Vat auszug scholz spree 2013 11 29 a

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VAT HANS SCHOLZ AM GRÜNEN STRAND DER SPREE

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HANS SCHOLZAM GRÜNEN STRANDDER SPREE

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Hans Scholz

Am grünen StrAndder Spree

So gut wie ein Roman

Verlag André thiele

Leseauszug

© VA

T Verlag Mainz

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w.vat-m

ainz.de

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der Verlag André iele wurde im märz 2011 auf eine diskussionaufmerksam, die auf dem Blog www.vorspeisenplatte.de geführtwurde. gegenstand war der vorliegende roman. die dort mitge-teilten Argumente und erfahrungen mit dem Buch bestimmtenuns, das Werk näher zu betrachten. nach längeren recherchen unddiskussionen beschlossen die Verlagsmitarbeiter, eine neuauflagezu wagen. Uns freut insbesondere, dass dieses Buch ein Beispiel fürden Unsinn einer trennung von »alten« und »neuen« medien ist.Unser dank gilt Inés gutiérrez, die als »die Kaltmamsell« den ge-nannten Blog betreibt. Ohne sie gäbe es diese neuauflage nicht.

dem Verlag Hoffman und Campe danken wir für die unkompli-zierte überlassung der Lizenz.

© 1955 by Hoffmann und Campe Verlag, HamburgFür die vorliegende Ausgabe: © VAt Verlag André thiele,mainz 2013Satz: Felix Bartels, eberbachUmschlag: maja Bechert, Hamburgdruck und Bindung: AnrOp Ltd., Jerusalemprinted in Israel.Alle rechte vorbehalten.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-95518-011-9

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Anlaß, Verlauf und Schluß des nächtlichen Zusammenseinsin der Jockey-Bar vom 26. auf den 27. April vorigen Jahres,von Hans Schott getreu nacherzählt, bilden ein rahmenwerkum die geschichten, die damals in der alten Jockey-rundevorgebracht worden sind. diese geschichten erscheinen hierin der gestalt, welche die erzähler selbst ihnen nachträglichin schriftlicher Wiederholung gegeben haben. Sie solleneuch beide, Schöne und glückliche,

Peter und Barbara Koslowski

zu eurer rückkehr in das wiedererbaute Haus am roseneckals beziehungsreiches geschenk eurer unermüdlichenFreunde samt Salz und Brot empfangen.

Fritz Georg Hesselbarth, Frankfurt (Main) Jürgen Wilms, UdSSR, Gefangenenlager unbekanntHans-Joachim Lepsius (in Wilms’ Vertretung), z.Z. Brüssel Bob Arnoldis, Berlin Stefan Česnick, Los Angeles / Calif. USAHans Schott, Berlin

(das Schriftwerk ist in sieben exemplaren hergestellt worden.Verteiler siehe am Schluß.)

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Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers!(Johann gottfried Herder: Stimmen der Völker, madagas-senlieder, 4)

der bisher einzige telephonapparat der ›Schott-Werbefilm‹in der meineckestraße 12 a klingelte. die bisher einzige per-son, aus welcher das Unternehmen bestand, meldete sicherwartungsvoll.

Ich: Schott-Werbefilm, Schott.ein Fräulein: Hier Büro dr. Brabender – dr. v. Kalb, gu-

ten Abend! einen Augenblick, ich verbinde mit Herrn dr.Brabender. Herr doktor spricht gerade. Bleiben Sie bitte inder Leitung!

Ich: … Hallo! … Hallo! …dr. Brabender: Hallo, Hänsi, bist du da? Ja, hier Braben-

der. Wie geht es dann immer? Hör mal zu, ich wollte dichum Folgendes bitten und muß wieder einmal an euer Hoch-wohlgeboren stadtbekannte … wie soll ich sagen? … gesell-schaftliche Fähigkeiten appellieren.

Ich: Appell an taube nüsse, verehrte mummi!dr. B.: nicht doch, nicht doch! du weißt, du bist doch

ein Hort … eh … wie soll ich sagen? … Hort … Augenblickmal, entschuldige! Ich muß hier eben mal ganz kurz …(nicht in den Apparat) … ja … ja … dies auch, legen Siemir dieses Aktenstück morgen früh noch einmal vor! …(zu mir) entschuldige! das waren zwei Unterschriften …ein Hort also gesellschaftlicher tugenden und Arbiter derguten Sitten und gebräuche, nicht wahr …

Ich: mach’s nicht so spannend, mummi! Wessen bedarf ’s?dr. B.: mein Unglücksvetter, unser aller Hans-Joachim …Ich: Lepsius?dr. B.: erraten, kluges Kind! … der Spätheimkehrer,

den wir hier vor drei monaten gemeinsam dem westlich-

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bürgerlichen Leben zurückzugewinnen trachteten, ist wie-der hier.

Ich: Ist was?dr. B.: Wieder hier! das westliche Wirtschaftswunder

vermochte ihn nicht zu fesseln.Ich: na, das ist doch wohl die kleine pest.dr. B.: Ich höre immer, die kleine. er ist vollkommen

zusammengebrochen. totalkollaps. Und zwar weswegen?Spaß beiseite, nix Wirtschaft, nix politik, wenn’s recht ist.Seine ehe klappte in keinster Weise. nachdem ihn das Kran-kenhaus geheilt entlassen hatte … Herz, Kreislauf, was weißich, aber jedenfalls geheilt! … hat seine liebenswerte ge-mahlin ihn nunmehr kurzerhand vor die tür gesetzt. Schonder empfang, den sie ihm vor drei monaten bereitete, solleisig gewesen sein. Aber Hans-Joachim hatte das wohl nichtso richtig mitgekriegt.

Ich: Und was bedeutet das?dr. B.: der damen ratschlüsse sind oft wunderlich

und der einsichtnahme männlicher Wesen unheilvoll ver-schlossen. ernsthaft, es ist zum Kotzen! … (nicht in denApparat) Soll eine minute warten … (zu mir) entschuldige!(nicht in den Apparat) Sagen Sie ihm, wir lassen denganzen Kokolores zu protest gehen! … (zu mir) entschul-dige!

Ich: Ja, aber was kommt denn dem Biest bei, in gottesnamen?

dr. B.: Ach na ja, du weißt ja. In glanz und gloria ge-heiratet. major im generalstabe. Beachtliche Karriere vorsich. Himmel voller geigen mit Schwertern und Brillanten.Haben sich kaum gekannt, menschlich offenbar zu wenig.nur äußere Hülle geehelicht. Hans-Joachim nicht weniggeschmeichelt. Blondes patrizierkind, Bremen. geld im Hin-tergrunde, revenuen aus eigener Fabrik. pipapo.

Ich: Und nunmehr essig. Aus der traum. Wie so man -cher … da waren doch Kinder?

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dr. B.: Kinder? ein Kind! Und das haben sie verloren.daß du das nicht mehr weißt!

Ich: richtig, natürlich! das war ja die geschichte: eva-kuierung, Schlesien, Flucht, granaten, beide Beine. Binschon im Bilde.

dr. B.: Alle erfahrung geht dahin, daß Krisen, wo Kindersind, günstiger verlaufen. Kurzum, wie du so zutreffend be-merktest: essig! der essigschwamm ans deutsche Kreuzgereicht! Carola würde sagen, ich soll nicht so blasphemischsein, aber sei’s mal einer nicht. du hast ja miterlebt, wie erzurückkam, ein Knochengerüst. meine mutter hat daswachsgraue Klappergestell zuerst gar nicht als ihren neffenidentifizieren können, und er immer: Aber tante minchen,kennst du mich denn nicht mehr? grinsend und zahnlosauf dem ›Schlesischen Bahnhof‹ …

Ich: ›Ostbahnhof‹, ich muß schon bitten!dr. B.: Und Wasser bis zum Zwerchfell oder bis zum

Stehkragen … (nicht in den Apparat) die Aktennotiz gehörtzur Akte Hersch٪eisenstein. die grüne mappe, FräuleinZänker, die grüne … na, ich seh’ sie von hier … (zu mir)Was wollt’ ich sagen? Film gerissen. Jedenfalls, aus VetterLepsius ist zur Zeit nicht viel herauszubekommen, wie ereben so ist. die Schwieger scheint zum Schlimmen ihrenteil beizutragen nicht versäumt zu haben. nur kleine zweiWochen hat er sich in der Betreuung dieser so fühlsamenHändepaare befunden, dann war seine einlieferung insKrankenhaus unaufschiebbar. Bei seiner entlassung letzthinsagte der Arzt: ›Und nun, meine gnädige Frau, kommt jaunser patient in die herzliche pflege, deren er nach all denJahren am dringlichsten bedarf. An dieser Stelle, nicht wahr,hat die ärztliche Kunst ihre natürlichen grenzen‹, Hans-Joachim hat uns das wundervoll vorgemacht, wiewohl ihmkeineswegs zum Lachen ist, ›ersparen Sie ihm aber jede Auf-regung!‹ … nicht unflott, der medizinmann! … Woraufhinman weiblicherseits den kaum genesenen mit der vorgeb-

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lichen Unmöglichkeit vertraut machte, die Wohnung wei-terhin mit seiner bisherigen ehefrau zu teilen, und ihm na-helegte, die Scheidung einzureichen.

Ich: Zauberhaft! Hat er denn seine pension schon?dr. B.: Ist im Anrollen. Ich habe alle Hebel in Bewegung

gesetzt. nebenbei: daß jemand jemanden sausen läßt, derpension hat, halte ich für ein beachtliches Wunder der neue-ren Soziologie. Wer täte das?

Ich: eine Heroine, eine usnelda! Hat aber ganz schöndie Zechinen des Vetter-Schwagers Brabender eingestecktdie letzten Jahre.

dr. B.: Bitte sehr, nur solange sie ihre Fabrik noch nichtwieder hatte.

Ich: Und was wird er jetzt anfangen?dr. B.: Ja Himmel, irgendein einigermaßen konvenierender

posten wächst mir auch nicht gleich auf der flachen Hand.Jedenfalls drüben nicht. Zum Amt Blank habe ich keine Be-ziehungen … ich meine, personeller Art, versteht sich, undhier will er wieder nicht, in der mit recht so beliebten Front-stadt. die gründe lasse ich dahingestellt. er wird jetzt einpaar Wochen hier bleiben. Ich will ihn erstmal richtig aus-statten: Hemden, Anzüge, mäntel, Schuhe und so weiter –Zähne und das notwendigste hat er schon –, dann schick’ich ihn nach neuenahr. generalüberholung. das sind allesSelbstverständlichkeiten. Ich war nicht Soldat, er war es. Ichwar nicht gefangener, er war es. Ich … Augenblick! Ich werdehier eben verlangt … (in einen zweiten Apparat) Brabender.Ja! … Ja! … Zur Zollfahndung? … nicht? So so! Schon be-deutend besser. Wo denn dann also? … Außenstelle WBH.Hm! … Ich habe … nein! … Ich habe Herrn mikulitschgleich gesagt, wenn ihm mittels gottes und seiner AnwälteVorsorge geholfen werden könnte … gleich gesagt, er sollseine Angaben nicht frisieren … Ja, aber liebster Herr pos-nanski! … Ja! … nein! Kommt nicht in die tüte … pos-nanski, Herr posnanski! die Leute lassen mit sich reden, aber

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wenn er meinen ganzen Aufbau durcheinanderschmeißt …Ja doch, gewiß doch … ziehn wir grade! … Versäumnisurteil?Bin morgen sowieso da … na, lässig! Sind doch Beamte!(weder in den zweiten Apparat noch in den ersten) den ter-minkalender bitte! … danke! (in den zweiten Apparat) Alsomorgen um neun Uhr dreißig, zehn, halb elf, nein, morgenum vier Uhr fünfzehn können Sie mich erreichen. dannsehen wir schon klarer … Ja! … nein! Bloß jetzt nicht mari-enborn! Wäre Wahnsinn! … Ich sage Ihnen das sowohl inmeiner eigenschaft als mensch als auch in ebenderselben alsIhr Anwalt, was nicht dasselbe ist … na sehn Sie, als Ihr An-walt! … gut! … Schön! … (zu mir) tschuldige, bist du nochda? Ich rufe dich gleich noch einmal an. Auf gleich!

dr. mathias Brabender, den wir, die unermüdlichen Freundeund Verfasser, gemeinhin die mummi nennen, hatte abge-hängt, doch klingelte das telephon nach zwanzig minutenwieder.

ein Fräulein: Hallo, ist dort Herr Schott? Hier Büro dr.Brabender – dr. v. Kalb. Ich verbinde mit Herrn dr. Bra-bender. Herr doktor spricht gerade. Bleiben Sie bitte in derLeitung!

