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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 LITERATUR DIE NEUE LUST AM STREIT – ODER DIE RENAISSANCE DER POLITISCHEN LYRIK VON MATTHIAS GÖRITZ Wiederholung: 11.06.2013 // 22.03 UHR /// Erstsendung: 18.10.2011// 22.05 Uhr Redaktion Künstlerisches Wort /// Literatur /// Stephan Krass Regie: Günter Maurer __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________
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(O-Ton Brecht- An die Nachgeborenen CD-Hörverlag)
„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist (...)“
Spr. 1:
„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“, schrieb
Bertolt Brecht in seinem berühmt gewordenen Gedicht An die Nachgeborenen. In den 80er
Jahren des letzten Jahrhunderts hätte man diese Zeilen wohl als versteckte Anklage gegen das
Waldsterben gelesen, in den Neunzigern als Ouvertüre zu einer „Rettet-den- Regenwald“-
Kampagne. Brechts Nachsatz, „Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“,
verankert die Klage jedoch als einen Einspruch gegen den eskapistischen Standpunkt vieler
Lyriker nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie glaubten, das Gedicht wäre nun endlich und
endgültig als aus dem politischen Dienst entlassen worden.
(Einspielung, O-Ton Bob Dylan Song...)
We live in a political world
In the cities of lonesome fear
Little by little you turn in the middle
But you´re never sure why you´re here (...)
Spr. 2
Bob Dylan ist seit seinen ersten Auftritten so etwas wie der Guru der politischen Sänger und
Songschreiber geworden; und er zog mit seiner Musik ein Massenpublikum an. Hans Magnus
Enzensberger, der gemeinsam mit Heinrich Heine, Bertolt Brecht, Erich Fried und Peter
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Rühmkorf zu den wirkungsmächtigsten politischen Dichtern in Deutschland gehört, hat
dagegen im Jahr 1999 die Position des Lyrikers als die eines ungehörten Propheten bestimmt.
Spr. 3:
Arme Kassandra
Sie war die einzige, die es kommen sah,
sie ganz allein: das alles, sagte sie,
werde bös enden. Natürlich
hat ihr kein Mensch geglaubt.
Sagenhaft lange her. Aber seitdem
sagen es alle. Ein Blick genügt,
auf die Börsenkurse, den Stau
und die Spätnachrichten. Fragt sich nur,
was "das alles" bedeutet, und wann?
Bis dahin natürlich glaubt,
was alle sagen, kein Mensch.
Ein Blick genügt, auf die Zweitwagen,
die Biergärten und die Heiratsanzeigen.
Spr. 1:
Ein Blick genügt auf die Internetseiten, bei Twitter, auf Facebook, so müsste man wohl
fortfahren. Statt „Kassandrarufen“ findet man heute – was die großen politischen Ereignisse
angeht – sezierende Analysen im Nachhinein. Ist das alles, was das politische Gedicht heute
kann? Die Prophetie ex post? Oder gibt es auch Warnungen? Und wenn ja: werden sie gehört?
Dass heute überhaupt wieder danach gefragt wird, ist kein Zufall. Es gibt nach Katastrophen
wie Fukushima wieder den Wunsch des Bürgers, ein Mitspracherecht zu haben, bei großen
Themen und bei regionalen Angelegenheiten.
(O-Ton Lamping 18:11-19:32)
„Ich glaube, dass es mit zwei Verdrießlichkeiten zu tun hat. Das eine ist vielleicht eine
Politverdrossenheit, das hat damit zu tun, dass viele im Augenblick das Gefühl haben, dass
Politik gemacht wird von Spezialisten, die manchmal auch den Rat anderer annehmen sollten.
Man sieht ja bei den Bürgerprotesten im Augenblick, wo ein starkes Gefühl dabei ist, dass die
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Bürger auf Parteien, auf die Regierung nicht den Einfluss haben, den sie sich wünschen
würden. Dichter kommen bei einem solchen Verdruss immer gleich ins Spiel. Da denkt man,
das ist eigentlich unsere Stimme, die können das sagen, was wir denken. Das ist im Grunde
genommen eine ganz klassische Vorstellung, da könnte man bis zu Goethe und Schiller
zurückgehen, die bringen eigentlich das zur Sprache, was uns alle bewegt. Unabhängig von
den Parteien. Und ich glaube diese Hoffnung spielt auch eine Rolle dabei. Und manchmal
denkt man natürlich auch heutzutage, weil ja alle nicht mehr so klassisch schreiben, da
kommen auch manche Frechheiten zum Ausdruck. Eine ganz eigene Sicht, die manchmal
auch nicht so ganz geschützt ist. Aber das ist auch eine Lizenz, die Autoren haben dürfen, das
Unerwartete sagen.“
Spr. 2:
Das sagt Dieter Lamping, Professor an der Universität Mainz, ein Kenner der Materie und
Verfasser des Standardwerks Wir leben in einer politischen Welt, das sich den Titel aus dem
angespielten Bob Dylan Song leiht. Tatsächlich beschäftigen wir uns in dieser Stunde mit
einer Gattung, die lange in dem Ruf stand, ausgestorben zu sein. "Die Nachricht von meinem
Tod ist stark übertrieben", schrieb der amerikanische Dichter Mark Twain Anfang des 20.
Jahrhunderts und legte damit humorvoll Zeugnis davon ab, dass manch einer noch
quicklebendig ist, selbst wenn die Zeitungen schon Nachrufe über ihn verfassen. Mit der
politischen Lyrik in Deutschland scheint es sich ähnlich zu verhalten: Kaum beklagt man ihr
Verschwundensein, meldet sie sich quietschlebendig zu Wort. Sie kommt und geht in Wellen.
Doch was ist überhaupt politische Lyrik? Wir fragen Dieter Lamping.
(O-Ton Dieter Lamping (1:15-1:25)
„Also ich würde es so definieren, dass es entweder ein Gedicht ist, das ein politisches Thema
hat, oder das eine politische Einstellung zu einem fast beliebigen Thema zum Ausdruck
bringt. ... (2:12-2:54) Wenn ich sage, politisches Thema, dann meine ich vor allem Ereignisse
der Politik. Das ist, glaube ich, was man so im einfachsten Fall sagen kann. Wenn ich sage,
das kann auch eine politische Haltung zum Ausdruck bringen zu einem beliebigen Thema,
dann kann die natürlich in sehr Vielem stecken. Das hängt vom Gegenstand ab, das hängt sehr
von der Einstellung des Autors ab. Und da ist es dann, dass der Spielraum sehr, sehr groß ist.
