chilli Kultur – das Freiburger Stadtmagazin

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mit THEMENHEFT Weihnachts- zeit Ausgabe Dezember/Januar 12. Jahrgang / #115 Was da wieder los ist: Termine & Partys 19.12.15 – 14.02.16 LIEDER Wie die Freiburgerin Deena in Uganda zum Star wurde LÄNDER Stippvisite in der Ukraine LITERATEN Freiburger Buchhändler und die Bücher des Jahres KNALLBUNTES KALEIDOSKOP Die Internationale Kulturbörse Freiburg boomt wie nie Magic OF THE Da N ce am 23.03.2016 im Kultur- und Bürgerhaus Denzlingen Ausgabe 12/15/-01/16 2,50 Euro

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Kulturteil – Ausgabe Dezember 2015 / Januar 2016

Transcript of chilli Kultur – das Freiburger Stadtmagazin

mitThemenheFTWeihnachts-

zeit

Ausgabe Dezember/Januar 12. Jahrgang / #115

Was da wieder los ist: Termine & Partys

19.12.15 – 14.02.16

LIeDeRWie die Freiburgerin Deena in Uganda zum Star wurde

LÄnDeRStippvisitein der Ukraine

LITeRATenFreiburger Buchhändler und die Bücher des Jahres

KnALLbunTes KALeIDOsKOPDie Internationale Kulturbörse Freiburg boomt wie nie

Magicof the DaNce

am 23.03.2016im Kultur- und Bürgerhaus Denzlingen

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chilli Editorial

Dezember 2015 / Januar 2016 chilli Kultur 3

KleinKunst- HocHburg Freiburg

Von RetteRn, PoPstaRs und Pazifisten

einmal im Jahr trifft sich die große internationa-le Kleinkunstszene in der kleinen Großstadt Frei-burg. dann öffnet die internationale Kulturbörse ihre Pforten. 600 Künstler aus 31 ländern reisen im Januar an und werden Denkmuskeln wie Lachmuskeln strapazieren. die Börse boomt: Nie zuvor wollten so viele Produzenten, agenten und aussteller ihre Visitenkarten abgeben. Und mit der iKF startet auch das Grenzenlos-Festival, das andernorts schon mal ausfällt, in Freiburg aber auch ein dickes Brett im lokalen Klein-kunstkalender ist. Für Kulturinteressierte ist al-les angerichtet.angerichtet hat auch deena Herr etwas. die 22-Jährige hatte vor zwei Jahren noch in Freiburg studiert und auf der Kajo musiziert. dann ging sie nach ruanda, um mit Straßenkindern zu arbeiten und trällerte in einer Bar so vor sich hin. War-um sie heute nicht nur in Uganda ein Popstar ist, wollte redakteur till Neumann wissen.Wissen Sie, was containern ist? Unsere redak-teurin tanja Bruckert weiß es: Sie hat im Abfall recherchiert und zutage gefördert, wie viele

Menschen sich mittlerweile – legal oder illegal – darum kümmern, dass weniger lebensmittel ver-schwendet werden. dem Bewahren hingegen haben sich die Ehe-leute theuerkaufer verschrieben. Sie verleihen Porzellan und deko aus den 40er- bis 70er-Jah-ren – und sind für uns deswegen die Retter der Tafelrunde. Ein kämpferischer Pazifist ist Jürgen Grässlin. der Mann, der den Mächtigen in Ministerien und vor allem dem Waffenhersteller Heckler & Koch zuverlässig auf die Finger guckt, hat erstmals erreicht, dass Waffenhändler vor Gericht gestellt werden. Warum er dennoch nicht glücklich ist, erzählte er beim redaktionsbesuch. Wir hingegen haben Ulrich von Kirchbach einen Besuch abgestattet. Für den Sozialbürgermeister stand das vergangene Jahr ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise. die kleine Politik hat er im Griff, bei der großen spart er nicht an klaren Worten. Wir wünschen anregende lektüre, ein friedliches Weihnachtsfest, besinnliche tage und ein gesun-des neues Jahr. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen.

Herzlichst, Ihr Lars Bargmann,Chefredakteur & die chillisten

Lokalmatador auf der Kulturbörse: Matthias Deutschmann.

Foto: © Anja Limbrunner

Liebe Leserin & lieber Leser,

Kultur Veranstaltungen

D ie 28. Internationale Kulturbörse Freiburg hat ihre ohnehin schon kräftige magnetische Wirkung

auf internationale Künstler und Ausstel-ler noch einmal verstärkt: Schon Anfang November hatten 354 Aussteller die Messe Freiburg restlos ausgebucht. Re-kord. Rund 600 Künstler aus 31 Nationen kommen vom 25. bis 28. Januar zur IK nach F. „Das Who-is-who der deutsch-sprachigen Kleinkunstszene ist bei uns“, sagt IKF-Chef Holger Thiemann von der veranstaltenden Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH. Widerspruch wird er nicht ernten.

Den Reigen der sechs öffentlichen Ver-anstaltungen (siehe Infobox) eröffnet am 25. Januar – auch fürs grenzen-los-Festival – die große Opening-gala mit dem Kabarett-Duo „Das geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, dem deut-schen slam-Poeten nektarios Vlacho-poulos, dem preisgekrönten Puppen-spieler und Comedian Michael Hatzius mit seiner echse, uliK Produktion, der Fenix theatre Company und den virtuo-sen Mozart Heroes – für thiemann „lie-be auf den ersten Blick“.Während die Kabarett- und Comedy- szene vor allem deutschsprachig ist, sind Musik und straßentheater so in-

ternational wie selten. aus südamerika (argentinien, Brasilien, Chile), den usa und Kanada, aus Japan und dem nahen Osten (libanon), aus afrika (Kamerun, südafrika) und so gut wie allen teilen europas reisen die Künstler an – ja sogar aus Österreich, dem erfolgreichen the-menschwerpunkt aus dem Vorjahr. Das nötige Lokalkolorit in die äußerst bunte Kulturbörse bringen der Freibur-ger Kabarettist Frank sauer als Modera-tor und Ink stained Me, die hippen und hoppen, derweil durchaus auch groovi-gen diesjährigen rampe-gewinner. Schwerpunkt heuer sind Cirque nouveau und das Varieté: 55 von 180 Veranstaltun-gen gehen in diesen Bereichen über die Bühnen. Zum ersten Mal in der geschich-

te der IKF gibt es einen Dokumentarfilm zu bestaunen, in dem die lutterbekerin linn Marx die erzählenswerte geschich-te ihres elternhauses, der Kult-gaststätte lutterbeker, filmisch aufbereitet hat. Etwas Schrilleres gefällig? es gibt eine Maschine, die mit sand schreiben kann, eine graffitikünstlerin, die mit laser Bil-der an die Wand wirft und dazu tanzt, oder die irische Formation Journey to Ireland, die die geschichte ihres landes, jawohl, tanzt. Und es gibt einen, an den sich auch älte-re semester erinnern: Ilja richter kommt nach Freiburg, der mit dem tV-Format Disco elf Jahre lang Musik und sketche in die Wohnzimmer gebracht hat. Das Internet-Comedy-Magazin Joke kommt

Facettenreiches Kaleid osKopDie 28. iKF boomt wie nie – 600 Künstler aus 31 länDern

4 CHIllI Kultur Dezember 2015 / Januar 2016

Open HOuseinFo

> Mo., 25.1., 20 uhr, theatersaal 1: Opening Gala. Karten ab 19/13 euro > Di., 26.1., 20.30 uhr, theatersaal 2: Libery Di … Physical Theatre. Karten ab 16/12 euro> Di., 26.1., 20.30 uhr, Music Hall: A Cappella Worldwide. Karten ab 16/12 euro> Mi., 27.1., 19.30 uhr, K 6 – K 9: Poetry Slam. Karten ab 8/6 euro> Mi., 27.1., 20 uhr, Zentralfoyer: La Trócola Circus. Karten ab 16/12 euro> Do., 28.1., 19.15 uhr, theatersaal 1: Varieté-Abend. Karten ab 19/15 euro> Mehr Infos: www.kulturboerse-freiburg.de

Volle ladung Kulturbörse: Es wird viel Staunenswertes und Hörenswertes geben. Unter anderem von Ulik, „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, Michael Hatzius - natürlich nebst Echse, Africappella und den Mozart Heroes (v.l.) .