Ich: Hallo! … Hallo!das Fräulein: Herr doktor spricht noch. Bleiben Sie bitte

in der Leitung!Ich: Hallo! Ja? mummi?dr. B.: … Also major i. g. a. d. Hans-Joachim Lepsius.

das muß ich schon sagen: diese Art Leute bewähren sicham Wolchow nicht übel, wenn sie auch ersichtlich das cete-rum censeo mit allen Konsequenzen der gegenseite zu voll-strecken überließen, nicht wahr, … aber in eigener Sache:völlige Hilflosigkeit. geht wahrscheinlich zu Lasten der ge-fangenschaft. Will es also gar nicht besonderer Kritik un-terwerfen. Sei’s, wie’s sei, aber nunmehr brauche ich deineUnterstützung …

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Ich: … die worin zu bestehen hätte?dr. B.: (nicht in den Apparat) Ach, der wartet immer

noch, das arme Schwein. Soll reinkommen. Ich lasse bit -ten … (zu mir) entschuldige! … (nicht in den Apparat)Wie geht’s? nehmen Sie platz! Zigarette? Was man so zu-sammenraucht! Ich bin nur noch einen moment in Anspruchgenommen, eine minute … (zu mir) Kurzum … (nicht inden Apparat) Fräulein Zänker, dort steht eine Büchse nes.Sie wissen Bescheid. Und rufen Sie Fräulein Lück zum Ste-nogramm! Und das hier muß heute noch raus. datum habenwir immer noch den Sechsundzwanzigsten, ich bitte dasrichtigstellen zu wollen. rohrpost nach tempelhof. Im üb-rigen auf keinen Fall auf dem Landwege. Und erkundigenSie sich, wann die maschine Anschluß nach London hat!Alles klar? … Sie können das erste schon durchsehen, HerrBrauweiler! … (zu mir) Sekunde! (nicht in den Apparat)Und rufen Sie meine Frau an, Zänkerin, ich kann sie erst …sagen wir, gegen neun abholen, ja, neun … (zu mir) Kurzund gut: er ist seit drei tagen hier. Ich kam nur nicht dazu,dich anzurufen. doch nun wollte ich dich bitten, wenn esdeine Zeit erlaubt, nimm dich doch seiner an. er ist tatsäch-lich ziemlich durcheinander. Wir wollen nicht vergessen,daß er vor drei monaten noch in rußland war. er wohntselbstredend bei uns. Carola tut ihr möglichstes und hatnicht mit der Wimper gezuckt.

Ich: Wir wollen nicht vergessen, daß ihr auch erst sechs,sieben monate verheiratet seid.

dr. B.: gewiß, das spielt aber hier nun gar kein Klavier.Klarer Fall. Wie sagt doch unser göttlicher Schiller: demmanne kann geholfen werden. muß, Hänsi, muß! Am tagehat Carola Zeit zu haben, aber abends möchte ich nicht, darechne ich auf dich für alle möglichen Veranstaltungen.geht ins ›resi‹ oder macht sonstwas, und zwar beginnendab heute. Hauptsache, daß er zunächst mal auf andere ge-danken kommt. Ich habe diesbezügliche Anweisungen er-

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gehen lassen: geld steht dir in meinem Büro jede mengezur Verfügung. du holst dir als maître de plaisir ab, was dubrauchst. Und nun sage bloß, du hast heute abend keineZeit!

Ich: doch, ich habe. es paßt vielmehr sogar tadellos. Ichbin nämlich ohnehin mit Arnoldis und Hesselbarth verab-redet, und zwar in unserm alten ›Jockey‹, traditionsgemäß.Hesselbarth ist für zwei tage aus Frankfurt hier.

dr. B.: Bereits bekannt. Hat sich wie immer bei mir ge-meldet … paß mal auf! dann kann Hans-Joachim ja seineprodukte gleich in den Jockey mitnehmen und dem HerrnKunstmaler und Filmfritzen Hesselbarth persönlich überrei-chen. Ich hatte verabredet, die Sachen schicken zu lassen.

Ich: Was für produkte, was für Sachen bitte?dr. B.: gott, man soll nichts unversucht lassen, und

wenn Hesselbarth wittert, daß irgendwo einer was zu papierbringt, ruht er nicht eher, als bis er weiß: gibt das ein dreh-buch oder nicht? es ist etwas Schriftliches, eine geschichte.Ich habe selbstverständlich Hesselbarth sofort davon erzählt.Hans-Joachim kann sie euch ja gleich an Ort und Stellevorlesen. Ich werde mal mit ihm sprechen. So viel Betriebwird ja im Jockey nicht sein. Laßt euch überraschen.

Ich: Also Fazit: Vier-Herren-Abend im Jockey, Vier-mann-Symposion, Beginn acht Uhr. mit Vorlesen als erstemprogrammpunkt.

dr. B.: Und mit überraschung! Ihr werdet sehen.Ich: gibst du dem major deinen kleinen Wagen mit?

dann sag’ ihm, seit dem endsiege fahren hier alle wie dieradehacken. Von tuten und Blasen keinen Schimmer, al-lenfalls von tuten, und die Straßen sind eng. nix schirokajanatura wie bei Väterchen Bulganin, wo sie dreimal so breitsind wie hier und sechsmal so breit wie in Bonn.

dr. B.: die Straßenbreite tut’s nicht.Ich: Aus Herrn rechtsanwalt werden nie ein richtiger

Sowjetmensch werden … Also sag’ deinem Vetter Bescheid.

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Wir können ja sehn, vielleicht drehen wir noch eine Biege:›Volle pulle‹, ›Queen‹, ›Ali‹, ›Kelch‹. Woll’n mal sehn, wieder Wind weht.

dr. B.: primstens! die Sache liegt also in den berufenenHänden. gut!

Ich: Spassibo! grüß’ Carola schön! Und herzlichen dank!dr. B.: meinen respekt wie immer! die anderen Herren

sind selbstverständlich ebenfalls meine gäste.Ich: Aber mummi!dr. B.: Laß das meine Sorge sein! dank und Auf Wie-

dersehen!Ich: Wiedersehn, mummi!dr. B.: nun zu Ihnen, Herr Brauwei …

es war für ende April sehr warm, fast schwül. meine fürdach und Hof des Hauses meineckestraße 12 a zuständigeSchwarzamsel sang lieblich und leidenschaftlich, ja heftig.Als ich das Haus verließ, um mich im Brabenderschen Büromit geld zu versehen, begann es gerade zu regnen, nachdemein seltsam bräunliches gewölk von Halensee und demgrunewald her in den grünlichen Himmel hinaufgewachsenwar. Für ein paar Augenblicke funkelte die Sonne ganz rotunter allen Wolken hindurch und spiegelte sich auf denFahrbahnen des Kurfürstendammes. Alle regentropfen fielenwie rote glasperlen nieder, und die ruine der gedächtnis-kirche, der Sonne gegenüber, sah aus wie ein dunkler, glü-hender, fremdartiger Felsen. gegen acht Uhr blitzte es mehr-mals, und aus unbestimmter entfernung sprach wie zögerndund nur einige male donner aus den Wolkenmassen, hochüber den regenrauschenden und – früher heute als gewöhn-lich – reklameglitzernden Straßen.

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»maciejowice, 5. Juni 41.

der marktplatz steigt gewölbt und schräg an, holprig gepflastert mit Katzenköpfen, gras dazwischen. praller,glühender mittag von oben herein aus blauer Wolken -losigkeit.

die Häuserreihen im Karree gucken sich über den platzhin gegenseitig an, hell getüncht, ocker, rosa und schlohweißblendend, und stemmen sich auf ihre massiven Vorderpfeilerüber den Laubengängen. die pfeiler sehen aus, als könntensie mehr tragen. Zwei von den vielen, niedrigen giebelnversuchen sich befangen und ungelenk in barocken Wen-dungen, der eine mit einer gipsernen Volute und einer Vaseohne pendant, der andere mit einem goldenen Knopf, dersehr erglänzt: die Apteka.

eine Ju 52 dröhnt jäh über die dächer. Sie ist von untenhimmelblau bemalt und schwankt etwas im Winde. dasLand leuchtet zu ihr hinauf. Ihr Schatten fegt straßenbreitüber das pflaster, springt das schneeweiße Haus inmittendes platzes an, das so kleine Fenster hat wie eine Wehrkirche,das rathaus vielleicht, huscht über Schießscharten und ge-böschte Wand in Windeseile hinunter und die rosa giebel-fassade hinauf und über den goldenen Knopf und fort. Zwi-schen den Katzenköpfen blüht Löwenzahn, je näher derrathauswand, desto reichlicher.

drei menschen sind auf dem platz. drei. einer barfüßigim Löwenzahn mit dem gesicht gegen die geböschte Wand.der steht da. einer steht zehn meter hinter ihm auf derbreiten pflasterwölbung, gewehr über der Hüfte, Stahlhelm.Sieht dem an der Wand auf den rücken. Und ich stehe imleeren Laubengang mit den verschlossenen Luken und Lädenund sehe das, trage die gleiche Uniform wie der im Stahl-helm. Was soll ich hier in polen?

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Im kobaltblauen Zenit haben sich zwei leuchtende, zartzerpflückte Wolken versammelt … (72–78 p) morgen hatJutta geburtstag.

maciejowice, 6. Juni 41.(text zunächst unleserlich) … viele pirole, besonders schöneWeidenbäume längs des Flusses … rynek = marktplatz. dr.Zygmunt Wiedeński, lekarz. Poliklinika. majer epsztein,handel. Drukarnaia, Hersch Szwarcszild. Farby i lacky, Scha-lom riż. Meble, I. gumpert … Drukarnaia muß druckereiheißen. (photo 79 p)

maciejowice, den 8. Juni 41.es ist ein Befehl eingetroffen, wonach alle post in die Heimatdurch die Kompanie zensiert werden soll. Hpt. rahn hat inder Schreibstube gesagt, das solle sonstwer machen, er nicht!manche sagen, es geht nach rußland, aber die russen ließenuns bis zum Kaukasus durch. Zwecks ein fall nach Indien!ein paar divisionen sollen schon auf russischem Boden ste-hen. Nonsense! Wo liegt der Kauka sus und wo Indien? pfitzerist gestern abend aus Litzmannstadt gekommen. – Wiesoübrigens Litzmannstadt? der Ort heißt Łodz. Wenn manerst anfängt umzutaufen, ist der Bestand der getauften Sacheschon in Frage gestellt. Siehe Berlin: preußen nach 66 –Königgrätzer Straße. Kaiserreich, Weltkrieg, nibelungen -treue – Budapester Straße. Weimarer republik halbiert dieZeile in Friedrich ebert und Saarland. dieser teil späterStresemannstraße. drittes reich: der ebertteil in Hermanngöring, der Stresemann wieder in Saarland. Und göring?Und Saarland? Quousque tandem? Wenn die eines tages an-fangen, tagebücher zu zensieren!

pfitzer sagt, er hat im entree des Kasinos beim Łodzergebietskommissar ein Schild hängen sehen: ›eintritt für po-len, Juden und Wehrmacht verboten!‹ er wäre aber trotzdemreingegangen und hätte ein Bier bekommen. es hätte dort

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ein sehr schickes tanzorchester von der Luftwaffe gespielt.Von radom hat einer genau dasselbe erzählt, sagt er.

Jutta schreibt, sie führe mit mama nach Italien. der post-weg wird immer länger. Bis zum Kaukasus wird wohl keinBrief mehr kommen.

maciejowice, 9. Juni 41. (photo 84–93 p)der alte v. Kalb ist wirklich rührend. Schickt mir drei Filme.Sie passen nicht, aber ich kann sie tauschen. Kalb junior hatdusel, sitzt in paris als Jurist oder irgend etwas bei OQ-Frank-reich. dicker Flirt mit Irene-maria, die auch dort ist. neu-deutschlands junge Lebewelt trifft sich in paris. rendezvousin Braun. Irene-marias mann fliegt derweile gegen engelland.Schott müsse auch in polen stecken, schreibt Kalb-Sohn ausparis an seinen Vater. Ob wir uns sehen, fragen die. Als Soldatwird man dämliche Sachen gefragt. die zweite Abtl. verlegtheute. mit uns wird es auch nicht mehr lange dauern. Ich geheeigentlich immer ungern aus einer OU fort. Offenbar hatjeder Ort der Welt etwas, das einem ans Herz wachsen kann.

Riż = reis, grupa = graupen, nogi, noga = Flüsse, żyd =Jude. An einem Zaun hinter der Brücke steht mit Kreide:›Jeszcze …‹ und noch einige Buchstaben. das stand gesternnoch nicht. Irgend jemand hat sich bemüht, es auszulöschen.Was heißt: jeszcze?

mendel goltciher, pralnia. muß Wäscherei heißen. Uffz.Jaletzki hat mich gestellt, weil ich zwei Hemden in einemjüdischen Laden habe waschen lassen.

(abends)War bei Hpt. rahn im Quartier. Wohnt bei polen, ganz altenLeutchen. erstaunlich viele und gut gedeihende Zimmer-pflanzen. Kleine Weihwasserbecken an den türpfosten. erweiß schon etwas über die nächsten Kriegspläne, sagt abernichts. Als ich von dort zur Schreibstube ging, war geradepolizeistunde für Juden. es gibt offenbar einen jüdischen

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Ordnungsdienst für Juden: junge männer in Zivil, aber mitArmbinden und dienstmützen, blauer deckel und hochroterrand, halb preußisch, halb Wach- und Schließgesellschaft.Sie tragen gummiknüppel. Haben etwas strizzihaftes. Luden.Luder. Hager mit Fuchsaugen. mit überweiten tangohosen,die hinten abgetreten und ausgefranst sind. die anderen Judenscheinen große Furcht vor ihnen zu haben. die Bengel lassenkeine gelegenheit aus, zwischen ihre rassegenossen zu dre-schen. Sie sind gerade dabei, die Juden in das lichtlose Innereder Häuser zurückzupferchen, die sich, um noch ein bißchenLuft zu haben und zu gucken … (text verwischt) … aus denLaubengängen geschrei, getümmel und der Fall von Schlä-gen. Unter den Bögen ist es schon nahezu dunkel. Zuschlagenvon türen und dann Schweigen. Ich höre ein winzigesSchmutzwasser in der gosse neben mir rieseln.

der Himmel ist nach Osten bleu Versailles und dunklerüber den bleichen, stummen Häusergiebeln, nach unten zubeinahe etwas wie bräunlich. der Knopf über dem rosigengiebelschwung der Apotheke schimmert matt vor dem stil-len dunkel, das aus dem Osten heraufrückt.

