neunernews Juni 2013

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1 NEUNERNEWS NR. 21 / Juni 2013

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neunerhaus - Hilfe für obdachlose Menschen. Die neunernews sind das Magazin des Vereins neunerhaus und erscheinen zwei Mal im Jahr. Wir informieren über Aktuelles aus dem neunerhaus und berichten über Sozialpolitik und Obdachlosigkeit in Wien. Mehr Infos sowie kostenloses Abonnement unter www.neunerhaus.at

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NEUNERNEWSNR. 21 / Juni 2013

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Liebe LeserInnen,

seit der letzten neunernews-Ausgabe hat sich einiges getan: Wir haben unsere medizinische Versorgung im Jänner dieses Jahres um die neuner-haus Arztpraxis erweitert. Somit haben wir neben den bestehenden Angeboten der neunerhaus Zahnarztpraxis und dem Team neunerhausarzt, das vor Ort in unterschiedlichsten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe tätig ist, eine Versorgungslücke für alle obdach- und wohnungslosen Menschen in Wien geschlossen. Das neue allgemeinmedizi-nische Angebot mit fixem Standort und fixen Ordinationszeiten ist einzigartig in Wien. Mehr in unserer Reportage auf den Seiten 6 und 7.

Lernen Sie zudem die tagtägliche Arbeit im Pilotprojekt „Housing First“ kennen: Die neunernews haben Sozialar-beiterin Ines Ganahl einen Tag begleitet, waren bei Teamsitzungen, Wohnungs-besprechungen und einem Hausbesuch dabei. Mehr auf den Seiten 8 und 9.

Sie ahnen es: Angebote wie diese kosten viel Geld. Daher zählen wir auf Sie. Mit Ihrer Spende unterstützen und sichern Sie unsere Arbeit für obdach- und wohnungslose Menschen.Vielen Dank!

Ihre Redaktion

EDITORIAL / IMPRESSUM

HOCHGEKREMPELT2012 aus Sicht des neunerhauses.

IMPRESSUMHERAUSGEBER: neunerhaus Margaretenstraße 166/1. Stock, 1050 WienTel.: +43 1 990 09 09-900, E-Mail: [email protected], www.neunerhaus.at ZVR-Zahl: 701846883, DVR-Nr.: 2110290CHEFREDAKTION: Mag.a Flora EderTEXTE: Mag.a Flora Eder, Mag.a Monika Pfeffer, Mag. Markus ReiterFOTOS: Heinz-Peter Bader, Alexander Gotter, Johannes Hloch, Klaus Pichler, privat,Mike Ranz, Manfred SeidlGESTALTUNG: BÜRO MARKUS/ZAHRADNIKDRUCK: Donau Forum DruckFotos und Gestaltung wurden kostenlos zur Verfügung gestellt. Das neunerhaus dankt sehr herzlich.Spendenkonto RLB NÖ-Wien 5 929 922, BLZ 32 000; IBAN AT25 3200 0000 0592 9922; BIC RLNWATWWSpendenkonto Erste Bank 284 304 917 06, BLZ 20 111; IBAN GIBAATWWXXX; BIC AT38 2011 1284 3049 1706Spenden an das neunerhaus sind steuerlich absetzbar.

NEUNERHAUS BILLROTHSTRAS WOHNEN:

NEUNERHAUS ZAHNARZTPRAXIS:

NEUNERHAUS TIERÄRZTINNEN:

NEUNERHAUS KUDLICHGABETREUTES DAUERWOHNEN:

NEUNERHAUS HAGENMÜLLERGAÜBERGANGSWOHNEN:

arbeitenOrdinationstagepro Woche

EhrenamtlicheZahnärztInnen

Durchschnittliche Aufenthaltsdauer

Durchschnittliche Übergangswohndauer

%

Auslastung

Auslastung Auslastung

e 2012 in:Gemeindewohnung

Privatwohnung

Übergangswohnheim

Notquartier

Dauerwohnen TE

TE

Füllungen & Röntgen Prothetik Chirurgie Endodontie

Leistungen

TERMINE

TERMINE

Ordinations tage pro Woche

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INTERVIEW

DAS LÄSST MICH NICHT KALT

Zivilcourage beginnt bei jedem Einzelnen, findet Dietmar Hoscher, Vorstandsmitglied der Casinos Austria. neunerhaus-Geschäftsführer

Markus Reiter lud ihn zum neunernews-Gespräch.

