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VERRÜCKTES

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verrücktes

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der mensch spielt nur, wo er in voller bedeutung des wortes mensch ist, und er ist nur da ganz mensch, wo er spielt.

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verrücktes blut von Nurkan Erpulat & Jens Hillje Frei nach Motiven aus dem Film la Journée de la jupe Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeld

premiere 24.5.15 kleines hausAufführungsdauer 1 ¾ Stunden, keine Pause

Aufführungsrechte Pegasus Theater und Medienverlag, Berlin

Sonia Kelich, Lehrerin antonia mohrMariam, Schülerin Joanna kitzlLatifa, Schülerin sophia löfflerMusa, Schüler Jan andreesenHakim, Schüler simon bauerHasan, Schüler thomas halleFerit, Schüler matthias lampBastian, Schüler ralf wegner

Regie dominik güntherBühne und Kostüme heike vollmerMusik Jan s. beyer & Jörg wockenfussLicht Joachim grüssingerDramaturgie tobias schuster

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Regieassistenz michael letmathe Bühnenbildassistenz christine beggel Kostüm- assistenz mara fiek Soufflage angela pfützenreuter Inspizienz Jochen baab Regiehospitanz Julia schweizer Ausstattungshospitanz elyssa fleig

Technische Direktion harald fasslrinner, ralf haslinger Bühne hendrik brüggemann, edgar lugmair Leiter der Beleuchtung stefan woinke Leiter der Tonabteilung stefan raebel Ton Jan fuchs, dieter schmidt Leiter der Requisite wolfgang feger Requisite clemens widmann Werkstättenleiter theo f. hauser Malersaal dieter moser Leiter der Theaterplastiker ladislaus zaban Schreinerei günter furrer Schlosserei mario weimar Polster- und Dekoabteilung ute wien-berg Kostümdirektorin doris hersmann Gewandmeister/in Herren petra annette schreiber, robert harter Gewandmeisterinnen Damen tatJana graf, karin wörner, annette gropp Waffenmeister michael paolone Schuhmacherei thomas mahler, barbara kistner, gülay yilmaz Modisterei diana ferrara, Jeanette hardy Chefmaskenbildner raimund ostertag Maske friederike reichel, sonJa ross, renate schöner

Antonia Mohr, Matthias Lamp

reden wir über schiller und seine idee von ästhetischer erziehung. ein gutes thema.

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In einer sogenannten „Problemklasse“ – vorwiegend migrantisch geprägt – müht sich Lehrerin Sonia Kelich nach Kräften, zum „Projekttag Schiller“ den Schülern Friedrich Schiller und seine Stücke die räuber, kabale und liebe und die briefe über die ästhetische erziehung des men-schen nahe zu bringen. Doch ihr spröder Vortrag trifft auf taube Ohren. Musa, Ferit und Bastian streiten um Geld, Hasan kommt mit einem blauen Auge in die Schu-le. Interessanter als Schiller erscheint den Schülern Latifas Hintern. Immer gewalttä-tiger werden die Auseinandersetzungen in der Klasse, bis plötzlich aus Musas Jacke eine Pistole zu Boden fällt.

Nun wendet sich das Blatt – Sonia Kelich reagiert am schnellsten und kommt an die Waffe, im Affekt löst sich ein Schuss, der Musas Hand streift. Nun endlich hat die

Lehrerin die Autorität, die sie sich wünscht und bestimmt das Thema: Die ästhetische Erziehung. Schillers Theorie der Selbst-bildung des Menschen im Spiel folgend zwingt sie die Schüler mit der Waffe in der Hand auf die kleine Bühne des Klassen-raums.

Endlich spielen sie Szenen aus die räuber und kabale und liebe und tauchen immer mehr ein in die idealistische Schillerwelt. Bald scheint für Sonia Kehlich die Waffe überflüssig zu werden, und ihr Missi-onsgeist erwacht. Sie will Mariam, die zurückhaltende Muslima, von ihrem Kopf-tuch befreien, und eine Diskussion über Unterdrückung und Emanzipation beginnt.

Zunehmend schärfer schwadroniert Sonia über islamische Familien in Deutschland und den Zivilisationsgrad des Islam. Doch

zum inhalt

kampfplatzklasse

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als Musa plötzlich scheinbar ohne Grund zusammenbricht, ist sie einen Moment unaufmerksam und Mariam bringt die Pis-tole an sich. Endlich will sie – wenn auch mit der Waffe in der Hand – die Konflikte befrieden! Und für eine Sekunde blitzt die Illusion von Versöhnung in der Gruppe auf.

Doch dann läuft auf Mussas Handy ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Hasan brutal misshandelt wird. Ratlos zieht sich Mariam aus der Führung zurück, gibt die Waffe wieder an die Lehrerin zurück, de-ren Glaube an den Humanismus endgültig verflogen scheint. Sie stellt die Gruppe vor eine grausame Entscheidung: Die Mehr-heit soll über Musas Leben entscheiden. Freilassung oder Hinrichtung.

Wider Erwarten entscheidet sich die gesamte Klasse für Freilassung. Die

Situation entspannt sich, und Sonia gibt sich selbst als Migrantin zu erkennen, als „eine von ihnen“, die nur durch Hoch-zeit zu einer Deutschen geworden ist. Während sich die Szene in Wohlgefallen aufzulösen scheint und Ferit schon den obligatorischen Besuch in der Dönerbude vorschlägt, wandert die Waffe ein letztes Mal weiter.

Hasan, der in der Klasse immer der Außenseiter gewesen war und den Sonia mit der Waffe in die Rolle Franz Moors in die räuber getrieben hatte, will die Bühne nicht räumen: „Ich bin Franz und ich bleibe Franz – ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein. Was wird aus mir, wenn das hier vorbei ist?“ Mit Franz‘ großem Monolog über die Ungerechtigkeit der Welt, bleiben Hasan und die Waffe zurück.

