Stoffemuss manfühlen€¦ · Manche Untergangspropheten...

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Manche Untergangspropheten befürch- ten, dass die Corona-Pandemie der Messe- wirtschaft in Erinnerung bleiben wird als ihr Napster-Moment, ein disruptives Ereig- nis, das die Branche verändert wie einst die Geburt der Download-Plattform Napster, das die gesamte Musikindustrie in ihren Grundfesten erschütterte. Sind die Sorgen berechtigt? Niemand könne derzeit eine se- riöse Prognose wagen, meint Thomas Koch, Mitglied der Geschäftsleitung der Messe Nürnberg: „Wir befinden uns im en- gen Austausch mit unseren Kunden und bekommen positive Resonanz. Dennoch fahren wir alle nur auf Sicht. Es wird Ver- änderungen geben. Da sind wir uns alle si- cher. Aber wie genau diese aussehen, ist noch völlig unklar.“ Corona beschleunigte die Entwicklung neuer Online-Formate. Veranstalter verla- gerten Konferenzen komplett ins Internet und organisierten dort Marktplätze, um den Vertrieb ihrer Kunden anzukurbeln und Netzwerke zu knüpfen. „Viele dieser Projekte sind Kundenbindungsmaßnah- men. Sie können das haptische Erlebnis der Messen sinnvoll ergänzen. Ob das lu- krativ ist, lässt sich bislang noch nicht sa- gen“, sagt Koch. Immerhin scheint das Schlimmste vor- erst abgewendet zu sein, nämlich ein Mes- severbot bis Ende des Jahres. Seit Anfang September dürfen in Deutschland wieder Messen veranstaltet werden, weil die Be- hörden sie nicht als Großveranstaltung einstufen. Größe und Qualität der hiesigen Messegelände bieten gute Voraussetzun- gen, die Hygiene- und Abstandsregeln um- zusetzen. Entsprechend gebannt blickte die Branche nach Düsseldorf, wo zu Be- ginn des Monats der Caravan Salon eine erhoffte Blaupause liefern sollte. Statt 600 Ausstellern wie 2019 waren es diesmal nur halb so viele. Die Besucherzahl sank nach dem Rekord im Vorjahr von 270000 auf gut 100 000. Doch die Erleichterung aller Beteiligten war deutlich spürbar. Er- hard Wienkamp, Geschäftsführer der Mes- se Düsseldorf, erkannte „ein wichtiges Si- gnal für die gesamte Messebranche in Deutschland und Europa“. Problematisch für die Messen ist je- doch, dass sich zahlreiche Firmen bereits kategorisch dazu entschieden haben, bis Mitte kommenden Jahres keine einzige physische Veranstaltung mehr zu bespie- len. Da bleibt viel Zeit und Raum, um neue Wege zu suchen und dabei auch auf Anbie- ter zu treffen, deren Kernkompetenz eine neue Ebene der Informations- und Daten- verarbeitung ist. „Wir müssen davor ge- wappnet sein, dass sich die Branche zu- nehmend zu einer datengetriebenen Mes- sewirtschaft entwickelt. Algorithmen spie- len in Zukunft sicherlich eine viel größere Rolle“, sagt Unternehmenssprecher Ema- nuel Höger von der Messe Berlin. In der Praxis könnte das so aussehen, dass zum Beispiel die Verknüpfung von Un- ternehmen, Dienstleistern, Kunden oder Vermarktern effizient und rasend schnell durch künstliche Intelligenz erledigt wird. Wie bei einem sozialen Netzwerk, das auf- grund eines Nutzerprofils Jobangebote, Veranstaltungen oder neue Kontakte vor- schlägt. Durch die Corona-Pandemie wird diese Entwicklung derart beschleunigt, dass den deutschen Messeveranstaltern nicht mehr viel Zeit bleibt, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, ehe ih- nen Mitbewerber oder sogar neue Akteure wertvolle Marktanteile abnehmen. Der singapurische Staatsfond GIC stieg im April mit mehreren Hundert Millionen Euro beim Schweizer Aussteller Informa ein, der unter anderem die Monaco Yacht Show und die World Tea Expo organisiert. Noch spektakulärer war die Übernahme der Schweizer Messegesellschaft Basel, MCH, im Juli durch die Investmentfirma Lupa Systems, die zum Imperium des Medienkonzerns News Corporation des Australiers Rupert Murdoch gehört. Schon vor zwei Jahren hatte der schei- dende Geschäftsführer der Berlin Messe, Christian Göke, vor dem starken Zufluss von Wagniskapital in die Branche gewarnt und einen Zusammenschluss deutscher Messebetreiber angeregt, um den aggressi- ven Wettbewerbern auch in Zukunft Paroli bieten zu können. Doch nicht jeder in Deutschland glaubt, dass die hiesigen Ver- anstalter zu klein seien, um sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen zu können. Als Referenzpunkt gilt den Optimisten die Fi- nanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt, als die Deutschen die Talsohle schnell durchschritten hatten und vor allem wegen ihrer glänzenden Reputation als Netzwerker gestärkt aus der Krise hervor- gingen. Bereits seit Juli finden in der Volksrepu- blik wieder Messen statt. Dennoch leben auch dort die Veranstaltungen von der Resonanz aus dem Ausland, die durch Qua- rantäne-Beschränkungen deutlich ge- schrumpft ist. Zudem haben zahlreiche deutsche Messeunternehmen in China nicht nur eigene Gesellschaften, sondern betreiben teilweise eigene Messegelände wie beispielsweise die Hannover-Messe in einem Joint Venture in Shanghai. Es bleibt die Hoffnung, dass das digitale Miteinander die echten Messen als Begeg- nungsstätten niemals ersetzen kann. Auch die Internationale Funkausstellung (IFA) in Berlin sendete Anfang September ein solches Zeichen. Wegen deutlich strenge- rer behördlicher Auflagen als in Düssel- dorf war sie zwar nur ein Schatten ihrer selbst, aber dennoch keine Enttäuschung. Höger: „Unsere Erkenntnis ist, dass Mes- sen auch in Zeiten der Pandemie funktio- nieren. Wir stellen fest, die Leute haben Lust auf Messen.“ marcel grzanna Absagen oder verschieben, vor diesen Opti- onen standen Messeveranstalter weltweit während der Corona-Pandemie. In Deutschland waren für 2020 insgesamt 345 Messen geplant, rund 170 finden bis dato nicht statt. Und auch, wenn die Ver- anstaltungen seit September hierzulande wieder erlaubt sind, wackeln angesichts steigender Corona-Fallzahlen die Herbst- termine. Indes hat sich in der Branche eine Alternative etabliert, die lange Zeit igno- riert wurde: das Konzept der virtuellen Branchentreffs, die keine Anwesenheit von Ausstellern und Besuchern erfordert. Von Hamburg bis München: Mitten in der Krise investieren deutsche Messeplät- ze in digitale Konzepte und entwickeln neue Formate. „Ein Konzept für eine digita- le Veranstaltung ist etwas ganz anderes als eine Messe“, sagt Klaus Dittrich, Geschäfts- führer der Messe München. Bei der The- menauswahl müsse man flexibel, aber rele- vant sein. Neben spannenden Referenten brauche es auch Möglichkeiten zur Interak- tion. Mit einem Konzept, das nur Vorträge aneinanderreiht, sei es nicht getan. „Denn kein Mensch setzt sich zwei Tage von früh bis spät vor den Bildschirm und hört nur zu“, sagt Dittrich. Dafür haben die Münchner das Perso- nal für Digitales und Entwicklung aufge- stockt, Dienstleister und Start-ups als Part- ner