Bleu Versailles! Ich hätte dich nicht verlassen sollen, ruthesther Loria. das hätte ich nicht sollen. nicht dürfen!

Zwei von den bemützten Schergen lungern noch auf demleeren, dämmernden platz umher vor den verblassenden Häu-sern, sehen sich dienstlich um, daß niemand nirgendwo mehrsich rührt. die polen kümmern sich nicht um diese dinge,aber zu sehen sind sie auch nicht mehr. der mond ist schonhoch. es muß wohl nächster tage Vollmond sein. die beidenbediensteten Bemützten bauen gewaltige männchen zur eif-rigsten Begrüßung des arischen Obergefreiten, der ich bin.Wer hat denen den beschämenden Quatsch bloß beigebracht?

Auf der Fahrt nach Zelechów, 11. Juni 41.War bei der division. ein Schreiber, den ich kenne, sagtemir, wir blieben nur noch zwei tage in maciejowice. dann

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ginge es ab nach Osten. dabei grinste er. Auf den großenStraßen ungewöhnlicher Verkehr in allen richtungen. Sahzwei Omnibusse mit Stabshelferinnen der Luftwaffe. Fünfzigvöllig verschwitzte mädchen und zwei ganz erschlageneZahlmöpse. Sie kämen direkt aus paris, sagten sie, ohneQuartier gemacht zu haben. manchmal kann ich solchedeutschen mädchen nicht leiden. Sie hatten eine Art ausdem Wagen zu gucken, die deutlich erkennen ließ, daß sieum nichts in der Welt so ein polnisches drecknest wie etwamaciejowice würden lieben können. Spießig ist eine weibli-che eigenschaft. Spießiger mann eigentlich contradictio inadjecto. Hennen. Arg verschwitzt und immer noch dünkel-haft. Sagte ihnen: ›Fahrt mal nach Warschau. da gibt’s Kaf-fee.‹ ›Au prima, hörste, Ortrud, da gibt’s Kaffee, sagt derLandser‹, sagten die mädchen.

Am Wege am Waldrand irgendein Lager. Art Arbeitslagervermutlich. davor ein Jude in mittleren Jahren, wie unsereAufseher in m.: Armbinde und blaurote, steife mütze. dergrüßte jedes vorbeifahrende Kfz. militärisch, indem er mitder Hand zur mütze zuckte und stramm stand. Bei dem Ver-kehr! Zweimal in der minute war das wenigste. Armer Kerl!er sah aus, als hinge von seinem gruße der Fortbestand vonweiß-ich-was ab, als grüße er um sein Leben … (Blatt einge-rissen und unleserlich) … mittagsh(itze?) … SS-mann alsAufseher zum Straßenbauen. die jüdischen Weiber arbeitetengleichmäßig und ohne viel Worte untereinander. Sie warensehr braungebrannt von der Sonne und sichtbarlich von Hun-ger ausgemergelt. Wie ausgedörrt. einige Alte wie aus Leder.Ihre Knochen bewegten sich langsam im Innern einesfaltigenLederüberzuges wie bei reptilien. Auch die Brüste ledern inden unsäglichen Lumpen. (Hans Baldung grien.)

Wer darf menschen erniedrigen? Wer darf das eigent-lich?

es waren Junge darunter, die ihre Kleidung besser inOrdnung hielten. Was auf sich hielten. mit tiefbraunen Au-

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gen und schwarzen Zöpfen, die unter den verblichenenKopftüchern glänzten wie rappenfell. eine, auf den Spatengestützt, vom typus wie ruth esther Loria. Ich erschraksehr. Himmel, was täte man eigentlich, wenn …?

die Juden haben nur wenig typen, weniger als wir. Zei-chen von rasse, mindestens von einheitlicherer rasse; dahersehen sie einander häufig ähnlich. Versuchte das braunemädchen anzusehen, aber sie sah niemanden, sah wie eingefangenes tier in eine unbekannte Ferne. ›tja‹, meinte derSS-mann, ›sind janz leckere Kerlchen mitunter.‹ Ich ant-wortete: ›Wenn du dafür Augen hast, ist das schon halberassenschande.‹ ›da kümmere mer uns nit drum‹, meinteer. War rheinländer. photographieren ließ er mich nicht.dat wär’ verboten, sagte er.

Irrsinn! Wenn man meint, berechtigt zu maßnahmen ge-gen die Juden zu sein, braucht man es nicht zu verbergen.Oder glaubt man nicht, berechtigt zu sein? (photo vom Wa-gen aus, ohne daß der Kerl es sah, nr. 94 und 95 p.) Fuhrmeinen Kübel langsam über die Baustrecke, rechts und linksdie Weiber, die alten, die jüngeren und ab und zu junge,schöne mädchen, deren heftige, dunkle Blüte bis dahinnicht zu zerstören gewesen war. Auch ganz kleine mädchen.traten alle stumm zur Seite mit den Spaten und den Hacken.die Blicke.

Fremd, fremd, – fremde Blicke. Auch haßerfüllte? es istgar nicht wahr, daß man in einem menschenauge irgendetwas lesen kann. man liest nichts. Am ende stand nochein SS-mann, der sonstwohin guckte. männer waren sonstkeine zu sehen.

Abends wieder in der OU. Jetzt soll als neuestes auchdie eingehende post kontrolliert werden, stichprobenweise.Ich soll das machen und dem Chef nachher berichten; erbefehle das nicht, sondern bitte mich darum, – so ist er –und: ›Sauerei!‹ und raus aus der Schreibstube. Hier einBeispiel:

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›Hochgeehrter Herr Kompanieführer!Habe schon länger immer fragen wollen, wie denndas mit der Beförderung von meinem mann zusam-menhängt. Und er hat gesagt, er kommt nicht mehrin Urlaub, außer er kommt als Obergefreiter. AlleLeute lachen schon wegen meiner, wenn Ich einkau-fen gehe, wo man es doch jetzt schon ohnedem soschwer hat als deutsche Frau. er muß nun dran sein.gegenüber wohnt eine Familie deggendorf zurmiete, der ihr Herr ist schon Feldwebel bei der Luft-waffe und dient nur zwei monate länger als der mei-nige. Und ist aber nur Angestellter bei den städti-schen gaswerken. Wollte nun hochgeehrter Herrrahn mit meiner Bitte vorstellig werden, daß er be-fördert wird bis zu seinem hoffentlich baldigen Ur-laub. er ist so tüchtig. das hat der Herr UnteroffizierJaletzki auch geschrieben. Und er ist auch parteige-nosse, was ich ja nun nicht bin. Wegen der Kirche.Aber es genügt ja auch wenn einer. denke gerne andas schöne Kompaniefest in dillenburg zurück, woHerr Hauptmann den schönen Walzer mit mir ge-tanzt hat. Aber daran werden Sie nicht mehr denken.Will hoffen, daß bald Friede ist. es soll ja Weih-nachten sein. Und entschuldigen Sie diesen Brief.es grüßt Sie herzlich mitHeil Hitler!Ihreergebene elise Schothe.‹

(Vermutl. maciejowice. datum sicherlich der 12. Juni.)der Abmarschbefehl ist da für morgen. Ziel garwolin, süd-ostwärts Warschau. das regiment verlegt nach Łuckow.Keine täuschung weiter, es geht gegen rußland. Wer nachIndien wollte, müßte auf den Wegen Alexanders des großenmarschieren, was schwierig genug wäre und kaum leichter

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als damals. An solchen Sachen ändert sich in tausend Jahrennichts. Von rußland nach Indien ist absoluter Unsinn. dagibt es keine anderthalb Straßen. Und zu guter Letzt überden pamir wohlmöglich! der ›Führer‹ auf dem mt. everest.deutscher Himalaya-Verein, Ortsgruppe Lhasa. pekingerHütte. Om mani padme hum! Uffz. Jaletzki sagt, mir gingeeben der Sinn fürs große ab.«

*

Bis zu dieser tagebuchnotiz hatte major a. d. Lepsius vor-gelesen, als er das säuberlich getippte manuskript niederlegte,um sich durch einen Blick auf die tischrunde zu vergewis-sern, daß man bei der Sache wäre. die vier Herren erhobenwortlos die gläser gegeneinander. Ich hatte als Begrüßungs-schluck White-Ladies bestellt.

»Ich kann mich immer noch nicht genug wundern«, sagteder major und mußte sich räuspern, »wie ich Sie hier sosehe, oder genauer, daß ich Sie hier und so sehe. Wenn allesso lange her ist, so restlos vorbei wie jene Zeiten, denktman unwillkürlich, die andern von damals können gar nichtmehr leben. dumm sowas!«

»War ja auch immer ein mächtiges Aufgebot mildernderUmstände vonnöten, wenn einer leidlich davonkommensollte«, bemerkte Hesselbarth, indem er die Brauen zusam-menzog, »ich hatte glück, ich war beim nachschub unddann in norwegen.«

»Und Sie, Herr Arnoldis?« fragte der major, vergaß aberseine Frage sogleich, »Sie sehen ja nun überhaupt völlig un-verändert aus. Wie machen Sie das bloß? das ist ja benei-denswert.«

Bob Arnoldis, der Schauspieler, verneigte sich stumm,und Lepsius fügte höflich hinzu: »da versteht man allerdings,daß Sie so viel zu tun haben, wie mir mein Vetter Brabendererzählte.«

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»es rauscht nicht gerade in den Schachtelhalmen, aber esmacht sich«, sagte der Schauspieler, »mit eater, Film,rundfunk, Fernsehen, vor allem aber mit Synchron.«

»Womit bitte?«»Synchronisierung fremdsprachiger Filme.«»Ah so, ah so, ah so! manche Ausdrücke kennt man als

alter Kommißknüppel gar nicht zuverlässig. muß mir die Um-gangssprache hier erst wieder aneignen. übrigens: ob da wasbeim Film zu machen wäre? Ich meine nicht als schöner gi-golo, armer gigolo, aber mit Spanisch. Ich kann es doch nochso einigermaßen von der ruhmreichen Legion Condor her.«

Hesselbarths Schulterbewegung deutete an, daß er dakeine Aussichten sähe, und Arnoldis sagte: »Sagen Sie Con-dor nicht so laut! Hier sind wir zwar mächtig gegen denKommunismus, dürfen es aber seinerzeit nicht gewesen sein.gegen den nationalsozialismus sind wir aber auch, weil erdamals immer gegen die armen Kommunisten … und soweiter. Verstanden?«

»nee!« sagte der major und nahm sein manuskript auf,um dem Kellner zum Servieren platz zu machen.

»na, du Plennij, du!« sagte ich, »Umgangssprache schwach,Weltanschauung unzureichend.«

»Hör auf!« wehrte sich Lepsius. »Ich sage nur Lager Kras-nogorsk 27/i. da wurde aber weltanschaulich zusammen-gestaucht! nach allen roten Koordinaten. es lag dafür auchbei moskau, und mir ward die ehre zuteil, dort fast ein Jahrzu verweilen. Unter anderem!«

Wir tranken ihm zu, und Arnoldis sagte: »Aber wie wärees denn mit militärischer Beratung? das ist doch jetzt diemasche beim Film. tatsächlich, ich komme aus Uniformengar nicht mehr raus, und zwar erfreue ich mich da meistderartiger ranghöhen, daß ich von majoren – Film-majorennatürlich – nur so umspielt bin wie Jupiter von seinen mon-den. nehme Leutnantsrollen nur, um nicht den Anschlußans jugendliche Fach zu verlieren.«

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»Hm!« machte der major.»Wir haben hier nämlich abrüstende pazifisten und auf-

rüstende Heldensöhne gleichzeitig zu sein. man ist prinzi-pieller Kriegsgegner, aber, bei Lichte besehen, mehr des vo-rigen Krieges als des nächsten.«

»die entsprechende coincidentia oppositorum heißt jenseitsdes potsdamer platzes: Friedenskämpfer«, ergänzte Hessel-barth.

der major schüttelte den Kopf.»Komm, lies weiter, Hans-Joachim«, sagte ich.mir schien, als flösse das gespräch nicht recht. man ver-

mied Fragen zu stellen, die Vergangenes hätten berührenmüssen, aber daß man sie ungestellt ließ, war nicht ebenförderlich. gewiß, die erste euphorie des Heimkehrers, dieer vor drei monaten auf der durchreise durch diese Stadtan den tag gelegt hatte, die aufgesetzten Lustigkeiten imschnoddrigen Leutnantsjargon, den man ihn früher nie an-ders als persiflierend hatte anwenden hören, die hatten sichgelegt. Auf Ausrufe hin wie: »Bagatellen … Offizier, nichtwahr!« oder: »Höre immer Hindernisse? Hindernisse da,um genommen zu werden!« zumal angesichts der ganzenVertracktheit der hiesigen Situation, die wir ihm – wennauch vorsichtig umschreibend – andeuteten, hatten mummiund ich bloß Blicke wechseln können. Und was hätte manschon inmitten des euphorischen Schwadronierens zu Bit-terkeiten wie dieser sagen sollen: »Ihr seid hier wohl schonüber Kriegsgeschichten und gefangenenangelegenheitenhinaus, wie? Ihr kriegtet das fertig. der gemeinschaftlicheVerlust des Krieges wird eben keineswegs gemeinschaftlichgetragen, sondern die Lasten sind ganz unterschiedlich ver-teilt … Aber is ja auch egal!«

das schien nun um einiges besser geworden zu sein,oder zumindest hatten private enttäuschungen die Bitternisneutralisieren helfen, die er aus seiner Verstrickung in denschlimmen gang der öffentlichen dinge gesogen hatte, ein

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notrezept nebenbei, die üblen Säuren der politischen Che-mie mittels ätzender Basen privaten mißgeschicks zu leid-lichen Alltagssalzen zu verbinden. er sah immer noch reich-lich elend und grau aus, wenngleich ihn seine neuen Zähneso ungefähr wenigstens der Altersklasse zuordneten, der erangehörte. Jetzt tat er uns zuliebe sicherlich frohsinniger,als ihm war, und auch unsre fröhlichen tonarten warenziemlich gekünstelt, ein uneingestandenes Spiel also vonbeiden Seiten.