Facettenreiches Kaleid osKopDie 28. iKF boomt wie nie – 600 Künstler aus 31 länDern

Kultur Veranstaltungen

Dezember 2015 / Januar 2016 CHIllI Kultur 5

Z eitgleich mit der Internationalen Kulturbörse startet am 25. Januar in Freiburg auch das Freiburger

Grenzenlos-Festival, das das Kulturbüro vom Vorderhaus zusammen mit dem SWR und dem Konzertveranstalter Koko & DTK Entertainment auf die Bretter bringt. Es ist gleichsam das Festival zur Börse, es ist mal scharf, mal schräg und auch mal schrill, und es zählt in seiner 17. Auflage zu den ganz dicken Brettern im Kleinkunstkalender von Freiburg.

ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein (Die neuen leiden des alten M.) eröffnet das Festival am 26. Januar im sWr-stu-dio, Bernd Kohlhepp (Hämmerle – Privat) und ehnert vs. ehnert (Zweikampfha-sen) beenden es am 6. Februar ebenda und im Vorderhaus. Dazwischen gibt es auch mal im e-Werk, im Paulussaal, im Berghotel schauinsland oder auch im Humboldtsaal spaß mit tiefgang, un-terhaltung mit niveau. So lädt Martin Zingsheim ein zum Kopfkino – der Mann ist so etwas wie der assoziations-Hopping-Beauftragte –, Matthias Deutschmann fragt sich: „Wie

sagen wir’s dem Volk?“. Volker gerling weiß hingegen schon, dass Bilder laufen lernen, indem man sie herumträgt, und Irmgard Knef, die alterspräsidentin des deutschen Kabarett-Chansons, findet: ein lied kann eine Krücke sein. Aber auch Badesalz (Dö Chefs), die antidiva anna Mateur & the Beuys, die gesangsdiva gesine Heinrich oder Vol-ker gerling mit seinem Daumenkino und viele andere kommen nach Frei-burg. nicht zu vergessen Christine Pray-on (das ist die Birte schneider aus der ZDF-heute-show), die ihr Programm „die Diplom-animatöse“ auf die Bühne bringt. Keine so weite anreise hat die in Freiburg lebende susanne Fritz, die zu-sammen mit Matthias anton Worten mit Klavier, saxophon und Bassklari-nette ausdruck verleiht. Büchner-Preis-träger arnold stadler sagte einst über die schriftstellerkollegin Fritz: „sätze wie spaten“. ein tiefschürfender abend wartet. bar

Mehr Infos und Karten: www.freiburg-grenzenlos-festival.dewww.reservix.de

KopFKino und animatösescharFes, schräges unD schrilles

beim 17. grenzenlos-FestiVal

gleich mit aufnahmestudio angereist und zeichnet viele live-auftritte auf. eine Denkaufgabe für den sWr? Zu gast – im Messekatalog – ist auch die Online-satirezeitung tagespresse, die heuer beim österreichischen Kabarett-preis den sonderpreis einheimste. Es gibt Langsames, etwa von gráinne Holland, spektakuläres, etwa von libery Di … Physical theatre, Vielstimmiges wie bei der a-cappella-nacht mit afri-cappella aus Johannesburg und Cluster aus Italien oder auch erstaunliches wie beim la trócola Circus. und es gibt auch wieder was zu gewinnen: die Frei-burger leiter. Die Kandidaten für die Karriereleiter, 1000 euro sowie auftritte auf der schweizer Künstlerbörse und bei der IKF 2017 sind erstmals durch eine Jury nominiert worden. und anders als bis-her werden die sieger – nach dem Pub-likumsentscheid – nicht mehr am ende, sondern gleich am zweiten Börsen-tag im theatersaal geehrt. „Wir möchten die Freiburger leiter aufwerten“, erzählt thiemann – derweil im Hintergrund die Mozart Heroes Metallicas enter sand-man mit Violoncello und gitarre insze-nieren. es ist nicht schwer zu verstehen, warum es liebe auf den ersten Blick war.

lars bargmann

Volle ladung Kulturbörse: Es wird viel Staunenswertes und Hörenswertes geben. Unter anderem von Ulik, „Das Geld liegt auf der Fensterbank, Marie“, Michael Hatzius - natürlich nebst Echse, Africappella und den Mozart Heroes (v.l.) .

Fotos: © ZVG

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grenzenlose unterhaltung: Christine Perayon, Ehnert vs. Ehnert, Matthias Deutschmann,

Harald Martenstein, Anna Mateur und Dö Chefs von Badesalz (von links oben im Uhrzeigersinn).

E s gibt Filme, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Geschichten, die zunächst ganz unspektakulär

daherkommen, sich dann aber unverse-hens umso nachhaltiger einnisten – in Herz und Verstand. Naomi Kawase hat mit „Kirschblüten und rote Bohnen“ einen solchen Film geschaffen: Mit einer un-fassbaren Kombination von Schlichtheit und Poesie porträtiert sie eine Frau na-mens Tokue, die sich trotz lebenslanger Zwangs-Isolation eine fast schon beschä-mende Menschlichkeit bewahrt hat. Freilich ahnt man davon noch nichts, wenn man die alte Frau mit dem freund-lichen Gesicht zu Beginn des Films durch die von üppig blühenden Kirschbäumen gesäumten Straßen einer japanischen Großstadt gehen sieht. Die dadurch wie eine himmelslichtdurchflutete Kathe- drale wirkt, in der selbst der Verkehrslärm nur gedämpft zu vernehmen ist. Doch schon da geht ein Zauber von ihr aus, regt sich das Gefühl, einem ganz beson-deren Menschen zu begegnen.Dieses Gefühl täuscht nicht: Als sie Sentaro, der am Stadtrand einen klei-nen Kiosk mit gefüllten Pfannkuchen betreibt, mit großer Hartnäckigkeit schließlich davon überzeugt, dass sie die ideale Aushilfe für den Betrieb ist, entpuppt sie sich als geradezu mär-chenhafte Köchin. Mit unendlicher Ge-duld und einem untrüglichen Gespür für den richtigen Moment stellt Tokue in stundenlanger nächtlicher Arbeit ihre eigene Variante der traditionell zur Füllung der Pfannkuchen verwendeten süßen Paste aus roten Bohnen her. Da-bei spricht sie mit den Bohnen, strei-chelt sie mit dem Löffel, umarmt die Töpfe, meditiert über das Kochen, die Gastfreundschaft, das Leben, die Natur und deren Geheimnisse. Und das Ergeb-

nis ist von einer Qualität, die Sentaro bisher nicht kannte. Seine spärlichen Gäste auch nicht. Begeistert erzählen sie überall davon. Mit der Folge, dass am nächsten Tag bei Ladenöffnung bereits viele neue Kun-den Schlange stehen, um in den Genuss der Paste zu kommen, deren geglückte Zubereitung früher ein Heiratskriterium war. Und die Tokue mit einer rührenden Seligkeit darüber kreiert hat, dass sie endlich – mit fast 80 Jahren – arbeiten darf: Als sie sich mit Sentaro über den unverhofften Erfolg freut, spiegelt sich in ihrem Gesicht das reine Glück. Das hält indessen nicht lange: Die Schülerin Wakana, die auf dem Heimweg immer bei Sentaro einkehrt, erzählt ihrer Mut-ter von Tokues merkwürdig verformten Händen. Und schon bald drängt die Imbissbuden-Besitzerin darauf, sie zu entlassen: Es geht das Gerücht, dass sie Lepra habe. Was auch stimmt: To-kue lebt seit 60 Jahren in einer geschlossenen Anstalt, die erst seit kur-zer Zeit keine Ausgangs-sperre mehr hat. Sie wurde ihrer Jugend, ihres Lebens, ihres ungeborenen Kindes, ihrer Zu-kunft beraubt. Und ist ein solidarischer Mensch ge-blieben, der Zuversicht verbreitet, wie bei Sen-taro und Wakana.Ein bitterschöner Film, mit einer großarti-gen Kirin Kiki als Tokue.

