahr erhalten bleibt. Der Park, der einst durch einen pfiffigen Gassenhauer der Scor- pions Weltruhm erlangte, erlebt nach einer Phase des Niedergangs nun seine „Wiedergeburt“. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Yandex-Chef über den eigenen Browser Der Erste Ein Nachruf auf den Science-Fiction-Pionier Boris Strugatzki, der am 19. November im Alter von 79 Jahren starb SEITE 11 Der Letzte Er will seine Stadt vor dem Untergang retten. SEITE 12 Der Neue Mittwoch, 5. Dezember 2012 Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Was im letzten Winter nach den Dumawahlen als ein Aufschrei der Zivilbe- völkerung begann, hat diesen Winter deutlich an Fahrt verloren. Russland blickt auf ein turbulentes Jahr: Proteste – ein neuer alter Präsident – Pussy Riot. Doch auch: WTO-Beitritt und olympische Ehren in London. Welche Ereignisse Russland sonst noch bewegten, lesen Sie auf den Seiten 6 und 7. RÜCKBLICK 2012 „SOLCHE STRASSENKÄMPFE SEIT LANGEM NICHT MEHR ERLEBT“ Eiszeit rund um den Kreml THEMA DES MONATS Während deutsche „Piraten“ schon in mehreren Landtagen sit- zen, wartet die russische Piraten- partei noch immer auf ihre Re- gistrierung. 5000 Beitrittswillige gebe es, so Oberpirat Pawel Ras- sudow. Ganz oben auf ihre Flag- ge hat sich die Partei den Kampf gegen die Einschränkung der Netzfreiheit geschrieben. SEITE 8 Winterspaß vor den Mauern des Kremls – mit der russischen Trickfilmfigur Tscheburaschka MEINUNG Russenversteher überflüssig? E ine Besonderheit der Russen ist ihr Verhältnis gegenüber Kritik: Unter- einander, aber auch ge- genüber Ausländern, können sie ihren Nationalcharakter, ihr Land und ihren Präsidenten im Besonderen verfluchen. Behaup- tet der Gast aus dem Ausland je- doch das Gleiche, hört er oft miss- mutiges Zähneknirschen. Diese Eigenart mag die teils an- gespannte Stimmung auf dem gerade zu Ende gegangenen Pe- tersburger Dialog erklären. Rus- sische Teilnehmer nannten die in der Russlandresolution des Bun- destags geäußerte Kritik „bösar- tig“, während die Deutschen sie als „gut gemeinte Ratschläge“ unter Partnern verteidigten. Rat- schläge gerne, entgegneten die Russen, aber bitte in Zukunft ohne das Wort „müssen“. Wer auf kulturelle Unterschiede hinweist, wird schnell als „Rus- senversteher“ abgekanzelt. Aber den deutsch-russischen Bezie- hungen würden ein paar Russen- versteher mehr guttun: Von den 622 Mitgliedern des Bundestags sind jene, die überhaupt Russisch sprechen, an einer halben Hand abzuzählen. Nach einer Serie gegenseitiger Anschuldigungen war es auf dem Dialog die Grünenabgeordnete Marie-Luise Beck, die mit einem gut gemeinten Vorschlag versuch- te, Brücken zu bauen: Sie erin- nerte an den von Gorbatschow geprägten Begriff vom „gemein- samen europäischen Haus“, des- sen Bewohner ihr zufolge in einer „Wohngemeinschaft“ leben soll- ten. Kein Zweifel, der Begriff „WG“ ist für viele Deutsche po- sitiv besetzt, er riecht nach Frei- heit, wilden Studentenjahren und einer Prise Sozialismus. Die Wohngemeinschaften, die Rus- sen kennen, waren aber stets mangelndem Wohnraum geschul- det. Für sie klingt der Begriff nach zu wenig Freiheit, nach Enge, der man entfliehen will. Russen träumen vom Eigenheim, nicht von WGs. Aber lassen wir das. Wer braucht schon Russenversteher. Moritz Gathmann GASTREDAKTEUR Kaum eine Reform hat der Rus- sischen Föderation so viel Kritik eingebracht wie die neue Fassung des Gesetzes über Nichtregie- rungsorganisationen: Politisch tä- tige NGOs, die sich aus dem Aus- land finanzieren lassen, müssen sich seit November als „ausländi- sche Agenten“ ausweisen. Besuch in einer Stadt, vor der sich alle fürchten: Mit Norilsk verbinden auch die meisten Rus- sen nur wenig Positives. Die nörd- lichste Großstadt der Welt gilt als dunkel, kalt und verschmutzt. Aber die knapp 200 000 Ein- wohner haben gelernt, wie man mit den extremen Bedingungen klarkommt. SEITE 2 SEITE 4 Agentengesetz Am Polarkreis Russkij Pirat ITAR-TASS PHOTOXPRESS © ILIJA PITALEW_RIA NOVOSTI KOMMERSANT KOMMERSANT

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Die Ausgabe vom 5. Dezember 2012

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Page 1: Russland HEUTE

MEHR DAZU AUF SEITE 5

SEITE 9 SEITEN 2 UND 10

Die Demokratie Russlands er-scheint vielen nicht ganz lupen-rein, aber wenigstens gibt es dort echte Winter. Und so schnüren die Russen ab November ihre Schlitt-schuhe: Allein Moskau bietet über 70 offene und geschlossene Eis-laufbahnen, „Katok“ genannt. Als zentraler „Katok“ des Landes gilt, prominent an den Mauern des Kremls und vor dem Lenin-Mau-soleum gelegen, der „GUM-Ka-tok“ auf dem Roten Platz. Vom Kreml immer der Moskwa entlang, kommt man zum Gorki Park, in dem schon seit Novem-ber der wohl ungewöhnlichste Eislaufpark Europas seine Tore geöffnet hat: Die Parkverwaltung lässt zum Winter auf einer Flä-che von 18 000 Quadratmetern Wege und Plätze mit einer künst-lichen Eisschicht bedecken, die bis ins Frühjahr erhalten bleibt. Der Park, der einst durch einen pfi ffigen Gassenhauer der Scor-pions Weltruhm erlangte, erlebt nach einer Phase des Niedergangs nun seine „Wiedergeburt“.

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYOND

THE HEADLINES

Yandex-Chef über den eigenen Browser

Der Erste

Ein Nachruf auf den Science-Fiction-Pionier Boris Strugatzki, der am 19. November im Alter von 79 Jahren starb

SEITE 11

Der Letzte

Er will seine Stadt vor dem Untergang retten.

SEITE 12

Der Neue

Mittwoch, 5. Dezember 2012 Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Was im letzten Winter nach den Dumawahlen als ein Aufschrei der Zivilbe-völkerung begann, hat diesen Winter deutlich an Fahrt verloren. Russland blickt auf ein turbulentes Jahr: Proteste – ein neuer alter Präsident – Pussy Riot. Doch auch: WTO-Beitritt und olympische Ehren in London. Welche Ereignisse Russland sonst noch bewegten, lesen Sie auf den Seiten 6 und 7.

RÜCKBLICK 2012„SOLCHE STRASSENKÄMPFE SEIT LANGEM NICHT MEHR ERLEBT“

Eiszeit rund um den Kreml

THEMA DES MONATS

Während deutsche „Piraten“ schon in mehreren Landtagen sit-zen, wartet die russische Piraten-partei noch immer auf ihre Re-gistrierung. 5000 Beitrittswillige gebe es, so Oberpirat Pawel Ras-sudow. Ganz oben auf ihre Flag-ge hat sich die Partei den Kampf gegen die Einschränkung der Netzfreiheit geschrieben.

SEITE 8

Winterspaß vor den Mauern des Kremls – mit der russischen Trickfilmfigur Tscheburaschka

MEINUNG

Russenversteher

überflüssig?

Eine Besonderheit der Russen ist ihr Verhältnis gegenüber Kritik: Unter-einander, aber auch ge-

genüber Ausländern, können sie ihren Nationalcharakter, ihr Land und ihren Präsidenten im Besonderen verfl uchen. Behaup-tet der Gast aus dem Ausland je-doch das Gleiche, hört er oft miss-mutiges Zähneknirschen.Diese Eigenart mag die teils an-gespannte Stimmung auf dem gerade zu Ende gegangenen Pe-tersburger Dialog erklären. Rus-sische Teilnehmer nannten die in der Russlandresolution des Bun-destags geäußerte Kritik „bösar-tig“, während die Deutschen sie als „gut gemeinte Ratschläge“ unter Partnern verteidigten. Rat-schläge gerne, entgegneten die Russen, aber bitte in Zukunft ohne das Wort „müssen“.Wer auf kulturelle Unterschiede hinweist, wird schnell als „Rus-senversteher“ abgekanzelt. Aber den deutsch-russischen Bezie-hungen würden ein paar Russen-versteher mehr guttun: Von den 622 Mitgliedern des Bundestags sind jene, die überhaupt Russisch sprechen, an einer halben Hand abzuzählen. Nach einer Serie gegenseitiger Anschuldigungen war es auf dem Dialog die Grünenabgeordnete Marie-Luise Beck, die mit einem gut gemeinten Vorschlag versuch-te, Brücken zu bauen: Sie erin-nerte an den von Gorbatschow geprägten Begriff vom „gemein-samen europäischen Haus“, des-sen Bewohner ihr zufolge in einer „Wohngemeinschaft“ leben soll-ten. Kein Zweifel, der Begriff „WG“ ist für viele Deutsche po-sitiv besetzt, er riecht nach Frei-heit, wilden Studentenjahren und einer Prise Sozialismus. Die Wohngemeinschaften, die Rus-sen kennen, waren aber stets mangelndem Wohnraum geschul-det. Für sie klingt der Begriff nach zu wenig Freiheit, nach Enge, der man entfliehen will. Russen träumen vom Eigenheim, nicht von WGs.Aber lassen wir das. Wer braucht schon Russenversteher.

Moritz

GathmannGASTREDAKTEUR

Kaum eine Reform hat der Rus-sischen Föderation so viel Kritik eingebracht wie die neue Fassung des Gesetzes über Nichtregie-rungsorganisationen: Politisch tä-tige NGOs, die sich aus dem Aus-land fi nanzieren lassen, müssen sich seit November als „ausländi-sche Agenten“ ausweisen.

Besuch in einer Stadt, vor der sich alle fürchten: Mit Norilsk verbinden auch die meisten Rus-sen nur wenig Positives. Die nörd-lichste Großstadt der Welt gilt als dunkel, kalt und verschmutzt. Aber die knapp 200 000 Ein-wohner haben gelernt, wie man mit den extremen Bedingungen klarkommt.

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Agentengesetz

Am Polarkreis

Russkij Pirat

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2 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPolitik

NGOs wollen Widerstand leistenNeuerung Das neue Gesetz über Nichtregierungsorganisationen sorgt im In- und Ausland für Kritik

JULIA PONOMARJOWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Ein neues Gesetz könnte den

Ruf vieler Nichtregierungs-

organisationen beschädigen

und ihre Arbeit in Russland

lähmen. Diese wollen sich

notfalls vor Gericht wehren.

Im November sind die Änderun-gen zum Gesetz über Nichtregie-rungsorganisationen (NGOs) in Kraft getreten. Diese erlauben es, vom Ausland unterstützte und im politischen Bereich tätige NGOs als „Auslandsagenten“ zu dekla-rieren – ein Begriff, der ein Sy-nonym für „Spion“ darstellt. Das Gesetz verschärft auch die Kontrollen in den Organisationen, die neuerdings sogar auf Antrag von Privatpersonen vorgenommen werden können.Einer der Unterstützer der neuen Gesetzgebung, Irina Jarowaja von der Partei Einiges Russland, die der Antikorruptions- und Sicher-heitskommission in der Staatsdu-ma vorsteht, argumentiert, dass „die Bevölkerung wissen soll, wer und welche Institution in Russ-land Politik mit Geld aus dem Aus-land betreiben.“Abgeordnete schätzen, dass das Gesetz etwa 1000 der 220 000 in Russland tätigen NGOs betreffen könnte. Trotz drastischer Geld-strafen von bis zu 1,5 Millionen Rubel (37 500 Euro), Haftstrafen von bis zu vier Jahren und einer möglichen Aussetzung der Tätig-keit von bis zu sechs Monaten im Falle eines Verstoßes gegen die neue Verordnung haben viele NGOs, die zuvor mit den Behör-den aneinandergeraten waren, öf-fentlich erklärt, dass sie sich im Justizministerium nicht wie ver-langt als „Auslandsagenten“ re-gistrieren werden.