»Ja, so lesen Sie doch weiter!« ermunterte Hesselbarth.»Ich stelle eben fest, daß hier zwei Seiten fehlen«, sagte

der major und erhob sich, »sie müssen aber im Wagen oderin der garderobe liegen, denn sie waren vorhin noch da.«

Auf ein Augenzwinkern des Oberkellners sprang ein pageherbei und begleitete den gast hinaus. Ich bestellte indessenals entree viermal geflügelsalat und eine weitere Lage White-Ladies, wobei ich dem Barmixer zurief: »Fix, eine Spur herberbitte als die vorige!« es waren sonst keine gäste im raum.

»Hans-Joachim Lepsius, major im generalstab a. d.«,sagte Arnoldis nach einer Weile. »Wenn man so bedenkt,wie strahlend und prächtig dieser mensch früher ausgesehenhat! Wenn er in ein Lokal trat, dann war es so, als hätte je-mand mehr Licht angemacht. Wißt ihr noch, wenn er vonerfurt oder sonstwo her angebraust kam, als Offizier schon,und dann hier im Jockey in den Stuhl fiel, der prachtmenschmit der blanken Haut und den ebenso blanken Haaren:meine Herren, ich atme auf! … drittes reich und HitlersOffiziere, da gibt es tausend dinge, die kein mensch je be-greifen wird.«

»Ihr lieben Freunde«, sagte ich, »es trifft sich gut, daß erdraußen ist. Ich hatte nämlich keine gelegenheit, in Kennt-nis zu setzen: ema ehe und ehefrauen wird gebeten,heute möglichst nicht anzuschneiden.«

»Was ist mit dem? Was kann er meinen?« rezitierte Ar-noldis.

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»na mensch, Bob!« ereiferte sich Hesselbarth. »da fragstdu noch? So sieht nur ein mann aus, dem übles von einemWeibe widerfahren ist, so grau.«

»Und x Jahre gefangenschaft«, entgegnete Arnoldis, »istdas vielleicht nichts? … da kommt er wieder.«

»Und da kommt die neue Lage«, stellte ich fest.»nette Idee!« sagte der major, der wieder platz genommen

und die fehlenden Seiten eingeordnet hatte, und begann dieSpeisekarte zu betrachten. »es gießt nebenbei draußen wiebezahlt. nette Idee! Ich meine nicht das essen. Wiewohl einBlick auf den Speisezettel dinge zeigt, von denen ich nochvor einem Vierteljahr annehmen mußte, daß ich sie nie imLeben wieder zu schmecken bekommen würde. Aber wie manso ist: man hat sie wieder und ist zu seiner eigenen Verwunde-rung und entgegen allen Schwüren, die man sich irgendwanneinmal im dreck selbst geleistet hat, in kürzester Frist frechgenug, nicht für ein Wunder zu halten, daß man sie wiederhat, sondern lediglich nun … eben für das gegebene.«

»mit einem Wort«, sagte Hesselbarth, »man macht mitsich selbst nicht immer die besten erfahrungen.«

»Laßt uns speisen!« sagte Arnoldis, da man die Salate auf-trug.

Beim essen wandte sich Lepsius, um Konversation be-müht, an Hesselbarth: »daß Sie so ganz zum Film überge-gangen sind! mummi erzählte mir davon.«

»Völlig konsequentes Verhalten, weiter nichts«, erwiderteHesselbarth. »Aus der Stirne der malerei entsprang bekannt-lich die photographie. es waren die schlechtesten malernicht, die in das neue Fach übergingen, ehe es noch dilet-tantisiert wurde. Und der Lichtbildnerei entsprang unterder patenschaft etlicher maler sehr bald der Film samt allemdrum und dran, der aus technischen und wirtschaftlichengründen so leicht nicht dilettantenbeute werden dürfte.malerbegabungen sollten heute in den Filmateliers ein- undausgehen. Konsequenterweise. daß unsre verehrlichen Aka-

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demien nicht längst und allgemein Filmklassen eingerichtethaben, ist schlimm. Aber wann waren diese Institute auchakademischer als heute? die trotzigen Bekämpfer jedes Aka-demismus aus prinzip sind in corpore in die planstellen derAkademien eingezogen. Als Beamte. Lebenslänglich! derknöchernste Konservativismus kann so läppisch nicht seinwie vergreisende revolutionen; schließlich liegt nicht Be-stand, sondern Wandel in ihrem Wesen. Ach, und nun wer-den die ›Blauen pferde‹ und ›Zwitschermaschinen‹ mit mu-sealer Ängstlichkeit gehütet und abgestaubt, teure Schlackevergangener eruption! … übrigens wenn ich dies nochsagen darf«, fuhr der maler und Filmfachmann fort, währender mit der gabel einen rundlichen Champignon aus seinemSalat spießte, »als seinerzeit dem Schoße der bildendenKunst die des Buchdrucks entstieg, schwangen sich malerund graphiker haufenweise in den neuen Sattel oder wußtenden alten und den neuen zu reiten. nicht Verkrachte oderStümper, sondern Leute wie reuwich, der ›Hausbuchmei-ster‹, oder wie Kollege Cranach.«

»Auf den Lukas!« rief Arnoldis im Bestreben, dem ge-spräch eine Wendung ins Vergnüglichere zu geben.

Wir stießen miteinander an.»Und die malerei haben Sie ganz aufgesteckt?« fragte Lep-

sius.»nicht grundsätzlich. Ich male durchaus, und zwar in

völliger Freiheit, los und ledig von dem harten Zusammen-stoß der dinge im trüben raume eines lethargischen, kri-tikgegängelten Kunstlebens.«

»Voriges Jahr hat er Babsy Bibiena porträtiert«, sagte ich.»Babsybi!« der matte, etwas abwesende gesichtsausdruck

des majors gewann Leben. »die schöne Barbara Bibiena«,sagte er, »die gibt es also auch noch.«

»Laßt doch jetzt erstmal dieses schöne mädchen beiseite!Wir haben ja noch einen ganzen Abend vor uns«, drängteArnoldis. »er soll lesen!«

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»nette Idee«, wiederholte der major, »das war’s, was ichvorhin zum Ausdruck bringen wollte – hier die alten Jockey-freunde zu versammeln. Sie werden nicht tadeln, daß ichunter diesen Voraussetzungen, wenn ich schon etwas zumBesten zu geben wage, jemanden zu Worte kommen ließund lassen möchte, den ich gewissermaßen vor Ihnen ver-trete. es wird Sie überraschen.

Im vergangenen dezember, vor fünf monaten also, wurdeich besonderen Verhören unterworfen und sollte ein schrift-liches Schuldbekenntnis unterzeichnen. Jeder, der in russi-scher gefangenschaft war, kennt derlei. das gefühl derOhnmacht, das einen dabei überkommt, kann gräßlichernicht gedacht werden. Unterzeichnen wie nicht-Unterzeich-nen bedeutete Arbeitslager. diese Art Alternativen, die inzynischer eindeutigkeit gar keine sind, wirken schädelspren-gend und greifen den Bestand des Verstandes in unvorstell-barer Weise an. Letzte Weihnachten wurde ich zu fünfund-zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Ich kam in die nähevon tichwin, wo man derartige Sträflinge zwecks Abtrans-ports sammelte. dort traf ich Jürgen Wilms.«

»Was?« riefen alle wie aus einem munde.»Ja, unsern alten Jürgen Wilms, der übrigens, wie Sie

sich erinnern werden, und wie das, was ich bereits vorgelesenhabe, wieder ins gedächtnis ruft, ein leidenschaftlicher pho-tograph war!«

»dies und der name ruth esther Loria«, rief der malerund Filmfachmann, »Sie selber konnten es ja wohl kaumsein, der da als gefreiter getarnt per Ich schreibt. Jetzt binich aber neugierig.«

»Ja, los!« verlangte auch Arnoldis, »von Jürgen, der lautdurch den ganzen Jockey brüllte, als Hinckel reinkam – wißtihr noch, Hans Hinckel, nS-Staatssekretär, mit einem älterenHerrn und einem Weibsbild –, laut brüllte: ›Hinkel, gockelund gackeleia!‹ und gackerte wie ein ganzer Hühnerhof, bisHesselbarth ihn ostentativ zum Schweigen brachte: ›mach

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deine rechnung mit dem Himmler, Vogt!‹, woraus sich dannein schrecklicher, allgemeiner Krach entwickelte.«

»diesen frechen und fröhlichen Wilms«, sagte der major,»den traf ich im Sammellager tichwin. er hatte auch fünf-undzwanzig Jahre. nur zwei tage war ich in diesem Lagerund mit ihm zusammen. dann bekam ich wie aus heiteremHimmel meine entlassungspapiere und wurde nach Frank-furt an der Oder in marsch gesetzt. Am 30. dezember.meine Frau hatte gerade kurz vor Weihnachten die mittei-lung erhalten, daß ich fünfundzwanzig Jahre bekommenhätte, zugleich als erste und einzige nachricht, die sie über-haupt von meinem Verbleib nach dem Kriege bekommenhatte; die truppe hatte mich im Sommer 44 als vermißt ge-meldet. Im mittelabschnitt ging damals alles drunter unddrüber … Seitdem also! Und nun rief ich mit einem malevon Berlin, von Brabenders aus an … man muß auch gerechtsein gegen solche Frauen: das sind Zerreißproben, zu denender Staat, der sie veranstaltet, kein recht hat.« So sprachder major und legte seine Schreibmaschinenblätter zurecht.Wir tranken jetzt red-Label. ein paar gäste erschienen,die im roten Saal soupieren wollten. Im Barraum war nurunser tisch besetzt. In der Stille hörte man vom Büro herdas telephon klingeln. daraufhin erschien Heymann, derWirt.

»Schön’ guten Abend, die Herren!« sagte er und wandtesich an mich: »Ihr Freund aus der Ostzone hat angerufen,der Herr … Herr … Kos … Kos …«

»Koslowski!«»genau! er is in Berlin, sagt er, und will wieder bei Ihnen

wohnen. er sagt, er kommt bestimmt noch vorbei, und Siesollten auf jeden Fall auf ihn warten oder, wenn Sie die ta-peten wechseln, ja sagen, wohin Sie gegangen sind, sonstkann er nich’ ins Haus.«

»Warum kommt er nicht auf dem schnellsten Wege hier-her?«

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»War ja mein reden, aber er schien noch was Besseresvorzuhaben.«

»Wer ist Koslowski?« fragte Lepsius, »Kenn’ ich den?«»nein, kennst du nicht. Ist keiner vom alten Jockey-

stamm, wäre aber würdig, es gewesen zu sein. Ist aus Bres-lau, wo seines Fortwirkens nicht mehr sein kann. War dortam theater bis in den Krieg hinein. Heute geht es ihmnur mittelprächtig. Hat nur ein Bein. Auftreten daher vor-bei.«

»peter Koslowski ist aber auch verbockt«, sagte Arnoldis.»Ich habe ihm schon manchen Synchronauftrag zuschanzenwollen, aber nie war er zu erreichen. die post braucht al-lerdings in der Zone immer eine halbe ewigkeit … Be-gabter Schauspieler ohne Frage!«

»mensch!« rief plötzlich der Wirt, der den major schoneine Weile angestarrt hatte. »Ja was! Seh’ ich richtig? HerrLepsius! na das is aber ’n ding! donnerwetter! es gießtübrigens draußen. Wo kommen Sie denn mit’m mal her?Aus’m Westen? Wo haben Sie denn gesteckt die ganzenJahre?«

»Sie werden lachen, Herr Heymann, er kommt aus ruß-land«, sagte ich.

»Was? na gibt’s denn sowas! Aus rußland? Fix, machmal ’ne or’ntliche Lage zurecht: ein, zwei, drei, vier, fünf …mir nich’ so stark! du weißt, ich trinke heute nischt. Wasmöchten Sie denn gern? mensch, Lepsius! na sowas!«

So ging das noch eine Zeitlang fort, bis Heymann an-derweitig in Anspruch genommen wurde. das Lokal fülltesich nicht weiter. die Kellner standen tatenlos umher. Ichhätte Hans-Joachim gern etwas Lebendigeres vorgeführt.deshalb frag te ich, ob wir nach gehabter Lektüre denSchauplatz wechseln sollten, oder ob er sich hier einiger-maßen aufgehoben fände?

»Wie sagte deine schöne Freundin gay: ›Finden Sie eshier noch wahnsinnig komisch?‹« war seine Antwort.