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Mit ihrer schrillen, schwarzhumorigen Dar-stellung der Zustände in einer deutschen Schule landeten Nurkan Erpulat und Jens Hillje einen der größten Theatererfolge der letzten Jahre. Wenige Wochen vor der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab bei der Ruhrt-riennale uraufgeführt, lag das Stück der Stunde auf dem Tisch. Die Produktion wur-de zum Berliner Theatertreffen eingeladen, und das Stück gewann den Publikumspreis im Rahmen der Mühlheimer Theatertage.Ursprünglich war ihr Auftrag eine Adaption von Jean-Paul Lilienfelds Film la journée de la jupe, der seine Zuschauer in die Ab-gründe des französischen Bildungssystems in den Problemklassen der Banlieues ent-führte, wo eine überforderte Lehrerin mit der Waffe Molière unterrichtete.

„Ich inszeniere einen deutschen Blick“, antwortet Nurkan Erpulat auf die Frage, wie er in verrücktes blut mit Klischees über migrantische Jugendliche umginge. „Es

geht nicht um die Schüler, es geht nicht um die Lehrer, es geht nicht um die Schule – es geht um den Blick darauf, es geht um das Publikum“, lautet die Anweisung, die die Autoren ihrem Stück voranstellen. Geschickt führen sie den Blick der Zu-schauer. Die Szene einer Lehrerin, die von ihren Schülern terrorisiert wird, rührt ironisch an rassistische Klischees der bür-gerlichen Wahrnehmung der dargestellten scheinbar verwahrlosten, bildungsfernen und größtenteils migrantischen Jugend.

Sonia Kelich, die scheiternde Pädagogin mit ihren mühsam auswendig gelernten Lehrsätzen über Schiller, rührt uns zu Be-ginn; ihre Liebe zum Thema, das sie allen Widrigkeiten zum Trotz stoisch referiert, lässt uns mit ihr leiden.

Auch als ihr die Waffe in die Hände fällt, ist mancher noch geneigt, die ersten Etappen gerne mitzugehen und dem komödianti-schen Weg durch ihre persönliche Vorstel-

zum stück

es geht

Matthias Lamp, Sophia Löffler

nichtum die schüler

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lung ästhetischer Erziehung zu folgen. Erpu-lat und Hillje verführen die Zuschauer, den zweifelhaften Thesen über Integration und Islam zu folgen, die Kelich vertritt. Erst lang-sam enthüllen sie die salon-rassistischen Abgründe der Pädagogin. Das zunächst eher positive Bild der Protagonistin wendet sich spätestens, wenn sie die Hinrichtung Musas fordert und nach dem Widerstand der Schüler verzweifelt aufgibt.

Wiederum wendet sich das Blatt, als sie sich als gebürtige Türkin zu erkennen gibt. Sonia Kelich ist also nicht qua Geburt eine Verfechterin dessen, was landläufig mit dem problematischen Begriff der „deutschen Leitkultur“ bezeichnet wird, sondern aus freier Wahl. Sie hat sich von den vermeintli-chen Schranken ihrer Herkunft emanzipiert – und vereint scheinbar widersprüchliche Fragmente kultureller Identitäten in sich.

Überhaupt mag das Stück auf den ersten Blick wie eine Affirmation eines hierarchi-schen Verständnisses von Integration und „Leitkultur“ daherkommen. Spätestens, wenn Musa mit dem lasziv abgelegten Kopftuch von Mariam gefesselt wird und unter Tränen seine Reue bekundet, treiben Erpulat und Hillje die Geschichte auf einen komödiantischen Höhepunkt, der satirisch bürgerliche Phantasien über die Aufklärung vermeintlicher „Kanaken“ karikiert.

Beim genauen Hinsehen kann verrücktes blut als ein Plädoyer gelesen werden, die zunehmend transkulturelle Struktur unserer deutschen Gesellschaft anzuerkennen und uns ihrer Herausforderungen anzunehmen.In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn wie von Zauberhand plötzlich die Schüler sogar ohne Textbuch die Sprache und die Gedanken Schillers beherrschen und in klarem Gesang deutsche Volkslieder

anstimmen. Die Welt der vermeintlich her-metischen deutschen Hochkultur scheint viel mehr mit den Jugendlichen zu tun zu haben, als es sich die bundesrepublikani-sche Bildungshybris träumen lässt. Auch die Dichter des „Sturm und Drang“ brachen in ihrer Zeit radikal mit der Tradition herge-brachter literarischer Kultur. Nicht zufällig war er genauso verfemte Jugendkultur und Zukunftsmotor von Kunst und Gesellschaft.

Wo mancher den Untergang des Abend-landes fürchtet, beschreibt Inan Türkmen in seinem Buch wir kommen! die ungeheure Dynamik der türkischen Gesellschaft und sieht sie humorvoll als den zukünftigen Dün-ger unserer transkulturellen Gesellschaft.

Was bleibt zum Schluss? Auch hier führen Erpulat und Hillje auf eine falsche Fährte. Das gefährliche Spiel mit Musas Waffe scheint aufgelöst, als Hasan die Pistole an sich nimmt. Doch der bisher Unterdrückte will weiterspielen, immer weiter spielen, und bleibt als Produkt des Unterrichts zu-rück, als Franz Moor. Als Schillers großer Bösewicht. Denn welche Aufstiegsmöglich-keit bietet ihm unsere Gesellschaft? „Wir spielen Theater, aber was wird aus mir, wenn das hier zuende ist? Oberstudienrat, wie Sie, Frau Kelich? Ein echter Erfolgska-nake? Tja, tut uns leid, aber Erfolgskana-kenkapazität ist grade zuende. Wie viele Erfolgskanaken erträgt das Land?“.