(...) Da kann die Form eine Rolle spielen, da kann ein scheinbar ganz alltägliches Thema ganz
wichtig sein. Da können einzelne Worte wichtig sein.“
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Spr. 2:
Der Lyriker Hendrik Rost sieht das ähnlich:
(O-Ton 11:28-12:10) „Ein politisches Gedicht ist auf jeden Fall ein Gedicht, das ich
verstanden habe, wenn ich es lese. (...) Ohne, dass ich genasführt werde, das heißt, dass die
Kunstkomponente des Textes nicht an erster Stelle steht, sondern, dass die zurück tritt hinter
einer Äußerung, die nachvollziehbar ist. Eine Meinung, oder eine Haltung oder eine
Weltsicht, die nur politisch ist, wenn sie auf gewisse Weise eine Handlungsaufforderung in
sich trägt.“
Spr. 1:
Ethik und Ästhetik überschneiden sich hier. „Prodesse et delectare“ - nützen und erfreuen
solle das Gedicht, schrieb der Römer Horaz in seinem Brief De arte poetica im Jahr 13 vor
Christus. Hatte die Moderne versucht, den Nützlichkeitsaspekt, den Gebrauchswert von Lyrik
ad acta zu legen und einer autonomen l´art pour l’art-Ästhetik das Wort geredet, so wurde im
20. Jahrhundert schnell deutlich, dass angesichts der Schrecken des NS-Regimes und der
Judenvernichtung diese Haltung in der Form niemals aufrecht zu erhalten ist. Worte sind nicht
unschuldig – gerade die Dichter wissen das.
Spr. 3:
„Ach Schiff, die neuen Fluten bringen dich
zurück ins Meer. Ach, und was machst du ?
Du strebst entschlossen den Hafen an.“
Spr. 2:
Wenn Horaz in seiner Ode O navis über ein Schiff schreibt, so wie vor ihm auch schon der
griechische Dichter Alkaios, dann haben seine Verse eine gezielt allegorische Dimension; sie
rufen die ganze griechisch-römische Tradition von der Polis, der Stadtgemeinschaft, als Schiff
auf. Das Schiff ist eine kollektive Metapher: Deshalb ist jedes Gedicht, das sich mit dieser
Metapher auseinandersetzt, auch ein politisches Gedicht und wurde damals so gelesen. Der
römische Gelehrte und Rhetoriker Quintilian hat den allegorischen Zusammenhang von
Horaz’ Gedicht genau analysiert. Er ersetzte das Wort 'Schiff' durch 'Staat', sah in den das
Schiff bedrohenden 'Fluten und Sturm' den 'Bürgerkrieg,' und er setzte den 'Hafen' für das
Handlungsziel des Gedichts durch 'Frieden und Eintracht'. Gibt es heute, im 21. Jahrhundert
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in der deutschen Lyrik ein ähnliches, nicht direkt politisch konnotiertes Wort, das so viel
Bedeutung trägt?
O-Ton Dieter Lamping (4:18-4:52)
„Was wir natürlich gehabt haben in der Lyrik zum Zweiten Weltkrieg ist die Bootsmetapher.
Und die hat sich fortgesetzt, ‚Das Boot ist voll’, wurde ja auch gegen ein Nachbarland mal ins
Feld geführt. Das ist etwas was auch noch in diesem Bereich bleibt. Das Haus ist manchmal
so etwas, das politisch aufgeladen werden kann, als Haus der Geschichte.“
Spr. 1:
Und da wäre dann die Schwierigkeit, dass die heutigen, sprachbewussten Dichter Schlagworte
meiden wie der Teufel das Weihwasser: „Klischee!“ reklamieren sie dann. Das Haus Europa
etwa - diese Helmut Kohlsche Wortschöpfung – jenes Haus, das sich Anfang des 21.
Jahrhunderts in eine Festung verwandelt hat, voller Währungsturbulenzen und hausgemachter
Gefährdung, sie erscheint ganz und gar nicht geeignet für die feinsinnige Lyrik von heute.
Spr. 2:
So ist es auch keine Überraschung, dass es in der von Tom Schulz im Jahre 2009
herausgegebenen Anthologie Alles außer Tiernahrung, die - wie der Untertitel behauptet -
Neue politische Gedichte versammelt, vor „Booten“ und „Häusern“ nicht gerade strotzt.
Allerdings zeigen die Gedichte in diesem Band auch, dass die vom Herausgeber gepriesene
Lesart als „politische“ oftmals nur eine Kontextbehauptung ist: Diese Gedichte sind in der Tat
vielschichtig und die „politische“ ist dabei auch nur eine Schicht von vielen.
(O-Ton Hendrik Rost: 14:33-14:44)
„Ich würde nur sagen, dass ich manche Texte zu schwierig finde, um sie direkt als politische
Texte wahrzunehmen. Ich würde sie niemals als politische Texte wahrnehmen, wenn sie
irgendwo anders stünden.“
Spr. 2:
Ganz in diesem Sinne schreibt die Literaturwissenschaftlerin Theresa Klesper im Nachwort
zu der Anthologie Alles außer Tiernahrung vom uralten Traum der Relevanz politischer
Lyrik.
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Spr. 3:
„Stellen wir uns vor, jedes Mitglied des Bundestages erhielte pro Quartal einen aktuellen
Gedichtband mit der Auflage, ihn zu lesen. Stellen wir uns vor, abgesehen von dem Mehr an
Umsatz, das den meisten kleinen Lyrikverlagen zu wünschen wäre, ja, stellen wir uns vor, die
Gedichtbände würden von den Politikern und ihrer Lobby tatsächlich gelesen. Stellen wir uns
vor, jedes Bundestagsmitglied ließe aus diesen Gedichten pro Quartal nur eine Idee, nur ein
Quäntchen in seine Gedanken hinein und diese neben sich im Parlament sitzen, wenn
politische Entscheidungen anstehen. Stellen wir uns vor: was für eine Welt?“
Spr. 1:
Ja, was für eine Welt! Nun ist das, was die Politiker aufschlagen, wenn sie morgens in ihrem
Dienstwagen, in der S-Bahn oder im Flugzeug sitzen, nicht unbedingt der neueste Lyrikband.