Markus Reiter: Warum finanziert ein Unternehmen wie Casinos Austria medizinische Versorgung für obdach- und wohnungslose Menschen?Dietmar Hoscher: Wir bieten unseren Gästen Entertainment auf hohem Niveau, ein paar Stunden der Unbeschwertheit bei Spiel, gutem Essen und in tollem Ambiente, wollen aber dabei nicht vergessen, dass es viele Menschen gibt, denen es an Grundlegendem fehlt, die zu wenig Geld für Lebensmittel und kein Dach über dem Kopf haben. Obdachlo-sigkeit ist ein Schicksal, das prinzipiell jeden treffen kann. Da viele Obdachlose aufgrund ihrer schlimmen Lebenssituati-on den Weg zum Arzt nicht mehr finden, sei es entweder aus Scham oder Angst vor den Kosten, leiden sie oft jahrelang an zermürbenden Schmerzen. Es ist uns daher ein besonderes Anliegen, die Arzt-praxis des neunerhauses zu unterstützen und damit nachhaltig die allgemeinme-dizinische Versorgung sicherzustellen.

Was braucht es, damit alle Men-schen Zugang zu medizinischer Versorgung und medizinischen Leistungen bekommen?Ich bin weder Schwarz- noch Schön-maler. Aber ich glaube, dass wir uns in Österreich glücklich schätzen dürfen, ein Gesundheits- und Sozialsystem zu haben, das ein sehr engmaschiges Netz schafft. Und doch ist die öffentliche Hand mitunter nicht in der Lage, alles abzudecken. Gut zu wissen, dass es hier Initiativen wie das neunerhaus gibt. Und gut zu wissen, dass Unternehmen hier die nötige Verantwortung über-nehmen. Und doch weiß ich, dass der Einzelfall trotz guter Strukturen und

toller Initiativen oft ganz anders liegen kann. Dass eine Familie plötzlich vor einem schier unlösbaren Problem, einer möglicherweise sogar unleistbaren Ope-ration oder Therapie steht. Genau hier können solche Initiativen einen Zugang zu medizinischer Versorgung schaffen, der sonst nicht gegeben wäre.

Inwiefern gehören zu einem Sozi-alstaat wie Österreich auch sozial engagierte Unternehmen dazu?Laut Armutsbericht der EU waren 2011 über eine Million Menschen in Öster-

» ENGAGEMENT LÄSST SICH NICHT VERORDNEN,

ABER FÖRDERN. «Dietmar Hoscher, Vorstandsmitglied Casinos Austria

reich armutsgefährdet. Und ich fürchte, es sind seither eher mehr als weniger geworden. Jeder achte Mensch hier im Land ist also davon betroffen, das kann und darf niemanden kalt lassen. Auch Unternehmen sollen hier einen Beitrag leisten. Glücklicherweise hat dieses soziale Engagement, heute spricht man von Corporate Social Responsibility, eine sehr lange Tradition. Wir nehmen diese Verantwortung bei Casinos Aus-tria beispielsweise schon seit der Grün-dung des Unternehmens vor 45 Jahren wahr, wir waren Mitinitiator

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von Licht ins Dunkel und unterstützen zahlreiche Projekte und Initiativen. Und wir sind damit zum Glück nicht allein.

Was verstehen Sie unter Zivilcou-rage?Ich sehe Zivilcourage viel weiter gefasst als es das Engagement von Unterneh-men darstellt. Zivilcourage beginnt wirklich bei jedem Einzelnen von uns. Mag auch nicht jeder die finanziellen Mittel oder das Know-how haben, um direkt helfen zu können. Es beginnt aber dabei, dass man nicht wegschaut, dass man andere aufmerksam macht, dass man möglicherweise etwas in Gang setzt oder Teil einer Bewegung wird.

Inwieweit trägt die Belegschaft das soziale Engagement mit?Es braucht zweifellos ein Management, das dieses Engagement fördert, aber auch selbst lebt. Es geht also immer um die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, quer durch alle Ebenen, die sich persönlich engagieren. Das lässt sich nicht verordnen, aber fördern, ist

DIETMAR HOSCHER ZU ...ÖsterreichEines der reichsten und schönsten Länder der Welt

ArmutGanz schlimm

ObdachlosigkeitSollte es nicht geben

ZahnwehEine der unangenehmsten Arten von Schmerz

Hilfe suchenUnd beim Nächsten finden

AugenhöheMit allen Menschen

Freiheit und SelbstbestimmungMit Rücksicht aufeinander

INTERVIEW

Inserat 1/2 quer

Zur Person: Dietmar Hoscher, geboren 1962 in Wien, ist seit 2012 im ORF-Stiftungsrat. Der studierte Volkswirt ist seit 2007 Vor-standsmitglied der Casinos Austria AG. Daneben ist Hoscher Kuratoriumsmit-glied beim SK Rapid Wien.

Ausdruck einer Unternehmenskultur und einer menschlichen Grundeinstellung.