Erika Weisser

kochkunst mit wunderwirkung

BittErschönE gEschichtE – grandios Erzählt

KINO FILMTIPP

Kirschblüten und rote bohnenJapan 2015Regie: naomi KawaseMit: Kirin Kiki, Kyara ushida u. a.Verleih: neue VisionenLaufzeit: 113 MinutenStart: 31.12.2015

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Film

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die kinder des Fechters

usA, Kanada 2015Regie: Alejandro González iñárrituMit: leonardo dicaprio, tom hardy u. a.Verleih: 20th century FoxLaufzeit: 150 MinutenStart: 6.1.2016

Überleben aus racheDer Film ist mehr als ein Wildnis-Survi-val-Abenteuer: Er erzählt die Geschich-te eines Verrats und dem unbändigen Überlebenswillen, den die dafür ge-plante Rache erzeugt. Er erzählt aber auch eine Vater-Sohn-Geschichte, denn die Liebe zu diesem Sohn beflügelt den schier übermenschlichen Überlebens-willen noch mehr als die Rachegelüste.Und Hugh Glass, der legendäre Jäger und Fallensteller, schafft es: Nachdem er bei einer Expedition in der amerika-nischen Wildnis von einem Bären übel zugerichtet und dabei von seinen Jagd-begleitern im Stich gelassen wurde, kämpft er sich müh- und langsam zu-rück ins Leben – gegen den drohenden Tod, den unerbittlichen Winter und die feindliche Wildnis. Er durchleidet dabei schier unerträgliche Qualen, ist allein auf sich und seine Instinkte gestellt.Alejandro González Iñárritus imposanter neuer Film ist langsam entstanden – ent-sprechend Hugh Glass’ Weg zurück ins Leben: Ohne Spezialeffekte, ohne künstli-ches Licht und mit viel Zeit an kraftvollen Orten in unberührter Landschaft Erika Weisser

the revenant – der rÜckkehrer

Finnland, estland 2015Regie: Klaus häröMit: Märt Avandi, ursula ratasepp u. a.Verleih: ZorroLaufzeit: 93 MinutenStart: 17.12.2015

schwere entscheidungEndel Nelis hat es wirklich gegeben. Den-noch ist Klaus Härös Film über das Leben des estnischen Fechters keine Dokumen-tation, sondern ein lebendiger und höchst spannender Spielfilm, der eine Lebensge-schichte in historische Zusammenhänge stellt. Und die Zuschauer hautnah in Ent-scheidungsprozesse einbezieht.Die Handlung setzt mit Endels Ankunft in der Hafenstadt Haapsalu in Estland ein. Dorthin wurde er nach dem Ausschluss aus der Leningrader Elite-Sport-Universi-tät von Stalins Geheimpolizei verbannt – wegen abtrünnigen Verhaltens gegen-über der allmächtigen Partei. Als Aus-gleich für seine Verfehlung muss er als Provinzlehrer arbeiten und hat es plötzlich mit den armseligen Kindern von Kriegs-witwen oder deportierten Vätern zu tun.Zu seinen Aufgaben gehört der Aufbau eines Sportclubs, der freilich bald zu ei-nem persönlichen Anliegen wird: Ge-gen alle Widerstände lehrt er die Kinder das Fechten. So gut, dass sie am natio-nalen Fecht-Wettbewerb in Leningrad teilnehmen sollen. Womit Endel seine Verhaftung riskiert. Erika Weisser

KINO FILMTIPPS

voll von der rolleder Junge am klavier kommt aus Freiburg

Auf dem Jakobsweg war Moritz Knapp nicht. Leider: Als Devid Striesow in den Sommer-ferien 2014 in die Fußstapfen Hape Kerke-lings trat und für die Verfilmung von „Ich bin dann mal weg“ ein Stück durch Nordspanien wanderte, war er in Berlin. Denn die Dreh- arbeiten mit dem inzwischen fast 16-jährigen Rotteck-Schüler fanden dort statt. Dabei haben sich die Szenen, in denen Moritz Knapp aufritt, in der Echtzeit in Reck-linghausen abgespielt, wo Hape Kerkeling zur Schule ging. Und seine ersten künst-lerischen und musikalischen Versuche un-ternahm – zusammen mit seinem besten Freund, dem Pianisten Achim Hagemann. Und diesen spielt Knapp im Film – in der Zeit, als der so alt war wie er jetzt. In „ein paar Rückblenden“ ist er zu sehen, unter anderem auch mal am Klavier. Mit „so ei-ner komischen Brille“ und, dem Outfit der 80er-Jahre entsprechend, in „einer witzigen Hose, die bis zum Bauchnabel reicht“. Samt „hineingestopftem Hemd“.Bei den Dreharbeiten, die ihm viel Spaß gemacht haben, weil „alle so supernett“ waren, hat er weder Hagemann noch Ker-keling kennengelernt. Auch vorher nicht; er hat sich „mit YouTube-Videos von den bei-den auf seine Rolle vorbereitet“. Er traf erst jetzt, bei der Berliner Premiere, mit ihnen zusammen. Dort hat er den Film zum ersten Mal gesehen – und wird ihn auch ein zwei-tes Mal anschauen, zusammen mit ein paar Kumpels aus seiner Klasse. Erika Weisser

Ab 24. Dezember 2015 in Freiburger Kinos

KINO News

Foto: © Jessica Alice HathFoto

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brooklyn – eine liebe zwischen zwei welten

usA 2015Regie: John crowleyMit: saoirse ronan, emory cohen u. a.Verleih: 20th century FoxLaufzeit: 112 MinutenStart: 21.1.2016

grosse herausForderungDie junge Irin Eilis Lacey verlässt in den frühen 1950er-Jahren ihre Heimat, um in New York die Chance auf ein besse-res Leben zu finden. Dort trifft sie den italienischstämmigen Amerikaner Tony, der ihr hilft, sich in der Großstadt einzu-leben. Bald entwickelt sich eine Liebes-beziehung, die aber zunehmend von Eilis‘ starkem Heimweh und der Sehn-sucht nach ihrer Familie überschattet wird. Um beides zu stillen, reist sie nach Irland, doch die Reise gerät zu einer har-ten Probe, die ihr eine endgültige Ent-scheidung zwischen zwei Ländern und zwei Lebensentwürfen abverlangt.Saoirse Ronan spielt die Rolle der hin- und hergerissenen Eilis mit viel überzeu-gendem, sehr berührendem Tiefgang. Doch auch die unfreiwillig heitere Seite einer Einwanderung kommt nicht zu kurz und ist trefflich dargestellt, etwa wenn Eilis versucht, sich ungeahnten Herausforderungen wie der richtigen Strand-Etikette und dem kleckerfreien Genuss von Spagetthi zu stellen.Das Drehbuch verfasste Nick Hornby nach dem Roman von Colm Toibin. Erika Weisser

die dunkle seite des mondes

deutschland 2015Regie: stephan rickMit: Moritz bleibtreu, Jürgen ProchnowVerleih: AlamodeLaufzeit: 97 MinutenStart: 14.1.2016

wolF unter wölFenUnbehagen schleicht sich schon im Vorspann ein, wenn man eine gefühl-te Ewigkeit lang in einen zwielichtigen Wald blickt, der geradezu nach einer ver-borgenen Leiche schreit. Doch die gibt es noch nicht. Denn Urs Blank, der auf dem Gebiet von Firmenfusionen sehr erfolgreiche Wirtschaftsanwalt, hat die Pilze noch nicht gegessen, die sein Leben grundlegend ändern werden. Und ihn. Vielleicht auch nicht: Blanks Freundin Lucille, der er nach dem gemeinsamen Psylo-Trip seine Sorge über seine plötz-liche unkontrollierbare Gewalttätigkeit anvertraut, behauptet jedenfalls, dass nur die dunklen Seiten zum Vorschein kommen, die schon immer da waren. In der Hoffnung, durch den nochmaligen Verzehr seine inzwischen in die Tat um-gesetzten mörderischen Wolfsinstinkte loszuwerden, begibt er sich auf die Suche nach dem Pilz. Und wird von einem wah-ren Wolf zur Strecke gebracht: Geschäfts-partner und Widersacher Pius Ott.Großartige Umsetzung des Romans von Martin Suter, bestens gespielt von Mo-ritz Bleibtreu und Jürgen Prochnow. Erika Weisser