eingebunden und insgesamt einen sechsstelligen Betrag in digitale Formate investiert. Onlineformate, die bereits bei den ISPO Re.Start Days der Sport- und Out- door-Branche im Juli sowie der Umwelt- messe IFAT im September erprobt wurde. Ein zentrales Ausstellerportal mit Präsen- tationen gelisteter Firmen, Vorträge, Podi- umsdiskussionen und Workshops sowie Eins-zu-eins-Meetings in Videocalls oder Chats gehörten zu den wesentlichen Ele- menten der virtuellen Fachevents. Doch nicht für alle Branchen sind On- linemessen gleichermaßen geeignet: „Bei IT-Unternehmen und allen Zukunftsbran- chen rennen Veranstalter mit digitaler Posi- tionierung offene Türen ein, das gilt auch für die Besucher. Bei den klassischen In- dustrieschauen ist der Sprung ins rein Digi- tale hingegen zu groß“, sagt Martin Fritze, Juniorprofessor am Institut für Messe- wirtschaft und Marketing der Universität Köln. Definitiv bereit für ein digitales For- mat war die Spieler-Community, die sich alljährlich in Köln zur Gamescom trifft. Rund zwei Millionen Menschen verfolgten die Eröffnungsshow via PC, Tablet oder Smartphone im Netz und mit 70 Prozent ausländischen Gästen gab es die bislang höchste Internationalisierung. Anders als bei Fachmessen lag der Fokus der Pub- likumsveranstaltung auf Streams und Shows. Teilnehmer hatten die Möglich- keit, neue Spiele über die Cloud auszupro- bieren, an Online-Tunieren sowie am tra- ditionellen Cosplay-Kostümwettbewerb teilzunehmen. „Neben dem Gesundheitsaspekt sind die höhere Reichweite, Internationalität, geringere Kosten und Nachhaltigkeit die größten Vorteile virtueller Veranstaltun- gen“, sagt Udo Traeger, Messeexperte von Exhibition Doctors. Vor allem aber gibt es große Hoffnungen beim Thema Big Data. „Nun geht es um den Wert der Besucher für die Aussteller und diesen kann ich durch Datengewinnung bei virtuellen oder hybriden Messen punktgenau erfassen“, sagt Traeger. Eine virtuelle Schau schlägt mit 25 000 bis 150 000 Euro zu Buche – je nach Vielsei- tigkeit, Design und Komplexität der Ange- bote. Dabei sind Honorare für prominente Redner noch nicht inkludiert. Dank Tech- nologien wie Virtual und Augmented Reali- ty sowie 3-D-Darstellungen ist maximale Kreativität möglich. Steht eine digitale Plattform einmal, kann sie mit relativ ge- ringem Aufwand angepasst werden. Im Vergleich zu physischen Branchenevents fallen für die Veranstalter zudem große Kostenposten wie Sicherheit, Catering und Reinigung weg. Doch bislang lässt sich mit Onlinemessen noch wenig verdienen: „Es ist eindeutig zu sehen, dass die Umsätze digitaler Events deutlich unter den klassi- schen Messen liegen. Daher gehen wir künftig ganz Richtung Hybridmessen, also einer Kombination einer Präsenzmesse mit digitalem, auch unterjährigem Ange- bot“, sagt Dittrich. An eine Rückkehr zur völligen Konzen- tration auf den persönlichen Branchen- treff glauben Experten nicht. Digitale For- mate bieten Veranstaltern die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des Produktportfo- lios und damit die Chancen auf Mehrein- nahmen. Denn es gibt per se keine zeitliche Beschränkung – Produkte und Dienstleis- tungen können in der virtuellen Welt an 365 Tagen im Jahr präsentiert werden. „Digitale Angebote geben den Veranstal- tern die Möglichkeit, die hohe Kapazität einzelner Messetage auszugleichen und damit Umsätze über das Jahr verteilt zu steuern“, sagt Fritze. Hohe Quoten im Netz schaffen darüber hinaus Aufmerksamkeit. Besonders die heimischen Weltleitmessen können somit neue Aussteller und Besu- cher auf künftige physische Veranstaltun- gen locken. Bei der Preisgestaltung war die Branche anfangs zögerlich, vieles gab es kostenlos. So war etwa die Gamescom-Teilnahme heuer komplett frei für Besucher. Das fal- sche Signal laut Experten, denn Preise sind durchaus ein Qualitätsindikator. „Wir sammeln Erfahrungen und haben verschie- dene Varianten ausprobiert, von kostenlo- sen digitalen Inhalten über 99 Euro Ti- ckets für die ISPO ReStart.Days bis hin zum zweitägigen Digitalpass für 699 Euro für den kommenden Expo Real Hybrid Summit“, so Dittrich. Durchaus üblich sind bei digitalen Ver- anstaltungen mittlerweile zweistufige Freemium-Modelle, das heißt, für be- stimmte Inhalte müssen Teilnehmer be- zahlen, andere sind kostenlos verfügbar. Ein Digitalpaket für einen virtuellen Messe- stand mit einer Konferenzsession und eige- nem virtuellem Meetingraum auf der kommenden Expo Real kostet Aussteller 14 900 Euro. „Derzeit gehen die klassi- schen Messeveranstalter bei der Umset- zung virtueller Messen aufgrund fehlen- der Vergleichsdaten noch sehr vorsichtig mit der Monetarisierung von Dienstleis- tungen um,“ sagt Traeger. Im Fokus stehe in nächster Zeit nicht maximale Gewinnre- lation, sondern Kunden zu halten oder zu gewinnen und neue Formate zu testen. Positive Signale kommen aus For- schungsstudien, so steigt laut Wissen- schaftler Fritze die Relevanz des Themas virtuelle Messe mit der Erfahrung der Teil- nehmer. „Menschen werden sich zuneh- mend an digitale Welten gewöhnen. Es gilt also, mit wachem Auge zu beobachten, wel- che Rolle das digitale Erlebnisbedürfnis ge- genüber dem Wunsch nach realer Interak- tion zukünftig einnimmt“, sagt Fritze. christiane kaiser-neubauer von katharina wetzel E s sind schwierige Zeiten für die Mo- debranche und für die Modemessen ganz besonders. Internationale Rei- sebeschränkungen, Mitarbeiter im Home- Office, fehlende Touristen in Großstädten, Lieferengpässe in Fernost, Händler, die vor einem ungewissen Herbst und Winter stehen – die Branche leidet immens. Co- rona beschleunigt den Wandel und zeigt Schwächen schonungslos auf. Doch dane- ben gibt es auch ungewohnt positive Zei- chen, die Hoffnung machen. „Im Juni waren wir noch voll in die Ge- nehmigungsverfahren eingebunden. Zu- versichtlich, aber alles stand noch in den Sternen“, berichtet Mirjam Dietz von der Münchner Supreme Group, die Messen in Düsseldorf und München organisiert. Am Ende war die Erleichterung groß, dass die Modemesse Supreme im September über- haupt stattfinden konnte, wenn auch et- was später als sonst. „Man wird zum Coro- na-Schutzexperten“, sagt Dietz, die bei der Supreme Group für die Geschäftsentwick- lung und Kommunikation verantwortlich ist. Rund 500 Kollektionen werden norma- lerweise im Münchner Modezentrum MTC in der Taunusstraße gezeigt. Nun verzeich- nete man 20 Prozent weniger Aussteller und Besucher im Vergleich zum Vorjahr. Ei- ne Bilanz, die angesichts der Lage positiv stimmt. Gerade Einkäufer aus Deutsch- land, vorwiegend dem süddeutschen Raum, sowie Händler aus Österreich und der Schweiz waren sichtlich froh, dass sie hier ganz normal ihre Order schreiben konnten. Neben viel Kaschmir und ein paar floralen Mustern standen bei