Sie unterstützen die neunerhaus Zahnarztpraxis. Warum sind aus Ihrer Sicht gerade Zähne für die soziale Integration obdachloser Menschen wichtig?Zähne gehören zum ersten Eindruck, den ein Mensch hinterlässt. Ein Lächeln, bei dem der Blick ins Nichts geht, ver-fehlt schnell seine Wirkung. Schlechte oder gar keine Zähne zu haben, muss für die Betroffenen sehr verunsichernd sein und ihnen vermutlich das Gefühl geben, jeder würde nur auf diesen Ma-kel schauen.

Gut für Österreich.

Ärztlich willkommen. Das neunerhaus hilft Menschen,

denen es am Nötigsten fehlt, wie einer Unterkunft und

medizinischer Versorgung. Casinos Austria unterstützt

diese wichtige Einrichtung, damit auch sozial Schwache

ein wenig Glück erfahren.

Ein Gewinn für

die Gesellschaft!

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Vorstandsdirektor Dietmar Hoscher und neunerhaus Geschäftsführer Markus Reiter

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AUS DEN HÄUSERN

HAARE AB!

FILM AB!

Am 17. April um Punkt neun Uhr Früh wartet der kleine Mischlingshund Ginger vor dem Hundewaschsalon THE DOG CARE COMPANY im 17. Wiener Gemeindebezirk auf seinen großen Auftritt: Einmal Waschen, Schneiden, Föhnen hieß es an diesem Tag für die Tiere obdach- und wohnungsloser Menschen in Wien. Ginger war einer jener acht Hunde, die hier kostenlos verwöhnt wurden.

Saloninhaber Alexander Hysek (siehe Foto) kümmerte sich um die Pflege der Vierbeiner und wurde dabei tatkräf-tig von Irmi Miegl – einer ehrenamtlich tätigen Unterstüt-zerin der neunerhaus Tierärztlichen Versorgungsstelle – unterstützt. Der Tag war spannend und lehrreich für all die HundebesitzerInnen, denn so konnten sie direkt vom Profi die Tipps und Tricks der Tierpflege erfahren.

Dieser einzigartige Tierwaschtag für Tiere wohnungslo-ser Menschen fand nach dem Erfolg im vergangenen Jahr heuer bereits zum zweiten Mal statt. Die Mensch-Tier-Be-ziehung ist aus neunerhaus-Sicht für die Stabilisierung ob-dachloser Menschen essentiell: Tiere sind oft ihre einzigen treuen Begleiter. Sie verlangen aber auch nach Pflege und Verantwortung – und wer sich um sein Tier kümmert, lernt, sich auch gut um sich selbst zu kümmern. (red)

RESPEKT IN DER KUDLICHGASSEAls im neunerhaus Kudlichgasse vor einiger Zeit das Zusammenleben der BewohnerInnen vom Ausschluss einzel-ner Personen geprägt war und Bewoh-nerInnen gehänselt wurden, war den neunerhaus-SozialarbeiterInnen klar, dass Handlungsbedarf besteht. Semina-re wurden besucht und Teamsitzungen gewälzt, bis man sich für das Projekt „Respekt“ entschied: respektvoller Umgang mit dem Ziel des direkten Ansprechens von Problemen. Natürlich mit Unterstützung und Begleitung des neunerhaus-Teams aus der Kudlichgasse.

„Als wir mit der Idee auf die BewohnerInnen zu-kamen, waren wir von ihrer intensiven Anteilnahme überrascht. Fast alle hatten zu der Frage etwas zu sagen: Wie stelle ich mir respektvollen Umgang vor?“, erzählt Sozialarbeiterin Sabine Kraft. „Ernst wurde es ab dem Zeitpunkt, als wir aktiv eingriffen. Viele Einzelgespräche standen an“, sagt Kraft. Letzlich machte sich das Engage-ment bezahlt: Die BewohnerInnen reflektierten sich und ihre Themen und somit konnte letztlich ein gedeihliches Miteinander geschaffen werden.

Das Projekt ist nun auf bunten Plakaten im ganzen Haus sichtbar. Sie erinnern an Vorsätze wie „Der Ton macht die Musik“. Kraft: „Jetzt werden Konflikte endlich angesprochen, noch bevor sie entstehen.“ Das Projekt feierte im Frühling das Einjahr-Jubiläum. Respekt! (red)

OBELIX WOHNT IM NEUNERHAUS „Mein Name ist Obelix, ich bin ein grüner Leguan. Der junge Mann, der glaubt, er sei der Chef in unserer Bezie-hung, ist Mario. Aber in Wahrheit bin ich das. Wir haben bestenfalls eine Partnerschaft.

Ich weiß es noch wie heute: Am 18. Juli 2009 kam Mario in die Tierhandlung, in der ich damals lebte. Eigent-lich wollte er nur ein Terrarium kaufen, da der Händler aber nicht wusste, wie er mit mir umgehen sollte, gab er mich als Geschenk dazu.