uns geht es gut

FlÜchtiges glÜckFranz Rogowski, der gebürtige Freibur-ger, spielt in diesem Film die Hauptrolle. Und in der Clique ganz junger Erwachse-ner, die sich in einer Art Schwebezustand befinden. Er spielt die Rolle des Machers in diesem aus einem Mädchen und vier Jungs bestehenden Quintett, das ziellos in den Tag hineinlebt. Er strotzt vor Kraft und Tatendrang, kann beides aber nicht zur Entfaltung bringen, wirkt seltsam ausgebremst in dem selbst auferlegten Zustand ewiger Sommerferien. Und so bekommt die ohnehin ziemlich oberflächliche Gemeinschaft von Tubbie, Tim, Jojo, Birdie und dem Mädchen Marie bald Risse. Es kommt zu Rangeleien, zu handfesten Streits, die weniger mit Ma-rie zu tun haben als mit der Leere, die sie angesichts ihres unwirklich undefinierten Daseins zunehmend ausfüllt. Denn außer gelegentlichen kleinen Botendiensten ha-ben sie nichts zu tun, als durch die Stadt zu streunen, durch die Wälder zu streifen – sehnsüchtig und hungrig, ohne zu wis-sen, wonach. Und nur manchmal erleben sie flüchtige Momente des Glücks. Un-gewöhnlich tiefgehend. Erika Weisser

deutschland 2015Regie: henri steinmetzMit: Franz rogowski, Maresi riegner u. a.Verleih: Verleih: X-VerleihLaufzeit: 93 MinutenStart: 28.1.2016

KINO FILMTIPPS

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dvd NEUERSCHEINUNGEN

victoria meister des todes

volles risikoZweieinhalb Stunden Film, der in einer Einstellung gedreht wurde, ohne tech-nische Tricks, ohne künstliche Effekte. Ohne Schnitt.Die Kamera ist mitgegangen mit den fünf jungen Menschen. Besser: Mitge-rannt. Denn Victoria, Sonne, Boxer, Blinker und Fuß sind in dieser Nacht unterwegs. In Berlin, wo sie in Discos tanzen, auf Dächern feiern und trinken, auf Straßen vor denen davonlaufen, die hinter ihnen her sind – nach einem rasanten, riskan-ten Banküberfall, der beinahe glückt. Ein atemloser und atemberaubender Film.

ziemlich realistisch Wer hätte vor 25 Jahren damit gerechnet, dass Fiktion so schnell Realität werden würde? Dass tatsächlich eine massen-hafte Flucht vor den Folgen von Klima-wandel und rücksichtsloser Verheerung eines ganzen Kontinents und der daraus resultierenden Armut einsetzen würde? Damals sorgte „Der Marsch“ für Unbe-hagen, vielleicht auch Mitgefühl mit denen, deren Heimat unbewohnbar ge-macht worden war. Und die nicht weiter als bis an die Außengrenzen der Festung Europa kamen. Nun ist dieser höchst ak-tuelle Film auf DVD zu sehen.

nicht nur FiktionEs ist ein Spielfilm, auch wenn die dar-gestellten Verstrickungen von Behörden und Politikern in den Waffenhandel mit Mexiko ziemlich realistisch wirken. Sind sie auch: Eine solche Geschichte um die Manipulation von Ausfuhrbestimmun-gen kann man gar nicht erfinden; sie beruht auf heiklen Recherchen, die Re-gisseur Daniel Harrich zusammen mit dem Freiburger Friedensnetzwerker Jür-gen Grässlin in dem Buch „Netzwerk des Todes“ dokumentiert hat. Ein spannender Thriller, den man lieber in den Bereich der Fiktion wünscht.

der marsch

guten tag, ramón trash

wärme in der kälteAls Ramón aus dem Frankfurter Flug-hafengebäude tritt, fällt ihn eine uner-hörte Kälte an. Und die Windjacke, die ihm in mexikanischen Wintern und bei seinen fünf vergeblichen Fluchtver-suchen in die USA genügend Schutz bot, ist viel zu dünn. Und Geld für eine warme Jacke hat er nicht. Und die Tan-te, deren Briefe ihn nach Deutschland lockten, findet er nicht.Doch er findet eine freundliche Frau, die ihn bei sich einquartiert, ihn mit Klei-dung und Essen versorgt. Eine schöne Geschichte. Zu schön, um wahr zu sein.

Feine seitenhiebeJosh und Cornelia, um die 40, leben in Brooklyn und arbeiten in der Film-branche. Während ihre Freunde Kinder bekommen, genießen sie alle Freiheiten, die ihnen das Großstadtleben bietet. Und doch beschleicht sie manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen. Ihre Beziehung ist längst zur Routine geworden, als sie das junge Hipster-Pär-chen Jamie und Darby kennenlernen. Und zunächst fasziniert sind von deren Unbeschwertheit. Bis sie merken, dass sie Blender sind. Wie viele, die es im Kunstbe-trieb zu etwas bringen wollen.

olympische sprinterDie drei Straßenjugendlichen Rafael, Gardo und Rato finden auf einer Müll-kippe am Rande der künftigen Olympia- stadt Rio eine Ledertasche. Voller Geld. Schnell ist sie versteckt, doch die Polizei, die alsbald nach ihrem Verbleib fahn-det, ist misstrauisch, unternimmt mas-sive Einschüchterungsversuche, heftet sich an ihre Fersen. Bei dem fast schon geglückten Versuch, das Geheimnis des mysteriösen Funds zu lüften, geraten die drei Freunde in eine atemberaubende Verfolgungsjagd mit fast olympischen Sprints. Großartig.

geFÜhlt mitte zwanzig

dezember 2015 / JaNuar 2016 CHILLI KuLtur 9

deutschland 2014Regie: sebastian schipperMit: laia costa, Frederick lau u.a.Vertrieb: senator Laufzeit: 140 MinutenPreis: ca. 15 euro

Großbritannien 1990Regie: david WheatleyMit: Malick bowens, Juliet stevenson u.a.Vertrieb: bbc Laufzeit: 100 MinutenPreis: ca. 13 euro

Mexiko 2014Regie: Jorge ramírez-suárezMit: christian Ferrer u.a.Vertrieb: Fox home entertainment Laufzeit: 120 MinutenPreis: ca. 13 euro

usA 2014Regie: noah baumbachMit: ben stiller, naomi Watts u.a.Vertrieb: square one entertainment Laufzeit: 97 MinutenPreis: ca. 14 euro

deutschland 2015Regie: daniel harrichMit: hanno Koffler, heiner lauterbach u.a.Vertrieb: edelLaufzeit: 93 MinutenPreis: ca. 16 euro

Großbritannien 2014Regie: stephen daldryMit: rickson tevez, eduardo luis, Gabriel Weinstein, rooney MaraVertrieb: universal Laufzeit: 100 MinutenPreis: ca. 16 euro

V or zwei Jahren studierte Deena Herr noch in Freiburg und mu-sizierte auf der Kajo. Jetzt wird

die 22-Jährige in Uganda als Popstar gefeiert. Ein Manager entdeckte sie in einer Bar. Ihr Song „Mumulete“ in der Landessprache Luganda war der Durch-bruch. Ab April will sie in Deutschland Welle machen.