„Wir lassen uns diesen Stempel nicht aufdrücken“In einer Anfang November ver-öffentlichen Stellungnahme wies Transparency International Rus-sia darauf hin, dass die neue Ge-setzgebung mindestens vier Pa-ragraphen der russischen Verfas-sung zuwiderläuft, einschließlich desjenigen, der „die Gleichheit der Rechte und Freiheiten des Men-schen und Bürgers unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu ge-sellschaftlichen Vereinigungen“ zusichert.„Das Gesetz fördert die Ungleich-heit zwischen gesellschaftlichen Organisationen und beschuldigt uns, dass unsere Tätigkeit, die immer auf den Nutzen Russlands und seiner Bürger ausgerichtet war, in Wirklichkeit im Interesse anderer Staaten ausgeführt wird“, sagt Jelena Panfi lowa, Direktorin von Transparency.Oleg Orlow, Aufsichtsratsvorsit-zender der Organisation Memo-rial, sieht voraus, dass das Gesetz das Ansehen von NGOs in den Augen der Durchschnittsbürger und Beamten trüben wird. „Wir haben nicht vor, uns diesen Stem-pel aufdrücken zu lassen“, sagt er. „Wenn ich mir die russische Wirk-lichkeit anschaue, weiß ich jetzt schon, dass Beamte und Abgeord-nete uns wie Teufel vor dem Weih-wasser fürchten, wenn wir erst

" Wenn wir auf die ausländi-schen Fördermittel verzichten, riskieren wir die Existenz un-

serer Organisation, denn dann müs-sen wir ausschließlich mit russischer Hilfe auskommen. Und die ist gegen-wärtig äußerst gering."

" Die Vertreter der Menschen-rechtsorganisationen müssen verstehen, dass dies ein föde-

rales Gesetz ist und diesem unbedingt nachzukommen ist. Wenn sie der Mei-nung sind, dass es ihr Budget zulässt, Bußgelder in Höhe von bis zu 1,5 Mil-lionen Rubel [umgerechnet 37�500 Euro] zu zahlen, nun gut, sollen sie halt zahlen. Aber dabei sollten sie nicht vergessen, dass ihr Verhalten nach mehreren Bußgeldbescheiden als Widerstand gegen ein föderales Gesetz eingestuft wird. Dies kann laut den geltenden Rechtsnormen die Grundlage für die Auflösung ihrerOrganisation sein."

ZITATE

Ljudmila

Alexejewa

Alexander

Sidjakin

VORSITZENDE DER MOSKAUER HELSINKI-GRUPPE

UND BIS 2012 MITGLIED IM MENSCHENRECHTSRAT

ABGEORDNETER DER STAATSDUMA (EINIGES

RUSSLAND) UND VERFASSER DES NGO-GESETZES

Auslandsagenten oder Spione?

als ‚Auslandsagenten‘ etikettiert werden.“ Orlow fügt hinzu, dass dies den Zugang der Menschen-rechtsorganisationen zu Strafl a-gern, Polizeirevieren und Armee-garnisonen erheblich erschweren könnte.

Starker Gegenwind aus dem PräsidentenratMichail Fedotow, Vorsitzender des Präsidentenrats für Menschen-rechte, hat mehrfach auf die Män-gel des Gesetzes hingewiesen, auch gegenüber Präsident Putin. Auf der Ratssitzung am 12. No-vember schlug er deshalb vor, es noch einmal zu überarbeiten und einen neuen Gesetzesentwurf vorzulegen.

„Dieses Gesetz wird in der Pra-xis entweder überhaupt nicht zur Anwendung kommen, oder es wird beim ersten Versuch einer Anwen-dung einen großen politischen Skandal und juristische Proble-me hervorrufen, weil es im Kon-fl ikt mit der übrigen Gesetzge-bung steht“, sagt Fedotow. „Die Behörden können gegen eine Or-ganisation eine Strafe verhängen oder deren Tätigkeit aussetzen. Aber sie werden es nicht tun, weil sie nicht verrückt sind.“Die Gesellschaftskammer Russ-lands, die auf Initiative Wladimir Putins im Jahre 2005 gegründet wurde, gab schon im September eine harsche Bewertung des Ge-setzesentwurfs ab, die allerdings

Ljudmila Alexejewa (links) und Michail Fedotow (in der Mitte)

nach Meinung ihrer Verfasser bei der Ausarbeitung des Gesetzes nicht berücksichtigt wurde. „Ich habe noch nie etwas Absurderes und für den Staat Schädlicheres gesehen“, sagt Jelena Lukjanowa, Direktorin des Instituts zur Über-wachung der Wirksamkeit der Strafverfolgung bei der Gesell-schaftskammer und Mitverfasse-rin des Berichts.

Mangelhafte Definitionen„Es hat keinen Sinn, die Arbeit von Antikorruptionsorganisatio-nen wie Transparency Interna-tional und Human Rights Watch oder von Wahlbeobachtern wie Golos mit der Behauptung zu be-hindern, dass es die ausländischen

Regierungen sind, die faire Wah-len in Russland brauchen“, sagt sie.Lukjanowa bemerkt auch, es seieiner der größten Mängel des Ge-setzes, dass es keine klare und ein-deutige Definition des Begriffs„politische Tätigkeit“ gebe unddass das Wort „Auslandsagent“eine negative Konnotation habe,da es von den meisten Russen mit„Spion“ gleichgesetzt werde. Ge-stützt wird ihre Aussage durcheine Untersuchung des unabhän-gigen Meinungsforschungsinsti-tuts Lewada vom Herbst, wonach62 Prozent der Bevölkerung denBegriff „Auslandsagent“ negativwahrnehmen.Oleg Orlow und Jelena Panfi lowabetonen, sie seien bereit, für ihreRechte auch vor Gericht einzu-treten, sollten irgendwelche Sank-tionen folgen. „Ich kann nichtsagen, was genau wir tun werden– das hängt alles vom erstenSchritt derjenigen ab, die beab-sichtigen, gegen uns vorzugehen“,sagt Panfi lowa.Ungeachtet der Tatsache, dassdas NGO-Gesetz im In- und Aus-land größtenteils negative Reak-tionen hervorgerufen hat, sagtIrina Jarowaja von der Partei Ei-niges Russland: „Es ist im Mo-ment verfrüht, von einer Revisiondes Gesetzes zu sprechen. Erstmuss man sehen, wie es sich inder Praxis bewährt.“Analysten sind der Meinung, dassdie Restriktionen gegenüber denNGOs eine Reaktion der Regie-rung auf die massiven Proteste desletzten Winters gegen die angeb-lich manipulierten Parlaments-und Präsidentenwahlen seien.

Ärger vorprogrammiert„Die NGOs tragen dazu bei, dieGesetzlosigkeit in diesem Landeeinzudämmen, zum Beispiel,indem sie die Wahlen beobachtenund Unregelmäßigkeiten melden“,sagt Dmitrij Oreschkin, unabhän-giger Politologe und ehemaligesMitglied des Präsidentenrats fürMenschenrechte, der das Gremi-um im Laufe des Wahlkampfs ver-lassen hatte.„Viele dieser Organisationen kön-nen als regierungsfeindlich ein-gestuft werden, weil sie gegen dieallgemeine Korruption kämpfen– die Quelle jener Korruption aberhäufi g die Regierung selbst ist. Siekönnen gar nicht anders, als dieseRegierung automatisch gegen sichaufzubringen, besonders wenn essich um ein autoritäres Regimehandelt“, fügt Olga Kryschta-nowskaja, Soziologieprofessorinmit eigenem Institut in Moskau,hinzu.Und weiter meint sie: „Die Bot-schaft, die das ‚Kollektiv Putin‘der Öffentlichkeit durch dieBrandmarkung der NGOs als‚Auslandsagenten‘ zu vermittelnversucht, ist folgende: Der Wes-ten mischt sich in die russischePolitik ein und provoziert damitimmer neue Proteste, um Putindurch einen schwächeren Regie-rungschef zu ersetzen, mit demsich dann leichter verhandelnlässt. Im Großen und Ganzenstimmt solch ein Meinungsbild mitder allgemeinen öffentlichenWahrnehmung der Politik in Russ-land überein.“

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Page 3: Russland HEUTE

3RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Wirtschaft

AKTUELL

Die Bank Leto plant als ersterussische Bank, im Laufe desnächsten Jahres Bankautomateneinzuführen, bei denen es aus-reichend ist, dass der Kunde sichper einfachem Fingerabdruckidentifi ziert. Nach Eingabe derpersönlichen Geheimnummerkann er dann Geld abheben.Eine Bankcard ist nicht mehrnötig. Die Bank ist eine vorKurzem gegründete Tochterder Großbank VTB, die sich vorallem um Mikrokredite küm-mern will.

Geld abheben per

Fingerabdruck

Siemens hat im Zuge der deutsch-russischen Regierungskonsulta-tionen eine Absichtserklärungmit der Russischen Bahn (RZD)über die Lieferung von 675 Lo-komotiven für den Frachtverkehrunterzeichnet. Der Wert des Auf-trags wird auf etwa 2,5 Milliar-den Euro geschätzt. Produziertwerden sollen die Loks von LLCUral Locomotives, einem JointVenture von Siemens und derrussischen Sinara Group. DieStrategie des Konzerns, die Pro-duktion mehr und mehr zu lo-kalisieren, scheint sich auszu-zahlen: Siemens vereinbartegleichzeitig eine Kooperation mitdem russischen Stromnetzbetrei-ber Federal Grid Company. DiePartner einigten sich über Eck-punkte für die langfristige Lie-ferung von Transformatoren.

Riesenauftrag für

Siemens von der

Russischen BahnInnovationen sind nicht nur StaatssacheUm Innovationen kümmert sich in Russland fast ausschließlich der Staat. Warum das so ist, wie das Business darauf reagiert und wie es in Zukunft ausschau-en soll, erklärt Oleg Fomitschew, stellvertretender Minister für Wirtschaftsentwicklung.

Beim internationalen Forum „Of-

fene Innovationen“, das Anfang

November in Moskau stattfand,

haben viele Teilnehmer angemerkt,

dass gegenwärtig in Russland In-

novationen ausschließlich durch

die Regierung angeregt werden.

In jeder Etappe eines innovativen Prozesses muss es einen bestimm-ten Player geben: den Staat, die Geschäftswelt oder – was seltener vorkommt – akademische Einrich-tungen. Leider ist die Geschäfts-welt in Russland derzeit nicht dazu bereit oder in der Lage, diese Füh-rungsrolle zu übernehmen – ihre innovative Aktivität ist äußerst ge-ring. Deshalb muss der Staat die Initiative ergreifen. Obwohl wir natürlich davon ausgehen, dass in absehbarer Zeit auch die Ge-schäftswelt ihr Engagement ver-größern wird. Gegenwärtig sind die Ausgaben für wissenschaftli-che Forschung und Entwicklung in Russland im Verhältnis 70 zu 30 zugunsten des Staats verteilt, wobei es eigentlich genau andersherum sein müsste.

Warum investiert das russische

Business nicht in Innovationen?

Das hängt vor allem mit unseren besonderen Produktionsbedingun-gen zusammen. Wir haben noch nicht vollständig die Möglichkei-

ten der „passiven Modernisierung“ ausgenutzt, bei der ausländische Technologien übernommen wer-den: und zwar nicht die innovati-ven, sondern jene, die bereits seit Langem auf dem Markt sind. Das Erstaunliche ist, dass sogar die Übernahme nicht mehr ganz neuer Technologien zu einem abrupten Anstieg des Produktionsniveaus führt. Denn in vielen Industrie-zweigen, zum Beispiel im Maschi-nenbau, ist dieses Niveau so nied-rig, dass jede beliebige, selbst die billigste und unbedeutendste Ver-besserung, zu einer Vergrößerung der Effektivität und infolgedessen zu höheren Gewinnen führt. So-lange die Unternehmen nicht das Niveau der Wettbewerbsfähigkeit ihrer ausländischen Geschäftspart-ner erreicht haben, können sie gar kein Interesse daran haben, in neue Modernisierungsprogramme zu investieren.Zweitens hat sich in Russland bisher immer noch kein freund-

Ausstellungsräume des Innovationsforums in Moskau

liches Geschäftsklima für inno-vative Unternehmen herausge-bildet. Das betrifft die Zoll- und Steuerregularien, die Lohnneben-kosten, den Zustand der Infra-struktur – obwohl da schon viel geschehen ist. Zum Beispiel wur-den Sonderwirtschaftszonen und Technologieparks eingerichtet, das reicht jedoch bei Weitem nicht aus.

Kann man die Wettbewerbsfähig-

keit etwa der traditionellen Roh-

stoffwirtschaft bei der stürmi-

schen Entwicklung der alternativen

Energien erhalten?

Ich denke, von einer stagnieren-den Rohstoffwirtschaft kann bei uns nicht die Rede sein. Wir müs-sen jedoch den Schwerpunkt unserer Produktion in andere Sektoren verlagern – in das ver-arbeitende Gewerbe, den Bereich der Dienstleistungen und die In-formationstechnologien. Aufgrund der Rückständigkeit dieser Sek-

toren erscheint unsere große Roh-stoffindustrie überentwickelt.Andererseits haben Innovationen in der traditionellen Energiewirt-schaft höchste Priorität. Unsere Leader wie Rosneft, Transneft, Gazprom und Rusgidro haben ihre Ausgaben zur Entwicklung neuer Technologien für die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen hochgefahren. Sie haben ihre Programme mit unserer methodo-logischen Unterstützung ausgear-beitet und sind jetzt dabei, sie um-zusetzen. Und wir führen ein staat-liches Monitoring durch, damit auch alles seine Ordnung hat. Für die Unternehmen wurden Effizi-enzkriterien ausgearbeitet, die außer Innovationsindikatoren auch noch den ökonomischen Effekt wi-derspiegeln, was insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit dieser Un-ternehmen steigert.