Ich war damals nur 40 cm lang, abgemagert und hatte zwei Zehen verloren. Der Tierarzt gab mir keine Über-lebenschance. Heute bin ich dank Marios Pflege 120 cm lang und erfreue mich bester Gesundheit. Gemeinsam mit Mario wohne ich im neunerhaus in der Billrothstraße. Dafür muss ich mich bedanken. Und wer bei Mario und mir der Chef ist, wird auch er irgendwann verstehen.“ (biro)

In Zusammenarbeit mit Hunger auf Kunst und Kultur findet 2013 ein Projekt zwischen dem neunerhaus Ha-genmüllergasse, dem Österreichischen Filmmuseum und dem Architekturzentrum statt: Rund zehn BewohnerInnen der „Hamü“ drehen gemeinsam mit ihrer Betreuerin Petra Hoffmann einen dokumentarischen Kurz-film – der Inhalt wird ebenfalls im Team erarbeitet.

Für den Plot sollen die Aufenthaltsorte und Wege ob-dachloser Menschen in Wien Stichwortgeber sein: soziale Einrichtungen, Übernachtungsmöglichkeiten, Geschäfte und Treffpunkte sollen in das Blickfeld der BetrachterInnen gerückt werden. Denn diese Orte erzählen „Geschichten“ der Menschen und spiegeln das Erleben der Stadt aus einer filmisch sonst wenig beleuchteten Perspektive wider. Even-tuell ergeben sie den Beginn eines Drehbuchs. Fortsetzung folgt! (red)

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Seit das neunerhaus medizinische Zentrum im Jänner dieses Jahres die Arztpraxis eröffnet hat, wurden rund 135 PatientInnen versorgt. Zeit, Geduld

und Vertrauen werden hier groß geschrieben. Eine Reportage.Text: FLORA EDER

IM ZENTRUM

Als Eva Kinast heute in die Arbeit kommt, ist ein Einkaufswagen vor der Tür geparkt. Eine dünne, faltbare Matratze, eine mit dunkler Flüssigkeit befüllte Mineralwasserflasche, zwei T-Shirts und drei sorgfältig gestapelte Plastiksackerl befinden sich darin. Den Wagen kennt Kinast bereits: Mit ihm fährt Karl P. immer durch Wien, wenn er sich den Tag vor dem Abend in der Notschlafstelle vertreibt. P. ist Kinasts Patient, sie ist Allgemeinmedizinerin in der neunerhaus Arztpraxis.

Im neunerhaus medizinischen Zentrum, das die Zahnarztpraxis und die Arztpraxis beherbergt, herrscht heute Hochbetrieb. Die Kolleginnen aus der Zahnarztpraxis laufen emsig mit Röntgenbildern umher und bereiten einen Patienten auf seinen Zahnabdruck für eine Prothese vor. Susanne Pospisil, Sozialarbeiterin, telefoniert am PatientIn-nenempfang und sortiert zur selben Zeit die Formulare für das nächste Aufnahme-gespräch. Brigitte Reinbacher, Ordina-tionsassistentin der Arztpraxis, beweist

Geduld, denn sie erklärt einem Patienten wiederholt, dass das Rauchen nur am Balkon gestattet ist und begleitet ihn die wenigen Schritte hinaus. Für einen

kleinen Plausch hat aber auch Kinast erst später Zeit. Jetzt muss sie durch das War-tezimmer, an P. vorbei, in ihr Ordinations-zimmer und dort die PatientInnenunter-lagen, ihre Instrumente und das digitale Dokumentationssystem vorbereiten.

Dass ihre PatientInnen oft schon vor den Öffnungszeiten erscheinen, kennt Kinast bereits. „Alle hier sind wirklich pünktlich, fast zu pünktlich“, lacht sie. Die Allgemeinmedizinerin unterstützt das neunerhaus seit März, davor hat sie in einem Spital für Menschen mit Substanzabhängigkeit, einem psychiat-rischen Krankenhaus und einer Arztpra-xis gearbeitet. „Mir ist es wichtig, dass ich etwas Sinnvolles tue und ich mich mit dem, was ich kann, mit meinem Be-ruf, auch sozial engagiere“, sagt Kinast.