Eher ist es die Presse. Und hier setzte die Idee der Wochenzeitung Die Zeit an. Was ist, wenn
man genau dort politische Lyrik abdruckt? Im Politikteil. Wird sie dann nicht anders
wahrgenommen, häufiger gelesen? Mit einem Wort: ist sie da nicht am allerbesten
aufgehoben? Einmalig in der Pressegeschichte hat Die Zeit im Jahr 2011 eine Reihe deutscher
Lyriker gebeten, das Tagesgeschehen zu beobachten und mit ihrer Sprache zu versehen. Ein
ästhetischer Blick auf die Wirklichkeit, zwölf Monate lang wöchentlich dargeboten als ein
Gedicht im Politikteil, quasi ein umgedrehter Mark Twain: Hier meldet sich nicht der Autor
mit dem Hinweis, er lebe aber entgegen anderweitiger Presseberichte durchaus noch, sondern
es meldet sich das totgeschwiegene politische Gedicht persönlich zu Wort. Mark Twain hätte
diese Pointe mit Sicherheit gefallen. Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit,
und die verantwortliche Redakteurin Bibi Tegzess schreiben im Editorial, das die neue Serie
einleitet:
Spr. 3:
„Es ist ein Versuch, das Politische und die Politiker auf andere Weise wahrzunehmen, ihre
Sprache neu zu hören und sie mit anderen Worten zu beschreiben. Worten, die so noch nicht
gefallen sind. Und es ist ein Versuch, uns aus dem Konzept zu bringen. Sehen Dichter mehr
als Journalisten? Sie sehen anderes. Und anders.“
Spr. 1:
Die Sprache der Dichtung als Stolperstein, das Gedicht als Dialogpartner der Wirklichkeit.
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(O-Ton Bob Dylan)
We live in a political world
Love don´t have any place
We´re living in times, where men commit crimes
And crime don´t have a face
Spr. 2:
„Poesie tradiert Zukunft“, so faßte Hans Magnus Enzensberger die Aufgabe der Dichtung
einmal knapp zusammen. Aber kann man plündernden Jugendlichen in englischen Vorstädten
oder französischen Banlieus mit Gedichten kommen?
(O-Ton Lied Jochen Distelmeyer: „Wohin mit dem Hass“ (....)
Spr. 2:
Wohin mit dem Hass? Die Frage, die Jochen Distelmeyer, der ehemalige Sänger der
Hamburger Band Blumfeld, stellt, impliziert die Frage nach der Funktion von Kunst im
Allgemeinen. Kann Kunst ein Ventil schaffen für die Ohnmachtsgefühle, die sich angesichts
von Reaktorkatastrophen wie Fukushima oder der Angst vor dem Chaos einer neuen globalen
Wirtschaftskrise einstellen? Kann ein Gedicht helfen, die komplexe Lage in Syrien oder die
Hungersnot in Somalia zu verstehen? Können Lieder und Verse noch, ohne lächerlich zu
wirken, zu konkreten politischen Handlungen auffordern? Gedichte haben oft – neben ihrer
sprachlich gestalteten inhaltlichen Aussage – auch einen stark emotionalen Charakter. Gerade
diese Doppelfunktion der Gedichtsprache - auf der einen Seite darzustellen, zu erzählen, zu
argumentieren und auf der anderen Seite im Sinne einer Gefühlserregungskunst zu wirken -
kann sich im politischen Gedicht als große Stärke erweisen.
(O-Ton Lamping 7:58-9:13)
„Das ist etwas, was man eigentlich genau in der Tradition von Hegel sieht, von einem Begriff
von Subjektivität in der Lyrik her. Das ist auch etwas, das man zu bestimmten Zeiten sehr
stark sieht, dass das Ich, das Subjekt, das Individuum stark gemacht wird gegen die
Gesellschaft. Eine Kritik gegen unangemessene, zu weit gehende Ansprüche politischer Art.
Das ist aber eigentlich einem noch etwas traditionellen Begriff von Lyrik und von lyrischer
Subjektivität verpflichtet. Es gibt eine im Grunde genommen spätestens im 20. Jahrhundert
beginnende Tradition, in der das Ich ganz verschwindet, auch in der politischen Lyrik, sich
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nicht äußert, sondern versucht, Fakten so, wie es sie natürlich darstellt, sprechen zu lassen.
Eine Art von objektiver Lyrik, gerade politische Lyrik, wenn man etwa an Brecht in den 30er,
40er Jahren denkt. Brechts Gedichte gegen den Nationalsozialismus, die erheben den
Anspruch, etwas zu entlarven, ohne dass man eine besondere Ich-Perspektive dafür braucht.“
Spr. 1:
So unterschiedlich wie die elf Dichter, die aufgefordert waren, sich an der Zeit-Serie zu
beteiligen, sind ihre Stile. Ulf Stolterfoht spielt auf seine eigene, poetische Weise mit der
Sprache, Michael Lentz ruft den Bundestag zur „Angstbude“ aus und macht aus „Merkel“ das
Anagramm „Kremel“ und Nora Bossong inszeniert das Politische frei nach T. S Eliots
Gedicht Schachpartie aus dem berühmten Zyklus The Waste Land als Abdankungsphantasie:
Spr. 3:
RESIGN RESIGN
April ist der brutalste Gegner schlägt
Regen in die übersonnten Felder klart auf
klart ab formt Türme aus den Bauern
die noch nicht geopfert sind vom Rand her knarrt
der alte Karren Freiheit längst leckgeschlagen
ein Wrack aus nachfürstlicher Zeit fürsorglich
ließ man es verfallen was kann es noch
vorwärts seitwärts einen Rösselsprung
ein Patt zwischen die Linien treiben
Feldersterben zieht durch seine Reihen
keiner regt sich jeder schiebt den andern
wer will schon König ohne Spielbrett sein
Spr 1:
Ähnlich wie ihre Kollegen es auf unterschiedliche Weise unternehmen, setzt sich auch
Bossong mit der Tradition auseinander. Bertolt Brecht, T.S. Eliot, Günter Eich – es ist ein
Zwiegespräch über die Zeiten. Lyrik unterhält sich, so scheint es, am besten mit sich selbst.