vielen Einkäufern lässige Kleider und weit ge- schnittene Hosen auf den Orderblöcken. Formelles eher weniger. Kollektionen am Bildschirm zu sichten, ist möglich, aber es macht keine Freude. Händler wollen Kollektionen in natura se- hen, Einkäufer von großen Einzelhandels- unternehmen reisen dafür schon mal bis zu 80 Tage im Jahr. Paris, Mailand, New York. Stoffe muss man fühlen, manche Tei- le selbst anprobieren oder zumindest am Model angezogen sehen. Ein Basic-Teil kann einfach per E-Mail geordert werden, aber Abnähte, Knöpfe, Farbmuster und Schnittführung lassen sich eben viel schneller real begutachten und bestim- men als am Bildschirm, wo man erst noch jedes Detail heranzoomen muss. Und ja, auch gefeiert wird in der Regel in der Bran- che. Nach der Messe gibt es Partys oder Net- working mit Dinner und DJ-Musik, wo meist viel Champagner fließt. Derzeit ist dies alles unvorstellbar weit weg. „In größeren Modestandorten sind die Messen abhängig von internationalem Pu- blikum. Doch wer fliegt jetzt nach Paris? Das tut in der Seele weh“, sagt Dietz. Nor- malerweise reist Dietz für Modemessen um die Welt, sie ist auf der Tranoï in Paris, der Project Tokyo, der Magic in Las Vegas oder der Coterie in New York. Doch die Tra- noï in Paris ist abgesagt, ebenso wie die Stoffmesse Première Vision, in Japan gibt es ein Einreiseverbot für Ausländer, und in New York ist das Messecenter noch umge- baut als Krankenhaus. Nach ersten Ab- sagen der großen Leitmessen in Italien, et- wa der Pitti Uomo in Florenz, hat man es ge- schafft, einige Veranstaltungen zu organi- sieren, die sich vorwiegend auf europäi- sche Besucher konzentrierten. Paris ist derweil Corona-Risikogebiet. Die großen Prêt-à-porter-Schauen finden Ende September, Anfang Oktober überwie- gend digital statt. „Eine Schau ist eine op- tische Präsentation und keine haptische. Das ist leichter digital umzusetzen als eine Modemesse“, meint Dietz. Doch den Flug- häfen, Bahnhöfen, Restaurants, Geschäf- ten, Museen und Kultureinrichtungen wer- den die Zigtausenden Besucher fehlen. Zu- dem sind Messen und Schauen auch eine Inspirationsquelle: „Die Prêt-à-porter- Schauen sind ein Impulsgeber für viele Händler und Design-Teams“, sagt Dietz. Die emotionale Modebranche brauche solche Inszenierungen. Zum Beispiel die apokalyptische Balenciaga-Schau, die im März während der von der Corona-Angst geprägten Pariser Modewoche noch statt- fand und bei der Laufsteg und die ersten Zuschauerreihen unter Wasser standen – ein Verweis auf den Klimawandel. Oder das subtile Defilee des Schweizer Labels Akris im Musée d’Art Moderne, wo Designer Albert Kriemler vor der Kulisse, die ihn inspirierte – Werke von Sonia und Robert Delaunay –, coole, elegante Outfits mit geometrischen Formen zeigte. Als Auf- bruch in eine neue Ordnung. Videostreams erreichen zwar ein viel größeres Publikum. Doch lassen sich per Videostream genauso Emotionen wecken und Geschichten erzählen wie mit einer Schau? Einerseits beschleunigt Corona ei- nen Wandel, der sich schon abzeichnete, hin zu mehr Digitalisierung. Andererseits geht der Trend nun auch zu mehr Nachhal- tigkeit, Wertigkeit und Persönlichkeit. „Die Kreativität des Einzelhandels ist nicht zu unterschätzen“, meint Dietz. Wäh- rend des Lockdowns haben viele bereits tot- gesagte Läden über sämtliche Kanäle ihre Waren verkauft. Stammkunden hielten ih- nen die Treue. Nun profitieren gerade un- abhängige, kleine Einzelhändler, da viele Büromitarbeiter im Home-Office arbeiten und aufgrund von Reisebeschränkungen eher lokal einkaufen. „Der Händler am Ort erhält mehr Zuspruch – auch abseits der 1A-Lage“, sagt Dietz. Während große Häu- ser in Metropolen wie Frankfurt Probleme haben, können gerade kleine Geschäfte in der Provinz sich ganz gut über Wasser hal- ten. Und dank Corona könnten sich Produk- tionsstätten sogar aus Billiglohnländern zurück nach Europa verlagern. „Die Preise werden dann steigen“, schätzt Dietz. Denn wegen der Corona-Pandemie gab es Liefer- schwierigkeiten aus Fernost bei textilen Vorprodukten und konfektionierter Ware, während etwa viele italienische Hersteller gut geliefert haben. „Eine digitale Lösung wird nie eine phy- sische Messe ersetzen können“, sagt Olaf Schmidt, Vice President Textiles & Textile Technologies bei der Messe Frankfurt. Die Messe organisiert insgesamt 60 Textil- messen weltweit. Circa 25 wurden auf- grund der Corona-Pandemie verschoben oder abgesagt. Darunter auch die Neonyt, Messe für nachhaltige Mode. „Es gibt einen enormen Auftrieb für digi- tale Plattformen, viele Lösungen sind aber nicht professionell“, sagt Schmidt. Statt noch eine weitere Plattform zu kreieren, verwies die Messe Frankfurt Neonyt-Aus- steller auf bereits bestehende Anbieter wie „Joor“ und „The Brand Show“. Daneben bot die Messe eine digitale Konferenz „Neo- nyt on Air“ mit Diskussionspanels an. Cir- ca 8000 Nutzer folgten den Diskussionen. Bisher ist das Angebot an digitalen Platt- formen für Händler und Hersteller unüber- sichtlich und schwierig. Der große Nach- teil: „Die Spontanität und Verbindlichkeit fehlt komplett“, sagt Schmidt. Der Messe- experte hofft daher auf die nächste Saison, die bei der Frankfurter Neonyt bereits im Januar schon wieder losgeht. Großes steht dann im Sommer mit der ersten Frankfur- ter Modewoche an, für die Messen, Shows, Events in der City und Konferenzformate geplant sind. „Wir sind sehr optimistisch, dass die Frankfurter Fashion Week in der ersten Juliwoche 2021 ganz normal stattfin- den kann“, sagt Schmidt. Unabhängig da- von werde man aber auch über digitale For- mate nachdenken. Der große Umbruch Bei Veranstaltern herrscht Unsicherheit. Neue Akteure könnten nun an Einfluss gewinnen Rund um die Uhr Mit Onlinemessen lässt sich noch nicht viel verdienen, aber in den Formaten steckt Potenzial Stoffe muss man fühlen Die meisten Modemessen wurden abgesagt. Die wenigen, die stattfinden, haben für Aussteller und Händler eine besondere Bedeutung Zum Caravan Salon kamen statt 270 000 Besuchern nur 100 000. Derzeit ist das ein Erfolg Durch Corona erhalten Produktionsstätten in Europa neuen Auftrieb Der Caravan Salon in Düsseldorf zeigte, dass auch während der Corona-Pandemie große Verbrauchermessen stattfinden können. FOTO: MARTIN MEISSNER / AP Neue Realität: Für die Teilnehmer der Ga- mescom war die Umstellung nicht so groß. Neue Spiele kann man auch zu Hau- se ansehen. FOTO: MARTIN MEISSNER / AP ANZEIGE Mehr Lässigkeit: Händler orderten auf der Modemesse Supreme, hier in Düsseldorf, eher bequeme Kleidung als formelle Looks. FOTO: THE SUPREME GROUP Messewirtschaft Verantwortlich: Peter Fahrenholz Redaktion: Katharina Wetzel Anzeigen: Jürgen Maukner 22 MESSEWIRTSCHAFT SZ SPEZIAL Dienstag, 22. September 2020, Nr. 219 DEFGH