Das wichtigste Medikament ist Zeit.20 Jahre alt, hat Caroline E. soeben ihr erstes Kind bekommen – eine Tochter, die nun „ihr Ein und Alles“ sei. Noch bevor Kinast ihr Fragen stellen kann,

erzählt E. von ihrem Schicksal: Sie habe sich Hals über Kopf in ihren damaligen Freund verliebt, hätte vor lauter Herzen die Realität nicht mehr gesehen. Er

habe sie von Beginn an geschlagen, doch erst durch die Schwangerschaft habe sie erkannt, dass sie sich trennen müsse – so einen Vater wollte sie ihrer Tochter nicht antun. Seither ist sie in einem betreuten Mutter-Kind-Heim untergekommen. Zu Kinast komme sie, weil sie sich häufig schwindelig fühle und am Vortag sogar kurz bewusstlos gewesen sei. Kinast nimmt sich Zeit für ihre Patientin. Sie fragt nach, wie es ihr sonst geht und wie sie mit ihrer neuen Mutterrolle zurechtkommt. Sie interes-siert sich für ihre Wohnsituation und ihren Tagesablauf, fragt nach ihren Er-nährungsgewohnheiten, misst den Blut-druck und lässt zwischendurch ihren Wiener Schmäh rennen. E. entspannt sich während der Behandlung merkbar, und erzählt viel von ihrer Tochter.

Die neunerhaus Arztpraxis ist die erste und einzige Anlaufstelle dieser Art in Wien: Sie bietet am fixen Standort in der Margaretenstraße 166 zu fixen Zeiten vier Mal in der Woche allgemein-medizinische Hilfe für alle obdach- und wohnungslosen Menschen in Wien. Das Besondere: Hier werden soziale Arbeit und medizinische Versorgung kombi-niert, es wird auf die spezifischen Be-dürfnisse der PatientInnen mit Zeit und Geduld Rücksicht genommen. Und es ist auch unwichtig, wie jemand gekleidet ist oder auftritt – allen Menschen wird geholfen. Zentral ist auch, dass ein fixes ÄrztInnenteam die PatientInnen betreut: Dadurch kann Vertrauen aufgebaut, Kontinuität und Compliance können in der Behandlung sichergestellt werden. Dies ist deswegen so wichtig, da es mit einem Behandlungstermin selten getan

» UNSER AUFTRAG IST ES, EINE LÜCKE IM SYSTEM, ZU SCHLIESSEN. «Susanne Pospisil, Sozialarbeiterin neunerhaus medizinisches Zentrum – Und mehr.

Brigitte Reinbacher und Susanne Pospisil am Empfang.

ARZTPRAXIS

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ist, die meisten der PatientInnen haben mehrere Diagnosen gleichzeitig. Seit der Eröffnung Ende Jänner 2013 wurden im ersten Quartal 64 Personen medizinisch versorgt; unter ihnen 25 Frauen und 39 Männer. 25 Prozent von ihnen benö-tigen aufgrund der Mehrfacherkrankun-gen wiederholte Termine.

So wie P., der bereits zum vierten Mal bei Kinast ist. Er versucht, gemein-sam mit ihrer Hilfe, seinen Alkoholkon-sum zu reduzieren und hat nun seine Blutwerte überprüfen lassen. Früher traute er sich nie zum Arzt. Doch hier ist das anders. Alle waren sofort „per Du“ mit ihm, der Einkaufswagen vor der Tür stört niemanden und zu Kinast hat er auf Anhieb Vertrauen gehabt. Die Notschlaf-stelle habe ihn auf das Angebot aufmerk-sam gemacht und ihm auch den Weg in die Margaretenstraße erklärt. Es war P.s erster Arztbesuch seit über fünf Jahren.

» MAN IST SCHNELL GANZ UNTEN. BERGAUF GEHT ES NUR LANGSAM. UMSO WICHTIGER, DASS WIR DABEI HELFEN. «Brigitte Reinbacher, Ordinationsassistentin neunerhaus Arztpraxis

Das richtige Setting.„Viele von Obdach- oder Wohnungs-losigkeit betroffene Menschen schaf-fen es nicht, am Gesundheitssystem anzudocken“, weiß auch Walter Löffler, medizinischer Leiter des neunerhaus medizinischen Zentrums. „Unsere Pati-entInnen sind oft sehr ungeduldig und können nicht lange warten“, erzählt er. „Die Existenzsicherung nimmt so viele Ressourcen in Anspruch, dass Warten kaum mehr möglich ist, das sorgt in her-kömmlichen Praxen oftmals für Ärger“, weiß Löffler. Daher ist eine eigenständi-ge medizinische Versorgung mit einem realen Zugang und ohne Ausgrenzung von Menschen für das neunerhaus ein gesellschaftspolitischer Auftrag.