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»Ja, so sagte sie. das Verschen stammt von unserm ge-meinsamen Zahnarzt. es fallen einem die ältesten Belang-losigkeiten ein.«

»Und was macht dieser Zahnarzt jetzt? Wie hieß er dochgleich?«

»der macht nichts, der ist tot«, sagte ich. »Verdorbenund gestorben, elendiglich beim russeneinmarsch. die klei -ne dings, mit der er zusammenlebte – du weißt schon –,hat ihn in der papiertüte zur ewigen ruhe gebettet, ganz al-lein … du, so war das damals, 45! das Haus motzstraße istauch halb weg. Särge gab’s nicht.«

»Und was ist aus dem schönen mädchen gay geworden?«»gay ist Anfang 39 nach Amerika«, sagte ich.»na und?«»Was heißt: na und? es geht ihr gut drüben. Sie hat Care-

pakete geschickt.«»Was ist denn das nun wieder: Care-pakete?«»etwas großartiges. erklär’ ich dir ein andermal!« ant-

wortete ich.»Kinder, wenn ihr vorhabt, sämtliche Bekannten durch-

zugehen, kommen wir zu Jürgen Wilms’ tagebuch nie imLeben«, stellte Arnoldis fest.

daraufhin nahm Lepsius wieder das Wort:»Ich hatte gerade noch gelegenheit, Jürgen mitzuteilen,

daß ich entlassen würde. Wie fremd können menschen ein-ander betrachten müssen! Um irgend etwas zu sagen, sagteich: ›du weißt, Jürgen, papiere selbst nach Frankfurt an derOder sind noch keine entlassung.‹ er antwortete bloß: ›dukommst raus. Ich seh’ das.‹

er gehörte zu einem transport unseliger Leute, die esschon einmal bis in die Frankfurter entlassungsmaschinerie,ja bis ins Quarantänelager gebracht hatten und die dannüber nacht ohne grund – wenn auch nicht ohne Sinn –wieder nach rußland abgingen. Zu denen gehörte er. Unddas war schon mehr als zwei Jahre her.

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›Was hast du denn bloß angerissen‹, fragte ich, ›daß siedir fünfundzwanzig Jahre aufgeknallt haben?‹

›Ach gott, die Sowjets haben doch Ansichten wie aus derälteren Steinzeit. die lesen Fabrikbesitzer im Soldbuch, unddas reicht dann. es ist alles halb so kalt‹, behauptete er nacheiner Weile und machte sich mächtigen mut. ›Fünfundzwan-zig! erstens sind sie noch nicht abgedient, zweitens werdensie vorübergehen. die Jahre bisher sind ja auch irgendwiehingegangen.‹ In seinen Augen flackerte es. Wir trennten uns,wir wohnten nicht im selben Block. ›meld’ mich man schonan!‹ hatte er noch gesagt. ›Und mach’s gut und, wen du triffst,grüßt du!‹ So sehe ich ihn noch stehen und mit seinem ma-geren gesicht grimassieren. das sollte Lachen sein. Und ichwurde tatsächlich entlassen, I a zuletzt bei der 27. pd, willsagen, daß solche dienststellung wenigstens vom russischenStandpunkt Verschulden bedeutete und vielleicht überhauptVerschulden bedeutet. Ich lasse das dahingestellt …

er wurde nicht entlassen. Ich weiß nicht, was er war undbei was für einem Haufen, aus seinen tagebüchern, die ichhier in Auszügen vor mir habe, geht das nicht hervor. esmuß aber sein truppenteil, zur Zeit dieser Aufzeichnungenwenigstens, ein normaler Verein gewesen sein, eine schwereKompanie vermutlich, und sein dienstgrad wohl auch nichtvon schuldhafter Höhe. nix partisaneneinsatz, Landesschüt-zen, Kriegsgefangenenkommandos oder sowas, was die Iwansmächtig daneben schätzen.

Ich habe mummi gefragt: Fabrikbesitzer ist er praktischnie gewesen. er übernahm 1939 von seinem Onkel, der ihnja an elternstatt erzogen hatte, wie Sie sich gewiß erinnernkönnen, die Fa. Wilms & Boedecker, Kühlanlagen, als Al-leinerbe. Was diese Firma während des Krieges hergestellthat, entzieht sich meiner Kenntnis. U-Boot-geschichten?Wäre immerhin möglich …«

»das kann ich Ihnen genau sagen«, unterbrach Arnoldis.»der alte Kalb, nicht mummis Sozius, sondern der papa,

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war dort im Aufsichtsrat. daher weiß ich, daß Wilms &Boedecker, Oberschöneweide – eines der ersten größerenWerke, die ausgebombt wurden – damals noch kein rü-stungsbetrieb war, was es später sicher geworden wäre,wenn’s noch gestanden hätte. es stand aber nur noch einekleine eisengießerei. erst ganz zum Schluß, ende 44,wurde mit Aplomb ein Wiederaufbau begonnen, wer weiß,aus welchem kühlen grunde. Und so fiel den russen einefunkelnagelneue Anlage in die Händchen, die sie umge-hend abmontierten. mit abermaligem Aplomb wurde sieanno 48 wieder aufgebaut, vom letzten Lichtschalter auf-wärts, der gerade zuvor hatte demontiert werden müssen.das Werk ist heute volkseigen, versteht sich … das weißich alles so genau, weil ich ja 43 meine Wohnung verlorenhatte – in der nürnberger – und auf Urlaub dann beiKalbswohnen konnte, deren Haus in Westend stehen ge-blieben war, … was allerdings dann wieder nach sich zog,daß die engländer das Objekt beschlagnahmten und na-hezu alles, namentlich die schönen porzellane, – sagenwir – bis heute unauffindbar machten. Ich habe Sie unter-brochen, Lepsius, um anzudeuten, was hier unterdessenso gespielt worden ist. Hier mußten Sie nämlich Spaß ver-stehen und müssen es noch. Aber weiter und genug mitden personalien!«

»Jürgen Wilms jedenfalls«, nahm Lepsius wieder das Wort,»war also a) weder Fabrikbesitzer, es sei denn in den papierendes testamentsvollstreckers, denn er wurde unmittelbar imAnschluß an seine Zeit bei preußens zur Ableistung einerübung nach Litzmannstadt beordert, das noch gar nichterobert war und folglich noch Łodz hieß wie jetzt wieder.Arbeitsdienst, glaube ich, hatte er auch noch abdienen müs-sen. Also weder Fabrikant, noch b) gar Besitzer eines rü-stungsbetriebes, noch c), wie Sie bestätigen werden, irgend-wie pg oder SA-mann. Alles völlig undenkbar, noch d), wasviel gewichtiger wiegen sollte, etwa innerlich an der Sache

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irgendwie beteiligt, es sei denn in der rolle des lachendenSpötters. Kurzum, meine Herren: einmal fehlt dem russi-schen Strafvollzug jeder echte grund und eigentlich an des-sen Statt auch jeder Vorwand. Zum andern wissen wir ihnmoralisch ohne Schuld …

Wundern Sie sich bitte nicht! Ich gehe von der primitivenFragestellung aus: Hat er irgend etwas auf sich geladen, daßes ihn dermaßen hart getroffen hat? … Ich sehe keineSchuld. Seien Sie aber versichert, daß ich mich ebenso oftnach meinen eigenen Verdiensten gefragt habe, seit ich wie-der frei bin und hier sein darf … und ich sehe keine!«

»tja«, machte Arnoldis, »da gibt es tausend dinge, diekein mensch jemals klären wird.«

»Sicherlich ist die Fragestellung schon als solche unzuläs-sig«, bemerkte Hesselbarth und strich sich über die Stirn.

Lepsius zündete sich eine Zigarette an und sagte:»Bevor ich von tichwin nach Brest-Litowsk und Frankfurt

in marsch gesetzt wurde, hatte er mir noch durch einenKumpel ein winziges Bündel notizbüchlein in die Barackegeschickt mit der Bitte, sie für ihn aufzuheben. möglichkeitnachzusehen, um was es sich handelte, war keine. es gelangmir, die vier Heftchen durch die Filzungen, die noch zu be-stehen waren, zu retten … Weiß, was du sagen willst, Schott!risiko, ganze entlassung in Frage gestellt, wenn irgendwasvon Belang darin gefunden worden wäre! Ich leugne nicht,daß sich eine Stimme in mir meldete: schmeiß das Zeugweg! Aber dann kam ich mir doch auch wieder höchst schä-big vor, als angehender entlassener gegenüber einem mitfünfundzwanzig Jahren … Ich will Sie nicht auf irgendetwas spannen, was ohne pointe geblieben ist. Ich nähte dieBüchlein in eine meiner manteltaschen. punktum! Im La-zarett, eh … im Krankenhaus in Bremen letzthin las ich sie.es sind einzelne, meist mit Bleistift geschriebene Blätter,halb ausgelöscht, zum teil beschmiert oder sonstwie abge-rissen, einige, die sich, soweit man entziffern kann, auf War-

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schau beziehen, bestehen leider nur aus verklebten Fetzen.Alles Lesbare habe ich wörtlich übernommen. meine Zutatist nur die Auswahl und die Anordnung unter einem be-stimmten gesichtspunkt. Von den photographien existiertkeine … dabei fällt mir ein: ich fand doch gestern, weißgott, noch eine photoserie bei mummi, die Jürgen mal aufeiner party bei Bibienas gemacht hat, wir alle mann ver-sammelt und allesamt wie Kadetten aussehend. Und dachtendamals wunderwas! Aber Kadetten denken eben immerwunderwas. das ist es. Im übrigen wimmelt es in Jürgensmanuskript von Vokabeln, die er offenbar voller eifer sam-melte, wo er ging und stand. diese Seite war mir neu anihm. Ich beschränke mich in meinem text aber nur auf An-deutungen davon. Hören Sie also weiter:

»Ich nehme Abschied von maciejowice. Ach liebes Kaff!der mensch ist etwas rührendes und lebt nun – seinereinige Hundert – in maciejowice. man sollte ihn dabeinicht stören, wenn er nun so ist. Aber mir scheint, man hatnicht genügend Sinn für das Kleine, nicht genügend ehr-furcht. Ach, und der Sozialismus will die Zeit des kleinenmannes sein, aber er opfert ihn in Hekatomben auf wiekeine Zeit vor ihm.

der Himmel wieder bleu Versailles, der mond noch nichthoch. Aber der Ordnungsdienst hat schon seines Amtes ge-waltet. Hinten stehen zwei von den Aufsehern an der rat-hausecke. neben mir flüstert wieder das winzige rinnsal inder gosse, und über mir huschen die Fledermäuse. Allesschweigt. Bleu Versailles.

doch dann tapfen zwei bloße, kleine Füße eilig hintermir über die warmen pflastersteine. Ich drehe mich um.Vor mir steht ein kleines, jüdisches mädchen und sieht zumir auf. Scheu; will an mir vorbei. es ist ein gutes, leises,weiches geräusch von auftretenden bloßen Füßen. ›Waswillst du?‹, frage ich. die bräunlich graue Haut um den

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mund des Kindes fältelt sich; es ist ein Lächeln. Jetzt: dasKind spricht etwas. etwas mit Kehllauten. es will etwas.›Ich verstehe dich nicht, mein Kind‹, sage ich. ›ScheenerHerr aus daitschland …‹, hat es gesagt. Aber was weiter? eszeigt auf ein Haus. ›Apteka?‹ frage ich. das Kind schütteltdas Köpfchen mit den halblangen, ungebundenen, schwar-zen Haaren. ›Kolo‹ verstehe ich oder ›Kowo‹. Ich zucke mitden Achseln. Himmel, daß man keine Sprache kann! dannmacht das Kind ›Och!‹ und rennt ganz schnell über denplatz. das farblose röckchen flattert. das gute tapfen derbeeilten Füße entfernt sich von mir. es rennt auf das Hausneben der Apteka zu, das mit der gipsernen Schale ohnependant.

Aber da! da hat es einer der beiden Sbirren erspäht. erstartet stumm, wie ein raubvogel sich vom Ast löst. SeinLaufschritt echot von den schweigenden, bleichen giebeln.er schneidet dem fliehenden Kinde den Weg ab, unweiger-lich. Wie der Sperber auf die taube! Ach die kleine, grauetaube! der gummiknüppel trifft mehrfach auf das zierliche,stolpernde Bündel. Zwei kleine Schreie, Kinderschreie. Undzwei kleine echorufe von den verschlossenen, beinfarbenenWänden rings um den tatort. dann entrinnt’s in den Lau-bengang hinein. das Haus neben der Apotheke verschlucktgeräuschlos das taumelnde geschöpf.

Ich bin auf den platz gerannt. Ja, wirklich, ich bin es.Halt! habe ich gerufen. die beiden Schergen sind außerSicht geraten. Hier etwa muß er auf die Kleine eingeschlagenhaben. Ich suche die Stelle; suche mich. Ob sie wohl wollte,daß ich sie über den platz bringe, die Kleine, die sich ir-gendwo verspätet hatte? daß ich sie schütze? … esel ich,esel! Und wenn sie’s nicht gewollt hätte oder nicht gewagthätte, zu wollen, ich hätt’s tun müssen! Auch so! Von selbst!Himmel ja, ohne besondere Aufforderung …

Aber so bin ich. Stehe bloß immer da und gucke; und esist immer zu spät, etwas zu tun. Und mein dämliches Halt!

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habe ich geschrien, als schon alles geschehen war. So binich. Und sie hat gesagt: scheener Herr aus daitschland!