Deenas Geschichte ist filmreif. Nach dem Abitur zog es die Baden-Bade- nerin für ein Jahr nach Ruanda, um mit Straßenkindern zu arbeiten. Anfang 2013 machte sie dabei einen Abstecher ins Nachbarland Uganda. In einer Bar jammte sie spontan mit ein paar Leu-ten. Der Musik-Manager Bashir sprach sie an, sie tauschten Nummern.Nach dem Auslandsjahr zog Deena im Herbst 2013 nach Freiburg. Sie schrieb sich an der Uni ein – Bio und Mathe auf Lehramt. Die Sängerin lebte in einer Musiker-WG, im Haus gab’s zwei Stu-dios. „Da war immer was los“, erinnert sich Deena beim chilli-Skype-Interview live aus Kampala. Drei- oder viermal die Woche habe sie damals in Freiburgs Gassen musiziert, außerdem sang sie in einem Gospelchor.Schon nach einem Semester wechselte Deena nach Berlin und schrieb sich für Soziale Arbeit ein. Ende 2014 flog sie in die ugandische Hauptstadt Kampala, um Freunde zu besuchen. Dann rief Bashir sie an, fragte, ob sie in der Landessprache Lu-ganda singen könne. Deena sprach kaum ein Wort, willigte aber dennoch ein. Ba- shir schrieb ihren ersten Song. „Mumule-te“, übersetzt: Bringt ihn zu mir. Das ver-träumte Lied schlug ein wie eine Bombe – und machte Deena zum Star. Ihr Praxissemester absolviert Deena seit September in Kampala, sie arbei-tet wieder mit Straßenkindern. Doch der Fokus liegt auf der Musik. Songs schreiben, Videos drehen, Interviews geben. Auch die deutschen Medien

entdeckten Deena. „Der Oktober war wahnsinnig krass, ich hatte nicht einen freien Tag“, erzählt sie. Nicht mal zum Essen sei sie gekommen und habe ei-nige Kilo verloren. „Ich war im Arbeits-wahn “, erinnert sich die Sängerin. Jetzt achtet sie wieder mehr auf sich.Doch die Konzertanfragen häufen sich, die Heiratsanträge auch. „So leicht bin ich aber nicht zu haben“, sagt Deena und lacht. Auf öffentlichen Plätzen muss sie achtgeben. Wenn sie Downtown auf dem Markt erkannt werde, sei die Hölle los. Dann werde sie auch betatscht, die meisten Fans sind Männer. Vor Kurzem hat Deena vor 20.000 Leuten gesungen. „Nach zwei Zeilen sind alle ausgerastet“, sagt sie und kann es selbst kaum fassen. Deena ist sich bewusst, dass ihre Hautfarbe Teil des Erfolgs ist, will sich darauf aber nicht reduzieren lassen. Wichtig ist ihr, zwischen Deutschen und Afrikanern zu vermitteln, Klischees abzubauen. Davon gebe es viel zu vie-le – auf beiden Seiten. In vier afrikani-schen Sprachen singt sie mittlerweile, es könnten noch mehr werden. Ihr Ma-nager Bashir hat Großes vor. Bis Ende März soll eine EP fertig sein.Im April geht’s zurück nach Berlin. Dann will sich Deena auch in Deutsch-land musikalisch einen Namen machen. Konzertanfragen liegen schon vor, be-richtet sie. Ihr Manager will sie einfliegen lassen, falls größere Konzerte in Uganda anstehen. Ihr Studium in Berlin möch-te sie auf jeden Fall abschließen. Zwei Semester sind es noch. Wahrscheinlich geht’s danach zurück nach Kampala. Die Sängerin kann sich aber auch gut vorstellen, irgendwann wieder in Freiburg zu leben. „Ich kann Großstäd-te nicht ab. Ich brauche Ruhe, Felder, Natur“, sagt sie durch die rauschende Skype-Leitung. Im Vergleich mit der 1,3- Millionen-Stadt Kampala ist Freiburg für sie ein Dorf.

Till Neumann

Sozialarbeiterin wird PoPStarWie DeeNa Herr, eiNsT sTuDeNTiN iN Freiburg,

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Musik AFRIKA

10 CHiLLi kuLtur Dezember 2015 / Januar 2016

Deena Herr spielte einst in der Kajo. Jetzt wird

sie in Ostafrika gefeiert. Foto: © Promo

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Sind wir doch mal ganz ehrlich. Geht es ihnen nicht auch so: Bei aller Toleranz und Weltoffenheit wundern Sie sich über den Anstieg der Zuwanderung fremdländischer Instrumente. Wollen Sie auch nicht, dass Ihre Kinder die guten deutschen Instrumen-te wie die Blockflöte, die Schalmei oder die Kesseltrommel nur noch aus Erzählungen der Großeltern kennen?

Wo früher die große deutsche Fidel reüssier-te, spielt heute ein italienisches Violoncello. Die gute Kesseltrommel, oft schlicht Pauke genannt, sieht sich einer großen Zahl afri-kanischer Djemben und karibischer Congas ausgesetzt und ist bald fremd im eigenen Orchester.

Am schlimmsten hat es die Laute getroffen. Ih-ren Konkurrenten, den spanische Gastarbeiter Guitarra, haben wir ja selbst gerufen, gut inte-griert und zu unserem Bruder gemacht. Dass aber eben diese Guitarra jetzt vermehrt durch die hawaiianische Ukulele verdrängt wird, ist schwer zu ertragen. Insbesondere im untersten Billiglohnsegment macht die Ukulele jeden Job und lässt unserer Guitarra keine Chance auf ei-nen fairen Wettbewerb.

Noch schlimmer: Wie viele Balalaikas sitzen wohl in Russland auf ihren Instrumentenkof-fern und warten nur darauf, einen Platz im Wohlfahrtstaat unserer Zupfsaiteninstrumen-te zu bekommen?

Also: Mit Hilfe der Geschmackspolizei sollten alle aufpassen, dass es sich beim nächsten Konzert tatsächlich um eine Band und nicht bloß um Instrumentenschleuser handelt.

Mit Pauken und Trompeten,Benno Burgey, für die Geschmackspolizei Freiburg

CasperXOXOFOUR MUSIC

kenOParadajz lOstShowdown (warner)

VerlOrene tOmate

Als Frontmann der HipHop-Blaskapelle Moop Mama hat der Münchner Rap-per Keno zuletzt für Furore gesorgt. Dann bereiste der „Backpacker“ Osteu-ropa, fuhr per Bus und Anhalter durch die Gegend. Jetzt ist sein erstes Soloal-bum auf dem Markt. „Paradajz Lost“, der Name ist Programm: Keno rappt über verschmutzte Seen, geschmack-lose Tomaten und gottverlassene Orte. Gesellschafts- und Konsumkritik tropft aus jeder Zeile.Keno will hinter die Fassade blicken, will „die Dinge sehen, wie sie sind“ und zitiert nebenbei auch mal Albert Ein-stein. Der stärkste Moment der Platte ist „Der See“. Zu düsteren Gitarren und dumpfen Bässen erzählt der Mann mit dem kleinen Zopf die Geschichte zweier gegensätzlicher Ufer: Auf der einen Seite Luxus und Wohlstand, auf der anderen „Wäscheleinen in den Industrieruinen“. „Paradajz“ heißt auf Kroatisch Toma-te. Eine Metapher für den Verfall einer Gesellschaft, in der alles massenwei-se verfügbar ist – aber kaum mehr schmeckt. Deutlich aromatischer sind die Beats: Die psychedelisch-orienta-lischen Samples fand Keno in einer Istanbuler Kneipe. Wie gemacht für seine Texte. „Paradajz Lost“ ist intel-ligent, kritisch und geht tief – keine leichte Kost. Aber Ballaststoffe sind ge-sund. Tanzbares gibt’s dann wieder bei Moop Mama. Till neumann

CasperXOXOFOUR MUSIC

VariOus artistsdisPlaCed – sOngs, tHat Can’t rePlaCe HOmediSplaced

Neu ist die Idee nicht: 1984 rief Bob Gel-dorf das Band-Aid-Projekt mit seinem Hit „Do They Know It’s Christmas?“ ins Leben, ein Jahr später folgte als ameri-kanische Version USA for Africa mit dem Hit „We Are The World“. Und auch auf „Displaced“ trällern bekannte Musiker wie Laith Al-Deen, Roger Cicero oder Astrid North für den guten Zweck: Die Einnahmen fließen an Amnesty Inter-national für die Flüchtlingshilfe.Der eine Grund, sich die Platte zu kau-fen, ist also geklärt, der andere wird beim Hören deutlich. Die Musiker klei-den bekannte Klassiker in neue Ge-wänder, geben ihnen überraschende Wendungen und interpretieren sie spannend und modern. Eric Claptons „Change the World“ bekommt von Ro-ger Cicero eine jazzige Note, bei Tom Waits „Please Call Me Baby“ übernimmt die soulige Stimme der Elaiza-Sängerin Ela die Hauptrolle, und der eher unbe-kannte Michael-Jackson-Song „You Were There“ wird mit einem mächtigen orchestralen Sound hinterlegt. Für den sorgen die NDR Bigband und das Ba-belsberger Filmorchester.„Displaced“ ist ein jazzlastiges, sehr rundes Album, dem man seine Starqua-litäten anhört. Ein paar weitere schnelle Nummern hätte es allerdings vertragen. So wird es wohl statt auf Parties eher bei faulen Winterabenden auf der Couch zum Einsatz kommen. Tanja Bruckert