Aber schließt man nicht die Nichtleser von Gedichten aus, wenn man so offen, oder so
versteckt, den intertextuellen Dialog mit großen Gedichten der Vergangenheit sucht?
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Auf jeden Fall zeigt sich hier ein Beglaubigungsproblem. Durch das direkte Zitat des
berühmten Anfangs von T. S. Eliots The Waste Land: „April is the cruellest month“ stellt sich
die Autorin des Gedichts unter den Schutz des Vorbilds. Das ist schlau – noch schlauer ist es,
wenn man dieses Vorbild parodiert. Wie im Falle des Helmut-Schmidt-Porträts, das Michael
Lentz vorgelegt hat.
Spr. 3:
Adoneus Helmut (sprich: Adóne-us)
Der Schmidt ist groß. Wir
sind doch die Seinen stärkeren Mundes.
Wenn wir uns jetzt politischer meinen
süßen Gewissens schweren Befundes
sollte er weinen wichtigen Grundes
mitten in uns
Der Schmidt ist groß. Ach
dass wir nicht nur noch Zuschauer seien –
nirgendwo, niemals. Es überfüllt uns.
Fällt auseinander. Uns zu befreien
fallen auch wir als Fehlerdateien
mitten in uns
Der Schmidt ist groß. So
dass wenn er spricht sich lüftet der Schleier
den er genommen stürmend von uns samt
magisch das Duo Bieder und Meier
Landshut im Griff und Pyrrhus Befreier
mitten in uns
Der Schmidt ist groß. Er
ist wenn er spricht ein handelnder Klopstock
Rhetor im Dunstkreis geifernder Meiner
Regulus: Stern und strahlender Steinbock
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ist er und bleibt der Redenden Richtblock
mitten in uns
Der Schmidt ist groß. Einst
Zünglein der vagen Doppelbeschlüsse
(Taten wie diese rekonstruiert man
wenn sie getan sind): Hochrüstung müsse
Durchblick gewähren – Zeilen durch Schüsse
mitten in uns
Der Schmidt ist groß. Er
denkt der Geschichte starrende Schmelze:
Was man auch immer tut (unterlässt) man
wird sich mit Schuld beladen wie Pelze
jagend durchs taube Untergehölze
mitten in uns
Spr. 1:
Bei Rainer Maria Rilke heißt es:�"Der Tod ist groß /�Wir sind die Seinen�/ lachenden
Munds.“
Aus „Der Tod ist groß“ wird bei Lentz „Der Schmidt ist groß“. Da kommt bei einem Leser,
der die Bezüge versteht, die Frage auf, was die Formanspielung auf Rilke soll? Was bewirkt
das poetisch veränderte Zitat? Ein pfiffiger Leser gab im Blog auf der Internetseite der Zeit
den fragenden Kommentar dazu ab:
Spr. 3:
"Helmut" und wir? Ich hätte nie gedacht, dass dieses Gedicht parodiert werden kann. Ist das
ein Todeskuss, "lachenden Munds"? Adoneus, Adonis Schmidt... - mitten unter uns?�Ich
erjage den Mythos nicht, ich glaub's nicht.“
Spr. 2:
Lentz schreibt im Jahre 2011 ein Erinnerungsbild in der Tradition des Herrscherlobs, wie das
beispielsweise auch der amerikanische Dichter W. H. Auden nach dem Tod Kennedys tat.
Auch das politische Gedicht, wenn es sich parodistisch oder zitierend auf Vorläufer beruft,
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kann natürlich ästhetisch mal mehr und mal weniger gelingen. Eine ganze Epoche ironisch
mit dem „Adonis Schmidt“ als zur Dekonstruktion frei gegebener mythischer Leitfigur
einzufangen, wie Michael Lentz das versucht, ist sicher eine Möglichkeit, die in einem eher
genügsamen, braven Rahmen bleibt. Gewagter, politisch brisanter wird es, wenn ein starker
Gegner wirklich angegangen wird:
(O-Ton Lamping 12:04-12:28)
„Das sind vielleicht die effektvollen Gedichte, gerade wenn man einen starken Gegner hat.
Die alte David-Goliath Metaphorik, die kommt da leicht hinein, und das Wort gegen die
Macht. (12:31-12:51) Das sind die ganz kämpferischen politischen Gedichte, aber es gibt
auch ganz andere politische Gedichte und die 60er, 70er haben uns ja einige davon beschert,
in denen es mehr um politische Reflektion geht als um politischen Kampf. Und für die
Reflektion braucht man keinen starken Gegner, dafür braucht man nur einen scharfen
Verstand.“
Spr. 1:
Bertolt Brecht verfasste 1943 ein ironisches Kampflied gegen das blutig marschierende
braune Regime, das eine Parodie war auf das heroisch-dumpfe Propagandalied der SA: das
Horst-Wessel-Lied:
Spr. 3
„Die Fahne hoch!�
Die Reihen fest geschlossen!
SA marschiert�
Mit ruhig festem Schritt:
Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,�
Marschier’n im Geist�
In unser’n Reihen mit.“
(Überblendung in den O-Ton Brecht-Song)
Spr. 1
Bertolt Brecht machte daraus einen Song, der Kälber zur Schlachtbank geleitet, aus dem
archaisierenden Stabreim auf „R“ wird eine entlarvende Marschpersiflage:
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(O-Ton Brecht CD)
„Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festen Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Sie heben die Hände hoch
Sie zeigen sie her
Sie sind schon blutgefleckt
Und sind noch leer.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Sie tragen ein Kreuz voran
Auf blutroten Flaggen
Das hat für den armen Mann
Einen großen Haken.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.“
Spr. 2:
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Es bleibt also die Frage: Wann ist ein politisches Gedicht auch ein gutes, ein gelingendes
Gedicht? Hängt das allein von der Einstellung, von der ideologischen Position des Dichters
ab? Dann wäre gut nicht gut im ästhetischen Sinn, sondern gut im Sinne eines anderen,
ethisch begründeten Wertesystems. Und genau diese Doppelfrage, diese Überschneidung
scheint zentral zu sein, wenn man über politische Gedichte spricht.