Ach, und geblutet hat die kleine taube! tatort. eineschmerzensreiche Kette von verspritzten, dunklen Bluts-tropfen über das pflaster bis zu der Schwelle des Hauses ne-ben der Apteka. dort rührt sich nichts mehr. Alle Fensterlä-den sind verriegelt um den ganzen platz. Kein Lichtschein.Und ich hätte das verhindern können, der schöne Herr ausdeutschland!

ruth esther Loria! Ich hätte bei dir bleiben müssen. gut,es war devisensperre; aber gerade als die Schwierigkeitenbegannen, da hätte ich bleiben müssen. Und ich habe nichteinmal deinem Bruder geholfen, seine Anzüge nach Belgienzu schmuggeln, obwohl ich sie leicht als meine eignen hättedeklarieren können. er hatte mir nicht nahegelegt, das zutun; aber es lag nahe. es lag so nahe, und ich tat es nicht. Istes mir wirklich nicht eingefallen? … es ist schwer, anständigzu sein; ich bin’s nicht. Und das silberne Zigarettenetui habeich genommen. er sagte: zur erinnerung, aber er wird ge-meint haben für den transport der Anzüge, die ich nichttransportierte.

Ich werde das etui in dem Hause abgeben. Ich werde sa-gen: für die Kleine, die geschlagen worden ist. es ist Silber.Ich klopfe. nichts rührt sich. dann kommen ein paar Un-teroffiziere von uns um die ecke. Hat sich in dem Haus wasgerührt? nichts! dann sagt Jaletzki: ›Sie wollen wohl wiedermal ’n paar Hemden auf die jüdische tour säubern lassen.mensch, Wilms, und daß Sie den Wachhabenden machenheute, interessiert den Herrn wohl weniger. Sehen Sie bloß,daß Sie zur Kompanie kommen! Sausen Sie, mann, daß dieSocken qualmen!‹

›Jib bloß nich so schauerlich an‹, sagte ich, aber zur Kom-panie mußte ich ja denn wohl. Aus dem rauchbraunenSaum, den der Himmel unter seinem verwunschenen Blauträgt, ist der mond heraufgerückt. Regardez la lune! La lune

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a l’air très étrange. On dirait une femme qui sort d’un tombeau.Elle ressemble à une femme morte. On dirait qu’elle cherchedes morts. … es ist Vollmond, breit und rot in dem braunenHorizont. Oskar Wildes Salome: Seht die mondscheibe! Siezeigt sehr fremdes gesicht. Wie eine Frau, die aus grüftensteigt, beinahe so. Wie eine Verstorbene. Wie eine, die totesucht, beinahe so …

Ich wurde 37 eingezogen. Wie lange liegt das Zivillebenschon zurück? Warum mag Wilde eigentlich die Verse fran-zösisch geschrieben haben? ruth esther konnte manchmalaussehen wie eine Zeichnung von Beardsley. Aber als Kindhat sie nicht so ausgesehen. da hatte sie halblange, unge-bundene Haare, auf einer photographie.

Wecken Küche 0 Uhr 30, Kompanie 2 Uhr. BesondereVorkommnisse: keine. mond im Juninachthimmel, blankund weiß. die getünchten Blockhausscheunen sind wieam tage; jenseits des Flusses grasen Kühe. die Käuzchenrufen sich. Um kurz vor 1 kommen die postholer vom re-giment …

Hier ein Brief von Jutta:

Lido, Venezia, Hotel excelsiorJ.v.p. den 6. Juni 1941

Lieber Wiwi!Zu meinem heutigen geburtstag wirst du mich nochin Berlin vermutet haben. Wir sind aber schon frühergefahren, und mutti hatte sich das so nett gedacht,daß wir dazu in Venedig sind. die reise kam nuneher, weil das mit den papieren plötzlich klappte. Wirhaben heute nacht gefeiert, weil wir morgen weiterwollen. es war zu himmlisch: zunehmender mondüber der blauen Adria. das Hotel hat einen Steg weithinaus. todschick. es lief ein Film mit Heinz rüh-

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mann. Süß, sage ich dir. Weißt du, was ich gedachthabe, du siehst eigentlich genau so aus wie er. muttifand das auch. Und dann haben wir auf der Hotelter-rasse eine Flasche Heidsieck getrunken, der himmlischschmeckte, aber hier kaum teurer ist als unser deut-scher. es sind noch nicht viel Leute da, was schade ist.die Italiener haben noch keine Saison, obwohl dasWasser schon für unsere nordischen Begriffe kochendheiß ist. Ich habe gleich den ersten tag gebadet, na-türlich mit meinem neuesten Badeanzug: türkisblauund gelb, zweiteilig. er sieht prima aus. mutti sagt,türkisblau wäre meine Farbe. Ich glaube, sie hat recht.Solche Badeanzüge sollen hier verboten sein von wegender Züchtigkeit. es hat aber keiner was gesagt. Aber eswar auch fast keiner am Strand. man müßte natürlichganz braun gebrannt dazu sein, das bin ich natürlichnoch nicht.Ich bin jetzt ganz schlank geworden und wiege 1,5pfund weniger als im Winter. das kommt vom reiten.Ich darf nicht so viel schwimmen. das macht dick.Wie wir auf der terrasse saßen, ohne Herrn natürlich,dauerte es nicht lange, und es näherten sich zwei ita-lienische Offiziere. du, die sahen pfundig aus, großund schlank, viel größer als ich von Italienern gedachthatte, in dollschicken Uniformen, und tanzten prima.du, da können unsere Offiziere aber nicht mit. Unddu natürlich, mein armer kleiner Obergefreiter, schongar nicht. Bitte, bitte, liebes Wiwilein, nicht böse sein.du mußt dich jetzt aber mal ordentlich anstrengen,daß du es zu was bringst. Sieh mal, als ihr die ollenpolen besiegt habt, da hast du doch gleich als einerder ersten das eK II gekriegt, und warst doch bloßacht tage dabei und dann gleich ins Lazarett. Und ichwar so stolz auf dich. Vati hat neulich auch schon ge-fragt vor unsrer Abreise, wie denn das wäre mit dir.

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na, es war ja bloß im Scherz. du weißt, er neckt michimmer gern. Aber ich möchte es dir doch sagen. nichtwahr, das darf ich doch?natürlich ist die Hauptsache, daß ihr alle gesund nachHause kommt. Aber wenn ich so die anderen sehe inden Illustrierten, immer die reihe der neuesten ritter-kreuzträger. du, da sind pfundskerle dabei, allerdingsfast alles Luftwaffe. dann vergleiche ich so die vielenFotos, die ich von dir habe, und finde, du siehst auchso aus, daß du gut hineinpassen würdest. Ich stell mirdann die mädchen vor, die dazugehören, wie die sichin die Brust werfen können und sagen: das ist er.Ich weiß, du lachst mich jetzt aus und sagst, wie duimmer sagst: mein liebes, liebes dummchen. das istimmer sehr süß, wenn du das sagst. Und ich weiß:ich bin ja auch kein Kirchenlicht. nie gewesen und inmathe schon gar nicht, und geschichte schwach. Aberich fühle ganz genau, daß du etwas tun könntest, wasdir keiner so leicht nachmacht. Aber ich kann nichtverstehen, warum du sowas nicht tust.Aber schön wäre natürlich auch, wenn du gar nichtweg sein brauchtest, sondern UK gestellt wärest unddeine Fabrik leiten würdest, und ich könnte dich im-mer, immer sehen. Und dann könnten wir auch indeinem Wagen fahren, weil du ja dann dürftest. mei-ner wird nicht eingezogen, aber liegt natürlich nachwie vor still. Ach, ich hab ihn ja bloß drei monate ge-fahren, den Süßen, nach dem Abi und dem dußligenArbeitsdienst, wo ich mir die ganze Figur verdorbenhabe. Aber Herr v. Kalb, der vor zwei Wochen bei unszu Abend aß, meinte, da wäre wenig Hoffnung, weilWilms & Boedecker kein rüstungsbetrieb wäre. Abervielleicht irrt er sich.du, mach doch da mal was! Und dann komm wiedernach Hause! Ach bitte, komm’! denn manchmal denke

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ich plötzlich, daß eine solche lange trennung gar nichtgut ist und daß ich dich besser verstehen könnte,wenn du hier wärest und mir alles erklären würdest.Ich habe manchmal solche Sehnsucht und auch Angst,daß du mich nicht mehr liebst. Und ich hab dich soschrecklich lieb, wenn ich auch bloß dein liebesdummchen bin und, ehrlich gesagt, oft gar nicht ver-stehe, was du alles weißt und denkst und sagst. Aberdu siehst, ich bilde mich und schreibe mir alles ganzgenau auf, was ich hier sehe. mutti sagt zwar, dasstünde alles im Baedeker schon drin und das genügte.Ich weiß aber, daß ich mir alles leichter merken kann,wenn ich es einmal aufgeschrieben habe. mit den Fotosmache ich es jetzt genau so wie du. Ich habe hier üb-rigens eine deutsche Contax Karat gesehen, für 24X36Film und Kinofilm. die war billiger als in deutschland.Verstehst du sowas? Komischerweise haben sie michan der riva degli Schiavoni nicht knipsen lassen. gleichkamen sehr höfliche gendarmen und sagten irgendetwas, das hieß so ähnlich wie: ibito! Kann das sein,gibt es so ein Wort? na, jedenfalls war es verboten.Seitdem will mutti es mir auch nicht mehr erlauben.Sie ist immer so ängstlich.So, jetzt muß ich leider aufhören. mutti will mit mirrüberfahren, einkäufe machen in der Stadt. Wir wollenauch drüben essen. Hier ist das alles lange nicht soeingeschränkt wie bei uns, und es gibt auch Kaffeehintenrum und tee überhaupt frei. Und geflügel, Le-bern, Lungen, nieren und so etwas ist auch frei. Ichhabe gestern schon himmlische Schuhe gesehen. Al-lerdings nur kleine größen. Hoffentlich finde ich was.größe 40 ist eben schlimm. du sagst ja zwar, es störtedich nicht; aber es ist gräßlich, so große Füße zu ha-ben. Und Ledertäschchen gibt es hier: geliebt! Seidesoll nicht so zu haben sein. Aber unsre reise fängt ja

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auch erst an. Lebwohl, du Lieber, und laß dir’s gutgehen. Ich frage mich vergeblich, was ihr eigentlich inpolen macht. es hieß in Berlin, es stünden schon trup-pen auf russischem Boden. du hoffentlich nicht, dennpolen geht ja wohl noch immer irgendwie. Und Vatisagt, mit rußland haben wir ein militärbündnis; dageht sowieso alles in Ordnung.Lebewohl! Ich warte immer auf dich, schon deshalb,weil ich so etwas wie dich schon nie, nie wieder findenwürde. Immer

deine Juju

ps. den Brief gebe ich per Luftpost. Hier sind komi-scherweise deutsche Flieger, habe ich entdeckt. In Zivil.die wollen den Brief befördern. eine genaue Adressekriegst du baldigst. Ich denke, wir bleiben bis Oktober.Jetzt muß ich Schluß machen. mutti schimpft schonnebenan.

J.

gora-Kalwarja, den 13. mittags.(geschrieben vor pilawa.)

Auch hier versammeln sich Kinder um die Feldküche. UnserKüchenbulle kocht schon immer etwas mehr, weil es ihmSpaß macht, an Kinder auszugeben. ›Ich kann das gar nichab, all die lütten Kinderchens!‹ sagt er. er hat selber vier.Auch Weiber finden sich ein. (photo 96–101 p.)

riesenkrach, weil ich einem Judenjungen auch etwas ge-geben habe. der schlich sich abseits herum und traute sichnicht mit in die reihe der polenkinder. er muß schon ge-wußt haben warum. ›Komm!‹ rief ich. er lehnte an derScheunenwand. Sah mich fragend an, aber wie. der Kopfwirkte in der Schädel- und Augenpartie entschieden zu groß,die braunen, feuchten Augen geradezu übergroß unter derzottligen pelzmütze; Kinn, Backen und mund dagegen zu

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klein vor lauter elend und Kummer. Verkümmert wörtlich.die Backen so dünn, daß man meinte, das dunkel dermundhöhle durchschimmern zu sehen. nein, vielmehr:man sah es durchschimmern. ›Komm nur her, du kriegstwas!‹ rief ich. er kam über die Straße geschwankt, nachdemer sich von dem Halt der Wand abgelöst hatte. Um ihnschwankte in einzelnen Strähnen ein Lumpengehänge vonmantel oder männerjacke, wie wir es nicht auf Vogelscheu-chen kennen. Ohne Ärmel übrigens. die zerlodderte Hosestellte seine kleine Jungenvorderfront so gut wie ganz bloß.ein Hemd hatte er nicht. Ja, er schwankte; seine Beine tru-gen ihn nur mit mühe, seine dreißig oder vierzig pfund nurmit mühe. er konnte zehn Jahre sein. Judenkinder sehenhäufig etwas älter aus. ruth esthers Bruder sah auch etwasälter aus als Kind.

Wie sollten ihn seine Beine auch tragen. die waren sodünn wie Stecken, graue Stecken und nur an den Knienknollig wie totengebein. Vor Hunger und gier und er-niedrigung wirkte er wie gestört. Schwerkranke wirken oftwie geistesgestört.