Wiederum verführt, an ein rührseliges Ende der Geschichte zu glauben, schlägt das Stück die Brücke zwischen Bühne und Realität. Wie durchlässig ist unsere Gesell-schaft tatsächlich? Katalysiert die Kunst den Modernisierungsprozess einer Gesell-schaft, oder wirkt sie eskapistisch wie das sprichwörtliche „Opium des Volks“? Und so hebt Hasan die Waffe ins Publikum.

Jan Andreesen, Antonia Mohr

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In der gefeierten Uraufführung von verrücktes blut spielten in der Regie von Nurkan Erpulat vorwiegend migrantische Schauspieler die Jugendlichen aus Sonia Kelichs Klasse. Eine extrem berührende und besonders kraftvolle Inszenierung ent-stand im Berliner Ballhaus Naunynstraße, die seitdem durch ganz Deutschland tourt.

Bei Publikumsgesprächen stellte sich regelmäßig heraus, dass die Energie der jungen Schauspieler die Grenzen von Fiktion und Realität beim Publikum so sehr zum Verschwimmen gebracht hatten, dass immer wieder Zuschauer ein doku-mentarisches Projekt gesehen zu haben glaubten. Sie waren der Meinung, dass die Migranten, die sie gesehen hatten, keine

Schauspieler seien, sondern ihre persönli-chen Geschichten auf der Bühne darstell-ten. Dieses verblüffende Missverständnis mancher Besucher der Uraufführung wirft gleichzeitig die Frage auf, wie diese Rollen von „biodeutschen“ Schauspielern verkör-pert werden können.

Dominik Günther entschied sich für die Be-setzung der Rollen mit den Schauspielern des Karlsruher Ensembles ohne erkenn-baren migrantischen Hintergrund und wählt in seiner Inszenierung eine formale Lösung. Er liest verrücktes blut mehr als Lehrstück über Pädagogik mit der Waffe, den Blick des Zuschauers und dessen Kli-schees, denn als realistisches Millieudra-ma. Auf der zuerst leeren Bühne treten die

über den

zur inszenierung

lehrstück

blick

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Schauspieler wie auf einem Cat-Walk auf. Sie präsentieren ihrem Publikum die neu-este verwegen gestreifte Haute-Couture einer migrantischen Jugend. Trainingsan-züge, glitzernde Tanktops, Baseball-Caps. Aus einer Verbindung von Sport- und Straßenkleidung bildet sich die Uniformie-rung einer Jugendkultur. Dennoch sind die sozialen Rangabzeichen auch innerhalb dieser Gruppe sichtbar.

Im Rahmen dieser Modenschau laufen sie musikalisch-choreographiert über die Büh-ne und stellen dem Publikum die Klischees einer migrantischen Jugend vor, die die Bildungsrepublik Deutschland vermeintlich an den Rand des Untergang geführt hat: „Kratzen am Sack“, exaltiertes Handyte-lefonieren, öffentliches Zur-Schau-Stellen der eigenen Kraft. Langsam deutet sich eine Gruppendynamik an, einer gibt eine Bewegung vor, die von den anderen ko-piert wird – immer deutlicher schält sich eine Klasse mit ihrem Beziehungs- und Machtgeflecht heraus. Als sie vorne ste-hen, die Objekte der Betrachtung, verengt sich der Raum.

Die Rückwand der Bühne schiebt sich nach vorne, der Boden hebt sich – und ein klaus-trophober Raum entsteht: Der Klassenraum als Raum am Abgrund ohne Ausweg. An die Stelle des von Erpulat & Hillje beschrie-benen schallisolierten Theaterkursraums einer Schule tritt in Dominik Günthers Inszenierung eine enge Spielfläche, unmit-telbar in den Zuschauerraum hineinragend. Ausgestellt wie in einer Petrischale agieren die Spieler. Ausstatterin Heike Vollmer hat keine Schulklasse nachgebaut, zitiert aber Materialien, die an die Böden von Sportanlagen erinnern. Gleichzeitig greift sie die Architektur und Materialität des Kleinen Hauses auf – und rückt die Schüler

ganz nah an die Zuschauer heran, rückt ihnen buchstäblich zu Leibe. Die Sprache in verrücktes blut geht auf unterschiedli-chen Ebenen mit Fremdheit um: Deutsche Schauspieler bedienen sich aus der Kiste der Sprach-Klischees einer Jugendkultur: eine fremde Sprache, die sie in Dominik Günthers Inszenierung wie eine Kunst-sprache behandeln, musikalisch, über-spitzt, wie eine Maske, die im nächsten Moment wieder abgenommen werden kann. In den Momenten des schärfsten Konflikts wird eine zweite Sprach-Schicht sichtbar, das Hochdeutsche.

Ein Bindeglied zwischen beiden Schich-ten bildet die Musik. Erpulat und Hillje hatten in ihrer Inszenierung die Hand-lung an zentralen Punkten durch Lieder unterbrochen, sauber und klar sangen die Schüler plötzlich deutsche Volks-lieder. Jan S. Beyer & Jörg Wockenfuß verbinden die Volkslieder mit zeitgenössi-schen Texten. Innerhalb der klassischen Komposition fügen sie Texte von Rappern wie Sido oder Bushido ein und lassen einander ferne musikalische Kulturen in einander fließen. 2011 wurde der Rapper Bushido mit dem sogenannten Integ-rationsbambi ausgezeichnet; damals hielt Peter Maffay die Laudatio. Eine Zusammenarbeit zwischen beiden wurde vereinbart und scheiterte doch aus Sicht von Maffay an der mangelnden Bereit-schaft Bushidos, seine brutalen Texte zu verändern. Der interkulturelle Austausch über die Kunstgenres hinweg war vorerst gescheitert. In Günthers Inszenierung harmonieren das deutsche Volkslied, Sido, Bushido, Peter Maffay und Nino de Angelo prächtig. Jeder ist eingeladen, über interkulturelle Begegnungen und eine neue transkulturelle Gemeinsamkeit in unserer Gesellschaft nachzudenken.