CHarity-jazz

der sOunddreCk zur zuwanderung

Ulrich ProfröckBuchhändler Bei X für u

Ernest van der Kwast: „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“, 96 Seiten, gebunden, Mare 2015, Übersetzung: Andreas Ecke, 18 Euro

Wenn ein niederländischer Autor mit indischen Wurzeln, wohnhaft in Südtirol, es fertigbringt, die Geschichte zweier italienischer Leben, und – vielleicht – einer Liebe, ohne ge-fühlsduseliges Gesülze und noch dazu auf weniger als 100 Seiten ohne quälendes Wortgeschwalle so zu berichten, dass einem dabei warm wird um’s Herz, man noch dazu etwas über den Bikini erfährt, und das Ganze auch noch so fein übersetzt wird, dann darf man das ganz rückhaltlos pri-ma finden!

SUSanne SchmidBuchhändlerin Bei jos fritz

Karin Kalisa: „Sungs Laden“, 255 Seiten, gebunden, C. H. Beck 2015, 19,95 Euro

Vor der Wende leben Hien und Gam Tran als vietnamesische Vertragsarbeiter in Ostberlin. Nach der Wende verlieren sie ihre Arbeit, übernehmen einen kleinen, mit Ost- und West-waren vollgestopften Gemischtwarenladen in Prenzlauer-berg. Dann steigt Sohn Sung in das Geschäft ein und macht es zum Sehnsuchtsort der Anwohner, er ist Versorgungsein-richtung, Nachbarschaftstreff und Museum. Menschen aus ganz Berlin kommen, Kulturen mischen sich, Bambus-Brü-cken verbinden die Stadtteile. Utopisch, unrealistisch, mär-chenhaft? Vielleicht. Aber es sind Geschichten wie diese, die das Lesen und Leben schön machen.

roland BUrkhartinhaBer von Burkhart Buch- & Medienservice

Herrad Schenk: „Für immer Schwestern“, 218 Seiten, gebunden, Insel 2015, 12,99 Euro

Alle wissen es: Geschwister haben und speziell Schwes-tersein ist ein lebenslanges, immer wieder aufwühlendes Schicksal. Herrad Schenk, die seit vielen Jahren vor den Toren

von Freiburg als Sozialwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Leiterin von Schreibwerkstätten lebt, hat exemplarisch drei ältere Frauen von heute skizziert, die so ziemlich alles mit- und gegeneinander durchmachen und gegen Lebensende auch noch streng gehütete Geheimnisse offenbaren (müs-sen). Das Leben zwingt sie dazu. Unterhaltsamer Tiefgang.

elke SieBenrockBuchhandlung roMBach

Armin Greder: „Die Insel“, 40 Seiten, gebunden‚ Sauerländer 2015, 16,99 Euro

Ein großartiger, bewegender und zugleich erschreckender Beitrag zum Thema Flucht: Ein nackter, namenloser Mann strandet auf einer Insel und wird von den dort lebenden Menschen abgelehnt. Sie begegnen ihm mit Furcht und Hass, bringen ihn irgendwann ins Meer zurück. Eine neu errichtete hohe Mauer soll die Inselbewohner künftig vor weiteren Fremden schützen. Die Geschichte hat nicht viele Worte. Umso stärker wirken die expressiven Bilder, die an Edvard Munch erinnern: Sie lassen unglaubliche Emotionen entstehen und beflügeln die eigene Phantasie, die die kargen Worte ergänzt. Ein WERTvolles Buch, das an unsere Menschlichkeit appelliert und das man so schnell nicht vergisst.

michael SchwarzinhaBer der Buchhandlung schwarz

Frank Witzel: „Die Erfindung ...“, 830 Seiten, gebunden, Matthes & Seitz 2015, 29,90 Euro

„Das bestimmende Element des Romans ist sein Sound.“ Sagt sein Autor Frank Witzel. Kein Wunder: Er ist auch, vielleicht gar zuerst, Musiker; mit zwei Kollegen hat er ein Buch über den Pop als Weltaneignungsmodell verfasst. Es gibt Sätze, die sich über mehr als eine engbedruckte Buchseite ziehen. Am Ende eines solchen Satzes konnte ich mich nicht immer erinnern, wo er seinen erzähle-rischen und gedanklichen Ausgangspunkt hatte. Aber egal: Rhythmus und Sound hatten mich in einen Rausch versetzt. Das Buch wirkt wie eine durchkomponierte Dop-pel- oder besser Zehnfach-LP, die nie ausgehört sein wird.

Prima, UtoPiSch, raUSchhaftfreiBurger Buchhändler üBer ihre Bücher des jahres

12 CHILLI kuLtur DEZEMBER 2015 / Januar 2016

LIteratur ANREGUNGEN FÜR DIE LESER

BÜCHer REZENSIONEN

kokS gegen kitSch„Das Rezept von ihrem selbst angesetz-ten Chili-Wodka hatte ihr vor Jahren der Besitzer des KGB-Klubs gegeben.“ Die erste Novelle der in Freiburg geborenen Autorin Stephanie Kovacs spielt in ihrer Heimat und zeigt die grüne Stadt von ihrer grauen Seite. Die Protagonistin ist eine Frau, die sich in Drogen und Alko-hol verliert, um ihre Vergangenheit zu verdrängen. „Sie“ wird bis zum Ende nicht beim Namen genannt. Trotz der Warnungen ihrer Freunde hatte sie es nicht geschafft, sich von ihrem Ver-lobten zu trennen – Mario, Alkoholiker und Vater ihres Sohnes Tobias. Als ein Streit eskaliert, entrinnt die Mutter nur knapp dem Tod. Ihr Sohn stirbt bei der Auseinandersetzung. Die Geschichte packt den Leser und zieht ihn in jede Ecke quer durch Frei-burg: auf den Weihnachtsmarkt, in die Eschholzstraße, nach St. Georgen und in die verdreckten Hochhäuser von Land-wasser. Man könnte sich während des Lesens im gleichen Bus der Linie 11 befin-den, in dem auch die Protagonistin sitzt. Die Geschichte wirkt nicht nur wegen der bekannten Schauplätze so echt. Sie lebt von den detaillierten Beschreibun-gen. Man riecht, fühlt und sieht genau, was passiert. Doch manchmal will man sich beim Lesen wegen Drogen, Alkohol und Totschlag die Augen zuhalten. Eine mitreißende Lektüre gegen den alltägli-chen Weihnachtskitsch. laura wolfert

mord, mUSik, moralIrgendwann kommt Elvis. Der King. Auf Billy zu. In Las Vegas. In einem elektri-schen Rollstuhl. Der alte Mann mit der zerzausten Haartolle trinkt Dosenbier, rülpst, will die Weltherrschaft und die Politiker köpfen. Er stimmt „In the Ghet-to“ an und kommt dem Original gefähr-lich nahe. Und dann fallen in einzlkinds grandiosem Roman so schöne Sätze wie „Große Kunst braucht keine Frisur“. Billy ist Schotte, er wächst beim Onkel auf, seitdem sich seine Hippieeltern mit einer Überdosis weggeschossen haben. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche bereitet ihn auf das Leben vor – auf das Andersartige, auf das, was manch einer vielleicht unmoralisch findet. Schlägerei-en in der Schule, sein brutal-böser Halb-bruder Frankie und gute Bands wie Joy Division und Ramones tragen ihren Teil dazu bei. Philosophie, ein bisschen Tot-schlag und Musik, darum kreist die Story. Immer leicht erzählt, selbstironisch, sou-verän und mitunter richtig lustig. Billys Familie ist eine von Auftragskil-lern, sie werden angeheuert, wenn es gilt, Mörder zu bestrafen, Rache zu üben. In Las Vegas erlebt Billy Abenteuer, die der Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson in „Fear and Loathing“ nicht schöner hätte beschreiben können. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein. An einer Ausfall-straße macht es schließlich „Peng“. Wer gewinnt? Und was ist die Moral von der Geschichte? Das weiß nicht einmal Elvis. dominik Bloedner