(O-Ton Dieter Lamping 13:55-14:23)
„Also ich fürchte, zunächst einmal sind gute politische Gedichte einfach gute Gedichte. Eins
der problematischsten Gedichte von Brecht - Die Lösung - ist politisch auch heute noch nur
zu kritisieren. Es ist aber ästhetisch einfach gelungen. Weil er eine Pointe gesetzt hat, weil er
ein Bild gefunden hat, das eingängig ist und das bleibt und das überlebt sozusagen die
Botschaft.“
Spr. 3: Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
(O-Ton Lamping 14:23 - 15:03)
„Da muss man sagen, das ist ein gutes Gedicht mit einer zweifelhaften Botschaft. Wir kennen
natürlich auch das andere: all die Gedichte mit guter Botschaft und zweifelhafter Machart. Ich
glaube, dass man das Urteil darüber eigentlich ästhetisch fällen muss. Und es muss, im
Grunde genommen, beides zusammen kommen, dass wir sagen, das erfüllt alle unsere
Erwartungen an politische Lyrik, wir müssen ideologisch und politisch mit der Aussage
übereinstimmen und wir müssen sagen können, das ist aber auch ein Kunstwerk und nicht nur
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eine Meinungsäußerung, die nicht nur ein Journalist oder ein Gutmeinender oder wir alle am
Stammtisch hätten von uns geben können.“
Spr. 1
Dass Gedichte angesichts von politischen Katastrophen einen großen Stellenwert erhalten
können und eine Komplexität des Nachdenkens und der Gefühle erzeugen, die den
Ereignissen angemessen ist, bezeugte zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA die
Dichterin Ann Lauterbach mit ihrem lautmalerischen, poetisch-verstörenden Text Hum über
die Anschläge auf die beiden Türme des World Trade Center, der auch im deutschsprachigen
Raum publiziert wurde. Ganz anders verhält es sich mit einem Gedicht des polnischen
Lyrikers Adam Zagajewski, das im Zusammenhang mit dieser Tragödie bekannt wurde: Hier
war es keine Zeitungsredaktion, die den Auftrag gegeben hatte, das Gedicht zu verfassen:
Nein, Zagajewskis Gedicht war sogar Jahre vor dem Ereignis, in dessen Kontext es dann
gelesen wurde, geschrieben worden. Erst ein Abdruck in der Zeitschrift The New Yorker
stellte es in den Kontext des 11. September - als eine besonnene Meditation über das Dichten
in einer beschädigten Welt. In der Vielzahl von Texten, Romanen, Filmen und den unzähligen
politischen Kommentaren und Artikeln, die sich gerne in babylonischer Verwirrungs-, Kriegs-
und Betroffenheitsrhetorik verirren, ragen Gedichte wie jene von Lauterbach oder Zagajewski
heraus.
Spr. 2:
Das Gedicht von Adam Zagajewski heißt Versuch`s, die verstümmelte Welt zu besingen und
wurde von Karl Dedecius ins Deutsche übertragen:
Spr. 3:
Versuch`s, die verstümmelte Welt zu besingen.
Erinnere dich an die langen Junitage,
und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé.
An die Brennesseln, die methodisch die verlassenen
Behausungen der Vertriebenen überwucherten.
Du musst die verstümmelte Welt besingen.
Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
eins davon hatte eine lange Reise vor sich,
ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.
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Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen,
Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart
in dem weißen Zimmer, und die Gardine sich bewegte.
Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.
Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
Besinge die verstümmelte Welt
und die graue Feder, die die Drossel verlor,
und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet
und wiederkehrt.
Spr. 2:
Es sind Momente wie der 11. September, der Tsunami und die anschließende
Reaktorkatastrophe in Fukushima, die in Worte zu fassen sich dem Dichter als eine schier
unlösbare Aufgabe darstellt. Welche Verse wären dem gewachsen?
(O-Ton Rost)
Notiz an das Neugeborene
Verzeih, wenn du kommst, wie es
hier aussieht, leblose Information
fliegt überall rum: Klimawandel,
Endlager, Menschenjagden ... Alles
stapelt sich, Massakernachrichten,
Tsunamis brechen durchs Wohnzimmer,
Tumulte in Massen. Wir wissen genau,
was uns einst stürzen lassen wird.
Sei dabei. Es geht vorüber. Verzeih.
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Spr. 1:
Der Kritiker Ulrich Rüdenauer kritisierte Henrik Rosts Gedicht Notiz an das Neugeborene,
das im Februar 2011 zu Fukushima in der Zeit-Serie erschien als „Schnellschuss“. Er sieht
darin nicht genug Distanz zum Erzählten, hält das Gedicht für einen „simpel gestrickten“
Reflex, für „gut gemeinte, sozialdemokratische Erbauungs-Lyrik“. Bemerkenswert ist, dass
die ästhetische Debatte und die politische Interpretation bei Rüdenauer verschmelzen, die
Wahrnehmung des Textes also sofort ein explizit politisches Gedicht mit einer eindeutigen
politischen Aussage ist. Rost selber sieht sich und seine Arbeit immer mehr auf dem Weg zu
einer größeren Einfachheit.
(O-Ton Rost 24:42-24:47)
„Das wäre eigentlich eine große Befreiung, einfach schreiben zu können, ohne plump zu sein
oder ohne moralisierend zu werden.“
Spr. 1
Er steht damit in der Tradition eines in den 1960 er und 70er Jahren höchst populären
Lyrikers in deutscher Sprache: Erich Fried.
(O-Ton Rost 22:47-22:55)
„Was ich wunderbar finde an Erich Fried, ist einmal der Mut, so klar zu schreiben und das
dann auch zu können.“
Spr. 2:
Bei Rosts Gedicht zu Fukushima handelt es sich nicht um einen „Schnellschuss“. Durch den
Titel An das Nachgeborene wird nämlich nicht nur auf Brecht angespielt, sondern es gibt
noch eine ganz anderes Referenz, auf die das Gedicht Bezug nimmt, eines von Rosts
Lieblingstexten: William Carlos Williams’ berühmtes Gedicht This is just to say - hier in
einer Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger.