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wir sind kulturelle mischlinge Die heutigen Kulturen entsprechen nicht mehr den alten Vorstellungen geschlos-sener und einheitlicher Nationalkulturen. Sie sind durch eine Vielfalt möglicher Identitäten gekennzeichnet und haben grenzüberschreitende Konturen. Das Konzept der Transkulturalität beschreibt diese Veränderung. Es hebt sich ebenso vom klassischen Konzept der Einzelkultu-ren wie von den neueren Konzepten der Interkulturalität und Multikulturalität ab. „Kultur“ als Generalbegriff, der nicht nur einzelne, sondern sämtliche menschlichen Lebensäußerungen umfasst, hat sich erst im späten 17. Jahrhundert herausgebildet. Er wird in diesem Verständnis erstmals 1684 von dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf verwendet. Bei Pufendorf wurde „Kultur“ zu einem autonomen Be-griff, zu einem Kollektivsingular, der nun in einer kühnen Vereinheitlichung sämtliche Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesell-schaft oder einer Nation zu umfassen

beanspruchte. Dieser globale Kulturbegriff erhielt dann hundert Jahre später durch Johann Gottfried Herder seine für die Folgezeit verbindliche Form. Der Herder-sche Kulturbegriff ist durch drei Momente charakterisiert: durch die ethnische Fun-dierung, die soziale Homogenisierung und durch die Abgrenzung nach außen.

Die Kultur soll erstens das Leben der je-weiligen Gesellschaft im ganzen wie im einzelnen prägen, sie soll jede Handlung und jeden Gegenstand zu einem unver-wechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen. Sie soll zweitens die Kultur eines bestimmten Volkes sein, das auf dem Weg der Kultur sein spezifisches Wesen zur Entfaltung bringt. Damit ist drittens eine Abgrenzung nach außen verbunden: Jede Kultur soll als Kultur eines bestimm-ten Volkes von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden sein und bleiben. Diese Annahmen des traditionellen Kultur-

zur veränderten verfasstheit heutiger kulturen

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wir sind kulturelle mischlinge

konzepts sind heute unhaltbar geworden. Moderne Gesellschaften sind in sich so hochgradig differenziert, dass von einer Einheitlichkeit der Lebensformen nicht mehr die Rede sein kann.

Aber auch die ethnische Fundierung der Kulturen ist äußerst problematisch: Herder beschreibt Kulturen als Kugeln oder auto-nome Inseln, die jeweils dem territorialen Bereich und der sprachlichen Extension eines Volkes entsprechen sollten. Wie wir aber nicht nur aus der deutschen Ge-schichte des 20. Jahrhunderts wissen, sind solche völkischen Definitionen hoch-gradig imaginär und fiktiv. Die Kugelvor-stellung und das Reinheitsgebot bereiten politischen Konflikten und Kriegen den Boden. Angesichts solcher Befunde ist die Verabschiedung des traditionellen Kulturkonzepts mit seinem unheilvollen Doppel von innerem Einheitszwang und äußerer Abschottung auch unter norma-tiven Gesichtspunkten geboten. Es käme künftig darauf an, die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremd-kultur zu denken.

Das Konzept der Interkulturalität macht nicht einmal einen Versuch, die traditio-nelle Kulturvorstellung zu überwinden, sondern will sie bloß ergänzen, um ihre problematischen Folgen aufzufangen. Es reagiert auf den Umstand, dass die Ku-gelverfassung der Kulturen notwendig zu interkulturellen Konflikten führt. Kulturen, die wie Inseln oder Kugeln verfasst sind, können sich der Logik ihres Begriffs gemäß eben nur voneinander absetzen, sich ge-genseitig verkennen, ignorieren, diffamie-ren oder bekämpfen, nicht hingegen sich verständigen und austauschen. Daher sind die Empfehlungen zur Interkulturalität zwar gut gemeint, aber ergebnislos. Das Konzept

versäumt es, die Wurzel des Problems anzugehen. Es ist nicht radikal genug, son-dern bloß kosmetisch.

Ähnliches gilt vom Konzept der Multikultu-ralität. Es greift die Probleme des Zusam-menlebens verschiedener Kulturen inner-halb einer Gesellschaft auf, widmet sich also strukturell der gleichen Frage wie das Konzept der Interkulturalität. Dabei bleibt aber auch dieses Konzept im Status des traditionellen Kulturverständnisses. Es geht von der Existenz klar unterschiede-ner, in sich homogener Kulturen aus, nur jetzt innerhalb ein und derselben staatli-chen Gemeinschaft. Das Multikulturali-tätskonzept sucht dann nach Chancen der Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und Konflikvermeidung oder Konflikttherapie. Wenn die Kulturen tatsächlich noch immer, wie diese Konzepte unterstellen, inselartig und kugelhaft verfasst wären, dann könnte man das Problem ihrer Koexistenz und Kooperation weder loswerden noch lösen. Nur ist die Beschreibung der Kulturen als Kugeln bzw. Inseln heute deskriptiv falsch und normativ irreführend. Die Kulturen haben de facto nicht mehr die unterstellte Form der Homogenität und Separiertheit. Dies ist der Ausgangspunkt des Konzepts der Transkulturalität. Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Iden-titäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Sie haben eine neuartige Form angenommen, die durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht. Das Konzept der Transkulturalität benennt diese veränderte Verfassung der Kulturen und versucht daraus die notwendigen konzeptionellen und normativen Konse-quenzen zu ziehen. Der traditionelle Kul-turbegriff scheitert heute an der inneren Differenziertheit und Komplexität der

Folgeseiten Jan Andreesen, Ralf Wegner, Matthias Lamp, Simon Bauer

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modernen Kulturen. Moderne Kulturen sind durch eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen und Lebensstile gekenn-zeichnet. Ferner ist die klassische sepa-ratistische Kulturvorstellung durch die äußere Vernetzung der Kulturen überholt. Die Kulturen sind hochgradig miteinander verflochten und durchdringen einander. Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese und finden sich eben-so in anderen Kulturen. Die neuartigen Verflechtungen sind eine Folge von Mig-rationsprozessen sowie von weltweiten materiellen und immateriellen Kommuni-kationssystemen (internationaler Verkehr und Datennetze) und von ökonomischen Interdependenzen.