literariSche PerlenDer Radiojournalist Ricardo ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er ein Fußballspiel und dessen Ausgang so moderiert, wie es seinem Großvater gefallen würde. Dabei weiß der kulti-ge Sportkommentator, dass er dafür gefeuert, dass seine „Stimme Argenti-niens“ zum Schweigen gebracht wird. Was treibt ihn dazu?Der ziemlich arme Lucas riskiert hohe Geldstrafen, um seine Gefühle mitzu-teilen: Da die Nutzungsrechte für Spra-che bei einem multinationalen Kon-zern liegen und jeder Buchstabe teuer bezahlt werden muss, schmuggelt der Junge seine Botschaften über Geld-scheine unter die Leute. Oder schreibt sie in den Sand, wo das Meer sie löscht, bevor die Gebühreneintreiber sie ent-decken. Was bewegt ihn?Die Liebe. Die Liebe, die mit der Magie der Worte gegen die Vereinsamung an-kämpft, sie überwindet. Ricardos alterseinsamer Großvater kann nach dem wundersamen Ausgang des Spiels als glücklicher Mensch sterben. Die Macht des verbitterten Sprach-Konzern-chefs gerät durch Lucas’ Liebe zu einem Mädchen außer Kraft.In allen Episoden des Romans erweist sich Natalio Grueso als Meister dieser Magie der Worte. Auch wenn die Rah-menhandlung banal ist – und nicht vermuten lässt, dass sie so fantastische literarische Perlen zusammenhält. erika weisser

einzlkindBilly206 Seiten, gebundenInsel Verlag, 201518,95 Euro

Natalio GruesoDer Wörterschmuggler356 Seiten, gebundenHoffmann und Campe, 201518 Euro

Stephanie KovacsWilde Lilie169 Seiten, gebundenKladde Buch- verlag, 201519 Euro

14 CHILLI KuLtur Dezember 2015 / Januar 2016

E in portugiesischer Prinz schickte Anfang des 15. Jahr-hunderts zwei junge Kapitäne auf Entdeckungsreise. Sie stießen auf eine riesige, dunkle Wolkenmasse

am Horizont. Als die beiden Abenteurer sich an dieses Un-getüm heranwagten, stellte es sich als komplett bewaldete Insel heraus, weswegen sie ihr den Namen „Madeira“ – Holz – gaben.

Jahrhunderte später besuche ich als ziemlich mittellose Schulabgängerin die Insel und lande mitten im Atlantik auf einem schwimmenden Berg, der vor 12 Millionen Jah-ren entstand, als ein untermeerischer Vulkan Lavamassen vom Meeresboden in die Höhe gedrückt hat. Eine Insel, auf der ewiger Frühling, bestes Klima und enorme Vielfalt herrschen. In dem mit durchschnittlich 22 Grad milden, aber nicht zu heißen Klima wächst und gedeiht Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Beim Ankommen springen erst einmal die

vielen Bananenstauden ins Auge. Diese sind zwar nicht so krumm und groß, wie die EU es sich wünschen würde – da-für schmecken sie noch echt nach Banane. Auch sehr lecker zum traditionellen Degenfisch. Madeira ist für bekennen-de Wandervögel wie mich ein Paradies: Die ganze Insel blüht und grünt, von Liebesblumen über Bougainvillea und Hibiskus bis hin zu Hortensien und dem „Stolz Madeiras“, den lila leuchtenden Echinacea. Neben der fantastischen Vegetation staune ich über die wandelbare Landschaft. Die Insel bietet nass-grüne Lor-beer- oder Eukalyptuswälder, aber auch heiße, trockene Staubwege mit orange blühenden Kakteen. Eine Wande-rung kann einem Kurztrip durch den Regenwald ebenso ähneln wie einem durch Afrika. Schwindelfreiheit ist dabei von Vorteil, da viele Wanderwege direkt am Abhang von senkrecht in die Tiefe herabstürzenden Steilklippen laufen. Kaum zu glauben, dass die Insel früher als Urlaubsdomizil für rüstige Rentner schlechthin galt.

reIse MADEIRA

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Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI KuLtur 15

1. Traditionelles madeirisches bauernhaus in Santana. 2. Eine

touristenattraktion: In einem Korbschlitten auf Holzkufen geht es

bergab. 3. Eine spezialität des Landes, der Madeirawein (Likörwein

mit 17-22% Vol.), reift in Barriquefässern. 4. bacalhau (Stockfisch), das

portugiesische Nationalgericht, darf auch in der madeirischen Küche

nicht fehlen. 5. Der Hafen der Hauptstadt Funchal 6. Die berühmten

portugiesischen azulejos (große, historische Bildergeschichten in

blau-weiß gebrannte Fliesen) finden sich auch im Botanischen Garten

von Monte. 7. Die wahrscheinlich berühmteste Blume, die strelizie

oder Paradiesvogelblume, ist auf Madeira beheimatet. 8. Madeiras

Westen besicht durch herrliche panoramen. 9. Madeiras zentrales

Hochland: Das Landesinnere bietet ein völlig anderes Landschaftsbild,

das zum Wandern einlädt.

anzeIGe

Allerdings sind die steilen Touren kein Muss: Bereits im 15. Jahrhundert wurden künstliche Wasserläufe ange-legt, die sogenannten Levadas, um das Wasser aus den niederschlagsreichen Bergen in andere Bereiche der In-sel zu transportieren. Diese Wege sind flach, damit das Wasser besser fließen kann, und laden daher auch zum Spazierengehen ein. Plant man indes, einen der vielen Tunnel auf der Insel zu durchqueren, sollte man Licht dabei haben: Ich selbst vertraue in einem eigentlich harmlosen Tunnel bei Ra-baçal naiverweise auf das Licht meines Handys, muss mich dann aber minutenlang im fast Stockdunkeln an nass-kalten glitschigen Wänden entlanghangeln, bis zwei fröhliche „Viva Colonia“ singende Touristen hinter mir mit ihren Taschenlampen Licht ins Dunkle bringen. Neben anderen Wandervögeln begleiten einen stets das Rascheln der schillernden Eidechsen, die über heiße Stei-ne huschen, und hüpfende Finken, die einem durchaus mal überschüssige Krümel aus der Hand picken. Besonders ruhige und nicht überlaufene Pfade finden sich im Westen der Insel. Vom Dorf Estreito da Calheta geht es mit spektakulären Ausblicken entlang steiler Hänge in die Nachbardörfer Jardím do Mar und Paúl do Mar. In den umliegenden Bergen fließt ein Wasserfall, dessen Lauf einen Bach und kleine Teiche bildet, die zur Erfrischung inmitten grünster Natur einladen. In Jardím do Mar zeigt der Atlantik dann mit meterhohen Wellen, was er drauf hat. Beim Verlassen der Insel bin ich einerseits traurig, diese Schönheit hinter mir zu lassen. Aber auch ein bisschen erleichtert. Denn wer einmal auf Madeira war, macht sich weniger Gedanken darüber, ob er mal in Himmel oder Hölle landet. Er hat das Paradies auf Erden schon gesehen.

sophie radix

MadeirainFo

Ankommen & RumkommenEdelweiss, eine Tochter von SwissAir, fliegt ab Zürich zweimal die Woche direkt nach Funchal (kostet um die 350 Euro hin und zurück)Vom EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg aus gibt es Flug-Verbindungen nach Funchal entweder über London oder über Lissabon. Mehr Info: www.euroairport.com

Ein Tipp zur Übernachtung ist das Hotel Atrio in Estreito da Calheta, familiäre und ruhige Atmosphäre 500 Meter über dem Meer. Viele schöne Wanderungen beginnen direkt hinterm Haus.