Spr. 3:
Nur damit du Bescheid weißt
Ich habe die Pflaumen gegessen
die im Eisschrank
waren
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du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben
Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt
Spr. 2:
Ein Gedicht, in der Tat, von größtmöglicher Einfachheit. Vielleicht eine Zettelnotiz am
Kühlschrank, die bei genauerem Hinsehen ein ganzes Beziehungsdrama mit fast religiösem
Unterton offenbart. „Verzeih“ heißt es auch bei Hendrik Rost, der auf dieses Gedicht, wie
viele andere Dichter vor ihm, angespielt hat. Aber in Notiz an das Neugeborene überführt er
den Plot, der sich zwischen den Zeilen aufbaut und im Leser weiter wirkt, in einen politischen
Kontext. „Verzeih“ wird hier zu einem Schlüsselwort, das Privates und Politisches mit einem
ethisch-religösen Kontext verbindet. Der Nachrichtenleser oder Fernsehzuschauer, der die
Information über die täglichen Katastrophen nur aufnehmen, aber gar nicht mehr verarbeiten
kann, wird auf seine Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen hingewiesen. Ein
Sich-Heraushalten gibt es nicht; die schnelle Lösung allerdings auch nicht. Was bleibt da
übrig, als die Nachkommen um Verzeihung zu bitten?
(O-Ton Rost 33:21 -33:40)
„Es gibt für Gedichte und für Lyrik keine Möglichkeit mehr, an Politik teilzunehmen, als es
mit jeder anderen Handlung auch möglich wäre.“ (O-Ton Rost 7:50-8:22) Das strahlende
Wort Tsunami, das Wort ist so aufgeladen gewesen, per se als Fremdwort, als Wort, das
Schrecken verheißt (...), was hat es an Gewicht? Und es ist ja nicht der erste Tsunami, den wir
live miterlebt haben, sondern der zweite.“
Spr. 1
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Die Katastrophe beschreiben, sie in Worte zu fassen, heißt sie auch, sie ein wenig zu
bändigen, sie zumindest diskursiv wieder verhandelbar zu machen. Das geschieht in
Zeitungsartikeln und medialen Debatten oft zu schnell, zu rational, so dass Gefühle wie
Angst, Panik, Sorge oder auch Hoffnung aus dem Blick geraten. Dichtung erhebt dagegen
Einspruch. Nicht „Verweile doch, du bist so schön“ gilt es hier zu verkünden, sondern „Lasst
uns noch einen Augenblick länger hinschauen“. Dazu eignen sich neue Perspektiven am
besten. Ungewöhnlich, provozierend, ironisch ist es etwa, wenn wie im folgenden Gedicht
etwas Kleines wie ein Röntgenapparat mit etwas Großen wie einem Kernkraftwerk verglichen
wird. Dieser Tradition des Humorvoll-Unangemessenen folgt Ulf Stolterfoht in seinem
gleichwohl äußerst poetischen Gedicht strahlung ist (leichter als licht).
Spr. 3:
du wußtest das nicht?
doch, es stimmt:
strahlung ist: leichter als licht.
ja, sie ist.
leichter als licht.
strahlung ist leichter als licht.
(jetzt muster:
ich habe gesehen / menschen gesehen)
ich habe menschen gesehen,
raketenmenschen, rattenmenschen,
die gingen durch strahlung einfach hindurch,
ja, einfach hindurch
und hörten nie wieder
zu glühen auf.
strahlung ist leichter als licht.
über schwaben kreisen raben,
durch strahlung gestählt,
kreisen raben
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längstes denken
kreisen krähen
und sind:
leichter als licht.
ja, sie sind.
den zarten knabenarm
(grenzwert 14)
durch eine gummischleuse schieben,
hinein in einen kleinen brüter
titel: wandertag
neckarwestheim
wie da die knochen strahlten
rot auf grün
strahlung ist
»ich kenne den süßlichen geruch der radioaktivität,
er hat etwas von trockenem beton.«
von schnee auf einem heißen wecken.
ich kenne dieses leise ticken.
strahlung ist.
strahlung ist.
beton ist der käfig
und der zwinger heißt blei.
gibt es den riß,
dann setzt sie sich frei.
was ist schon dabei:
strahlung ist: leichter als licht.
ja, sie ist.
leichter als licht.
21
strahlung ist leichter als licht.
Spr. 2:
Das klingt gelungen, ohne simpel und vereinfachend zu sein. Natürlich kann man gegen solch
ein sprachspielerisches Verfahren Einwände haben. Ein gewichtiger stammt von dem Lyriker
Dirk von Petersdorff, der sich grundsätzlich kritisch zu den Gedichten der Zeit-Serie geäußert
hat, indem er darauf hinwies, dass politische Lyrik vor allem „eingängig“ zu sein habe. Viele
Gedichte, die heute zu politischen Themen verfasst werden, sind von Petersdorff zu
verklausuliert. Es fehle ihm, sagt er – und das scheint der entscheidende Unterschied zu
früheren Zeiten zu sein – an eindeutigen politischen Fronten. So könne es natürlich keinen
„neuen“ Heinrich Heine geben. Ist das wirklich der Fall? Heinrich Heines Gedicht Die
schlesischen Weber von 1845 ist sicher eines der gelungensten politischen Gedichte, was die
gekonnte Verbindung von sprachlicher Arbeit und kritischer Bezugnahme auf das
Zeitgeschehen angeht.
Spr. 3
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!
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Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch -
wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!
Spr. 1:
Heinrich Heines Die Weber gehört, neben Bertolt Brechts An die Nachgeborenen und Paul
Celans aufwühlender Todesfuge, zu den Klassikern der politischen Lyrik in Deutschland; der
Refrain „wir weben, wir weben“ bohrt sich wie ein Ohrwurm in den Kopf. Heine, dieser
scharfe Ironiker und brillante, romantische Anti-Romantiker, baut sein Gedicht um die
Treueformel „Gott, König und Vaterland" herum, auf die die preußischen Soldaten bei
Dienstantritt eingeschworen wurden. Das Altdeutschland, von dem Heines lyrisches „Wir“
am Ende spricht, ist das brüchig gewordene, vorrevolutionäre Deutschland, in dem sich die
preußische Monarchie als zweite Hegemonialmacht neben Österreich zu behaupten versucht.