Die Austauschprozesse zwischen den Kulturen lassen nicht nur das alte Freund-Feind-Schema als überholt erscheinen, sondern auch die scheinbar stabilen Kate-gorien von Eigenheit und Fremdheit. Es gibt nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr. Im Innenverhält-nis einer Kultur, zwischen ihren diversen Lebensformen, existieren heute tendenziell ebensoviele Fremdheiten wie im Außenver-hältnis zu anderen Kulturen. Es gibt zwar noch eine Rhetorik der Einzelkulturen, aber in der Substanz sind sie alle transkulturell bestimmt. Anstelle der separierten Einzel-kulturen von einst ist eine interdependente Globalkultur entstanden, die sämtliche Nationalkulturen verbindet und bis in Einzelheiten hinein durchdringt. Beispiels-weise lässt sich deutsche Kultur ohne den Blick auf andere Traditionen, etwa die griechische oder die römische Tradition, gar nicht rekonstruieren. Carl Zuckmayer hat diese historische Transkulturalität in seinem Drama des teufels general wundervoll beschrieben: „... stellen Sie

sich doch einmal ihre Ahnenreihe vor, seit Christi Geburt. Da war ein römisch Feld-hauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mäd-chen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schif-fer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schau-spieler, ein böhmischer Musikant. Das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt, und der Goethe, der kam aus demselben Topf und der Beethoven, und der Gutenberg und der Matthias Grünewald, und, ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt, wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusam-menrinnen.“

Wir sind kulturelle Mischlinge. Zeitge-nössische Schriftsteller betonen häufig, dass sie nicht durch eine einzige Heimat, sondern durch verschiedene Bezugsländer geprägt sind, durch deutsche, französi-sche, italienische, russische, süd- und nordamerikanische Literatur. Ihre kulturelle Formation ist transkulturell, die der nach-folgenden Generationen wird das noch mehr sein. Für ein transkulturelles Kultur-konzept kann man sich gut der Hilfe Ludwig Wittgensteins bedienen. Wittgenstein hat einen pragmatischen Kulturbegriff entwi-

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17Folgeseiten Simon Bauer, Sophia Löffler, Thomas Halle, Antonia Mohr, Matthias Lamp

ckelt, der, anders als das traditionelle Kul-turkonzept, von vornherein von ethnischer Fundierung und Homogenitätsansprüchen frei ist. Wittgenstein zufolge liegt Kultur dort vor, wo eine geteilte Lebenspraxis besteht. Zudem rechnet dieses Kultur-konzept mit mannigfaltigen Verflechtun-gen, Überschneidungen und Übergängen zwischen den Lebensformen. Daher ist es auch für neue Verbindungen und für Umstrukturierungen offen. Wenn ein Indi-viduum durch unterschiedliche kulturelle Anteile geprägt ist, wird es zur Aufgabe der Identitätsbildung, solche transkulturellen Komponenten miteinander zu verbinden. Nur transkulturelle Übergangsfähigkeit wird uns auf Dauer noch Identität und so etwas wie Autonomie und Souveränität verbürgen können. Die Entdeckung und Akzeptanz der transkulturellen Binnenver-fassung der Individuen ist eine Bedingung, um mit der gesellschaftlichen Transkultu-ralität zurechtzukommen. Hass gegenüber Fremdem ist (wie insbesondere von psy-choanalytischer Seite mehrfach dargelegt wurde) projizierter Selbsthass. Man lehnt stellvertretend etwas ab, was man in sich selbst trägt, aber nicht zulassen will, was man intern verdrängt und extern bekämpft. Umgekehrt bildet die Anerkennung innerer Fremdheitsanteile eine Voraussetzung für die Akzeptanz äußerer Fremdheit. Wir wer-den dann, wenn wir, anders als das tradi-tionelle Kulturkonzept es uns rät, unsere innere Transkulturalität nicht verleugnen, sondern wahrnehmen, eines anerkennen-den und gemeinschaftlichen Umgangs mit äußerer Transkulturalität fähig werden.

Geht man aber von der Vorstellung aus, dass Kultur auch das Fremde einbeziehen und transkulturellen Komponenten gerecht werden müsse, dann gehören entspre-chende Integrationsleistungen zur realen

Struktur unserer Kultur. Das Konzept der Transkulturalität intendiert eine Kultur, deren pragmatische Leistung nicht in Aus-grenzung, sondern in Integration besteht. Stets gibt es im Zusammentreffen mit anderen Lebensformen nicht nur Diver-genzen, sondern auch Anschlussmöglich-keiten. Solche Erweiterungen, die auf die gleichzeitige Anerkennung unterschied-licher Identitätsformen innerhalb einer Gesellschaft zielen, stellen heute eine vor-dringliche Aufgabe dar.

Man könnte einwenden, das Konzept der Transkulturalität laufe auf die Annahme einer zunehmenden Homogenisierung der Kulturen und auf eine uniforme Weltzivili-sation hinaus. Aber bedeutet Transkultu-ralität tatsächlich Uniformierung? Keines-wegs. In der Epoche der Transkulturalität schwindet die Bedeutung der National-staatlichkeit oder der Muttersprache für die kulturelle Formation. Die Verwechslung von Kultur mit Nation oder die restriktive Bindung der Kultur an eine Muttersprache wird immer weniger möglich.