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Manche Untergangspropheten befürch-ten, dass die Corona-Pandemie der Messe-wirtschaft in Erinnerung bleiben wird alsihr Napster-Moment, ein disruptives Ereig-nis, das die Branche verändert wie einst dieGeburt der Download-Plattform Napster,das die gesamte Musikindustrie in ihrenGrundfesten erschütterte. Sind die Sorgenberechtigt? Niemand könne derzeit eine se-riöse Prognose wagen, meint ThomasKoch, Mitglied der Geschäftsleitung derMesse Nürnberg: „Wir befinden uns im en-gen Austausch mit unseren Kunden undbekommen positive Resonanz. Dennochfahren wir alle nur auf Sicht. Es wird Ver-änderungen geben. Da sind wir uns alle si-cher. Aber wie genau diese aussehen, istnoch völlig unklar.“

Corona beschleunigte die Entwicklungneuer Online-Formate. Veranstalter verla-gerten Konferenzen komplett ins Internetund organisierten dort Marktplätze, umden Vertrieb ihrer Kunden anzukurbelnund Netzwerke zu knüpfen. „Viele dieserProjekte sind Kundenbindungsmaßnah-men. Sie können das haptische Erlebnisder Messen sinnvoll ergänzen. Ob das lu-krativ ist, lässt sich bislang noch nicht sa-gen“, sagt Koch.