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KOMMERSANT

IM GESPRÄCH

Oleg Fomitschew

ANDREJ RESNITSCHENKOFÜR RUSSLAND HEUTE

Führende europäische Länder,

darunter auch Deutschland und

Russland, entwickeln innovative

Technologien im Bereich des

Gesundheitswesens, u. a. für

die Nuklearmedizin.

Molybdän-99 – Heilen mit kleinsten IsotopenNuklearmedizin Eine neue Technologie macht die Erzeugung des Heil-Isotops effektiver und sicherer

kurzlebige Technetium-99m, wichtigstes diagnostisches Ra-dionuklid der modernen Nukle-armedizin. Mit seiner Hilfe wer-den jährlich 25 bis 30 Millionen Menschen weltweit behandelt und geheilt.Rosatom, Föderale Agentur für Atomenergie, habe zusammen mit dem Schweizer Unternehmen GSG mit Sitz Leipzig ein neues Verfahren zur Produktion von Molybdän-99 auf Alkalibasis ent-wickelt, sagt Wjatscheslaw Per-schukow, stellvertretender Gene-raldirektor von Rosatom. Die Lizenz für die Herstellung der Iso-tope wird zurzeit den internatio-nalen Standards angepasst und soll zum Ende des Jahres ausge-stellt werden. Die neue Techno-logie, die aus wirtschaftlicher Sicht wesentlich effektiver als an-dere Verfahren ist, ermöglicht es auch, das Risiko umweltschädli-

Das wichtigste Isotop bei der Diagnostik und Heilung vieler gefährlicher Krankheiten wie Krebs ist Molybdän-99. Der Be-darf an diesem Isotop nimmt des-wegen weltweit ständig zu. Al-lerdings ist seine Gewinnung ein äußerst komplizierter Prozess, der zudem auch ökologisch nicht ganz unbedenklich ist.Das Molybdän-99 wird bei 80 Prozent der Diagnoseverfahren unter Verwendung von Radionu-kliden in der Onkologie, der Kar-diologie und Neurologie einge-setzt. Dabei zerfällt es in das

cher Auswirkungen dieses Mate-rials spürbar zu verringern.In der weltweiten Praxis kom-men mehr als 130 radiodiagnos-

Produktion von Molybdän-99

Mehr als dreißig

Jahre Erfahrung

Die Gamma Service-Group Internati-onal (GSG) ist ein internationales Un-ternehmen mit Stammsitz in der Schweiz und der Hauptniederlassung für medizinische Dienstleistungen in Leipzig. Mit Russland kooperiert die GSG bereits seit 1980 und lieferte medizinische Gerätetechnik für sowjetische Forschungseinrichtun-gen. In den 1990er-Jahren wurden u. a. das Bakulew-Klinikum und das Moskauer Zentralkrankenhaus mit dem medizinischen Know-how von GSG ausgerüstet. In den letzten zehn Jahren entwickelte das Unter-nehmen zusammen mit russischen Partnern Gerätetechnik in Bereich der Nuklearmedizin.

tische Verfahren zur Anwendung. In den russischen Forschungs- und Entwicklungszentren wer-den davon 30 eingesetzt. Ale-xander Udarow, Chefredakteur von Atominfo.ru, stellt fest: „In der Russischen Föderation arbei-ten mehr als 100 Einrichtungen für die Radionukliddiagnostik, in denen Untersuchungen in vivo (Abgabe der Präparate an die Pa-tienten) durchgeführt werden, und mehr als 200 Labors für ra-dioimmunologische Analysen von Blutproben in vitro (also mit Ana-lysetechniken im Labor).Es sei daran erinnert, dass Sie-mens seinerzeit die Zusammen-arbeit mit Rosatom aufgrund eines Beschlusses der deutschen Regierung, nach der Reaktorka-tastrophe von Fukushima die weitere Entwicklung der Kern-energie einzustellen, aufgeben musste.

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Das Interview führteArtjom Sagorodnow

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4 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUReportage

WIRTSCHAFTS-

KALENDER

KONFERENZ

FUTUROLOGISCHER KONGRESS

14.-16. DEZEMBER, MOSKAU,

POLYTECHNISCHES MUSEUM

Junge, innovative Wissenschaftler aus Deutschland und Russland entwickeln im Austausch drei Tage lang eine Vor-stellung von der Zukunft. Der Ansatz ist bewusst interdisziplinär, Teilnehmer sind Klimaforscher, Ökonomen, Neu-rowissenschaftler und Psychologen. › germanyinrussia.ru

FEIER

JUBILÄUMSFEIER DER AHK

14. DEZEMBER, MOSKAU

Seit fünf Jahren kümmert sich die deutsch-russische Auslandshandels-kammer (AHK) um die Belange deut-scher Unternehmen in Russland. Gefeiert wird im Moskauer „Interna-tionalen Haus der Musik“ mit der Phil-harmonie der Nationen unter der Leitung von Justus Frantz. › russland.ahk.de

SEMINAR

ZOLLABWICKLUNG SPEZIAL

RUSSLAND – WARENVERKEHR

UND ZERTIFIZIERUNG

18. DEZEMBER, IHK WEINGARTEN

Russland gilt als lukrativ für export-orientierte Unternehmen, doch ist es kein einfacher Absatzmarkt. Das Se-minar beschäftigt sich mit den aktuel-len Anforderungen bei der Zertifizie-rung und beim Warenverkehr. › ihk-exportakademie.de

SEMINAR

VERHANDELN MIT RUSSISCHEN

GESCHÄFTSPARTNERN

23. JANUAR, IHK WIESBADEN

In diesem Seminar erlangen Sie ein vertieftes Verständnis für die russische Lebens- und Geschäftskultur. Der Schwerpunkt liegt auf Verhandlungs-situationen, auf die Sie gezielt und handlungsorientiert durch Theorie und Übungen vorbereitet werden. › ihk-wiesbaden.de

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE

RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

Auf zum Großen Argisch

Norilsk Hier lächelt man nicht seltener als in den anderen russischen Städten. Trotz harter Lebensumstände

ANTON MACHROWRUSSLAND HEUTE

Kälte, Finsternis, ökologische

Probleme – die Stadt Norilsk

wird in den russischen Medien

nur selten mit anderen Dingen

assoziiert. Unser Korrespondent

prüft, ob dieses Bild stimmt.

Zwischen Moskau und Norilsk liegen fast 3000 Kilometer, mit der Boeing in vier Stunden zu be-wältigen. „Unser Flugzeug ist in Norilsk-Alykel gelandet. Das Wet-ter ist heute normal, minus 28 Grad“, verkündet der Flugkapi-tän. In seiner Stimme ist keiner-lei Ironie zu spüren – für das herbstliche Norilsk ist das Wet-ter wirklich absolut normal.

Schnee und GulagsDie Erschließung der Halbinsel Taimyr, auf der Norilsk liegt, begann im 17. Jahrhundert, aber die Stadt selbst ist wesentlich jünger. Das erste Norilsker Haus wurde erst 1921 bei einer Expe-dition des Geologen Nikolaj Ur-wanzew errichtet. Es war ein simples Holzgebäude mit vier Zimmern, grob zusammengezim-merten Tischen und Bänken, einem Ofen, Petroleumlampen.Das erste Haus steht immer noch inmitten von Norilsk und soll daran erinnern, wer diese Regi-on bewohnbar gemacht hat. Die etwa 175 000 Einwohner der Stadt sind bestrebt, die Vergangenheit nicht zu vergessen, auch nicht ihre düsteren Seiten: Ab den Dreißi-gerjahren befand sich unweit von Norilsk ein stalinistisches „Bes-serungsarbeitslager“. Im Stadt-

schutz hat Priorität. Aber der Ab-transport der Säure aus Norilskist aus Sicherheitsgründen prak-tisch unmöglich.Zur Lösung wurde jüngst eintechnologisches Verfahren ent-wickelt, mit dessen Hilfe aus denGasrückständen der metallurgi-schen Produktion Schwefel er-zeugt wird. Es soll bis 2019 inzwei Norilsker Werken einge-führt werden. Das neue Verfah-ren gestattet es, mehr als 95 Pro-zent des Schwefeldioxids ausden angereicherten Abgasen zuentsorgen. Probiert man das Leitungswas-ser, ist man erstaunt über denguten Geschmack: Moskauer sinddaran gewöhnt, dass es nachChlor schmeckt. Auch die Qua-lität der Luft scheint vollkom-men normal, oder hängt ihre Ver-schmutzung von den Wetterver-hältnissen ab?

Tanzen im SchneePsychologen sind sich einig: Derlange Winter, das Defi zit an Son-nenlicht, die Umweltverschmut-zung führen zu Depressionen. DieBewohner von Norilsk lächeln je-doch nicht seltener als die Ein-wohner anderer russischer Städ-te. „Was ist euer Geheimnis?“,wird die Journalistin Natalja Fed-janina vom Fernsehsender „Se-wernyj gorod“ (Nördliche Stadt)gefragt. „Sewernyj gorod“ ist eineTochterfi rma von Norilsk Nickel,der Konzern bedient neben sei-ner Nickelproduktion in Norilskein komplettes Kulturcluster. Natalja bekennt offenherzig ihrGeheimnis im Umgang mit denharten klimatischen Bedingun-gen. Schon früher hätten sich dieNeuankömmlinge bei den Urein-wohnern des Nordens – den Dol-ganen, Ewenken, Nenzen, Enzen,Nganasanen und anderer Noma-denvölkern – abgeguckt, wie manhier nicht nur überlebt, sondernglücklich lebt.„Es ist schon seltsam, dass nichtschon früher jemand auf die Ideegekommen ist, sich dafür zu in-teressieren, was der Winter fürdiese Völker eigentlich bedeutet,wie diese ihn erleben. Die Nord-völker sind sich darin einig: DerWinter ist gut, er bedeutet Jagdund Fischfang.“ Dann kommensie auf ihren Zügen durch dieTundra besser voran – Flüsse undSümpfe frieren zu. Außerdemmüssen sie sich nicht, wie im kur-zen Sommer, mit den Mücken-schwärmen plagen. „Eigentlich sind auch wir ja jedeWoche auf einem Argisch“, sagtNatalja und erklärt, das die in-digenen Völker so ihre Wande-rungen nennen, bei denen sie vonOrt zu Ort ziehen. Das haben sichdie Städter abgeschaut: Heutzu-tage versammeln die Norilskersich einmal im Jahr zum „Gro-ßen Argisch“, um den Anbruchder Polarnacht zu feiern.

Luft und WasserDie Norilsker Industriegebiete wirken sich zweifellos schlecht auf die Umwelt aus. Hauptver-ursacher von Umweltschäden ist der Nickel- und Palladiumpro-

duzent Norilsk Nickel. Der regi-onale Chef des Konzerns, Jew-genij Murawjow, verheimlicht die Probleme nicht. „Sie wissen doch, welchen Stellenwert der Umwelt-schutz zu Sowjetzeiten hatte. Jetzt müssen wir uns mit diesem Erbe herumschlagen“, sagt er und zählt die Programme auf, die in der Stadt zur Verbesserung der Ökologie umgesetzt werden. Das ambitionierteste Vorhaben ist die drastische Verringerung des Schwefeldioxidausstoßes. Wobei ein großes Problem be-steht: Die etablierten Verfahren sind in Norilsk nicht anwendbar. Der Direktor erklärt, warum: In anderen russischen und aus-ländischen Fabriken wird das gasförmige Schwefeldioxid in Schwefelsäure umgewandelt, die anschließend verkauft werden kann. Dieses Geschäft rechnet sich betriebswirtschaftlich nicht, aber die Unternehmen haben keine andere Wahl – der Umwelt-

museum wurde eine Ausstellung eröffnet, die den Häftlingen ge-widmet ist. Auch auf dem Norils-ker Friedhof am Berg Rudnaja erinnert ein Gedenkkomplex an die zahlreichen Opfer.

1. In der nördlichsten Großstadt der Welt leben 175�000 Menschen.

2. Norilsker Nickelwerk 3. Heiraten im Schnee 4. Beim Großen

Argisch feiern die Norilsker den Anbruch der Polarnacht.

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Die Stadt

ANNA WEKLITSCHFÜR RUSSLAND HEUTE

Konstruktivistische Architekten

hatten in den 1920er-Jahren in

Moskau viel Spielraum für

künstlerische Experimente. Ein

Teil ihres Erbes ist allerdings

akut vom Abriss bedroht.

„Eine ununterbrochene Mecha-nisierung des Lebens“ – so be-schrieb der Architekt Moisej Ginz-burg die 1920er- und 1930er-Jah-re in Moskau. Ginzburg war einer der Ersten, der die Prinzipien des Konstruktivismus in der Archi-tektur erkannte.Es galt, die sozialen Gegensätze ästhetisch zu entschärfen – für Straßenkehrer wie für Adelige, die ihre Plätze in der sozialen Ord-nung radikal getauscht hatten. In diesem neuen Raum sollten die Maschinen harmonisch eingepasst – und die Bedürfnisse der in der Phase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) zu Geld gekomme-nen Geschäftsleute berücksichtigt werden.