Die neuen kulturellen Formationen über-schreiten die alten Festmarken, erzeugen neue Verbindungen. Dies bedeutet auch, dass die Welt statt eines separatistischen eher ein Netzwerk-Design annimmt. Unter-schiede verschwinden dadurch zwar nicht, aber die Verständigungsmöglichkeiten nehmen zu. Will man darin einen Nachteil sehen? Das Konzept der Transkulturalität entwirft ein anderes Bild vom Verhältnis der Kulturen. Nicht eines der Isolierung und des Konflikts, sondern eines der Ver-flechtung, Durchmischung und Gemein-samkeit. Es befördert nicht Separierung, sondern Verstehen und Interaktion.

Wolfgang Welsch

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9 wer in deutschland über integration redet, spricht lieber über defizite als über erfolge

Die Debatte erweckt den Eindruck, als seien ihr die Fälle des Misslingens der Integration sehr viel willkommener als die des Gelingens. Viele Leute, die gestern noch behauptet haben, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, klagen nun, die Integration sei gescheitert. Sarrazin hat noch eins draufgesetzt: Er suggeriert, die Integration der Muslime sei, wegen der Dummheit der Muslime, auch gar nicht wünschenswert. Er hat sein Buch mit vergiftetem Toner gedruckt. Und jede Talk-show leckt daran und prüft, ob und wie das schmeckt. Und dann heißt es: Ganz so giftig ist das ja gar nicht; und irgendwie habe der Mann ja auch recht. Diese Debatte zeigt vor allem: die Furchtsamkeit der Politik und ein klägliches Selbstbewusstsein der Integrationsgesellschaft. Das „Jahresgut-achten Einwanderungsgesellschaft 2010“ vermag es, einen kleinen Stolz zu wecken – auf Integrations- und Sprachkurse, auf eine neue Elite mit Migrationshintergrund, auf einen breiten Mittelstand mit Migrati-

onshintergrund und darauf, dass sowohl die Zuwanderer- als auch die Mehrheits-bevölkerung dem Integrationsgeschehen in Deutschland übereinstimmend die Note „knapp gut“ geben.

Das ist nun keine Aufforderung, die Defi-zite zu leugnen: Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist für Migranten in Deutschland anderthalbmal höher als für alteinhei-mische Arbeitskräfte. Und es fällt auf, dass sich in Deutschland, anders als in Großbritannien oder in Schweden, die Kompetenzen der Jugendlichen der zweiten Einwanderungsgeneration im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrati-onshintergrund verschlechtert haben. Eine Erklärung für den geringeren Schulerfolg von Migrantenkindern sind die Strukturen des deutschen Bildungssystems: Es setzt bei den Eltern eine aktive Rolle und viel En-gagement für den schulischen Erfolg ihrer Kinder voraus. Da muss man ansetzen: Die Gutachter des Einwanderungsberichts

spreng-regeln

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schlagen unter anderem „bundeseinheit-liche Sprachstandsmessungen“ vor; sie plädieren für Ganztagesangebote vor allem an den Hauptschulen, die in benachteilig-ten Stadtvierteln besser ausgestattet und „durch attraktive Schwerpunktsetzungen auch für die Mittelschichtfamilien anzie-hender“ werden sollen.

Integration ist positive Diskriminierung, positive Diskriminierung bedeutet Förde-rung: Kinder im Berliner Problemquartier Neukölln-Nord müssen viel mehr gefördert werden als die im feinen Zehlendorf. Inte-gration heißt Schule, Schule und nochmals Schule: Die Schule ist nämlich der Ort, an dem die Welten aufeinandertreffen, mit verbaler und auch körperlicher Gewalt. Die Verwandlung des deutschen Bildungssys-tems in ein System der Schicksalskorrek-tur und in ein System der Förderung spe-zieller Talente ist teuer. Aber es ist noch viel teurer, dies alles nicht zu tun. Wer das Geld nicht phantasievoll in Integration investiert, wird es phantasielos in Hartz IV und in Gefängnisse investieren müssen.

Es gibt neun Sprengregeln, um den Weg zur Integration zu verschütten. In Deutsch-land sind sie jahrzehntelang fast alle be-herzigt worden – bis dann endlich, mit dem sogenannten Zuwanderungsgesetz vom 5. August 2004, die Straßenbauarbeiten begannen und koordiniert wurden. Erste Sprengregel: Missstände sollten gene-ralisiert und als Beweis für die Gefahren betrachtet werden, die von ethnischer Andersartigkeit ausgehen. Zweite Regel: Die Neubürger, die einen deutschen Pass haben, sollen ja nicht glauben, dass sie da-mit wirklich schon richtige Deutsche sind. Dritte Regel: Man sollte in den Schulen möglichst früh sortieren. Wer wenig kann, kommt in die Sonderschule oder in eine

Ausländer-Spezialklasse. Vierte Regel: Wer die deutsche Sprache nicht ausrei-chend beherrscht, ist daran selber schuld und muss dementsprechend behandelt und ausgegliedert werden. Fünfte Regel: Man bleibe bei der Diskussion der Integ-rationsprobleme möglichst allgemein und plakativ. Sechste Regel: Man unterschei-de möglichst wenig zwischen der Frage, wer künftig noch als Einwanderer nach Deutschland kommen darf und der Frage, wie diejenigen behandelt werden sollen, die schon lange da sind; Ausländer ist schließlich Ausländer. Siebte Regel: Man soll Unterschichtenprobleme möglichst als spezielle Einwanderungsprobleme darstel-len. Achte Regel: Junge Ausländer, zumal in den Problemvierteln der Großstädte, sind unrettbar kriminell. Neunte Regel: Für soziale Abstiegsängste muss ein Feindbild gestiftet werden; der Islam bietet sich an.