Immerhin scheint das Schlimmste vor-erst abgewendet zu sein, nämlich ein Mes-severbot bis Ende des Jahres. Seit AnfangSeptember dürfen in Deutschland wiederMessen veranstaltet werden, weil die Be-hörden sie nicht als Großveranstaltungeinstufen. Größe und Qualität der hiesigenMessegelände bieten gute Voraussetzun-gen, die Hygiene- und Abstandsregeln um-

zusetzen. Entsprechend gebannt blicktedie Branche nach Düsseldorf, wo zu Be-ginn des Monats der Caravan Salon eineerhoffte Blaupause liefern sollte. Statt600 Ausstellern wie 2019 waren es diesmalnur halb so viele. Die Besucherzahl sanknach dem Rekord im Vorjahr von 270 000auf gut 100 000. Doch die Erleichterungaller Beteiligten war deutlich spürbar. Er-hard Wienkamp, Geschäftsführer der Mes-se Düsseldorf, erkannte „ein wichtiges Si-gnal für die gesamte Messebranche inDeutschland und Europa“.

Problematisch für die Messen ist je-doch, dass sich zahlreiche Firmen bereitskategorisch dazu entschieden haben, bisMitte kommenden Jahres keine einzigephysische Veranstaltung mehr zu bespie-len. Da bleibt viel Zeit und Raum, um neueWege zu suchen und dabei auch auf Anbie-ter zu treffen, deren Kernkompetenz eineneue Ebene der Informations- und Daten-verarbeitung ist. „Wir müssen davor ge-wappnet sein, dass sich die Branche zu-nehmend zu einer datengetriebenen Mes-sewirtschaft entwickelt. Algorithmen spie-len in Zukunft sicherlich eine viel größereRolle“, sagt Unternehmenssprecher Ema-nuel Höger von der Messe Berlin.

In der Praxis könnte das so aussehen,dass zum Beispiel die Verknüpfung von Un-ternehmen, Dienstleistern, Kunden oder

Vermarktern effizient und rasend schnelldurch künstliche Intelligenz erledigt wird.Wie bei einem sozialen Netzwerk, das auf-grund eines Nutzerprofils Jobangebote,Veranstaltungen oder neue Kontakte vor-schlägt. Durch die Corona-Pandemie wirddiese Entwicklung derart beschleunigt,dass den deutschen Messeveranstalternnicht mehr viel Zeit bleibt, um sich in derneuen Umgebung zurechtzufinden, ehe ih-nen Mitbewerber oder sogar neue Akteurewertvolle Marktanteile abnehmen.

Der singapurische Staatsfond GIC stiegim April mit mehreren Hundert MillionenEuro beim Schweizer Aussteller Informaein, der unter anderem die Monaco YachtShow und die World Tea Expo organisiert.Noch spektakulärer war die Übernahmeder Schweizer Messegesellschaft Basel,MCH, im Juli durch die InvestmentfirmaLupa Systems, die zum Imperium desMedienkonzerns News Corporation desAustraliers Rupert Murdoch gehört.

Schon vor zwei Jahren hatte der schei-dende Geschäftsführer der Berlin Messe,Christian Göke, vor dem starken Zuflussvon Wagniskapital in die Branche gewarntund einen Zusammenschluss deutscherMessebetreiber angeregt, um den aggressi-ven Wettbewerbern auch in Zukunft Parolibieten zu können. Doch nicht jeder inDeutschland glaubt, dass die hiesigen Ver-anstalter zu klein seien, um sich gegen dieAngriffe zur Wehr setzen zu können. AlsReferenzpunkt gilt den Optimisten die Fi-nanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt,als die Deutschen die Talsohle schnelldurchschritten hatten und vor allemwegen ihrer glänzenden Reputation alsNetzwerker gestärkt aus der Krise hervor-gingen.

Bereits seit Juli finden in der Volksrepu-blik wieder Messen statt. Dennoch lebenauch dort die Veranstaltungen von derResonanz aus dem Ausland, die durch Qua-rantäne-Beschränkungen deutlich ge-schrumpft ist. Zudem haben zahlreichedeutsche Messeunternehmen in Chinanicht nur eigene Gesellschaften, sondernbetreiben teilweise eigene Messegeländewie beispielsweise die Hannover-Messe ineinem Joint Venture in Shanghai.