Funktionalität über allesAuch die Architekten suchten nach neuen Formen und ließen sich in den Bann geometrischer Figuren und eines sachlichen Aus-drucks ziehen. Sie wendeten sich ab von der L’art pour l’art und schufen ein anderes Verständnis von Design. Jedes Objekt sollte, ähnlich wie im deutschen „Bau-haus“, zugleich funktional und

Alexej Schtschussew, Erbauer des Lenin-Mausoleums, konzipierte das Ministerium für Landwirtschaft.

Arbeiterpaläste aus Glas und Beton Konstruktivismus Die nachrevolutionären Architekten Russlands ließen sich von geometrischen Figuren inspirieren

triestil verkörpern. Ilja Golossow, der 1925 den Sujew-Arbeiterclub entwarf, wählte als Zentrum sei-ner architektonischen Komposi-tion einen Glaszylinder. Dieser er-innerte an den Bau eines Fabrik-silos und demonstrierte so, dass sich hier Arbeiter versammeln – nicht allerdings, um Heldentaten

an den Werkbänken zu vollbrin-gen, sondern um über Politik zudiskutieren. Die Konstruktivisten experimen-tierten auch sehr gewagt mit Fens-terformen, in denen sie verschie-dene geometrische Figuren kom-binierten: Der einzige umgesetzteEntwurf des AvantgardekünstlersEl Lissitzky ist das Druckereige-bäude der Zeitschrift „Ogonjok“.In diesem Bauwerk fl ießt zusam-men, was zuvor undenkbar gewe-sen wäre – große quadratische undkleine runde Fenster.

Abriss von ArbeitersiedlungenKonstantin Melnikow ist Archi-tekt des wohl bekanntesten kon-struktivistischen Gebäudes inMoskau. Er durchsetzte die Mau-ern seines Wohnhauses, das ihmgleichzeitig als Werkstatt diente,mit vielen kleinen sechseckigenFensterchen. Dieses Meisterstückder Epoche zählt zu den touristi-schen Attraktionen und denkmal-geschützten Gebäuden.Leider lässt sich Ähnliches nichtvon anderen Bauwerken der1920er- und 1930er-Jahre sagen.Einigen von ihnen, die nicht alsArchitekturdenkmäler anerkanntsind, droht heute der Abriss. Esgibt in Moskau noch 26 Arbeiter-siedlungen der konstruktivisti-schen Epoche. Derzeit wird überdas Schicksal von Wohnhäusernder Siedlungen Budjonowskij go-rodok, Dubrowka und Pogodins-kij entschieden.

MARIA BACHAREWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Zwei Jahrzehnte lang war der

Gorki Park im Moskauer Zen-

trum ein Schandfleck. Seit ei-

nem radikalen Umbau „zurück

zu den Wurzeln“ erfreut er sich

nun wieder großer Popularität.

men. Diesen Sommer stieg die Zahl der täglichen Besucher auf das Fünfzigfache im Vergleich zum Vorjahr: Bei schönem Wet-ter tummeln sich 20 000 Menschen in der grünen Anlage.Allerdings konnte Kapkow seine Reformen nicht ganz bis zu Ende führen – schon im Herbst 2011 übernahm er das Kulturdezernat der Hauptstadt und dehnte sein Engagement auf die übrigen Mos-kauer Parks aus, sodass diese im Sommer eine ähnliche Wand-lung wie der Gorki Park vollzo-gen haben. Ungeachtet der vielen Gespräche über westliches Know-How und einem Erfahrungsaustausch mit westlichen Städteplanern haben Kapkow und seine Mannschaft ganz offensichtlich die sowjeti-schen Pläne zur Schaffung eines idealen Kultur- und Erholungs-parks umgesetzt.Allerdings waren die real exis-tierenden sowjetischen Grünzo-nen von diesem Ideal in den meis-ten Fällen meilenweit entfernt. In der Theorie sowie in Literatur und Film jedoch existierte das Bild eines wunderbaren, utopischen

Noch vor wenigen Jahren boten sämtliche Moskauer Parks einen eher traurigen Anblick. Die einen waren vollkommen verwildert, die beliebteren unter ihnen übersät von Schaschlikbuden, Achterbah-nen und Karussellen mit nervtö-tender Musik. Der berühmte Gorki Park gehör-te zu letzterer Kategorie. Als der 36-jährige Sergej Kapkow im März 2011 zum Direktor des Parks ernannt wurde, bestand seine erste Amtshandlung darin, das Eintrittsgeld abzuschaffen. Es folgte eine noch ungewöhnliche-re Entscheidung: Er verbannte alle Achterbahnen und Imbisse vom Gelände. Stattdessen gab es kostenloses WLAN und eine Fahrradvermie-tung, was dazu führte, dass mehr junge Menschen in den Park kom-

Die Kunsteislaufbahn im Gorki Park ist die größte in ganz Europa.

Orts, an dem ein jeder seiner Lieb-lingsbeschäftigung nachgehen konnte: Verliebte und Rentner spa-zieren in schattigen Alleen, Klein-kinder spielen in Sandkästen, die etwas Älteren beschäftigen sich in diversen Zirkeln, die Papas treiben Sport und die Mamas sitzen in einem Café und plaudern mit ihren Freundinnen. Und das Entscheidende: Alle Angebote sind gratis und stehen jedem Bürger frei zur Verfügung. („Zur Zarenzeit wäre so etwas ganz und gar undenkbar gewesen“, fügte die sowjetische Propagan-da an dieser Stelle normalerwei-se hinzu.)

Heutzutage ist es nicht möglich,alle Vergnügungen umsonst an-zubieten, auch wenn die Stadtver-waltung das Finanzvolumen fürdie Grünanlagen drastisch erhöhthat – allen voran das Budget desGorki Parks, der 2012 1,5 Milli-arden Rubel, umgerechnet 37,5Millionen Euro, erhält. Ein Teil des Angebots wie die Jog-gingklubs, Yogakurse und öffent-liche Vorträge ist kostenlos, füranderes (Kino, Eislaufbahn, Kre-ativworkshops) muss der Besucher– wenn auch wenig – bezahlen.Die Aufgabe der Parks bestehtnicht darin, Gewinn zu erwirt-schaften – so lautet die Devise derStadtverwaltung. Sergej Kapkowbeantwortet die Frage nach derRentabilität des Moskauer Parkswie folgt: „Das sind staatliche Kul-tureinrichtungen auf kommuna-lem Territorium.“ Anfang dieses Jahres, nach einerReihe öffentlicher Protestveran-staltungen gegen die massenhaf-ten Fälschungen bei den Wahlenin die Staatsduma, schlug der da-malige Ministerpräsident Wladi-mir Putin gar vor, in Moskau einPendant zum Londoner Hyde Parkzu schaffen, in dem die Menschensich versammeln und offen ihreMeinung äußern können. Die Moskauer Stadtregierungwählte dafür zwei Orte aus – denGorki Park im Zentrum und denetwas nördlicher gelegenen Sokol-niki Park – und kündigte an, die-se bis Ende 2012 in ihrer neuenGestaltung der Öffentlichkeit zuübergeben.

Neuer alter Glanz: Moskaus Parks wurden entrümpelt

Lebensraum Wie Moskau im Jahr 2011 den sowjetischen Traum eines idealen Kultur- und Erholungsparks verwirklichte

ZAHLEN

18 Millionen Menschen be-suchten die Moskauer Erholungsparks bis Okto-

ber, zwei Millionen mehr, als die Stadt für das gesamte Jahr erwartet.

10 Milliarden Rubel (um-gerechnet 250 Millionen Euro) wurden im Jahr

2012 insgesamt von der Moskauer Regierung für die Modernisierung der städtischen Parks bereitgestellt.

ansprechend sein. Außer Wohn-raum entstanden in Moskau Ar-beiterkulturzentren, Fabrikkü-chen und geräumige Garagen. Die Baukünstler stießen alles Über-fl üssige ab und ließen sich von dem Ideal einer rationalen Nutzung jedes einzelnen Gebäudeteils lei-ten. So konnte der Schacht eines

Aufzugs eine Fassade schmücken, Uhren, Lautsprecher und Rekla-me zu einem dekorativen Ensem-ble verschmelzen. Das grundlegende Material der Epoche war Glas. Große Glasele-mente sollten den technischen Fortschritt und in ihrem Kont-rast zum Beton den neuen Indus-

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUThema des Monats

TRÄNEN, PROTESTE, ERFOLGE UND DEALS

EIN JAHR, DAS MIT PROTESTEN UND DEMONSTRATIONEN IN RUSSLANDS

GROSSSTÄDTEN BEGANN, ENDET NUN IN OFFENSICHTLICHEM STILLSTAND

RÜCKBLICK 2012

An den Wahlen nehmen fünf Kan-didaten teil, darunter Wladimir Putin von der Partei Einiges Russ-land sowie der unabhängige Kan-didat und Milliardär Michail Prochorow. Den Sieg im ersten Wahldurchgang erringt Putin (63,6 Prozent), Prochorow erzielt den dritten Platz (7,98 Prozent) hinter dem Chef der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow (17,18 Prozent).Erstmals in der Geschichte Russ-lands wird der Präsident für sechs Jahre (anstatt wie früher für fünf) gewählt, erstmals wird ein Kan-didat wiedergewählt, der bereits zwei Amtszeiten hinter sich hat, erstmals nimmt an den Wahlen ein unabhängiger Kandidat teil und zum ersten Mal können die Wähler den Wahlverlauf online verfolgen.Der Wahl folgen zahlreiche Pro-teste auf Moskaus Straßen, die Demonstranten werfen der Regie-rung Wahlbetrug vor.

4. MÄRZ

PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN

MIT EINDEUTIGEM AUSGANG

Zwei Wochen vor den Präsident-schaftswahlen führen die Mitglie-der der Punkband Pussy Riot eine Aktion in der Christus-Erlöser-kirche in Moskau durch. Später erscheint ein Videoclip des „Punk-gebets“ im Netz, in dem es heißt: „Muttergottes, vertreibe Putin“. Anfang März werden drei der Gruppenmitglieder verhaftet und später wegen religiös motivierten Rowdytums zu zwei Jahren La-gerhaft verurteilt. Die Verhaftung und das Gerichts-urteil stoßen auf heftige Reakti-onen – sowohl in Russland als auch im Ausland. Laut öffentlichen Meinungsumfragen tritt eine Mehrheit der Russen für eine Ver-urteilung der Musikerinnen ein. Der Patriarch Kyrill bezeichnet die Aktion als eine Verhöhnung des Allerheiligsten und die Ver-suche von Seiten russisch-ortho-doxer Gläubiger, diese „Gottes-lästerung“ zu rechtfertigen, als sündhaft. Wladimir Putin kommentiert den Gerichtsprozess mit den Worten, er sähe in dieser Tat nichts Posi-tives, glaube jedoch, dass „es sich nicht lohne, die Frauen streng zu bestrafen“, wobei er hinzufügt, dass die endgültige Entscheidung natürlich beim Gericht läge. Am-nesty International sieht die Ver-urteilung als politisch motiviert und fordert die sofortige Freilas-sung der Inhaftierten.

21. FEBRUAR

DIE PROTESTAKTION VON DER

PUNKBAND PUSSY RIOT

6. MAI

MASSENPROTESTE AM BOLOTNAYA-PLATZ IN MOSKAU

Die Bewegung „Für ehrliche Wah-len“ aus Oppositionellen und ent-täuschten Bürgern entstand als Reaktion auf die Wahlfälschun-gen bei der Dumawahl am 4. De-zember 2011. Am 6. Mai, dem Vor-abend der neuerlichen Einführung Wladimir Putins in das Amt des russischen Staatspräsidenten, ruft die Opposition zu einer Kundge-bung auf dem Bolotnaja-Platz im Zentrum Moskaus auf. Auf dem Weg dorthin versuchen einige De-

8. MAI

DMITRI MEDWEDJEW ALS

MINISTERPRÄSIDENT BESTÄTIGT

Dmitri Medwedjew, der 2008 Wla-dimir Putin auf dem Posten desStaatspräsidenten abgelöst hat,kandidiert nicht für eine zweiteAmtszeit. Auf dem Wahlkampf-parteitag der Partei Einiges Russ-land im September 2011 unter-

monstranten, Absperrungen der Sicherheitskräfte zu überwinden: Es kommt zu gewaltsamen Aus-einandersetzungen und massen-haften Festnahmen. Laut russi-scher Medienberichte hat Moskau solche „massiven Straßenkämpfe seit zwanzig Jahren nicht mehr erlebt“. Am 9. November gibt es das erste Urteil zum Bolotnaja-Verfahren: Der Unternehmer Maxim Lusjanin wird zu vierein-halb Jahren Haft verurteilt.

stützt er öffentlich die Kandida-tur Putins, der sich für seineinsgesamt dritte Amtsperiode zurWahl stellt. Dafür sichert PutinMedwedjew zu, ihn im Falle einesWahlsiegs zum Ministerpräsiden-ten zu ernennen. Am Tag sei-nes Amtsantritts, am 7. Mai 2012,bringt Putin die KandidaturMedwedjews zur Bestätigungin die Staatsduma ein. Für dieBerufung Medwedjews zumMinisterpräsidenten stimmen 299Abgeordnete (bei benötigten 226Stimmen). Nach der eigentümlichen Rocha-de erhalten viele Mitglieder derMannschaft des früheren Präsi-denten Medwedjew führende Pos-ten in der neuen Regierung, unddie ehemaligen Minister ausPutins Regierungszeit ziehen inden Kreml um und werdenPräsidentenberater.