Integration heißt: all diesen Schutt immer wieder wegschaufeln. Das verlangt die De-mokratie, die ja nichts anderes ist als eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet; miteinander, nicht gegeneinander. Der Sarrazinismus ist deswegen bedrohlich, weil er den neun alten Sprengregeln eine zehnte, finale anfügt: Er behauptet, Mus-lime seien ebenso dumm wie lendenstark, ihre Integration sei daher nicht nützlich, sondern gefährlich. Diese Lehre ist der Rückfall in die Steinzeit der deutschen Einwanderungsgeschichte. Im Übrigen gilt: Homogenisieren und sterilisieren kann man die Milch, nicht die deutsche Gesellschaft. Kulturelle Unterschiede waren und sind ein Teil von Deutschland. Wer assimilieren will, der vergeht sich also an diesem Teil deutscher Identität, und der leistet einem verdrucksten Rassismus Vorschub.

Heribert Prantl

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beyond zu den autoren

Nurkan Erpulat ist einer der wichtigs-ten Regisseure des „postmigrantischen Theaters“, das Shermin Langhoff 2008 im Berliner Ballhaus Naunynstraße gegründet hat. 1974 wurde er in Ankara geboren und studierte Schauspiel in İzmir. Seit 1996 ist er als Schauspieler tätig. Im Jahr 1998 zog er nach Berlin und studierte ab 2003 Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, wobei er der erste Türke war, der dort angenommen wurde. Er inszenierte bisher vornehmlich in Berlin aber auch in Linz, Heilbronn und Hannover. Zu seinen Regiearbeiten zählen u. a. Jen-seits – bist du schwul oder bist du türke? (von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu), entstanden im Rahmen des Festivals beyond belonging am Hebbel am Ufer und am Ballhaus Naunynstraße. Seine beiden Inszenierungen mit Jugendlichen (heimat im kopf und familiengeschichten am Staatstheater Hannover) und sein Stück clash am Deutschen Theater wurden zum Theatertreffen der Jugend nach Berlin ein-geladen. Seit 2011 ist er Hausregisseur am

Düsseldorfer Schauspielhaus. verrücktes blut war seine dritte Arbeit am Ballhaus Naunynstraße.

Erstmals arbeitete er mit dem Dramaturgen Jens Hillje zusammen, mit dem ihn seit-dem eine regelmäßige Zusammenarbeit verbindet, u. a. bei Kafkas das schloss im Rahmen der Ruhrtriennale 2011. Jens Hillje wurde 1968 geboren und wuchs in Mailand, München und Landshut auf. Von 1996–99 leitete er gemeinsam mit Thomas Oster-meier die Baracke des Deutschen Theaters Berlin, die sich vor allem der zeitgenössi-schen Dramatik verschrieb. Von 1999–2009 war er an der Seite von Thomas Ostermeier Dramaturg und künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Seitdem arbeitet er u. a. intensiv mit dem Autor und Regisseur Falk Richter zusam-men. Jens Hillje arbeitet als freier Drama-turg u. a. am Düsseldorfer Schauspielhaus und ist künstlerischer Leiter des Performing Arts Festivals „In Transit“ am Berliner Haus der Kulturen der Welt.

belonging

Simon Bauer

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dominik günther Regie

Dominik Günther wurde 1973 in Bonn geboren. Nach dem Studium der Sozial-wissenschaften und Germanistik war er ab 1998 Regieassistent am Theater Bielefeld, Theater Bonn und dem Thalia Theater Hamburg. Seit 2003 arbeitet er als freier Regisseur. Im selben Jahr gründete er das Neandertal Theater Hamburg. Zu seinen Inszenierungen zählen u. a. die Urauffüh-rungen von clyde und bonnie am Dschun-gel Theater / Wien und hikikomori von Holger Schober im Thalia Theater, womit er 2008 für den Theaterpreis faust nomi-niert wurde. 2011 war seine Heidelberger Arbeit frühlings erwachen zum Festival „Augenblick mal!“ in Berlin eingeladen. Zuletzt inszenierte er du bist dabei! von Holger Schober am Deutschen Theater Berlin und die präsidentinnen von Werner Schwab am Theater Bern. Am STAATSTHEATER KARLSRUHE stellte er sich mit seiner Inszenierung von Peter Handkes immer noch sturm vor.

heike vollmer Bühne & Kostüme

In Stade geboren, studierte Heike Vollmer Literaturwissenschaften, Kostüm und Bühnenbild an der Universität Hamburg, der Hochschule für angewandte Wissenschaf-ten sowie der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Sie war Assistentin am Berliner Ensemble und arbeitete als Bühnenbildnerin u. a. mit den Regisseuren Claus Peymann und Philip Tiedemann. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet sie mit Dominik Günther. Des Weiteren arbeitete sie als freischaffende Bühnen- und Kostümbildnerin u. a. am Theater an der Ruhr, Theater Lübeck, Staatstheater Braunschweig, Landestheater Linz, Theater Krefeld und Mönchengladbach, den Ruhr-festspielen Recklinghausen, tjg Dresden, Theater Heidelberg sowie 2012 erstmals am Stadtheater Bern und dem STAATS-THEATER KARLSRUHE. Seit 2011 arbeitet sie mit dem ungarischen Regisseur György Vidovszky und dem Autor István Tasnádi am Bárka Shínház in Budapest zusammen.