Spr. 2:
Überhaupt ist es die Zahl drei, die hier als magische Formel beschworen wird. Die
Liedstruktur mit dem zweifachen Refrain „Wir weben, wir weben“, das den monotonen
Rhythmus des Webstuhls genauso evoziert wie das Weben der Parzen, wird in der letzten
Strophe aufgelöst in die ewige Anklage gegen die Mächtigen und endet in der Beschreibung
der möglichen Revolution als einem Versuch, die Verhältnisse einmal umzudrehen. Wir
wissen, das Gedicht hat dazu nicht genügt, aber es hält die Geschichte wach.
Spr. 1:
Dieses Wachhalten gegenüber den Ereignissen, so kann man jedoch festhalten, ist es, was das
Gelingen eines politischen Gedichts auszeichnet. So schrieb Peter Rühmkorf 1967 im Spiegel
über Erich Fried, der das Genre des politischen Gedichts damals erneuerte, dass Frieds Texte
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den Krieg in Vietnam als eine „Mord- und Brandsache“ entlarvten, die alle anginge, auch die
Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser. Fried zeige, dass man sich durch medialen
Abstand nicht verstecken könne.
(O –Ton Erich Fried, 0:42)
Fehler im Vietnamkrieg Dann kommen die Wohlmeinenden
und schütteln besorgt die Köpfe
und sagen den Fachleuten:
‚In Vietnam werden Fehler gemacht’
Schon ihre Vorgänger warnten die Regierung des dritten Reiches
‚Die Gaskammern sind ein Mißgriff und in Rußland benehmt ihr euch falsch’
Hätte man ihren Rat damals beherzigt
könnte Hitler noch heute ein geachteter Staatsmann sein
Spr. 1:
Das Spiel mit Wörtern und Redensarten, häufig mit einer rhetorischen Frage am Ende, wurde
zum Kennzeichen seiner Kunst. Frieds Lyrik entlarvt mit diesem Verfahren Ideologien. Er
selbst wurde zur zentralen Figur der politischen Lyrik der 1960er Jahre.
(O-Ton Lamping, 16:25 – 16:53)
„Also ich glaube, das liegt daran, dass seine Gedichte einfach sind. Die sind in jeder Hinsicht
einfach, rhetorisch sehr geschickt gemacht, die geben eine Zeitstimmung wieder, eine
bestimmte linke Zeitstimmung, und er hat dabei das Ideal der Verständlichkeit ganz hoch
gehängt. Und die Gedichte haben fast alle eine Pointe. Das ist, glaube ich, eine
Erfolgsgarantie.“
Spr. 1:
So setzt auch Frieds Gedicht Wiederholbare Feststellung auf Einfachheit, Klarheit und
Verallgemeinerung.
24
Spr. 3:
Wenn ein großes Land
ein kleines Land überfällt
ist es Mord
Wenn ein großes Land
ein kleines Land überfällt
im Namen der Freiheit
ist es Mord
und das große Land
schändet den Namen der Freiheit
Wenn ein großes Land
ein kleines Land überfällt
im Namen der Sicherheit
und im Namen des Friedens
ist es Mord an dem kleinen Land
und an Frieden und Sicherheit
(...)
Spr. 2:
Verstehen kann man solche Verse sofort, auch beifällig nicken. Aber darin liegt ein Problem:
Gedichte, bei denen man beifällig Nicken kann, deren Aussage man als Bestätigung seiner
Meinung sieht, regen weder Handlungen an, noch schärfen sie das Bewusstsein für die
Problemlage. Und gerade das war eigentlich Frieds erklärtes Ziel.
Spr. 3
Worte schreiben
nach denen man
nicht mehr weiter
leben kann wie bisher (...)
Spr. 2:
Peter Rühmkorf sieht die Stärke von Erich Frieds Vietnam-Gedichten nicht in ihrem
Wirklichkeitsgehalt oder in ihrer prophetischen Wirkung, sondern er charakterisiert die
ästhetische Qualität politischer Lyrik – und da ist Fried eingeschlossen - folgendermaßen:
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Spr. 3:
„In archaischen Zeiten schrieb man dem Sänger wohl die Fähigkeit zu, das Gras wachsen zu
hören oder die Sprache der Vögel zu verstehen, ein Vermögen, auf das, wer heute von
Profession her mit Wörtern umgeht, vermutlich kaum noch Anspruch erhebt. Halten wir den
Schriftsteller aber bitte auch nicht für ein Wesen, dessen Kompetenzzone sich mit
fortschreitender Entwicklung der Informationsapparate immer weiter auf den Bereich der
reinen Wörter zu reduziere. Als Fachmann für Sprache kann er nämlich, wo er nur will, sehr
wohl auch einen kompetenten Fachmann für die Lüge abgeben, die immer noch vorzüglich in
Sprache sich kundtut. Von Beruf und Ausbildung her geübt, aufs Wort zu achten (...), eröffnet
sich ihm ein legitimes Arbeitsfeld, wo es eine mit Propagandapoesie zur Unkenntlichkeit
verschmierte Welt neu zu entdecken gilt.“
Spr. 1:
Genau diese zwiespältigen Propagandaposen dem Libyenkrieg gegenüber entlarvt die
Lyrikerin Monika Rinck mit einem ganz anderen poetischen Verfahren in ihrem Gedicht
Runde Welt, das ebenfalls für die Serie in der Zeit geschrieben wurde:
(O-Ton Monika Rinck)
„Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, zuckersüß, hier habt ihr
eure runde Welt. Wer hat denn das gesagt, der Derwisch hats.
Seine Hörner habens aufgebohrt, im Drill. Dreht sich, Grenzen
wirbeln über Grenzen, überwirbeln Libyen. Die Schirmherrschaft.
Da gehen wir drüber. Diese hochkante Fläche, wie nennen wir die?
Wand. Oder auch mal Folterland. Immer wieder gerne, Wüstensohn.
Expressives Verhalten: Ich sterbe jetzt. Wo tust du das? Bei mir.
Instrumentelles Verhalten: Bleib dort, wo du stirbst, bis du das
nicht mehr tust. Wir helfen dir mit unseren Mitteln, wirtschaftlich.