Beim Feiern seines dritten Sieges auf dem Roten Platz standen dem sonst immer beherrschten Putin die Tränen in den Augen.

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Thema des Monats

Erste Verhandlungen zu RusslandsBeitritt in die WTO werden imJahr 1995 aufgenommen. Am zä-hesten erweisen sich die Gesprä-che mit den USA und der EU.Die Meinungsverschiedenheitenmit der Europäischen Union kön-nen beigelegt werden, nachdemRussland das Kyoto-Protokoll un-terzeichnet hat.Nach Einschätzung von Exper-ten werden nach dem russischenWTO-Beitritt die Importzölle bin-nen der nächsten drei Jahre von9,5 Prozent auf sechs Prozent sin-ken und dadurch dem Staatshaus-halt 2013 Mindereinnahmen von188 Milliarden Rubel (4,7 Milli-arden Euro) und 2014 Minderein-nahmen von 257 Milliarden Rubelbescheren.

Der staatliche Erdölkonzern Ros-neft übernimmt seinen größtenWettbewerber, den britisch-rus-sischen TNK-BP, indem er 50 Pro-zent der Aktien vom britischenEnergieriesen BP sowie 50 Pro-zent von dem russischen Oligar-chenkonsortium AAP aufkauft.Für den Anteil der Briten zahltRosneft 17 Milliarden US-Dollar,für das Paket der russischen Ak-tionäre 28 Milliarden. BP erhältaußerdem 12,8 Prozent der Ros-neft-Aktien.Rosneft-Präsident Igor Setschinversichert, die Übernahme könneinnerhalb eines halben Jahres ab-gewickelt werden, am 21. Novem-ber erklärt VizeministerpräsidentArkadij Dworkowitsch, dass dieRegierung bereits alle Formalitä-ten abgesegnet hat.Nach dem spektakulären Milli-ardendeal wird Rosneft mit Ab-stand größter börsennotierterÖlkonzern der Welt vor dem ame-rikanischen Konkurrenten Ex-xon-Mobil (Esso). Lediglich SaudiAramco, die nicht börsennotierteÖlgesellschaft Saudi-Arabiens,fördert noch mehr Öl.

Der Hochleistungssport gehörte in der Sowjetunion zum Allerhei-ligsten. Über viele Jahre hinweg gelang es, der Konkurrenz des größten ideologischen Gegners – der USA – standzuhalten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 änderte sich die Situ-ation: Während bei den Olympi-schen Sommerspielen in Seoul (1988) die Mannschaft der UdSSR noch mit großem Abstand die Sportler aus der DDR und den USA hinter sich ließ, mussten die

Das 24. Gipfeltreffen der APEC-Länder (Asia-Pacific Economic Cooperation), das erstmals in Russland stattfi ndet, bleibt weni-ger wegen seiner Beschlüsse als durch die enormen Kosten in Er-innerung. Seit 2008 – als die Durchführung des Gipfels auf der Insel Russki vor Wladiwostok be-schlossen wurde – sind zu seiner Realisierung mehr als 650 Milli-arden Rubel (17 Milliarden Euro) ausgegeben worden. Eine der wichtigsten Modernisierungsmaß-nahmen ist die Schrägseilbrücke zur Insel Russki, die den Steuer-zahler alleine schon 34 Milliar-den Rubel gekostet hat. Die Kostenexplosion um den APEC-Gipfel stößt bei der Oppo-sition auf harsche Kritik: weil die Kosten zur Verbesserung der dor-tigen Infrastruktur die Baukos-ten vergleichbarer Objekte in an-deren Regionen Russlands um ein Vielfaches überstiegen haben.

Ein Auto wie ein Bär: AwtoWAS, größter Automobilhersteller in Russland und Osteuropa, stellt die Produktion des in der Sowjetuni-

Nord Stream ist ein internationa-les Konsortium, an dem Gazprom mit 51 Prozent beteiligt ist und die Wintershall Holding und E.ON jeweils 15,5 Prozent der Ak-tien halten. Eines der Hauptziele des Projekts ist es, die Transit-länder Belarus und Ukraine zu

Erstmals seit 2004 werden die Gouverneure, die früher vom Prä-sidenten ernannt wurden, direkt gewählt. In fünf Regionen bewar-ben sich 17 Kandidaten aus sechs politischen Parteien. Die entscheidende Frage bei die-sem politischen Ränkespiel: ob es den Kandidaten der Regierungs-partei Einiges Russland gelingen wird, ihre Konkurrenten im di-rekten Wettbewerb zu bezwingen. Die Sensation bleibt allerdings aus: Den Sieg tragen alle fünf Kandidaten von Einiges Russland davon – ihr Stimmenanteil (65–78 Prozent) liegt sogar deutlich über dem bei den letzten Dumawahlen (35–51 Prozent).

22. AUGUST

22. OKTOBER

27. JULI – 12. AUGUST

2.–9. SEPTEMBER

8. OKTOBER 14. OKTOBER

RUSSLAND WIRD MITGLIED DER

WELTHANDELSORGANISATION

DER RUSSISCHE STAATSKONZERN

ROSNEFT ÜBERNIMMT TNK-BP

RUSSISCHE MANNSCHAFT BELEGT DEN DRITTEN PLATZ IM

MEDAILLENSPIEGEL DER OLYMPISCHEN SPIELE IN LONDON

24. APEC-GIPFEL FINDET

IN WLADIWOSTOK STATT

15. SEPTEMBER

PRODUKTION VOM LEGENDÄREN

LADA 2104 GESTOPPT

DIE ZWEITE RÖHRE DER OSTSEE-PIPELINE NORD STREAM IST

IN BETRIEB GENOMMEN UND VERSORGT EUROPA MIT ERDGAS

DIREKTWAHL VON GOUVERNEUREN IN RUSSISCHEN REGIONEN –BRINGT KEINE ÜBERRASCHENDEN ERGEBNISSE

Russen in den darauffolgenden Jahren ihre Führungsposition an die Amerikaner abtreten. Bei der Sommerolympiade in Lon-don gewinnt das russische Team weniger Goldmedaillen als die Gastgeber und belegt hinter den USA, China und Großbritannien den vierten Platz. Tröstlich ist, dass es bei der Gesamtzahl der Medaillen immerhin auf Platz drei landet und sich nur von den Ame-rikanern und Chinesen geschla-gen geben muss.

on so beliebten Lada 2104 ein. In Deutschland war das Modell bis Ende der 1990er-Jahre unter dem Namen Lada Nova zu haben. Die Stelle des robusten und schnör-kellosen Klassikers mit Hinter-radantrieb werden der vorder-radangetriebene Lada Granta und die Modelle der Marken Renault und Nissan einnehmen.

umgehen. Mit Inbetriebnahme des zweiten Nord-Stream-Strangs können bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich nach Europa transportiert werden. Das reicht aus, um den Energiebedarf von 26 Millionen europäischen Haushalten zu decken.

Als Initiator des Projekts Groß- Moskau tritt zu Beginn des Jah-res 2012 der damalige Präsident Dmitri Medwedjew auf. Es ist eine seiner letzten Amtshandlungen.Nach der Eingliederung von 148 000 Hektar Moskauer Umland in die russische Hauptstadt ver-größert sich deren Fläche auf das Zweieinhalbfache. In das neue Groß-Moskau sollen Medwedjew zufolge alle staatlichen Behörden umziehen, einschließlich der Re-gierung und der Staatsduma.

1. JULI

MOSKAU WIRD AN EINEM TAG ZWEIEINHALB MAL GRÖSSER –

DURCH DIE EINGLIEDERUNG SEINES UMLANDS

Nach Einschätzung des Architek-turbüros Grumbach-Willmont, das durch seinen Projektentwurf für Groß-Paris bekannt geworden ist, könne auf dem neuen Terri-torium Wohnraum mit einer Ge-samtfl äche von 80 Millionen Qua-dratmetern entstehen. Für die Umsetzung des Projekts veran-schlagen sie 35 Jahre und Kosten von 7,5 Billionen Rubel, umgerech-net 190 Milliarden Euro. Die Frage der Finanzierung ist allerdings noch nicht geklärt.

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Chefredakteur von Russland HEUTEAlexej Karelsky

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUInternet

IM GESPRÄCH

Hochleistungshybrid für das Netz

Was hat Ihr Browser, das ande-

re nicht haben?

Wir als Suchmaschine wissen viel über das Internet: Wir kennen den Content, die Linkstruktur des In-ternets, was die Nutzer suchen und anklicken. Unser Browser basiert auf der offenen Plattform Webkit und Chromium. Das bedeutet, dass Webdesigner ihre Seiten nicht an eine neue Plattform anpassen müs-sen. Aber es ist keine neu zusam-mengebaute Version von Chromi-um. Wir haben eine Plattform mit einem eigenen Interface geschaf-fen, einen Hybrid aus Suchma-schine und Browser. Zudem ist unser Browser darauf eingestellt, dass heute viele mobiles Internet nutzen: Die Frage der Geschwin-digkeit spielt plötzlich wieder eine Rolle. In unserem Browser gibt es ein Instrument, das die Qualität der Übertragung überwacht, und in Abhängigkeit davon ändert sich das „Verhalten“ des Browsers.

Was hat Sie dazu bewegt, in den

heiß umkämpften Browser-Markt

einzusteigen?

In der Vergangenheit waren wir bemüht, uns eher an fremde Platt-formen anzupassen, statt mit ihnen zu konkurrieren. Wir waren der Meinung: Die Entwicklung von Browsern ist eine eigenstän-dige Branche, und wir beteiligen uns daran lediglich über die Ent-wicklung von Cloud-Dienstleis-tungen. Das haben wir auch getan. Aber vor ein paar Jahren begann die Situation sich zuzuspitzen: Google pushte seinen Browser Chrome und begann, die Wettbe-werber aktiv aus diesem Markt herauszudrängen.Heute sehen wir eine Entwick-lung, die gegen jene Netzneutra-lität geht, die in der Vergangen-heit von allen vehement verfoch-ten wurde. Früher herrschte das Prinzip der Offenheit – das ist jetzt vorbei. Wir haben lange mit Mo-zilla kooperiert, aber der Brow-ser wurde aufgekauft. Irgendwann war klar, dass wir um die Ent-wicklung eines eigenen Browsers nicht herumkommen. Aber wir haben bis heute ein gutes Verhält-nis zu Opera, und wir entwickeln die Plattformen gemeinsam.

Es gibt Gerüchte, dass Sie Opera

übernehmen könnten?

Nein. Was bleibt denn den unab-

hängigen Entwicklern? Früher waren wir der Meinung, dass wir als kleines Unternehmen nicht alles machen können und uns auf die Entwicklung von Diensten konzentrieren müssen. Wir waren sicher, dass wir immer Partner fi nden würden, die Bedarf an un-seren Diensten haben, und wir so unsere Vertriebskanäle nicht ver-lieren. Aber vor Kurzem nahm Apple die Karten von Google aus seiner Plattform, und wir waren gezwungen, unsere Strategie an-zupassen. Und das war gar nicht so einfach: Wenn man eine eige-ne Plattform mit allen dazugehö-renden Diensten anbietet, muss man gewährleisten, dass diese von

Anfang an auf der ganzen Welt funktioniert, damit die giganti-schen Entwicklungskosten wie-der hereingeholt werden. Für den lokalen Markt wäre das mit viel zu hohen Kosten verbunden. Das ist auch der Grund, weshalb wir auf den Weltmarkt gehen.

Manche Analysten werfen Yandex

vor, sein Geschäftsmodell sei nicht

ausreichend diversifiziert und der

Erlös hänge ausschließlich von den

Werbeeinnahmen ab. Planen Sie kos-

tenpflichtige Dienste?

Die Ökonomie des Internets be-ruht darauf, dass Hunderte Mil-liarden Dollar auf der Welt durch die Hardware erwirtschaftet wer-

den. Ein paar Dutzend Milliar-den Dollar werden mit der Wer-bung verdient und einige Milli-arden mit dem Verkauf von Inhalten wie Musik, Filmen und Büchern. Zusammengenommen beträgt der Gesamterlös aus dem Content nur einen Bruchteil des Werbemarkts. Die Umsätze von iTunes erscheinen im Vergleich zur Konkurrenz riesig, aber das Ganze dient wohl mehr zum An-heizen des Hardwarehandels, mit dem Apple Hunderte Milliarden umsetzt. Wer sagt, unser Geschäft sei nicht ausreichend diversifi ziert, vergisst, dass dieses auf Hundert-tausenden von Kunden basiert. Das bedeutet, dass es intern

Womit browsen Russen und Deutsche im Netz?

Für Generaldirektor Arkadij Wolosch ist der neue Yandex-Browser kein Spielchen.