Es bleibt die Hoffnung, dass das digitaleMiteinander die echten Messen als Begeg-nungsstätten niemals ersetzen kann. Auchdie Internationale Funkausstellung (IFA)in Berlin sendete Anfang September einsolches Zeichen. Wegen deutlich strenge-rer behördlicher Auflagen als in Düssel-dorf war sie zwar nur ein Schatten ihrerselbst, aber dennoch keine Enttäuschung.Höger: „Unsere Erkenntnis ist, dass Mes-sen auch in Zeiten der Pandemie funktio-nieren. Wir stellen fest, die Leute habenLust auf Messen.“ marcel grzanna

Absagen oder verschieben, vor diesen Opti-onen standen Messeveranstalter weltweitwährend der Corona-Pandemie. InDeutschland waren für 2020 insgesamt345 Messen geplant, rund 170 finden bisdato nicht statt. Und auch, wenn die Ver-anstaltungen seit September hierzulandewieder erlaubt sind, wackeln angesichtssteigender Corona-Fallzahlen die Herbst-termine. Indes hat sich in der Branche eineAlternative etabliert, die lange Zeit igno-riert wurde: das Konzept der virtuellenBranchentreffs, die keine Anwesenheitvon Ausstellern und Besuchern erfordert.

Von Hamburg bis München: Mitten inder Krise investieren deutsche Messeplät-ze in digitale Konzepte und entwickelnneue Formate. „Ein Konzept für eine digita-le Veranstaltung ist etwas ganz anderes alseine Messe“, sagt Klaus Dittrich, Geschäfts-führer der Messe München. Bei der The-menauswahl müsse man flexibel, aber rele-vant sein. Neben spannenden Referentenbrauche es auch Möglichkeiten zur Interak-tion. Mit einem Konzept, das nur Vorträgeaneinanderreiht, sei es nicht getan. „Dennkein Mensch setzt sich zwei Tage von frühbis spät vor den Bildschirm und hört nurzu“, sagt Dittrich.

Dafür haben die Münchner das Perso-nal für Digitales und Entwicklung aufge-stockt, Dienstleister und Start-ups als Part-ner eingebunden und insgesamt einensechsstelligen Betrag in digitale Formateinvestiert. Onlineformate, die bereits beiden ISPO Re.Start Days der Sport- und Out-door-Branche im Juli sowie der Umwelt-messe IFAT im September erprobt wurde.Ein zentrales Ausstellerportal mit Präsen-tationen gelisteter Firmen, Vorträge, Podi-umsdiskussionen und Workshops sowieEins-zu-eins-Meetings in Videocalls oderChats gehörten zu den wesentlichen Ele-menten der virtuellen Fachevents.

Doch nicht für alle Branchen sind On-linemessen gleichermaßen geeignet: „BeiIT-Unternehmen und allen Zukunftsbran-chen rennen Veranstalter mit digitaler Posi-tionierung offene Türen ein, das gilt auchfür die Besucher. Bei den klassischen In-dustrieschauen ist der Sprung ins rein Digi-tale hingegen zu groß“, sagt Martin Fritze,Juniorprofessor am Institut für Messe-wirtschaft und Marketing der UniversitätKöln. Definitiv bereit für ein digitales For-mat war die Spieler-Community, die sichalljährlich in Köln zur Gamescom trifft.Rund zwei Millionen Menschen verfolgtendie Eröffnungsshow via PC, Tablet oderSmartphone im Netz und mit 70 Prozentausländischen Gästen gab es die bislanghöchste Internationalisierung. Anders alsbei Fachmessen lag der Fokus der Pub-likumsveranstaltung auf Streams undShows. Teilnehmer hatten die Möglich-

keit, neue Spiele über die Cloud auszupro-bieren, an Online-Tunieren sowie am tra-ditionellen Cosplay-Kostümwettbewerbteilzunehmen.

„Neben dem Gesundheitsaspekt sinddie höhere Reichweite, Internationalität,geringere Kosten und Nachhaltigkeit diegrößten Vorteile virtueller Veranstaltun-gen“, sagt Udo Traeger, Messeexperte vonExhibition Doctors. Vor allem aber gibt esgroße Hoffnungen beim Thema Big Data.„Nun geht es um den Wert der Besucherfür die Aussteller und diesen kann ichdurch Datengewinnung bei virtuellen oderhybriden Messen punktgenau erfassen“,sagt Traeger.

Eine virtuelle Schau schlägt mit 25 000bis 150 000 Euro zu Buche – je nach Vielsei-tigkeit, Design und Komplexität der Ange-bote. Dabei sind Honorare für prominenteRedner noch nicht inkludiert. Dank Tech-nologien wie Virtual und Augmented Reali-ty sowie 3-D-Darstellungen ist maximaleKreativität möglich. Steht eine digitalePlattform einmal, kann sie mit relativ ge-ringem Aufwand angepasst werden. ImVergleich zu physischen Brancheneventsfallen für die Veranstalter zudem großeKostenposten wie Sicherheit, Catering undReinigung weg. Doch bislang lässt sich mitOnlinemessen noch wenig verdienen: „Esist eindeutig zu sehen, dass die Umsätzedigitaler Events deutlich unter den klassi-schen Messen liegen. Daher gehen wirkünftig ganz Richtung Hybridmessen, alsoeiner Kombination einer Präsenzmessemit digitalem, auch unterjährigem Ange-bot“, sagt Dittrich.

An eine Rückkehr zur völligen Konzen-tration auf den persönlichen Branchen-treff glauben Experten nicht. Digitale For-mate bieten Veranstaltern die Möglichkeit

zur Weiterentwicklung des Produktportfo-lios und damit die Chancen auf Mehrein-nahmen. Denn es gibt per se keine zeitlicheBeschränkung – Produkte und Dienstleis-tungen können in der virtuellen Welt an365 Tagen im Jahr präsentiert werden.

„Digitale Angebote geben den Veranstal-tern die Möglichkeit, die hohe Kapazitäteinzelner Messetage auszugleichen unddamit Umsätze über das Jahr verteilt zusteuern“, sagt Fritze. Hohe Quoten im Netzschaffen darüber hinaus Aufmerksamkeit.Besonders die heimischen Weltleitmessenkönnen somit neue Aussteller und Besu-cher auf künftige physische Veranstaltun-gen locken.