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Jan-s. beyer & Jörg wockenfuss Musik

Jan-S. Beyer und Jörg Wockenfuß sind seit Ende der 90er Jahre ein festes Team. Sie arbeiteten als musikalische Leiter, Kompo-nisten, Klanginstallateure und Performer gemeinsam an zahlreichen Theatern, wie u. a. dem Staatstheater Braunschweig, am Oldenburgischen Staatstheater, Maxim Gorki Theater Berlin, Deutsches Theater Berlin, Theater der jungen Generation Dresden. Mit ihrem aktuellen Bandprojekt testsieger ha-ben sie bisher zwei Veröffentlichungen (gold, 20 Volltreffer – FaROL/Motor Digital, 2004 und laguna fantasia – FaROL/Fuego, 2009) und sind in Clubs und auf Festivals unter-wegs. Auch als Filmmusiker traten sie schon in Erscheinung. Zuletzt sorgten sie am Gorki Theater für die Musik in der Uraufführung von der penner ist immer woanders, dem Siegerstück des Stückemarkts 2011 beim Berliner Theatertreffen. In Karlsruhe erar-beiteten sie die Musik für Dominik Günthers Inszenenierung von immer noch sturm.

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Joanna kitzl MariamJoanna Kitzl spielte u. a. am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, wo sie mit Jürgen Gosch arbeitete, am Theater Neumarkt Zürich, am Hei-delberger Theater und am Staatsschauspiel Hannover. Seit 2011 ist sie im Karlsruher Ensemble und spielt die Titelrolle in minna von barnhelm, sowie in der große marsch und orpheus steigt herab.

matthias lamp Ferit Matthias Lamp wurde 1981 in Heidelberg geboren und studierte Schau-spiel an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin. Während des Studiums spielte er am Maxim Gorki Theater und der Schaubühne. In Karlsruhe spielte er in die verschwörung des fiesco zu genua und die Titelrolle in amphitryon, der große marsch / minna von barnhelm und supermen ka.

thomas halle Hasan Thomas Halle wurde 1987 in Berlin geboren und studierte Schauspiel an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin. Im Studium spielte er in der Regie von Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater den Hamlet. In Karlsruhe spielte er u. a. in die hermannsschlacht, die verschwörung des fiesco zu genua, auf kolonos und ist aktuell in immer noch sturm zu sehen.

Jan andreesen MusaJan Andreesen, geboren 1980 in Wilhelmshaven, studierte an der Leip-ziger Hochschule und spielte im Studio des Dresdner Staatsschauspiels, bevor er fest ans Theater Bielefeld ging. 2010/11 gehörte er zum Ensemble des Heidelberger Theaters. Seit 2011 ist er in Karlsruhe engagiert und spielte u. a. in herzog theodor von gothland, philotas+ und supermen ka.

sophia löffler LatifaSophia Löffler wurde 1985 in Potsdam geboren und begann 2007 ihr Schauspielstudium in Leipzig. Ab 2009 gehörte sie zum Studio am Staats-schauspiel Dresden. Seit 2011 in Karlsruhe engagiert, stand sie in die ver-schwörung des fiesco zu genua und aktuell in der große marsch / minna von barnhelm, immer noch sturm und supermen ka auf der bühne.

simon bauer Hakim Geboren 1981, spielte er bereits während seines Studiums an der Univer-sität der Künste Berlin u. a. am am Deutschen Theater. 2010/11 war er am Theater Heidelberg engagiert. Seit 2011 ist er in Karlsruhe u. a in der Titel-rolle in die verschwörung des fiesco zu genua, in orpheus steigt herab, supermen ka und don‘t wanna die watching spiderman 3 zu sehen.

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antonia mohr Sonia KelichNach dem Schauspielstudium an der Hochschule der Künste Berlin warAntonia Mohr u. a. an den Westfälischen Kammerspielen Paderborn, am Landestheater Tübingen und am Heidelberger Theater engagiert, wo sie u. a. Robespierre in dantons tod darstellte. In Karlsruhe ist sie derzeit in du musst dein leben ändern und orpheus steigt herab zu sehen.

ralf wegner BastianRalf Wegner wurde in Kiel geboren. Seine Schauspielausbildung erhielt er ab 2005 in Hamburg. Erste Engagements führten ihn u. a. nach Kiel, Hamburg, Wien und Graz. Von 2009–11 war er am Landestheater Linz. Seit 2011 ist Ralf Wegner am JUNGEN STAATSTHEATER und ist aktuell in Staubziffern, tschick, so groß – so klein und gilgamesch zu sehen.

in der tat sehr lobenswürdige anstalten, die narren im respekt und den pöbel unter dem pantoffel zu halten, damit die gescheiten es desto bequemer haben.

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bildnachweise

Umschlag Jochen klenkSzenenfotos Jochen klenkS. 24/27 diverse

impressum

herausgeber BADISCHES STAATSTHEATERKARLSRUHE

generalintendant Peter Spuhler

verwaltungsdirektor Michael Obermeier

chefdramaturgBernd Feuchtner

schauspieldirektor Jan Linders

redaktionTobias Schuster

konzept DOUBLE STANDARDS BERLIN www.doublestandards.net

gestaltung Danica Schlosser

druck medialogik GmbH

BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE 11/12, Programmheft Nr. 59www.staatstheater.karlsruhe.de

teXtnachweise

Wolfgang Welsch, „Transkulturalität – Zur veränderten Verfassheit heutiger Kulturen“. In: Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Migration und Kultureller Wandel, Schwer-punktthema der Zeitschrift für Kulturaus-tausch, 45. Jg. 1995 / 1. Vj.., Stuttgart 1995

Vgl. zur neuesten Fassung des Konzepts: „Transkulturalität – neue und alte Gemein-samkeiten“, in: Wolfgang Welsch, Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie (Berlin: Akademie Verlag 2011), S. 294–322.

Heribert Prantl, „Willkommen!“, Süddeut-sche Zeitung, 11.9.2010.

Nicht gekennzeichnete Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft von Tobias Schuster.

es ist doch eine Jämmerliche rolle, der hase sein zu müssen auf dieser welt

Thomas Halle, Joanna Kitzl

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helfen mit der waffe?