Ich gab ihm eine halbe Büchse Blutwurst. er hat hastigmit den Fingern hineingegriffen, noch während er zurück-schwankte an seine Wand, und begonnen zu fressen. Imnacken zwei bleistiftdicke Bänder zwischen dem ringwalldes zerschlissenen Jackenkragens und den unsäglich verfilztenHaarfransen … die Bänder halten den zu großen, wackeln-den Kopf. er steht an der Wand und frißt. Frißt mit denschwarzen Fingern in sich hinein, frißt um sein Leben, hattagelang oder wochenlang oder wer-weiß-wielange nichtsgekriegt. Hat niemanden, der ihm was gibt.

Kommt der Uffz. Jaletzki: (von weitem) Aha! … Aha! HerrKommerzienrat Wilms! Herr Kommerzienrat speisen die Juden. Was? … Belieben hier dreckige Judenlümmel zu spei-sen. Was? … Wie? nie was gehört … von einstellung …deutscher Soldaten zum Judentum. Was? … Jehn Se hin!

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nehmen Se dem Lauser die Büchse wieder ab … Jaja! JehnSe! Jehn Se! … Und der zögert noch? Is denn sowas drin?!

Kommt Fldw. Hapke, Franz Hapke, gerüstbauer, BerlinO: na wat denn, wat denn! du hast woll zu lange in den„Stürmer“ jekiekt, hier son Wind zu machen. Wat jeht dirdenn der eene Kriwatsch da an? Wieviel tage jibste dendenn noch? Haste dennkeene Oochen? Und die olle Büch-senwurscht ist doch sowieso nur bedingt tauglich für denmenschlichen gebrauch. Laß doch den det Zeug unter dieeingeborenen mischen. Wat schad’t dir denn det?

Jaletzki: … Sind Sie noch nicht da mit der Büchse? Wie?Was?

Hapke: nu mensch, nu mach es aber halblang! die deut-sche Wehrmacht is keene parteischule, und der Zug Hapkeinfoljedessen ooch nich. Und wenn de noch wat wissen willst,denn dreh mal ne Bieje durch’t Warschauer ghetto. Wenn’tdir da nich grausen tut, wenn du det elend ansiehst miteigene Oochen, wie se da verrecken auf de offene Straße,nich eener wie der hier, sondern dutzende, sage ick dir …

Lt. Hahneberg und Hpt. rahn als dei ex machina (exgefechtskübel) und die halbe Kompanie.

Jaletzki: Herr Leutnant, das ist Befehlsverweigerung. Ichhabe dem Obergefreiten Wilms wiederholt Befehl erteilt,eine Büchse …

Hahneberg: na nun erst mal Beruhigung. Ich denke, wirwerden vielleicht schon in allernächster Zeit uns in wichti-geren Befehlen zu üben haben.

Jaletzki: Außerdem hat er deutsche Wehrmachtverpfle-gung an Juden zur Verteilung gebracht. das ist …

Hahneberg: Feldwebel Hapke, sorgen Sie beim Spieß da-für, daß der in Frage stehende Herr Obergefreite zwei eh-renwachen aufgeknallt kriegt. Wegen obstinaten Verhaltensauf dem Vormarsch. Verstehen Sie, Wilms, Befehle werdennämlich unter anderem bei preußens gloria ausgeführt.Was Sie sich dabei denken, danach fragt Sie keiner. Im üb-

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rigen aber, wo Wilms seine Verpflegung läßt … na ja, Schluß,tärämtätä! Schluß und Fertigmachen!

rahn (im Wagen stehend): Alle mal herhören! In derHdV I rühmlichen gedenkens – Hapke nächste Kompa-niebelehrung! …

Hapke: Jawoll, Herr Hauptmann!rahn: … steht als erster grundsatz unverbrüchlich ver-

ankert, das Ziel jeden Kampfes ist, den gegner bis zurKampfunfähigkeit zu bekämpfen. Allgemein verständlich?

Alle: Jawoll, Herr Hauptmann.rahn: Von Aushungern steht nischt drin, Unteroffizier

Jaletzki. Allgemein verständlich?Alle: Jawoll, Herr Hauptmann.rahn: Und Sie, Wilms, wenn Sie wiedermal Ihre chari-

tative Ader haben und an Juden etwas zu verteilen beab-sichtigen, dann sehn Sie gefälligst zu, daß Sie ’ne Büchserindfleisch erwischen, Sie tränentier, und nicht Schwein.noch eine Wache wegen religionsfrevels. Ab! …

Alle: (riesenhaftes gelächter)rahn: Hapke, veranlassen Sie, daß die tarnung überall

nochmal verstärkt wird, auch in den andern Zügen. Siehtja aus wie ’ne bessere Herrenpartie! dann gruppenweise bispilawa vorziehen. Waldrand wie besprochen. erwarte Siedort. Horridoh! Und Schluß mit dem Heckmeck!

garwolin, den 17. Juli 41.Von Jutta ein Brief aus rom. Auf der Landkarte entfernenwir uns immer mehr voneinander. Würden über den näch-sten Weg: Krakau, Wien, triest usw. doch immerhin 1500km sein, meiner Schätzung nach. entfernen? nur auf derLandkarte? …

garwolin, das ist eine improvisierte Siedlung verglichenmit maciejowice oder gar mit gora-Kalwarja. die hattenbeide doch etwas Österreichisches oder Schlesisches, was inpuncto Kultur ja so ziemlich auf eins hinauskäme: eine ge-

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wisse – hier freilich unbeholfene und plumpe – barockenote. der schüchterne Versuch, es auch so zu machen wiedie großen und führenden Länder im Westen, auch so zubauen z. B., der hat etwas sehr rührendes. das nicht-ge-lungene kann ergreifender sein als das gelungene. manspricht von göttlicher Kunst, wenn sie meisterhaft gelungenscheint. das nicht-gelungene ist menschlicher.

garwolin, das ist also sehr menschlich; das ist ein talzwischen weitläufigen Hügeln und ein Fluß mit den üblichensilbrigen Weiden. ein Fluß, der eigentlich nicht richtig fest-liegt, sondern innerhalb seines ungeordneten Bettes balddiese, bald jene rinne benutzt. eine Handvoll Häuser zwi-schen die Weidenbäume geduckt und ein paar pappeln, diedas ganze überragen, voller pirole. Auf den Wiesen Störche.ein rynek mit Schildern: Schaul Zygmaręger, Lew Feigen-baum und so fort. eine ziemlich moderne Schule, die hochliegt und weit außerhalb. Zwei Silos.

Jaletzki hat von Hahneberg den Auftrag bekommen, Au-tosicherungen einzukaufen. es bleibt ihm nichts erspart; ermuß sie bei Loiser Kisz, elektryczny inżenier, kaufen. So istHahneberg. es muß sowieso noch ein Wagen zum HKpnach Warschau. der hätte die Sicherungen auch mitbringenkönnen. Aber nein! Und dabei ist Hahneberg pg.

garwolin, den 18. Juni 1941Fldw. Hapke erinnerte wieder daran, wie vor einem Jahr –ja, ziemlich jetzt vor einem Jahr – paris kampflos ausgespartwurde und wir bei guderian damals Vorausabteilung mach-ten und westlich paris über die Seine gegangen sind. Ichhabe das damals auch schon eingetragen, aber alles ausFrankreich ist bei Belgrad verbrannt. Wie uns in Four-queux/Seine et Oise plötzlich ein ganzer Haufen gefangenerzulief; alles marokkaner. gefangene kann man eigentlichnicht sagen, denn wir hatten sie nicht gefangen. Sie kamenvon selbst und hatten vergessen, die gewehre wegzuschmei-

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ßen. Und dann sollten sie von der Kompanie verpflegt wer-den, denn sie hatten offenbar mächtigen Hunger. Und wirschwammen in Beuteverpflegung und gaben ihnen irgend-welche Büchsen. Aber komisch: die Kerle weigerten sich.›Wilms, komm, stoß den’ mal hier Bescheid!‹ sprach Hapke.Aber mein Französisch versagte, denn sie vermochten sichnicht in dieser Zunge auszudrücken. Und dann kam vonungefähr ein schmächtiger, aber sehr lebhafter alter Herraus einem Hause gestürzt, Spitzbart, Baskenmütze, in derAnnahme, es läge an uns, daß es zu keiner Verständigungkäme, versuchte also erst gar nicht mit uns zu sprechen,sondern führte einen wahren tanz vor uns auf, wobei erbald grunzte wie ein Schwein, bald kotau-artige Verbeu-gungen ausführte, bald, die Arme und Hände zu einer Artgehörn erhoben deutlich ›muh!‹ machte.

›na wat denn nu?‹ sagte Hapke machtlos. ›die eenen essennich, und der tobt hier rum wie ’n Wilder vor seine Besiejer!‹Und dann plötzlich Oblt. rahn, der bis dahin im Kübelüber der Landkarte gesessen hatte: ›na ich denke, der gro-schen wird ja wohl allmählich fallen, ihr Helden! Habt ihrschon mal gehört, daß muselmännern das essen von Schwei-nefleisch untersagt ist?‹ darauf Hapke zu den marokkanern:›Allah ill Allah! na bitte, det vastehn se auf Anhieb, undmohammed rasul’llah. Sehn Se, Wilms! So spricht Ihr Feld-webel. da könn’ Se stets wat lernen!‹ Allgemeines gelächtereinschließlich der rechtgläubigen und des alten Herrn, dersich die Hände rieb – und Umtausch der Büchsen in rind-fleisch. der Spitzbart erlaubte sich bei Mr. le capitaine dieAnfrage, ob ein gläschen Wein genehm wäre, und rief insHaus: ›Mme. Chaumonard, du vin rouge, s’il vous plaît, pources sieurs-ci!‹ er hatte ein Vorgärtchen voller blühender rosen,in deren mitte eine Katze aus porzellan schlummerte. erwar Orientalist an der Sorbonne gewesen, lebte jetzt im ru-hestand, so erfuhren wir, liebte und verteidigte seine Söhneder Wüste offenbar mit allen mitteln und schien im Umgang

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mit wilden Stämmen erfahren, auch solchen aus Frankistan.madame war – als sie den Wein ins Freie brachte, sah mandas – eine Lieblingsfrau des propheten, eine Aïscha bei Jahrenfreilich. Sicherlich hatte er die glutäugige Frau einst aus seinerWahlheimat mitgebracht …

täuscht das? der Krieg im Westen hatte eine andereStimmung. darf man das sagen? nicht, daß er nichtschlimme Schmerzen brachte, wo er sie brachte. Aber es ist,als wenn jetzt alles wie von einem gift durchschlichenwürde. täuscht das? Ungenießbarer, grauer? Und dabei istnur gesiegt worden seitdem: Frankreich, Jugoslawien, nor-wegen war schon vorher. Woran liegt das? es ist alles farblosergeworden, so als hätte sich der Himmel bezogen, Stundenbevor das Wetter umschlägt. Liegt das daran, daß wir denWesten mit dem Osten vertauscht haben? Ist der Ostentrauriger? … West-östlich:

Zwar in diesem duft und garten tönet Bulbul ganze nächte; …

Hier singen viele nachtigallen und singen wie anderswo auch,die nachtigallen von garwolin. Was will man mehr? …

mahoms gattin auch, sie bauteWohlfahrt ihm und Herrlichkeiten …

die Verse meinen aber Chadidscha, die alte, und nicht Aï-scha, die jüngste und lieblichste, in deren Armen endlichder prophet verstarb.

Wie die dastand, neulich bei Źelechów, auf den Spatengestützt, und ins Unnennbare blickte! die Zöpfe glänzendwie rappenfell. ruth esther Loria war etwas kleiner.

Ob der Junge noch am Leben ist aus gora-Kalwarja?Wenn man so sehr ausgehungert ist, kann auch essen töten,zumal diese fette Büchsenwurst.

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Heute keine post. Ich weiß, was den Osten vergiftet: esist der pestgeruch, der von dem elend herweht, das den Ju-den bereitet wird. der Osten ist schön, die ganze Welt istes. Aber das Judenelend stinkt zum Himmel, Judenelendund polenelend.

Regardez la lune … On dirait qu’elle cherche des morts …tausendmal pfui! Ich will schlafen gehen.

garwolin, den 19. Juni 41.Vor dem Aufbruch nach Warschau.

Habe herrlich geschlafen, wo ich von rechts wegen nichthätte herrlich schlafen sollen. So bin ich nun. Am morgenist mir’s eingefallen:

möge Wasser, springend, wallend,die Zypressen dir gestehn:Von Suleika zu SuleikaIst mein Kommen und mein gehn.