Infos im Netzwww.visitmadeira.pt | www.atrio-madeira.com

reIse MADEIRA

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reIse UKRAINE

denkwürdig: Auf dem Maidanplatz

wurden vor zwei Jahren Menschen

erschossen. Heute schlendern dort

Touristen umher und fotografieren

Denkmäler für die Gefallenen.

das GEspaltEnE landEin strEiFzug durcH diE ukrainE

E s ist derzeit nicht jedermanns Sache, aber chilli-Redakteur Till Neumann ist eine Woche lang

durch die Ukraine gereist. Er besuch-te Kiew, Charkow und Dnipropetrowsk – die drei größten Städte des Landes. Manches erinnert dort an Paris, man-ches auch an die Sowjetunion. Und manchmal fühlt man sich ein bisschen wie im Krieg.

Die Ukraine. Nicht gerade ein typi-sches Touristenziel in diesen Tagen. Man erinnert sich an brennende Bar-rikaden in Kiew, an Erschossene auf dem Maidanplatz, denkt an die Unru-hen im Osten des Landes und an die annektierte Krim. Erst Ende November versammelten sich Kiewer Bürger auf dem zentralen Platz der Stadt. Sie ge-dachten der blutigen Revolution vor zwei Jahren im Zentrum Kiews.

Am Maidan beginnt auch die Reise. Ge-nauer gesagt im altehrwürdigen Sow-jet-Hotel Kozatskiy. Vom Balkon aus hat man den Brennpunkt der Revolu-tion direkt vor sich. Autos schlängeln sich dort hupend über die vierspuri-ge Straße der 2,7-Millionen-Einwoh-ner-Metropole, im Schein der orange-nen Laternen schlendern Fußgänger zwischen monumentalen Bauten über den Asphalt. Den besten Blick hat Erz-engel Gabriel. Er thront in 36 Metern Höhe auf der Säule des Maidan. Will-kommen in Kiew.Warmes Wasser zum Duschen gibt’s am nächsten Morgen nicht. Und auch das Frühstücksbüffet bietet herzhaf-te Überraschungen: Nudeln, Fleisch, Reis und Gemüse. Die ukrainischen Tischnachbarn bedienen sich reichlich. Zum Glück gibt’s auch etwas Kuchen, Brot und Joghurt. Englisch spricht das Hotel-Personal nur bedingt. Aber irgendwie versteht man sich. Gespro-chen wird Ukrainisch oder Russisch. Das Land ist zweisprachig, nahezu je-der versteht beides. Vor dem Hotel herrscht reges Treiben. Zwischen lässigen Bistros, schicken

Cafés und einem McDonald’s treffen sich Jung und Alt. Wäre da nicht die fremde Sprache, man könnte sich in Paris oder Berlin wähnen. Die Stadt lebt und pulsiert. Wiedergewonne-ne Normalität trotz der brodelnden Konflikte im Donbass. Doch ein paar Meter weiter wird man von den har-ten Fakten eingeholt: Im Zentrum

des Maidanplatzes lebt die Revoluti-on weiter. Mannsgroße Fotos zeigen martialische Bilder der Kämpfe. Vor einem alten VW-Bus stehen Erinne-rungstafeln mit Bildern der Gefal-lenen, die blau-gelbe Landesfahne flackert im Wind, Alt-Revolutionäre sammeln Spenden für Hinterbliebene.Auch rund herum sind viele Gedenk-stätten, Kerzen, Fotos und Blumen er-innern an die rund 100 Erschossenen

des Winters 2013/2014. Wer die Scharf-schützen auf den Dächern rund um den Maidan beauftragte, ist bis heute nicht geklärt. Ungewiss ist an diesem Sonntag auch noch, dass Ex-Boxwelt-meister Vitali Klitschko eine Woche später erneut zum Bürgermeister Ki- ews gewählt wird. Sonderlich beliebt ist er in alternativen Kreisen Kiews nicht. Er sei korrupt wie viele andere Politiker auch, heißt es.Nur etwa 15 Gehminuten entfernt liegt ein Szene-Ort, der in keinem Touris-tenführer verzeichnet ist. Partkom. Ein Partykeller, ein Proberaum, ein Ort des Widerstands. In den Räumlichkeiten treffen sich kreative Köpfe zum Musi-zieren, Diskutieren und Feiern. Während der Revolution wurden dort Verwunde-te versorgt. Viele der heutigen Stamm-gäste standen auf dem Maidan an vor-derster Front. So auch der Schlagzeuger Costa, für den sein Land weiter im Aus-nahmezustand ist: „Hier ist Krieg“, sagt der 42-Jährige. Unsicher fühle er sich in Kiew aber nicht. So geht es auch den Touristen. Nachts stolpert man zwar auch mal über be-waffnete Soldaten und Panzer. 33 Fo

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Voller kontraste: Kiew wandelt zwischen europäischer Metropole und Relikten der Sowjetunion. An Souvenirständen gibt‘s Putin-Klopapier.

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reIse UKRAINE

Dezember 2015 / Januar 2016 CHILLI KuLtur 17

33Doch Kiew kann man erkunden, ohne sich bedroht zu fühlen. Ein Rundgang lohnt sich: Malerische Kirchen wie das St. Michaelskloster recken ihre gold-glänzenden Kup-peln Richtung Himmel. Und Souvenirstände bieten in-teressante Einblicke: Neben Revolutions-T-Shirts werden Klopapierrollen mit dem Konterfei Wladimir Putins feilge-boten. Wer müde ist, kann sich mit einem Kaffee an klei-nen Foodtrucks stärken. Das Heißgetränk gibt’s für etwa 50 Cent. Mittagessen kann man ab drei Euro, Vodka gibt’s für zwei. Mit dem Nachtzug geht es weiter in die zweitgrößte Stadt des Landes Charkow. Es empfiehlt sich, ein Schlafabteil für zwei Personen zu nehmen. In den Massenlagern sind Sauerstoff und Platz Mangelware. Eiskalte Luft kann man dafür am frühen Morgen in Charkow atmen. Im Bildungs-zentrum des Landes leben 1,4 Millionen Einwohner. Bis nach Russland sind es von dort nur 40 Kilometer, bis ins umkämpfte Donezk 300.Absolut sehenswert ist die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale. Die rot-ocker gestreifte Fassade sieht aus wie gemalt, der prunkvolle Innenraum glitzert golden wie die Schatzkam-mer Dagobert Ducks. Dafür ist der mehr als 700 Meter lan-ge Freiheitsplatz im Zentrum gähnend leer. Nur ein Militär-zelt steht am Rande, es heißt, dort würden Kämpfer für den Donbass rekrutiert. Eine überaus stilvolle Bleibe in der nur überschaubar touristischen Stadt ist das Hotel 19 (www.hotel19.ua). Dort lässt sich seelenruhig schlafen und ausge-zeichnet essen. Im Kühlschrank eines kleinen Ladens um die Ecke lächelt Manuel Neuer vom Etikett einer Bierflasche.

Über holprige Straßen geht es mit dem Kleinbus weiter nach Dnipropetrowsk. Die drittgrößte Stadt des Landes hat touristisch mehr zu bieten als Charkow. Die Uferpro-menade des Dnepr lädt zum Flanieren ein, am kleinen Strand streckt sich sogar im Oktober ein Badegast. Das Stadtzentrum lockt mit einer netten Einkaufspassage, der Club Moulin Rouge erinnert nicht nur namentlich an Paris. Auch das schwülstige Interieur passt zum französischen Namensgeber.Entlang dem Dnepr geht’s zurück nach Kiew – in die Stadt der Kontraste: West trifft Ost, Krieg trifft Alltag, fun-kelnd-modern trifft brüchig-verkommen. Nur eins ist hier zweifelsohne zeitlos: Vodka. Das entsprechende Super-marktregal ist so groß wie hierzulande das für Bier.

till neumann

reIse UKRAINE

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Die ukrainische Landeshauptstadt Kiew ist vom EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg mehrfach täglich zu erreichen. Die Flüge gehen mit der Lufthansa oder Austrian Airlines über München. Mehr Mehr Info: www.euroairport.com

auf in den osten: In Charkow stehen Panzer in der Stadt, Dnipropetrowsk lädt mit Uferpromenade und Strand zum Flanieren ein.

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