DIE NEUNERHAUS ARZTPRAXIS …… ist für alle wohnungs- und ob-dachlosen Personen in Wien offen.… ist das erste Angebot dieser Art an einem fixen Standort, mit fixen ÄrztInnen und fixen Ordinations-zeiten.… schließt damit eine Versorgungslü-cke im Wiener Gesundheitssystem.… entlastet und unterstützt Spitäler und Ambulanzen durch die allge-meinmedizinische Erstversorgung in einer niedergelassenen Praxis.… versteht sich als „Brücke“ in das reguläre Gesundheitssystem.… kombiniert sozialarbeiterische Unterstützung und medizinische Versorgung.... bietet Beratung in puncto Woh-nen sowie finanzielle und sozial-rechtliche Absicherung.… stellt damit das Menschenrecht auf medizinische Versorgung für alle in Wien sicher.

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HOUSING FIRST

Housing First bietet eigenständiges Wohnen mit Hauptmietvertrag und sozialarbeiterischer Betreuung – von Beginn an.

Text: FLORA EDER

MITTEN IM LEBEN

Die meisten KlientInnen haben das Potential, ihr Leben selbst zu meistern. Dazu reicht oftmals eine eigene – leist-bare – Wohnung und Starthilfe. Das bietet nunmehr das vom FSW finanzierte Wiener Pilotprojekt „Housing First“. Wie schon in neunernews Dezember 2012 berichtet, bedeutet Housing First, dass wohnungslose Menschen mit sozialarbei-terischer Betreuung von Beginn an als HauptmieterInnen eine eigene Wohnung beziehen. Wie diese Betreuung aussieht? Die neunernews begleiteten einen Tag lang Sozialarbeiterin Ines Ganahl.

09:15 Schreibkram. Ines startet in den Tag. Telefonate stehen an: Am Finanzamt erfragt sie, welche Unterlagen einer ihrer Klienten beim nächsten Besuch mitbringen muss.

Danach ruft sie beim AMS an und klärt die Eckpunkte für einen Computer-Kurs, der für einen anderen Klienten in einer Woche startet. Fast eine Stunde später muss sie tief durchatmen: Die Bürokratie hat es in sich. Ines erledigt noch eine Internetrecherche für einen weiteren Klienten, der sich im neu-en Grätzl fremd fühlt, NachbarInnen kennen lernen und sozialen Anschluss finden möchte. Ines findet einen Kar-tenspielstammtisch bei ihm im Hof und wird ihm beim morgigen Hausbesuch vorschlagen, dort vorbeizuschauen.

10:30 Teamsitzung. Gemeinsam mit ihren KollegInnen Martin und Claudia wird die Betreuung der KlientInnen besprochen. Jeder Fall ist anders gelagert, die Unterstützung

soll gemäß dem Housing-First-Konzept individuell abgestimmt sein. Wichtig ist dabei, nicht zu bevormunden, sondern die KlientInnen in der Weiterentwick-lung ihrer eigenen Fähigkeiten zu un-terstützen. Für die jüngste Tochter der Familie G. muss ein Schulplatz gefun-den werden, nach dem Sommer ist ihre Zeit im Kindergarten vorbei. Außerdem benötigt die Familie Unterstützung beim Antrag für das Kinderbetreuungs-geld und die Mutter hat nächste Woche einen wichtigen Termin beim AMS. Es entfaltet sich ein dichtes Netz aus Fa-miliengeschichten und -dynamik sowie Bürokratie, diversen Beihilfekriterien und bevorstehenden Behördengängen.

13:00 Wohnungsplanung. Ziel von Housing First ist es, dauerhaft

Das Menschenrecht auf Wohnen ist in einer der wohlha-bendsten Städte der Welt noch immer nicht flächendeckend gewährleistet: Wien. Für Menschen in prekären Arbeitsver-hältnissen oder mit bedarfsorientierter Mindestsicherung wird es immer schwieriger, die bestehende Wohnung zu erhalten oder eine leistbare neue Wohnung zu finden.

Mittlerweile muss jeder zweite Euro von Haushalten des untersten Einkommensviertels für Wohnkosten aus-gegeben werden. Auch für die Durchschnittsbevölkerung stiegen die Wohnkosten anteilig am Gesamteinkommen auf 23 bis 24 Prozent an. Das ist auch aus Sicht der Schuld-nerInnenberatung für alle Betroffenen existenzbedrohend – denn wer über ein Drittel seines Gesamteinkommens für Wohnen ausgibt, ist akut von einer Delogierung bedroht: So etwas ist auf Dauer für niemanden leistbar.

Ursache dieses sozial brisanten Problems ist unter an-derem auch – und paradoxerweise – die Qualitätsentwick-lung am Immobilienmarkt der letzten Jahrzehnte: Kleine

Wohnungen sind kaum mehr vorhanden. Sie wurden zum einen nicht mehr gebaut, wurden durch Qualitätsverbesse-rungen finanziell unerschwinglich oder wurden Mangelwa-re, weil sie durch die Zusammenlegung von Wohneinheiten vom Wohnungsmarkt verschwanden. Dabei wären gerade sie für einkommensschwache Personen dringend notwen-dig, um auch billige Wohnungen beziehen zu können.