Sollen in Warschau sechs Faß Otto und zwei Faß dieselempfangen. das sind mehr als zwei Verbrauchssätze zu demeinen, den wir schon getankt haben. das heißt dreihundertKilometer in einem Schlag. Wo wollen die mit uns hin? postsollen wir auch holen und … (dann ist der text sehr entstelltund im Zusammenhang nicht mehr zu lesen. einmal heißtes: … elegante Stadt. Warum ist man eigentlich in Friedens-zeiten nie in solche Städte … gereist, wird es geheißen haben.dann: … müssen unter den Aschkenasi aber auch Sephardimin großer Zahl sein, die aus Spanien und schließlich ausdeutschland hierher abgedrängt wur(den) … ruhmesblattin der geschichte der weißen rasse. die Loria waren auchaus Spanien … Am Schluß heißt es:) … von Jutta keinepost dabei. Wenn ich ganz ehrlich … Himmel, ich kannnicht anders, aber ich bin froh in irgendeiner Weise, daßkein Brief von ihr dabei ist. das paßt hier nicht her. Ich

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weiß nicht, aber zum mindesten paßt es nicht mehr hierher.Oder nicht mehr zu mir?

most muß Brücke heißen. Wie mögen eigentlich die plu-ralisformen gebildet werden? (photo 102/103) pilawa, Waldmit parkender Kompanie und rebhühnern, 104–120 p War-schau, 134/35 p einheiten des Kw. trpt. 605 beim marschdurch die Stadt, dazu heimlich vom Wagen aus 135–137 pins ghetto hinein. dann leider kein Film me(hr?) … vielFeldgendarmerie … mehrzahl von ogórek heißt ogórki. Omi-kron copulativum sozusagen = gurke, gurken. das o mitdem Strich drauf scheint sich wie u zu sprechen.

garwolin, den 20. Juni 41.Fahrzeugdienst den ganzen tag angesetzt. Schreibe unter-dessen. Wundervoller Sommer mit frischem, leichtem Windaus Osten. galoppiert in Böen an. diese Wiesen blühenderartig, daß die ganze Luft nach Honig … außer Kiebit-zen.

gottseidank zwei Filme bekommen; einen sogar von Ja-letzki. das muß man anerkennen. er schien offenbar …desto besser … wieder abendliche Sprachstudien getrieben,als ich aus Warschau zurückkam … lange … es wurde über-haupt nicht dunkel und die nacht war nur leichtblauer däm-mer. Ich habe den Kindern auf der Uferböschung gegen-stände aufgezeichnet: Strichmännchenmanier; und sie habendie polnischen Bedeutungen daneben geschrieben. der Zettelklebte nachher. Sie amüsierten sich sehr über meine Küheund Ziegen und sonstigen Kunstprodukte, die sie manchmalerst enträtseln mußten, und gerieten fast bei jedem WortinStreit über die Schreibweise, deren keines ganz sicher war. eswaren auch ganz kleine dabei und, soweit mädchen, schonin Kopftüchern wie die großen; richtige rotznasen, die abund an ein älteres geschwister säuberte, wohl mit rücksichtauf mich; wankten und wichen aber nicht, obwohl sie sichnoch gar nicht beteiligen konnten, des Lesens und Schreibens

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noch unkundig; verlangten aber, die Zeichnungen zu sehen,zeigten dann mit den kleinen, schmutzigen Zeigefingerndrauf, indem sie das papier berührten, als wären sie sonstvornüber gefallen, und flüsterten staunend und ernsthaft:tam … krowa! oder tam … kot! und ließen sich die nasenputzen in den Unterröckchen ihrer größeren Schwestern.Wir saßen alle unter den Weiden. Habe so ein großes Lexikonzusammenbekommen von über fünfzig Worten. Kommt insFahrtenheft. dann kam ein mädchen daher, um die Kleinenin den Ort zu treiben. die schwatzten alle gleichzeitig. Unddas Lexikon gedieh schon nicht mehr recht. Sie hatte sicherden Lärm der Kinderstimmen schon von weitem hören undsie leicht finden können.

›Was Sie machen?‹ fragte gallina. (Also: ich habe dennamen des mädchens so verstanden; wäre zu überprüfen,wie er sich schreibt.) ›Ich … Lexikon, dictionnaire!‹ antwor-tete ich. meinte so viel zu verstehen, daß sie Lehrerin oderHilfslehrerin war. Schien mir aber zu jung. Hatte unsagbarblaue Augen, die blauesten, die ich in meinem Leben je ge-sehen habe. es gibt Sachen, die fügen sich ohne Zutun undsind dann mit einem male unvergeßlich. Und merkwürdig,wie wenig Worte man braucht: die honigwind-durch-hauchte, lichte nacht mit dem späten mond, der zwischenden langhin wehenden Weidenzweigen ein Lichterspielmachte auf gallinas weißem Kleidchen, das sie glattstrich.polen ist schön.

Jetzt endlich weiß ich, was: Jeszcze heißt, das mit Kreideam Zaun stand: Jeszcze Polska nie zginęła … das endet dannmit: marsz, marsz, dąbrowski! Ach gott, ja. Kleine nach-tigall von garwolin, was singst du da? Ich bin doch deut-scher! Laß mich deine Augenlider küssen über deinen un-säglich blauen, blauen Augen … noch ist polen nichtverloren … marsch, marsch dombrowski! …

›du nicht richtig deutscher‹, meint gallina und hat diebeiden schönen Arme unter dem Kopf verschränkt.

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›doch eben ja, gerade richtiger deutscher!‹ bestehe ich.Sie will es aber nicht wahr haben. Sie singt. das Lied scheintein ganz langsamer ¾-takt zu sein.

›Kolo mego ogródeczka …‹, trällert gallina, deren Zähneim mondlicht blitzen, d. h. sie singt nicht bloß, sondernschreibt es in mein Strichmännchenlexikon bei gemischtemLicht aus mondschein und taschenlampe. ›neue Batterie‹,sage ich, ›von Loiser Kisz, elektryczny inżenier!‹

›Ah! du schlecht, du kaufen bei Žyd! Žydy!‹ Sie spucktins gras, zu welchem Zwecke sie sich aufrechtsetzt. Sie fährtmit dem Zeigefinger um ihren Hals, was andeuten will, daßman den Juden getrost den Hals abschneiden solle oderkönne von ihr aus. Ich schlage sie leicht auf die Hand. ›Singlieber!‹ sage ich. ›es ist besser.‹

Sie ist böse. ›du mich nicht lieben‹, stellt sie fest, ›du lie-ben andere.‹

›nein!‹ sage ich. ›Ich liebe keine andere.‹›du verheiratet?‹›nein!‹›du lügen.‹›Ich lüge nicht.‹›deutsch Soldat immer verheiratet und immer sagen, daß

nicht.‹›Ich heirate nur dich, gallina, wenn ich heirate, nur dich

blauäugige, unvergeßliche, judenhassende nachtigall ausgarwolin.‹

Sie lacht: ›du sagst, aber kannst nicht.‹ Sie küßt michsehr zärtlich auf die Stirn. Ich fühle ihre Wärme in derkühlen nacht. Sie riecht nach wiesengebleichter Wäsche.›Heirat. das Hitler hat verboten. Ja Polka, a ty Niemcy; gehtnicht. Hat verboten!‹

das ist ja alles so uferlos. ›Sing!‹ sage ich. ›Sing, kleinenachtigall. es ist besser.‹ Ihre Stimme ist warm und tief,mit ganz winzigen Schluchzern und Juchzern darin undganz nah bei meinem Ohr. Und unten am Fluß im gebüsch

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schlägt eine wirkliche nachtigall dazu. Wir hören und küs-sen uns, und gallina schluchzt und juchzt ganz leise: ›Kolomego ogródeczka, kolo mego ogródeczka … zakwitala jablo-neczka … neben meinem gärtchen, neben meinem kleinengarten blüht ein Apfelbäumchen auf …‹

14 Uhr 35 nach meiner Zeit. melder vom regiment. Ab-marsch 16 Uhr. Ziel Łuckow. Weitere Befehle dort.

22. Juni 10 Uhr nach dem übergang über den Bug (Li-towski Bug)Keine Zeit gehabt seit Łuckow. nicht zum Schlafen. Kaumzum photographieren. (138/9 p und 1–4 r.) Bei Sonnen-aufgang heute ungeheurer Artillerieschlag. War genau 3 Uhr02. Sang ein Haufen nachtigallen im gebüsch am Fluß.russen wenig Widerstand in unserm Streifen. Wir nur zweimann Verluste, verwundet aber nicht schlimm (Weißgerberund gedat). Unser Sanka ist ausgefallen. Hahneberg wärebeinahe ertrunken. Hat sich nachher ein russisches Kradunter den nagel gerissen. es geht weiter.

1. Juli 41.Sind zurückgenommen nach Brest-Litowsk. Kein menschweiß, weshalb. rahn seitdem ungenießbar. Abermals Beob-achtung, daß Wehrmachtbericht unzutreffend. Waren bisvor Baranowitschi. Viele gefangene, nicht zu zählen. mußteriesenhafter Kessel sein westlich von uns. Iwan völlig durch-einander. Auch materialverluste ungeheuer. Längs der Straßealles voll zurückgelassenen geräts und Wagen neben Wagen.neue angebliche geheimwaffe unsrerseits im einsatz, abernoch nicht gesehen. Sperren alles gelände ab, tragen wein-rote paspeln anscheinend. eigene Verluste bisher gering.Vier von der Komp. gef. Uffz. tietze, Uffz. Brennecke, Sen-kowski und Wolfinger. War erst in garwolin zur Komp. ge-kommen. Spund. 19 Jahre. Jaletzki leicht verwundet an der

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Wade; muß bei mir im Wagen mit. Hat Hahneberg ange-ordnet. grinste. (photo bis nr. 52 r.)

Brest-L., hieß es, ist am 24. genommen. die deutscheFahne weht auf der Zitadelle. pustekuchen. nichts ist. Umdie Zitadelle wird noch gekämpft. Abteilungsgefechtsstandin einem Kulturpark. Scheußliche Veranstaltung, Art Ver-gnügungspark mit hell-blaugrün gestrichenem Zaun. Fandgetünchten raum mit Stalinbild und roten Fahnen undvielen Blasinstrumenten. Stand drüber in komischer Schrift:Klub.

2. Juli, Brest-Litowsk.Zum Kotzen: die Front ist schon an der Beresina, und wirmurksen hier rum. Ohne jeden Sinn. Kamen nicht voran.Komp. mit zwei Zügen im Angriff blieb stecken. Verlusteweiß ich noch nicht. müßten Flammenwerfer haben undStukas. Stank fürchterlich. glühende Sonne. Alles siedeheißzwischen Fluß und Festung. durstig wie die Hunde. ried-gras, das schneidet. Zehntausend mücken. Alle Angriffe vonii/337 sind vor uns steckengeblieben. Liegt alles voller toterLandser vorn, die dick sind und dunkel wie Blutwürste inihren Uniformen und prall und schwarz geworden von derSonne wie Asphalt. So etwas sollte man gar nicht für möglichhalten, wie die aussehen. Und keiner kann sie zurückholen.

pfitzer ist verwundet, Bauchschuß. Hoffentlich hält erdurch.

Iwan hat schwere mg’s, die ganz langsam feuern. Jetzt hatman das schon raus. Haben hier jedenfalls ausgezeichneteSchützen. Um die Zitadelle die tollsten gerüchte. Soll Fähn-richschule drin sein. rahn sagt, so hätte er sich den russenvorgestellt. Sollen schon zwei Bataillone gefallen sein insges.seit der eroberung der Zitadelle durch den Wehrmachtbericht.gewaltige Kesselschlacht von Bialystok nähert sich dem Ab-schluß. über 500.000 gefangene bisher. Hoffentlich stimmtdas schon eher! nachts viel Feuerwerk, aber nichts los.

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3. Juli B-Les sind Stukas angefordert. Bis dahin sollen keine weiterenAngriffe mehr angesetzt wer(den)…… daß Hahneberg ge-fallen ist;er liegt vorne, wo keiner ran kommt. Vielleicht ister auch nur verwundet. Hapke bleibt mit dem halben Zugim Feuer liegen. er kommt nicht ran. ein treffer 2 cm-pakbringt den einen Bunker zum Schweigen. Saß genau aufder Luke. Hapke muß zurück. Jetzt kommen die Stukas.drei Stück. Ist furchteinflößend, setzen über die Flügel ab-rutschend zum Sturz an. die überzogenen motoren heulenmächtig. du siehst die Bomben fallen. es sieht nicht einmalso schnell aus. dann die einschläge, daß es das Zwerchfellrüttelt. rauchpilze und allerhand geprassel. Staubwolke.

durch den dunst meldet sich als erstes ein russischesmg, dann noch eins von links. War also nichts.

Hapke ist wieder da. Hat niemanden verloren. War aufdrei, vier meter an Hahneberg ran, bevor die Stukas kamen.rührte sich aber nicht mehr. nach seiner Ansicht müsse ertot sein. Weiter rechts aber hätten welche geschrien, wahr-scheinlich aber noch von 337. Oder von Zug Hahneberg.nach den Stukaeinschlägen hätte aber nichts mehr geschrien.die einschläge hätten viel zu kurzgelegen. trotz der Flie-gertücher … … des ersten Zuges. total hin. (photo 53–69r.) Habe keine Filme mehr bis auf einen. Völlig … bis aufdreißig mann. Von weiteren Stukas nichts mehr zu sehen.

gegen Abend wird die Kompanie rausgezogen. War so-wieso eine Schnapsidee, hier eine schwere Kompanie anzu-setzen. rahn flucht Stein und Bein. Wir gehörten in dieBewegung und nicht in den Festungskrieg. Festungen wärenim dreißigjährigen Kriege eine Sache gewesen, aber seitdemmehr und mehr sinnlos. man solle Brest aussparen samtseiner Zitadelle. einfach liegenlassen. die Herren russendadrin würden sich schon allmählich beruhigen. Flucht wiegesagt. Wäre wohl lieber vorne. Verdammt noch einmal,ich glaube, er ist ehrgeizig.

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19.90 EUR [D] inkl. eBook

ISBN 978-3-95518-011-9

»Ein ausgezeichnetes, ein wichtiges Buch, das mit Geist und Kunst über die materielle Zähigkeit unserer Welt obsiegt.«

Tagesspiegel

»Endlich wieder einmal ein Erzähler ... «DIE ZEIT