Bei der Preisgestaltung war die Brancheanfangs zögerlich, vieles gab es kostenlos.So war etwa die Gamescom-Teilnahmeheuer komplett frei für Besucher. Das fal-sche Signal laut Experten, denn Preisesind durchaus ein Qualitätsindikator. „Wirsammeln Erfahrungen und haben verschie-dene Varianten ausprobiert, von kostenlo-sen digitalen Inhalten über 99 Euro Ti-ckets für die ISPO ReStart.Days bis hinzum zweitägigen Digitalpass für 699 Eurofür den kommenden Expo Real HybridSummit“, so Dittrich.

Durchaus üblich sind bei digitalen Ver-anstaltungen mittlerweile zweistufigeFreemium-Modelle, das heißt, für be-stimmte Inhalte müssen Teilnehmer be-zahlen, andere sind kostenlos verfügbar.Ein Digitalpaket für einen virtuellen Messe-stand mit einer Konferenzsession und eige-nem virtuellem Meetingraum auf derkommenden Expo Real kostet Aussteller14 900 Euro. „Derzeit gehen die klassi-schen Messeveranstalter bei der Umset-zung virtueller Messen aufgrund fehlen-der Vergleichsdaten noch sehr vorsichtigmit der Monetarisierung von Dienstleis-tungen um,“ sagt Traeger. Im Fokus stehein nächster Zeit nicht maximale Gewinnre-lation, sondern Kunden zu halten oder zugewinnen und neue Formate zu testen.

Positive Signale kommen aus For-schungsstudien, so steigt laut Wissen-schaftler Fritze die Relevanz des Themasvirtuelle Messe mit der Erfahrung der Teil-nehmer. „Menschen werden sich zuneh-mend an digitale Welten gewöhnen. Es giltalso, mit wachem Auge zu beobachten, wel-che Rolle das digitale Erlebnisbedürfnis ge-genüber dem Wunsch nach realer Interak-tion zukünftig einnimmt“, sagt Fritze. christiane kaiser-neubauer

von katharina wetzel

E s sind schwierige Zeiten für die Mo-debranche und für die Modemessenganz besonders. Internationale Rei-

sebeschränkungen, Mitarbeiter im Home-Office, fehlende Touristen in Großstädten,Lieferengpässe in Fernost, Händler, dievor einem ungewissen Herbst und Winterstehen – die Branche leidet immens. Co-rona beschleunigt den Wandel und zeigtSchwächen schonungslos auf. Doch dane-ben gibt es auch ungewohnt positive Zei-chen, die Hoffnung machen.

„Im Juni waren wir noch voll in die Ge-nehmigungsverfahren eingebunden. Zu-versichtlich, aber alles stand noch in denSternen“, berichtet Mirjam Dietz von derMünchner Supreme Group, die Messen inDüsseldorf und München organisiert. AmEnde war die Erleichterung groß, dass die

Modemesse Supreme im September über-haupt stattfinden konnte, wenn auch et-was später als sonst. „Man wird zum Coro-na-Schutzexperten“, sagt Dietz, die bei derSupreme Group für die Geschäftsentwick-lung und Kommunikation verantwortlichist. Rund 500 Kollektionen werden norma-lerweise im Münchner Modezentrum MTCin der Taunusstraße gezeigt. Nun verzeich-nete man 20 Prozent weniger Aussteller

und Besucher im Vergleich zum Vorjahr. Ei-ne Bilanz, die angesichts der Lage positivstimmt. Gerade Einkäufer aus Deutsch-land, vorwiegend dem süddeutschenRaum, sowie Händler aus Österreich undder Schweiz waren sichtlich froh, dass siehier ganz normal ihre Order schreibenkonnten. Neben viel Kaschmir und einpaar floralen Mustern standen bei vielenEinkäufern lässige Kleider und weit ge-schnittene Hosen auf den Orderblöcken.Formelles eher weniger.

Kollektionen am Bildschirm zu sichten,ist möglich, aber es macht keine Freude.Händler wollen Kollektionen in natura se-hen, Einkäufer von großen Einzelhandels-unternehmen reisen dafür schon mal biszu 80 Tage im Jahr. Paris, Mailand, NewYork. Stoffe muss man fühlen, manche Tei-le selbst anprobieren oder zumindest amModel angezogen sehen. Ein Basic-Teilkann einfach per E-Mail geordert werden,aber Abnähte, Knöpfe, Farbmuster undSchnittführung lassen sich eben vielschneller real begutachten und bestim-men als am Bildschirm, wo man erst nochjedes Detail heranzoomen muss. Und ja,auch gefeiert wird in der Regel in der Bran-che. Nach der Messe gibt es Partys oder Net-working mit Dinner und DJ-Musik, womeist viel Champagner fließt. Derzeit istdies alles unvorstellbar weit weg.

„In größeren Modestandorten sind dieMessen abhängig von internationalem Pu-blikum. Doch wer fliegt jetzt nach Paris?Das tut in der Seele weh“, sagt Dietz. Nor-malerweise reist Dietz für Modemessenum die Welt, sie ist auf der Tranoï in Paris,der Project Tokyo, der Magic in Las Vegasoder der Coterie in New York. Doch die Tra-noï in Paris ist abgesagt, ebenso wie dieStoffmesse Première Vision, in Japan gibtes ein Einreiseverbot für Ausländer, und inNew York ist das Messecenter noch umge-baut als Krankenhaus. Nach ersten Ab-sagen der großen Leitmessen in Italien, et-wa der Pitti Uomo in Florenz, hat man es ge-schafft, einige Veranstaltungen zu organi-sieren, die sich vorwiegend auf europäi-sche Besucher konzentrierten.