Überhaupt gibt es zu wenige Wohnungen: Wien hätte einen jährlichen Bedarf von rund 10.000 neuen Wohnun-gen. Auch derzeit noch von der Wiener Wohnungslosen-hilfe betreute Personen drängen auf den Wohnungsmarkt. Für sie müssten bis zu 1.200 geförderte Wohnungen jährlich angeboten werden, damit Vereine wie das neuner-haus ihre Arbeit weiterhin gut abwickeln können. Auch der private Sektor ist gefordert (siehe Text „Mitten im Leben“). Denn Obdachlosigkeit kann in letzter Konsequenz nur durch flächendeckenden leistbaren Wohnraum verhindert werden. (red)

WOHNEN MUSS LEISTBAR SEIN

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leistbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Sobald eine neue Wohnung für Housing First angeboten wird, berät das Team, wer von den vielen Klien-tInnen dafür passt. Martin zeigt Fotos von seiner Wohnungsbesichtigung am Vormittag, die üblichen Fragen folgen: Wie hoch ist die Miete, wie hoch die Kaution, müssen Eigenmittel vorab vor-handen sein? Ist die Wohnung möbliert, sind Reparaturen notwendig? Sind die Fenster gut isoliert? Welche Voraus-setzungen fordert der Mietvertrag? Dürfen Tiere mitgebracht werden? Und wer übernimmt die Kosten in puncto Therme? Danach wird überprüft, für wen von den KlientInnen oder Familien die Wohnung geeignet ist: Wer hat sich bereits etwas zusammengespart, wer ist flink im Reparieren, wer hat vielleicht noch einzelne Möbelstücke von früher zur Verfügung? Die Rolle des Teams ist jetzt, das passende Matching zu finden: Das bietet einerseits Sicherheit für die VermieterInnen, denen finanzielle Planbarkeit wichtig ist, und es gewähr-leistet für die KlientInnen andererseits, nachhaltig dauerhaften Wohnraum zu finden und halten zu können. Kernstück von Housing First ist der Hauptmietver-trag, der mit Einzug in die Wohnungen abgeschlossen wird. Die sozialarbeite-

rische Betreuung ist unabhängig vom Mietvertrag geregelt. Falls es im Mitei-nander Probleme gibt, steht das Team unterstützend für KlientIn als auch Hausverwaltung zur Seite.

15:00 Hausbesuch. Susanna H. öffnet Ines die Tür zu ihrer neu bezogenen Wohnung. Sie ist liebe-voll mit Handarbeiten der 45-jährigen Hilfsarbeiterin geschmückt. Ines geht mit ihr aktuelle Rechnungen, Ausga-ben und Amtswege durch, bespricht den Tagesablauf. Susanna H. hat vor dem Einzug in ihre Wohnung jahre-lang bei Bekannten und FreundInnen abwechselnd wochenweise gewohnt. Die Zeit war stressig und zehrte an ihren Nerven. Nun will sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Sie grübelt viel über die Pläne zur weiteren Einrichtung der Mietwohnung – es ist ja auch ihre erste. Mit Unterstützung von Ines schafft sie es, ihre Finanzen wieder im Griff zu haben und sich sogar etwas anzusparen. „Die Wohnzimmer-einrichtung habe ich um nur 30 Euro im Internet erstanden“, erklärt die Bewoh-nerin stolz. Als nächstes soll die neue Möblierung ihrer Schlafnische an die Reihe kommen.

WENN WOHNEN ARM MACHT

1.400.000Menschen in Österreich sind armuts gefährdet. Das entspricht 17 Prozent der Gesamtbevölkerung.

795Euro beträgt die bedarfsorientierte Mindestsicherung für Einzelperso-nen 2013 monatlich. Pro Kind kom-men mindestens 140 Euro dazu.

199Euro beträgt 2013 jener Anteil ihrer Mindestsicherung, der für Wohnkosten vorgesehen ist.

410Euro betrug die durchschnittliche Miete für Neuvermietungen von 50-m2-Wohnungen in Wien 2011.

18Prozent der österreichischen Haus-halte haben einen unzumutbar ho-hen Wohnkostenanteil. Sie geben mehr als ein Viertel des Haushalts-einkommens für Wohnen aus.

60Prozent der armutsgefährdeten Menschen leiden unter einem solch unzumutbar hohen Wohnkosten-anteil.

6.000 Personen werden jedes Jahr in etwa in Österreich wohnungslos.

12.300registrierte wohnungslose Men-schen leben in Österreich, 8.580 von ihnen wurden 2011 in Wien betreut. Sie sind in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe gemeldet. Die Dunkelziffer wird erheblich höher geschätzt.