ANASTASIJA GOLIZYNAVEDOMOSTI.RU

1,3 Milliarden Dollar sammelte

Yandex 2011 beim Börsengang

ein. Nun bringt es einen eige-

nen Browser. Generaldirektor

Arkadij Wolosch erklärt, warum.

durchaus ausreichend diversifi -ziert ist. Wir haben momentan le-diglich einen kostenpflichtigenDienst – unser Musikangebot fürHandys. Und das auch nur des-halb, weil das eine Forderung derRechteinhaber war.

Es ist ja bekannt, dass Yandex an

einer weltweiten Suchfunktion ar-

beitet und plant, so viele Internet-

seiten wie möglich zu indizieren.

Wie steht es heute um dieses Pro-

jekt, und wie groß ist Ihre Datenba-

sis bereits?

Wir haben Milliarden von Doku-menten indiziert. Und mittler-weile haben wir einen Index, dermit jenem der führenden Such-maschinen mithalten kann – wirbefi nden uns inzwischen in derPremier League der Suchmaschi-nen. Über einen solch mächtigenIndex verfügen außer uns nur nochdie Suchmaschinen Google undBing.

Was haben Sie in Zukunft damit vor?

Sie benötigen ja wohl kaum einen

solch riesigen Index ausschließlich

für den russischen Markt ...

Auf jedem lokalen Markt, in denwir einsteigen, muss auch auf glo-bale Suchanfragen reagiert wer-den. Der globale Suchindex, überden wir verfügen, funktioniert ge-genwärtig sowohl in Russland alsauch in der Ukraine und in derTürkei.

Dieser Beitrag erschien in derOnline-Ausgabe der Zeitung

Vedomosti

Was der Yandex-

Browser bietet

In den Browser ist der Proxyserver Opera Turbo integriert, der die Seiten-inhalte komprimiert und es gestattet, das Laden speziell von langsamen In-ternetzugängen zu beschleunigen. Außerdem ist der Cloudservice Yan-dex.Disc vorinstalliert – die Dateien des Users werden automatisch in der Cloud abgelegt und können von je-dem Endgerät, auf dem der Browser installiert ist, genutzt werden. In die Benutzeroberfläche für Webanwen-dungen ist ein File-Viewer für PDF-Dokumente und der Adobe Flash Player eingebaut. Darüber hinaus enthält der Browser die Yandex-eigenen Dienste E-Mail und Wörter-buch. Im russischen Internet betrug der Marktanteil des Browsers eine Woche nach dessen Präsentation 1,4 Prozent. Im November stieg der Marktanteil auf 2,1 Prozent.P

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Gesellschaft

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ANGELIKA WOHLMUTHRIA NOVOSTI

Das Motto „Be happy – copy

all“ haben die russischen Pira-

ten im Westen kopiert. Nun

warten sie auf ihre Registrie-

rung – um dann das Moskauer

Stadtparlament zu entern.

Rein äußerlich entspricht Pawel Rassudow nur ein ganz klein wenig dem abgeschmackten Ste-reotyp vom blassen Nerd – aber blass ist an so einem feuchtkalten Novembertag fast jeder. Ohne Au-genklappe oder Jack-Sparrow-Hut, dafür in Begleitung seiner Pressefrau, betritt Russlands Oberpirat ein Bierlokal im Mos-kauer Zentrum.Rassudow legt los, wie alles be-gann mit der russischen Pira-tenpartei, der PPR. Seit 2006 in Schweden die erste Piratenpartei auf der Politbühne auftauchte, hätten es die Russen geschafft, gleich dreimal Piratenparteien zu gründen und wieder aufzulösen, erklärt der aktuelle PPR-Chef. Dabei waren Gruppen am Werk, mit denen wohl niemand gerech-net hätte: Zum einen gab es Na-tionalisten, die sich völkische Reinheit in den Reihen der Netz-affinen wünschten, zum anderen – sage und staune – eine eigene Kreml-Piratenpartei, ein Simu-lacrum auf Stimmenfang. „Damals war außerdem eine recht konservative Lobby aktiv, die der Ansicht war, dass Piraten sich nur um Urheberrechte kümmern soll-ten“, erzählt der 29-Jährige. Erst im Jahr 2011 kamen die Themen Offenheit und direkte Demokra-tie dazu, das Weltbild nahm Form an: „Informationsfreiheit, offener Staat und Recht auf Privatleben – dafür stehen wir. Das Einzig-artige an den Piraten ist, dass wir nicht über Religion, Fußball und politische Ideologien streiten. Wir suchen konkrete Entschei-dungen, die jetzt und heute effek-tiv sind.“

Zensur ahoi!Konkretes Ziel für Russlands Piraten ist zurzeit die von der Re-gierung erstellte Ru-Blacklist, er-wirkt durch das „Gesetz über den Schutz der Kinder vor Informa-

tionen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“, das am 1. November in Kraft trat. Da-nach sollen als kinderschädlich eingestufte Seiten vom Netz ge-nommen oder gesperrt werden. „Aber es trifft oft die Falschen“, sagt Stanislaw Schakirow, einer der Mitbegründer der Bewegung, der sich mittlerweile seinen Weg durch Moskaus verstopfte Stra-ßen gebahnt hat, bevor er sich ein Bier bestellt.„Vor Kurzem landete auf der Blacklist etwa eine von Gerichts-medizinern und Psychologen kon-zipierte Website, wo versucht wird, mit dem Mythos aufzuräumen, dass Selbstmord irgendwie roman-tisch ist, wie das oft in Musik und Kunst dargestellt wird. Sie be-schreiben das Beispiel einer Schauspielerin, die ein schönes Kleid anzieht, sich mit Blumen schmückt und eine Überdosis nimmt. Dann muss sie sich natür-lich übergeben, läuft mit dem angekotzten Kleid ins Bad, rutscht auf den Blumen aus und stößt sich den Kopf an der Badewanne usw. Den Rückmeldungen zufol-ge brachte die Website täglich 15 Menschen von ihren Suizidge-danken ab“, erzählt Schakirow.

Piraten ohne Regenbogen „Man muss erst mal zeigen, dass solche Gesetze nicht funktionie-ren, und den Bürgern beibringen, wie man sie umgehen kann. Und man muss denen, die sich so etwas ausdenken, klarmachen: ‚Was ihr auch unternehmt, es ist nicht ef-fektiv.‘ Und man muss den Druck in Expertenrunden und bei Dis-kussionen verstärken, Aufklärung betreiben“, sagt der 25-jährige Programmierer. Das Internet kann ihm zufolge per se nicht unfrei sein. „Derartige Gesetze haben höchstens den Effekt, dass sie VPN, Tor oder dem Freenet mehr neue Nutzer zuspielen – da gibt es nämlich keine Zensur.“In nicht allzu ferner Zukunft sieht sich Russlands Piratenpartei als einer der Hauptakteure, wenn es darum geht, auf die umstrittenen Verbots- und Einschränkungsge-setze Einfl uss zu nehmen, die in letzter Zeit in Rekordgeschwin-digkeit verabschiedet werden.

Russlands Piratenpartei nimmt Kurs auf große Politik

Parteien Die russischen Piraten wollen zur Speerspitze im Kampf gegen die Einschränkungen des Internets werden

Das Idealbild eines Wählers der Piratenpartei: jung, städtisch und gut ausgebildet

Parteichef Pawel Rassudow

Beitrittswillige haben die Piraten nach Angaben der Gründer. Bislang wartet die Partei noch auf ihre Registrierung.

Mitglieder aus mehr als der Hälfte der 83 Regionen muss eine Partei haben, um registriert werden zu können.

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ZAHLEN

Ein langer Weg zur Anerkennung

Eine Online-Community der Piraten-partei Russlands formierte sich am 26. Juni 2009. Dieses Datum gilt als der offizielle Gründungstag der PPR. Im Dezember 2009 fanden die ersten Onlinewahlen des Vorsitzenden statt. Der heutige PPR-Chef Pawel Rassu-dow wurde im Juli 2010 gewählt.Im September 2010 nahmen die Mit-glieder auf dem ersten gesamtrussi-schen Parteitag „Kurs auf die Regis-trierung der Partei und auf die Verei-nigung aller Piratenbewegungen

Russlands“. Im Frühjahr 2011 wurde der PPR dann die Registrierung ver-weigert – „aufgrund mangelhafter vorgelegter Informationen über die Partei“ –, so das russische Justiz- ministerium.Anfang Juli 2012 visierte man auf dem dritten Parteitag erneut eine Registrierung unter dem Namen „Piratenpartei Russlands“ an. Auf dem Parteitag nahmen 93 Delegierte aus 41 Regionen teil. Die PPR ist bis heute nicht registriert.

er als Parteiloser antreten, weil die Piratenpartei noch immer um ihre Registrierung kämpft. Zuletzt hatte sie eine Absage erhalten – mit dem Hinweis auf die Illegali-tät von Meerespiraterie.Inwieweit die russischen Piraten den deutschen ähneln, darüber herrscht Uneinigkeit zwischen den beiden Parteien. Einen offensicht-lichen Unterschied gibt es aber: „Wir drucken das Piratenlogo auf den verschiedensten Fahnen. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Russland aber die Regenbogenfl ag-ge nicht dabei. Das Land ist da traditionell etwas homophober“, stellt Schakirow ironisch fest und wendet sich seinem mit deutschen und russischen Piratenstickern zu-gepfl asterten MacBook zu.

Der Staat uns untertanJung, gut ausgebildet, städtisch, mit einem Sinn für die Krise der repräsentativen Demokratie: Die Wählerschaft der russischen Pi-ratenpartei könnte frisch von einer Anti-Putin-Demo kommen. Scha-kirow sieht in ihr Gleichaltrige, die „das Paradigma eines zeitge-

mäßen Staates adäquat einschät-zen – als einen Apparat, den wir angestellt haben, um uns zu die-nen, um einige von unseren eige-nen Problemen zu lösen, nicht um-gekehrt.“ Ihn selbst zieht es aller-dings nicht auf Demonstrationen. „Ob Putin oder Nawalny an der Macht ist, macht keinen Unter-schied“, sagt er.Die russische Piratenpartei sei dabei, sich andere Nischen als Demonstrationen vor dem Kreml zu suchen: Erst gestern habe man die ganze Nacht lang eine Idee durchdiskutiert, die Ideologie, Aufklärung und PR vereint. Es geht dabei um Spiele für Smart-phones und für die sozialen Netz-werke. „Das ist gute Promotion und erreicht Millionen von Leu-ten“ – und Kohle bringt es ne-benbei auch ein. Die könnte die Piratenpartei dann in den Wahl-kampf für die nächsten Wahlen zum Moskauer Stadtparlament investieren.

Dieser Artikel erschien bei der Nachrichtenagentur

RIA Novosti

Bei den Bürgermeisterwahlen in Kaliningrad schickten die Piraten, die laut eigenen Angaben mittler-weile russlandweit 30 000 Anhän-ger – davon 5000 Beitrittswillige – haben, erstmals ihren Kandida-ten ins Rennen. Ein „zu den Pira-ten übergelaufener Offizier“, Zen-Buddhist, glatzköpfi g, tätowiert, schaffte es auf Anhieb auf über zwei Prozent. Allerdings musste

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUMeinung

Der

UlenspiegelZEITZEUGE

2012 war „ein schwie-riges deutsch-russisches Jahr“,

meint die Deutsche Welle undzählt dafür gewichtige Gründeauf. Die reichen von Pussy Riotüber die Kritik des Bundestags-abgeordneten Schockenhoff biszum angespannten Verhältnis derPräsidenten Putin und Gauck. Ist alles richtig – aber: Welchesdeutsch-russische Jahr war je-mals einfach? Da muss man weitin die Vergangenheit zurückge-hen. Reichlich 20 Jahre, in dasJahr 1989 beispielsweise, als dieSowjetunion dafür sorgte, dassdie Deutschen aus Ost und Westunblutig zueinanderfanden. Oder100 Jahre, in das Jahr 1922. Da-mals vereinbarten die WeimarerRepublik und das revolutionäreRussland, zwei Außenseiter derVölkergemeinschaft, in Rapalloeine breite Zusammenarbeit. Oderknapp 200 Jahre, in das Jahr 1813,als russische Truppen, begeistertvon deutschen Patrioten empfan-gen, Napoleon aus Deutschlandvertrieben. Und Deutsche müs-sen wohl zugeben: Die besondersschwierigen deutsch-russischenJahre – wie etwa das Jahr 1941 –gehen auf ihre Kappe. Schwankungen gibt es immer inden Beziehungen zwischen Län-dern. Auch das Verhältnis derDeutschen zu Frankreich ist nichtimmer nur voller Sonnenschein.Aber es gibt einen Unterschied.Mit den westlichen Partnern strei-tet sich Deutschland um Geld undEinfluss, von der Landwirt-schafts- bis zur Außenpolitik.Jede Seite möchte ihre Interessendurchsetzen. Aber es würde einem deutschenPolitiker wohl kaum einfallen,ein Sündenregister zusammen-zustellen und es öffentlich zuverlesen, in dem steht, was inStaat und Gesellschaft bei einemNachbarn so alles schiefl äuft.Das mag auch damit zusammen-hängen, dass es beispielsweisein Frankreich etwas gesitteterzugeht als in der Russischen Fö-deration. Es liegt aber auch ander deutschen Grundhaltung ge-genüber den verschiedenenHimmelsrichtungen. Sehen Deutsche nach Westen,sind sie froh, wenn sie nichtselbst eins auf den Deckel krie-gen. Nicht so, wenn sie RichtungOsten blicken. Hier erhebenwestliche Staaten ohne Beden-ken den Zeigefi nger. Zu tatsäch-lich vorhandenen Problemenkommt noch ein Gefühl der mo-ralischen Überlegenheit. Solan-ge deutsche Politiker dieses nichtablegen, werden auch die kom-menden deutsch-russischenJahre „schwierig“ sein.