Fernzweck. Gegenwart. Verhaltenslast. Paris-Dakar. Dakar-Paris.
Das ist die runde grenzenlose Welt. Moment, sollen die jetzt alle
bei dir wohnen, oder was? Sei dir klar: Die Ungerechtigkeit ist da.
Du verkörperst sie und sie verkörpert dich. Das ist dir immerhin klar.“
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Spr. 1:
Was kann das Gedicht, was ein politischer Kommentar, ein Artikel nicht kann?
(O-Ton Rinck, 2:06-3:13)
„Das Gedicht hat natürlich eine weitaus größere Freiheit, als sie Journalisten gemeinhin
zugestanden wird, kann sich andere Formen der Komplexität und Sprünge erlauben, ist auch
meistens an bestimmte Vorgaben von Länge nicht gebunden. Und natürlich erwartet man vom
Gedicht andere Formen der Beschreibung. Eine Schwierigkeit ist dann die: wie geh ich mit
Informationen in einem Gedicht um? Und wie kann ich diese Art der Informations-
übermittlung dann wiederum meinen Ansprüchen an einen ästhetischen Text entgegen
halten.“
Spr. 1:
Das Gedicht Runde Welt arbeitet auf eine besondere Art mit Realitätssplittern, was auch an
Monika Rincks Hang zur „sprachlichen Recherche“ liegt, ihrem Eintauchen in verschiedene
Sprach-Welten. Es handelt sich nicht um eine direkte poetische Reaktion auf den Bürgerkrieg
in Libyen.
(O-Ton Rinck, 23:55-24:35)
„Ich habe das Gedicht vorher begonnen und es handelte da eigentlich stärker noch – und es
war auch dreimal so lang – von der europäischen Flüchtlingspolitik. Und dass man politisch-
gesellschaftlich, anstatt sich mit der ungleichen Verteilung von Geld von Überfluß
auseinanderzusetzen, das Mittelmeer und ein Folterland zwischen das gelobte Land und
Europa und Afrika legt.“
(O-Ton Einspielung Festung Europa von Brockdorff)
Komm näher, wir können so nah sein
Was du auch denkst, es ist ein Wert, nicht ein Geschenk
Der Raum ist hier, bei mir in meinem Haus, nicht vor der Tür...
Spr. 2:
Bleibt am Ende der Protestsong als Sehnsuchtsraum einer Generation, die sich medial weit
von den Dingen entfernt weiß und so gut informiert, dass ihr keine erinnerbaren Verse mehr
gelingen wollen, sondern eher aufgeladene Echoräume? Vielleicht. Aber vielleicht ist das
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auch gar kein schlechtes Zeichen. „Hier ist Platz für alle«, so lautet die Botschaft des Songs
Festung Europa, mit dem die Electro-Band Brockdorff Klang Labor den Protestsong-
Wettbewerb der Musikzeitschrift Spex gewann. Das Lied thematisiert die europäische
Flüchtlingspolitik vor dem Hintergrund der Revolutionen in Nordafrika und formuliert die
utopische Vision eines offenen Europa, das einen sicheren Hafen für alle Verfolgten darstellt.
Eine Einladung, eine Verführung. Die Bootsmetapher ist – aufs Schönste verwandelt –
zurück.
Spr. 1
Das utopische Gegenpotential ist im zeitgenössischen Gedicht genauso da, wie es in den
1960ern oder 70ern auch da war. Verse, die jene Aufmerksamkeit erzeugen, die uns aus der
Sprache eines guten Gedichts für die Wahrnehmung unseres Weltzustands erwächst, sind
erwünscht, ja von Nöten. Und sie können ebenso schön, wie ironisch sein: „Selig sind die
Lyrikerinnen“, wie es in einem der ersten Gedichte der Zeit-Serie von Monika Rinck heißt.
(O-Ton Rinck: Selig)
Selig sind die Lyrikerinnen, denn sie werden die Streitkräfte übernehmen.
Sie werden die Befehle verklausulieren, bis sie einschlagen wie Bomben.
Sie werden in Frankreich einmarschieren.
Sie werden Mallarmé lesen und sich von Gänsestopfleber ernähren.
Sie werden eine Tasse Tee für den Messias bereithalten, tous les jours à cinq heures.
Sie werden verkünden: Gemeinsinn ist ein sehr großer HUND in Versalien.
Ihr kennt nicht einmal die äußerste Pfote davon. Selig sind die Lyrikerinnen.
Sie werden Euch das Springen beibringen, die Panik, die Wonne, den Schreck.
Sie werden Euch befehlen, nie wieder in Amorphie zu investieren.
Es sei denn mit dem Ziel, Euch zu vernichten.
Sie werden weder Stoiker noch Zyniker sein.
Selig sind die Lyrikerinnen, denn sie werden die Streitkräfte übernehmen.
Spr. 1
Man möchte diesen zarten, ironischen Psalm weiterbeten:
Spr. 3
Denn das Himmelreich ist ihnen nahe.
28
Spr. 1
Aber bleiben wir auf der Erde. Hören wir noch einmal dem skeptischen Bertolt Brecht zu,
noch einmal einer Strophe aus seinem Gedicht An die Nachgeborenen.
(O-Ton Bertolt Brecht)
Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Spr. 1:
Vielleicht könnte man sich den einfachsten Satz aus Brechts Gedicht einmal vornehmen und
ihn zum Grundsatz seines Lebens machen: „Auch ohne Gewalt auskommen / Böses mit
Gutem vergelten“ - oder Hendrik Rosts Bekenntnis zur politischen Lyrik:
(O-Ton Hendrik Rost 37:10-37:22)
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich glaube, dass politisches Handeln zuallererst darin
besteht, sich selber und anderen möglichst wenig Leid zuzufügen.“
Spr. 2:
Das Gedicht wird zum Ort der Suche – vielleicht sogar nach einfachen Wahrheiten in einer
immer komplexeren Welt. Wenn ihm das gelingt, macht Dichten wieder Sinn.
(Fade in O-Ton Bob Dylan):
We live in a political world
In the cities of lonesome fear
Little by little you turn in the middle
But you´re never sure why you´re here