Paris ist derweil Corona-Risikogebiet.Die großen Prêt-à-porter-Schauen findenEnde September, Anfang Oktober überwie-gend digital statt. „Eine Schau ist eine op-tische Präsentation und keine haptische.Das ist leichter digital umzusetzen als eineModemesse“, meint Dietz. Doch den Flug-häfen, Bahnhöfen, Restaurants, Geschäf-

ten, Museen und Kultureinrichtungen wer-den die Zigtausenden Besucher fehlen. Zu-dem sind Messen und Schauen auch eineInspirationsquelle: „Die Prêt-à-porter-Schauen sind ein Impulsgeber für vieleHändler und Design-Teams“, sagt Dietz.Die emotionale Modebranche brauchesolche Inszenierungen. Zum Beispiel dieapokalyptische Balenciaga-Schau, die imMärz während der von der Corona-Angstgeprägten Pariser Modewoche noch statt-fand und bei der Laufsteg und die erstenZuschauerreihen unter Wasser standen –ein Verweis auf den Klimawandel. Oderdas subtile Defilee des Schweizer LabelsAkris im Musée d’Art Moderne, woDesigner Albert Kriemler vor der Kulisse,die ihn inspirierte – Werke von Sonia undRobert Delaunay –, coole, elegante Outfitsmit geometrischen Formen zeigte. Als Auf-bruch in eine neue Ordnung.

Videostreams erreichen zwar ein vielgrößeres Publikum. Doch lassen sich perVideostream genauso Emotionen wecken

und Geschichten erzählen wie mit einerSchau? Einerseits beschleunigt Corona ei-nen Wandel, der sich schon abzeichnete,hin zu mehr Digitalisierung. Andererseitsgeht der Trend nun auch zu mehr Nachhal-tigkeit, Wertigkeit und Persönlichkeit.

„Die Kreativität des Einzelhandels istnicht zu unterschätzen“, meint Dietz. Wäh-rend des Lockdowns haben viele bereits tot-gesagte Läden über sämtliche Kanäle ihreWaren verkauft. Stammkunden hielten ih-nen die Treue. Nun profitieren gerade un-abhängige, kleine Einzelhändler, da vieleBüromitarbeiter im Home-Office arbeitenund aufgrund von Reisebeschränkungeneher lokal einkaufen. „Der Händler am Orterhält mehr Zuspruch – auch abseits der1A-Lage“, sagt Dietz. Während große Häu-

ser in Metropolen wie Frankfurt Problemehaben, können gerade kleine Geschäfte inder Provinz sich ganz gut über Wasser hal-ten. Und dank Corona könnten sich Produk-tionsstätten sogar aus Billiglohnländernzurück nach Europa verlagern. „Die Preisewerden dann steigen“, schätzt Dietz. Dennwegen der Corona-Pandemie gab es Liefer-schwierigkeiten aus Fernost bei textilenVorprodukten und konfektionierter Ware,während etwa viele italienische Herstellergut geliefert haben.

„Eine digitale Lösung wird nie eine phy-sische Messe ersetzen können“, sagt OlafSchmidt, Vice President Textiles & TextileTechnologies bei der Messe Frankfurt. DieMesse organisiert insgesamt 60 Textil-messen weltweit. Circa 25 wurden auf-grund der Corona-Pandemie verschobenoder abgesagt. Darunter auch die Neonyt,Messe für nachhaltige Mode.

„Es gibt einen enormen Auftrieb für digi-tale Plattformen, viele Lösungen sind abernicht professionell“, sagt Schmidt. Statt

noch eine weitere Plattform zu kreieren,verwies die Messe Frankfurt Neonyt-Aus-steller auf bereits bestehende Anbieter wie„Joor“ und „The Brand Show“. Danebenbot die Messe eine digitale Konferenz „Neo-nyt on Air“ mit Diskussionspanels an. Cir-ca 8000 Nutzer folgten den Diskussionen.

Bisher ist das Angebot an digitalen Platt-formen für Händler und Hersteller unüber-sichtlich und schwierig. Der große Nach-teil: „Die Spontanität und Verbindlichkeitfehlt komplett“, sagt Schmidt. Der Messe-experte hofft daher auf die nächste Saison,die bei der Frankfurter Neonyt bereits imJanuar schon wieder losgeht. Großes stehtdann im Sommer mit der ersten Frankfur-ter Modewoche an, für die Messen, Shows,Events in der City und Konferenzformategeplant sind. „Wir sind sehr optimistisch,dass die Frankfurter Fashion Week in derersten Juliwoche 2021 ganz normal stattfin-den kann“, sagt Schmidt. Unabhängig da-von werde man aber auch über digitale For-mate nachdenken.

Der große UmbruchBei Veranstaltern herrscht Unsicherheit. Neue Akteure könnten nun an Einfluss gewinnen

Rund um die UhrMit Onlinemessen lässt sich noch nicht viel verdienen, aber in den Formaten steckt Potenzial

Stoffe mussman fühlen

Die meisten Modemessen wurden abgesagt.Die wenigen, die stattfinden, haben

für Aussteller und Händler eine besondere Bedeutung

Zum Caravan Salon kamen statt270 000 Besuchern nur 100 000.Derzeit ist das ein Erfolg

Durch Corona erhaltenProduktionsstätten in Europaneuen Auftrieb

Der Caravan Salon in Düsseldorf zeigte, dass auch während der Corona-Pandemiegroße Verbrauchermessen stattfinden können. FOTO: MARTIN MEISSNER / AP

Neue Realität: Für die Teilnehmer der Ga-mescom war die Umstellung nicht sogroß. Neue Spiele kann man auch zu Hau-se ansehen. FOTO: MARTIN MEISSNER / AP

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Mehr Lässigkeit: Händler orderten auf der Modemesse Supreme, hier in Düsseldorf, eher bequeme Kleidung als formelle Looks. FOTO: THE SUPREME GROUP

MessewirtschaftVerantwortlich: Peter FahrenholzRedaktion: Katharina WetzelAnzeigen: Jürgen Maukner

22 MESSEWIRTSCHAFT SZ SPEZIAL Dienstag, 22. September 2020, Nr. 219 DEFGH