REFLEKTIERT

Sag’s auf Französisch

DER KREML ZIEHT DIE MAUERN HÖHER

UNTERSCHIEDLICHE DIALOGE

Wer sich schwach fühlt, baut Mauern um sich herum, schließt Türen und Fens-

ter. Rüstet auf gegen angebliche Feinde. – Genau so reagierte die russische Führung unter Wladi-mir Putin auf die Bürgerproteste im Winter. Ihr Gesetz zu NGOs als von „ausländischen Agenten“ be-völkerte Institutionen ist nur ein Teil dieser Mauer: Es steht in einer Reihe mit der Beschneidung des Demonstrationsrechts, der Ver-schärfung der Paragrafen zu Ver-leumdung und Hochverrat, mit der exemplarischen Bestrafung der Band Pussy Riot und der Verfol-gung populärer Oppositioneller. All dies wurde seit März ins Werk ge-setzt, um jene Bewohner Russlands zu marginalisieren, die auf der Straße, in NGOs oder im Internet für eine pluralistische und weltof-fene Gesellschaft eintreten. Das NGO-Gesetz diskreditiert die internationale Zusammenarbeit auf dem breiten Feld der Zivilgesell-schaft, wie sie im 21. Jahrhundert eigentlich eine Selbstverständlich-keit ist, indem es Nichtregierungs-organisationen unter Pauschalver-dacht stellt.Dabei gehört es zur Selbsttäu-schung der Moskauer Elite, dass der Veränderungswille im eigenen Land und letztlich der Ruf nach Modernisierung ja nur vom Aus-land gesteuert sein kann. Gehen Zehntausende auf die Straße oder

Vor dem diesjährigen Peters-burger Dialog rechnete man aus bekannten Gründen mit

einem Skandal. Zu einem offenen Konfl ikt kam es jedoch nicht, eher zu einem Meinungsaustausch über die innenpolitische Situation in Russland – allerdings, wie so oft zwischen Berlin und Moskau, im Schatten geschäftlicher Fragen. Und obwohl Putins Bemerkung zu Pussy Riot in Deutschland, wo man gegenüber dem Schicksal der inhaftierten Frauen sehr sensibel reagiert, eine weitere Welle der Empörung hervorgerufen hat, blieben im Großen und Ganzen alle bei ihren Standpunkten.Aber die Annahme, in den rus-sisch-deutschen Beziehungen än-dere sich nichts, ist falsch: Die po-

Stefan MelleJOURNALIST

Fjodor

LukjanowJOURNALIST

russische Bevölkerung, die Mos-kauer Helsinki-Gruppe per Crowd-funding zu unterstützen. Doch die Forderung des Kreml nach rein russischen Quellen für die Arbeit in Feldern wie Menschenrechten oder Wahlrecht ist ohnehin heuch-lerisch, solange die Regierung si-gnalisiert, dass sie eine solche Tä-tigkeit grundsätzlich für feindlich hält – egal, wer sie fi nanziert.All die hastigen Neuregelungen werden vermehrt mit angeblich ähnlichen Gesetzen in westlichen Ländern erklärt. Doch näheres Hinsehen lohnt. Beim NGO-Ge-setz verwiesen die Autoren auf den

„Foreign Agents Registration Act“ in den USA. Der aber, 1938 gegen bezahlte Apologeten der deutschen Faschisten eingeführt, wird seit-her nur selten und dann gegen Per-sonen ausländischer Geheimdiens-te angewandt. Auch gilt das Ge-setz in den USA längst als überholt. Suchte die russische Führung wirk-lich nach solch einem Vorbild? Un-richtig ist auch, wie Umfragen be-weisen, die Behauptung, das Wort „Agent“ werde im Russischen wer-teneutral aufgefasst – es ist be-kannt, dass Wladimir Putin, der frühere Agent, genau auf diesem Wort bestanden hat.Um das Bild des Diskreditierungs- und Isolierungswillens zu vervoll-ständigen, brachten Duma-Abge-ordnete der Regierungspartei Ei-niges Russland kürzlich einen weiteren Gesetzentwurf ein, der bald auch alle Medien in Russland, an denen Ausländer zu mehr als 50 Prozent beteiligt sind, zu „Orten ausländischer Agenten“ erklären soll – eine Absurdität im interna-tional vernetzten Medienmarkt.In Deutschland müssten sich bei gleichem Verfahren Mitglieder von Vereinen, die von Gazprom oder der Stiftung Russkij Mir (Russi-sche Welt) unterstützt werden, als „ausländische Agenten“ registrie-ren lassen – so etwas wäre undenk-bar. Und auch über dieser Zeitung Russland HEUTE, die vom russi-schen Staat bezahlt wird, müsste die Aufschrift „von ausländischen Agenten gemacht“ prangen.Wenn Russland seinen Weg in einer vielfältigen, offenen Beziehung mit der Welt sucht, in echtem Pluralis-mus, wirtschafl icher Diversifi zie-rung, Bildung, Kultur und einer starken, unabhängigen Zivilgesell-schaft, wird es ohne Mauern stark sein – und ringsum Freunde haben.

Der Autor ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Deutsch-Russischer Austausch.

litischen und wirtschaftlichen Beziehungen befi nden sich in ei-ner einander entgegengesetzten Schwingungsphase. Der Fall „Pussy Riot“ demons-triert anschaulich, dass die euro-päischen und die russischen Sicht-weisen nicht miteinander korres-pondieren. In Europa spricht man von politischer Verfolgung und Einschränkung der Meinungsfrei-heit, in Russland werden Gottes-lästerei, Frevelhaftigkeit und Verletzung religiöser Gefühle the-matisiert. Es ist klar, dass diese Diskussion auf beiden Seiten ein propagandistisches Element ent-hält, aber entscheidender ist das Aufeinanderprallen der Weltan-schauungen: der liberalen, zutiefst im modernen Europa verwurzel-ten und der in Russland veran-kerten traditionalistischen.In der Wirtschaft ist alles anders. Nach dem WTO-Beitritt Russlands

nimmt das Interesse der europä-ischen Geschäftswelt an dem Land zu, als Rohstoffquelle, aber auch als nahezu unerschöpfl ichem Ab-satzmarkt und als Land, das einer technologischen Partnerschaft mit den führenden Unternehmen und Staaten bedarf.In einem inoffiziellen Gespräch bemerkte unlängst ein hochran-giger europäischer Politiker: „Wie Russland sich auch entwickeln mag – man muss anerkennen, dass es für uns das letzte Eldorado ist.“ Was natürlich vor dem Hinter-grund der allgemeinen Stagnati-on der Europäischen Union und den beunruhigenden Tendenzen in der Welt sehr große Bedeutung hat. Deshalb sind auch deutsche Geschäftsleute aufs Äußerste daran interessiert, dass die poli-tischen Unstimmigkeiten ihre Ar-beit auf dem russischen Markt nicht behindern.

Wie lassen sich diese beiden ge-genläufi gen Trends – die politi-sche Entfremdung und der wach-sende wirtschaftliche Austausch – unter einen Hut bringen? Der Petersburger Dialog hat gezeigt, dass man sich auch mit unter-schiedlichen Ansichten an einen Tisch setzen kann.Die Dissonanz kann jedoch nicht ewig weiterbestehen. Eines Tages wird sich der Westen damit ab-fi nden müssen, dass es in Russ-land eigene Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft gibt, oder Russland beginnt, europäische politische Standards anzunehmen. Andern-falls wird die wirtschaftliche Zu-sammenarbeit an diesem politi-schen Widerspruch scheitern.

Fjodor Lukjanow ist Chef-redakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail [email protected] Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina IwanowaAnzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114Artdirector: Andrej Shimarskiy, Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München

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beobachten die Wahlen, nur weil sie Geld aus dem Ausland bekom-men? Unsinn. Aber es passt offen-bar nicht in Putins Weltbild, dass sich Menschen aus Russland für ideelle und völkerrechtlich veran-kerte Werte einsetzen – die im Üb-rigen auch in Russlands Verfassung eingeschrieben sind. Möglicherweise werden einige der betroffenen russischen NGOs ihre Finanzierung nun verstärkt im ei-genen Land suchen, um einer Brandmarkung als „Agentenhoch-burg“ zu entgehen. So bat etwa die bekannte Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa kürzlich die

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-

KALENDER

THEATER

DEPOT FÜR GENIALE IRRTÜMER

8. UND 9. DEZEMBER, HAUS DER

BERLINER FESTSPIELE

Im Zuge des zwölftägigen Festivals „RusImport“ führt das Petersburger Untergrundtheater AKHE auf einen ungewöhnlichen Trip: Ihre Perfor-mance basiert auf wissenschaftlichen Irrtümern der letzten 100 Jahre und sprengt die Grenzen des Theaters. › berlinerfestspiele.de

FEIER

DEUTSCHE UND RUSSISCHE

WEIHNACHT IM VERGLEICH

13. DEZEMBER, RUSSISCHES HAUS DER

KULTUR UND WISSENSCHAFTEN, BERLIN

Unterschiede und Gemeinsamkeiten diskutieren die Leiterin des Deutschen Weihnachtsmuseums und der Stell-vertretende Vorsitzende der Puschkin-Gesellschaft. Dazu gibt es Kulinari-sches und Musik aus beiden Ländern. › deutsch-russisches-forum.de

FILM

ANNA KARENINA

AB 6. DEZEMBER, DEUTSCHLANDWEIT

Keira Knightley als Anna Karenina, Jude Law als ihr Ehemann – die zwölf-te Verfilmung von Tolstojs Roman aus Großbritannien kommt vollkommen ohne Russen und russische Drehorte aus. Und doch fühlt sich der Film rus-sisch an – so, wie man sich Russland eben vorstellt: goldene Kuppeln, Epauletten und Schnee.

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ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

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NACHRUF

Der Letzte

Nach dem Tod Ray Bradburysim Sommer ist nun mit BorisStrugatzki der letzte Science-Fiction-Autor gestorben, denman als einen lebenden Klassi-ker des Genres bezeichnen konn-te, der in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts das Bild derSF geprägt hat, ehe Hollywooddie Anhäufung visueller Effek-te zur Hauptsache machte. Auch Präsident Putin würdigteden Schriftsteller nach dessenTod, obwohl Strugatzki in denletzten Jahren als Unterzeich-ner von Protestnoten sein nachwie vor enormes Prestige in dieWaagschale für Demokratie undRechtsstaat geworfen hatte.Dieses Prestige gründete sichvor allem auf das Œuvre, das ermit seinem Bruder Arkadi ge-schaffen hat und mit dem diebeiden in der Sowjetunion weitüber die Intelligenzija hinauseine moralische Autorität er-langten, die man sich im Wes-ten kaum vorstellen kann.Mithilfe spannender Sujets undfantastischer Ideen konnten sieethische, philosophische und po-litische Fragen so extrapolieren,dass eine anschauliche literari-sche Umsetzung überhaupt erstmöglich wurde. Die Verfrem-dung, um an der Zensur vorbeiunliebsame Dinge zu sagen,spielte dabei erst in zweiter Linieeine Rolle, die Strugatzkis warenkeine typischen Dissidenten. Darum hat sich die Aktualitätihrer Werke mit dem Ende derUdSSR nicht erledigt: Wie mansich gegenüber einem übermäch-tigen Anpassungsdruck verhal-ten, wie in einer hedonistischenGesellschaft seine inneren Wertebewahren, ob man dem „objek-tiven“ Fortschritt sein Mensch-sein opfern soll – manches die-ser Probleme ist heute akuter alsdamals, da die Strugatzkis esaufwarfen.Boris Strugatzki hat diese Linienach dem Tode seines Bruders1991 weiterverfolgt, seine bei-den allein verfassten Romanesind in der Machart kaum vomgemeinsamen Spätwerk zu un-terscheiden, nur die Perspekti-ve hat sich geändert: Währenddie Handlung in „Die Suchenach der Vorherbestimmung“fast die gesamte sowjetischeNachkriegsgeschichte ins Bildsetzt, zeigt „Die Ohnmächtigen“die Enttäuschung über die Ent-wicklung im neuen Russland,über die bleierne Trägheit derVerhältnisse – aber auch die Ent-schlossenheit, zu kämpfen, so-lange die Kraft reicht. Das hatBoris Strugatzki getan.

Erik Simon hat das Werk Strugatzkis übersetzt, lekto-riert und herausgegeben.

Orient und OkzidentAusstellung Bis zum März 2013 können in Dresden die Schätze des Kreml bewundert werden

Kuratorin Ulrike Weinhold bereitet im Dresdener Residenzschloss die neue Sonderausstellung vor.

ANGELIKA KETTELHACKFÜR RUSSLAND HEUTE

Am 1. Dezember wurden die

Pforten des Dresdener Resi-

denzschlosses, dem Herzstück

der Staatlichen Kunstsammlun-

gen, für eine außergewöhnliche

Ausstellung geöffnet.

Unter dem vielversprechenden Titel „Zwischen Orient und Okzident“ und dem Zusatz „Schätze des Kreml von Iwan dem Schreckli-chen bis Peter dem Großen“ wurde die Neugier des Publikums ge-weckt. Und das sicher auch, weil ein Teil der Exponate im Dres-dener Residenzschloss nicht nur aus dem russischen Kulturkreis stammt, sondern auch aus dem per-sischen und osmanischen. Die für die Ausstellung ausgewähl-te Zeitspanne erstreckt sich auf die Zeit zwischen 1547, als Iwan der Schreckliche sich eigenmächtig zum Zaren ernannte, bis zu Peter dem Großen, der 1712 St. Peters-burg zur neuen Hauptstadt des rus-sischen Zarenreichs machte. Die Kunstsammlungen, die in jener Zeit zusammengetragen wurden, be-standen und bestehen unter ande-rem aus „diplomatischen“ Geschen-ken der anderen Völker Europas und des Osmanischen Reichs.

Schätze als BeweisDazu erklärt Dirk Syndram, Di-rektor des Grünen Gewölbes und der Rüstkammer der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden: „Die Rüstkammer im Kreml besitzt die größte historisch gewach-sene Sammlung europäischen und insbesondere Augsburger und Nürnberger Silbers weltweit. Diese

Die Schätze des Kreml wurden aber auch deshalb mit Spannung erwartet, weil die Ausstellung einen weiteren Beitrag zum Russ-landjahr in Deutschland und zum Deutschlandjahr in Russland 2012/2013 liefert. Hatte doch die-ses „Jahr des kulturellen Aus-tauschs“ schon Ende August mit dem Musikfestival „Strahlende Sterne Russlands“ Tausende Ber-liner auf die Straße gelockt und – mit einem Galakonzert auf dem Gendarmenmarkt als Höhepunkt – die besten russischen Ensemb-les aus Tanz und Musik in die deutsche Hauptstadt geholt.

Schätze als GeschenkJetzt, im Dezember, sind auf 700 Quadratmetern der noch im Roh-bau befi ndlichen Paraderäume des Dresdener Residenzschlos-

ses Preziosen, Gewänder, edle Gefäße und eben auch die wert-vollen europäischen Goldschmie-dearbeiten wie auch türkische und persische Prunkwaffen zu sehen, ergänzt durch 23 Leihga-ben der Staatlichen Kunstsamm-lungen und diverser deutscher Bibliotheken.Gedacht ist die Ausstellung auch als ein Gegengeschenk der Rus-sen für die deutschen und insbe-sondere die Dresdener Kunstlieb-haber, die ihre Schätze schon 2006 unter dem Titel „Das Ju-welenkabinett Augusts des Star-ken. – Aus der Sammlung des Grünen Gewölbes Dresden“ in diverse Moskauer Museen ge-schickt hatten. Nach ihrer Reise konnten die Ausstellungsstücke dann endlich wieder an ihren an-gestammten Ort zurückkehren: Inzwischen war das Grüne Ge-wölbe im Residenzschloss im ba-rocken Stil rekonstruiert und sa-niert worden. „Bereits 2006, also mit der Aus-stellung des Grünen Gewölbes auf dem Kreml, kam die Idee auf, diesen Besuch durch den Kreml erwidern zu lassen“, sagt Dirk Syndram, und Hartwig Fischer, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, er-gänzt: „Wir freuen uns nun sehr, dass sechs Jahre später einzig-artige Kunstwerke der Kreml-Museen nach Dresden kommen und in den Paraderäumen des Residenzschlosses präsentiert werden können.“

Ergiebiger Kunsttransfer Auf wissenschaftlichem Gebiet arbeiten die Staatlichen Kunst-sammlungen Dresden seit Lan-gem eng mit russischen Museen zusammen. So auch mit dem Puschkin-Museum in Moskau und vor allem der Eremitage in St. Petersburg. „Es konnten bei-spielsweise“, sagt Hartwig Fi-scher, „in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem A.S.-Puschkin-Museum unter dem Titel ‚Kunsttransfer‘ die deutsch-russischen Kulturbezie-hungen seit dem 17. Jahrhundert erforscht werden. Die Ergebnis-se, die nach fünf Jahren gemein-samer Arbeit zusammengetragen wurden, waren für beide Seiten sehr ergiebig.“Sie mündeten in diverse Präsen-tationen, in denen die Staatlichen Kunstsammlungen auch „die Rückgabe derjenigen Dresdener Kunstwerke würdigten“, so Fi-scher, „die in der Folge des Zwei-ten Weltkriegs in die ehemalige Sowjetunion gebracht wurden und zwischen 1956 und 1958 nach Dresden zurückgekehrt waren.“

entstammt den Gesandtschafts-geschenken des 16. bis 18. Jahr-hunderts, wurde aber auch durch gezielte Erwerbungen der Za-ren und anderer Hochadeliger gebildet.“ Mit diesen kostbaren Kunstgegen-ständen stellten die Zaren die be-deutende Rolle Russlands im poli-tischen und wirtschaftlichen Machtgefüge Europas unter Be-weis. „Moskau und der Kreml ent-wickelten sich im 16. Jahrhundert unter Iwan IV. zum Kreuzpunkt der Kulturen, insbesondere der per-sischen und osmanischen wie auch der europäischen. Insofern wurden in den Werkstätten des Zaren auf dem Kreml stilistische Einfl üsse der osmanischen, der abendländi-schen und russischen Kultur mit-einander zu Kunstwerken und Ob-jekten vereint“, so Syndram.

Links: Maske, Persien, 16. Jahrhundert, rechts: Adler mit Zepter und

Reichsapfel, Augsburg, Mitte des 17. Jahrhunderts

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Business auf Russisch – Business as usual? 6. FebruarWomit Unternehmer in Russland konfrontiert sind

Für die Bürger, gegen die GesetzeProvinz Wiktor Jemez, Citymanager von Kostroma, will seine Stadt wie ein Unternehmen verwalten

MORITZ GATHMANNRUSSLAND HEUTE

Dann platzt Wiktor Jemez doch

noch der Kragen: „Ich sag Ihnen

doch, ich bin erst seit 19. Juli

im Amt! Was hier vorher getan

oder nicht getan wurde, dafür

kann ich nichts!“

Wiktor Jemez, in Jeans, Hemd und Lederjacke, steht mit seiner Frau im ersten Stock eines Kindergar-tens im Zentrum von Kostroma, um ihn herum frustrierte Müt-ter: Die Bleibe für 80 Kinder soll-te nach einem Jahr Umbau am 1. September eröffnet werden, aber Mitte Oktober wird immer noch gebaut. Der Ärger der Mütter ist verständ-lich: Die Menschen sind auf ihren Kindern „sitzengeblieben“, weil die Stadt nicht Wort gehalten hat. Jemez verspricht, dass der Kin-dergarten am 1. Dezember bezugs-fertig sein wird. „Sie reden immer nur, aber wer gibt uns eine Ga-rantie?“, schimpft eine junge Mut-ter und hört gar nicht mehr auf. Jemez schlägt vor, lieber die Räume zu besichtigen. Am Ende seines Besuchs verspricht er den Eltern, zusammen mit ihnen auch am nächsten Samstag den Fort-schritt der Bauarbeiten zu begut-achten. Dann setzt er sich mit seiner Frau in den schwarzen Dienstjeep und fährt davon. Der 36-jährige Jemez ist seit Juli Citymanager der Stadt Kostroma, etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Den „city manager“ haben sich die Russen in den USA abgeschaut: Er wird nicht gewählt, sondern von der Stadt angestellt, um, ja, die Stadt zu managen. In Kostroma ist das kein Spaß: Die Stadt hat ein wunderschönes Zen-trum aus der Zarenzeit, aber die meisten Gebäude sind baufällig. „Wenn wir nichts unternehmen, sind wir in zehn bis 15 Jahren am Ende“, schätzt Jemez. Die Infrastruktur wurde seit dem Ende der Sowjetunion notdürftig geflickt, aber nie erneuert. Die Wasserrohre sind zu 85 Prozent abgenutzt, das Heizsystem zu 90 Prozent: „Man müsste 16 bis 20 Milliarden Rubel investieren, aber die haben wir nicht“, sagt Jemez. Und dann ist da noch die einzige Brücke über die Wolga, die bau-fällig ist und dringend renoviert werden muss.

Einstein statt PutinMit ähnlichen Problemen kämp-fen viele russische Städte. Aber andere haben mehr Geld: 3,5 Mil-liarden Rubel, etwa 90 Millionen Euro, hat Jemez 2012 zur Verfü-gung. Es reicht nicht, weder hin-ten noch vorne. Ein Grund ist, dass die Stadt ein Viertel der einge-sammelten Steuern ans Staats-budget abtreten muss – und mehr als die Hälfte an die Gebietsver-waltung, weil die fi nanziell noch schlechter dasteht.

ter. Nur ein Nagel ragt aus der Wand, von einem Tischchen streckt Albert Einstein Herein-kommenden die Zunge heraus. Zu Jemez’ Stil gehört auch, dass er mit Journalisten offen über alles spricht. Über Korruption etwa, an die sich die meisten Beamten ge-wöhnt haben. „Ich kontrolliere die städtischen Aufträge persönlich“, sagt er. Wie das konkret aussieht? Eine Mitarbeiterin legte ihm ein Angebot für Visitenkarten vor. Jede Karte sollte demnach acht Rubel kosten. „Ich weiß aber, dass Visitenkarten nur zwei bis drei Rubel kosten“, sagt er. Kurzerhand rief Jemez mehrere Druckereien an, die ihm den Preis bestätigten.

„Es war klar, dass die Mitarbei-terin bei der Auftragsvergabe einen Umschlag mit Geld bekom-men hatte. Ich hab sie noch am gleichen Tag entlassen.“

„Arme und Beine gebunden“Aber ist diese „manuelle Verwal-tung“ nicht ein Armutszeugnis für seine Beamten? Jemez hat sich dazu eine Frist gesetzt: „Wenn ich in einem Jahr noch immer von sechs Uhr morgens bis abends um neun arbeiten muss, heißt das, dass ich es nicht geschafft habe, die Kompetenzen zu verteilen.“Er spricht sogar offen darüber, dass er manchmal die Gesetze bre-chen muss – zum Wohle der Bür-

ger: Die Handwerker, die den Kin-dergarten nicht fertiggebaut hat-ten, ließ er von der Polizei vomGrundstück werfen. Und beauf-tragte eine gut beleumundeteFirma, die sich verpfl ichtete, dasGebäude bis zum Winter zu sa-nieren. „Dafür werde ich persön-lich 50 000 Rubel (1250 Euro)Strafe zahlen müssen, denn lautGesetz hätte ich den Auftrag neuausschreiben müssen“, sagt er. Mit dem Gesetz über Staatsauf-träge, das Firmen mit dem güns-tigsten Angebot den Auftrag si-chert, werde er noch öfter in Kon-fl ikt kommen, glaubt Jemez. Denndas gegen Korruption gerichteteGesetz führe in der Praxis oft zuschlechter Qualität. Auf die örtlichen Journalistenmacht der neue Citymanager einenguten Eindruck. „Aber in vielenFällen sind ihm Arme und Beinegebunden“, sagt der Journalist Al-bert Stepanzew. Viele politischeund wirtschaftliche Strukturenwürden von Moskau gesteuert.Es gab da etwa vor Kurzem die-sen Unfall im Heizsystem: Wäh-rend die Mieter eines Hauses vorsich hinfroren, erklärte der Di-rektor des Unternehmens – einerTochterfi rma von Gazprom – denBehörden, dass alle Mängel be-seitigt seien. Jemez überzeugtesich persönlich vom Gegenteil.Aber erst ein Anruf des Gouver-neurs bei Gazprom in Moskausorgte dafür, dass das System re-pariert wurde.Jemez’ Vertrag läuft bis 2015, undtrotz schwieriger Lage glaubt eran seinen Erfolg: „Aber ich binkein typischer Beamter: Wenn ichscheitere, ist das nicht mein Ende.“

Jemez ist kein typischer russischer Beamter: Er hat einen MBA in strategischem Management von der Moskauer Higher School of Economics, die letzten 15 Jahre war er Manager, gründete die ers-te Personalagentur in Kostroma, leitete eine Supermarktkette, eine Möbelproduktion und eine Kleiderfabrik. Er ist fest davon überzeugt, dass man eine Stadt so managen kann wie ein Unternehmen. Damit steht er für einen neuen, bislang wenig verbreiteten russischen Beamten-typus. In seinem Arbeitszimmer sucht man vergeblich nach einem Putin-Porträt – sonst Standard in den Zimmern russischer Beam-

Manche Rohre unter der Erde der

Stadt stammen aus der Zarenzeit

(oben). Wiktor Jemez, Citymana-

ger von Kostroma (unten)

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