Quellen: Wiener Sozialbericht 2012, Österreichischer Sozialbericht 2011-2012, Statistik Austria, help.gv.at

HOUSING FIRST

Ines Ganahl und das Housing-First-Team.

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ÜBER DEN DÄCHERN WIENSBereits zum siebten Mal fand Ende Mai der neunerhaus Haubenauflauf zuguns-ten obdachloser Menschen in Wien statt. Zehn Haubenköche schwangen auch heuer wieder den Kochlöffel für den guten Zweck in der Erste Bank Lounge am Graben und zauberten gemein-sam mit den Gästen ein zehngängiges Menü. Und auch heuer genossen die Gäste und Haubenköche das Flying Dinner über den Dächern Wiens.

Ein Höhepunkt des Abends war wie gewohnt und allseits beliebt die Versteigerung durch Auktionator Otto Hans Ressler: Er brachte mit seinem unverkennbaren Witz „beson-dere Objekte“, Dinge und Erlebnisse der ganz besonderen Art unter den

Hammer. Der Erlös des Abends hilft uns, unsere Arbeit nachhaltig finanziell sicherzustellen.

Wir bedanken uns bei den Hauben-köchen Peter Zinter (Vincent), Sieg-fried Kröpfl (Hotel Bristol), Manfred Buchinger (Zur Alten Schule), Thomas Gruber (Gasthaus von Thomas Gruber), Rainer Stanzinger (Restaurant Tangl-berg), Max Stiegl (Gut Purbach), Harald Riedl (Dombeisl Wien), Bernie Rieder, Klaus Fleischhacker (Hotel Rathaus Wein & Design) und Christian Petz (Das Badeschiff) sowie bei all unseren langjährigen PartnerInnen, Unterstütze-rInnen und SponsorInnen, die uns beim Haubenauflauf und in unserer Arbeit unterstützen. (red)

ENDE DER DURSTSTRECKEAm 13. April erlebten unsere Bewoh-ner Herbert und Mario mit einigen anderen BewohnerInnen aus dem neu-nerhaus im Wiener Hanappi Stadion „das entscheidende“ Spiel: Rapid Wien gegen Wiener Neustadt. Die beiden Ra-pid-Fans fieberten nach einer Schlappe von neun sieglosen Spielen besonders mit ihrer Lieblingsmannschaft mit. Nach einer enttäuschenden ersten Halbzeit genossen sie den Aufschwung „ihrer“ Grün-Weißen umso mehr und feuerten die Elf euphorisch an. „Sie kämpften das gesamte Spiel über und ernteten positive Fangesänge. Mit der tosenden Stimmung der Fans und dem Fleiß der Mannschaft konnte Rapid sich das 2:0 sichern“, freut sich Mario: „Der erlösende Abpfiff des Schiedsrich-ters beendete die Serie der Niederlagen und eröffnet eine neue Hoffnung auf mehr.“ Resümee: „Aufre-gend und nervenauf-reibend!“ Ermöglicht wurde dieser Sta-dionbesuch durch den neunerhaus-Partner Casi-nos Austria. (red)

KURZBERICHTE

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TREUE BEGLEITERVon Anbeginn waren im neunerhaus auch die Vierbeiner obdach- und

wohnungsloser Menschen willkommen. Die ehrenamtlich tätigen neunerhaus-TierärztInnen sind für alle da.

Seitdem auch Barack Obama einen portugiesischen Wasserhund hat, zieht der kleine „Socke“ alle Blicke auf sich. Das ist auch an diesem Freitag in der neunerhaus Tierärztlichen Versorgungs-stelle in Wien nicht anders. Mit vier weißen Pfoten und im schwarzhaarigen Struwwel-Look tappt Socke ins War-tezimmer und zieht sein Herrl an der Leine hinter sich nach.

Der sechs Monate alte Wasserhund Socke ist heute das erste Mal mit seinem Herrl Robert K. bei einem Tierarzt. Erst vor kurzem zog er in dessen Übergangs-wohnung ein, seither sind die beiden ein Herz und eine Seele. Geimpft, gechipt und medizinisch durchgecheckt muss aber auch Socke werden. Vor ihm sind noch drei Katzen, zwei Babyhunde und ein traurig blickender Schäferhund an der Reihe.

Sie alle werden an diesem Vormittag von Tierärztin Johanna Wenninger und Assistentin Michaela Spanblöchl behan-delt – beide engagieren sich seit langem ehrenamtlich im neunerhaus. Soeben ist der fünfjährige Pekinese Murli in der Ordination. Er sträubt sich gegen die Impfung. Aber sein Herrl streichelt ihn und beruhigt ihn damit. Nach der Injektion bekommt Murli eine Beloh-nung. „Das Ritual kennt er schon“, lacht Wenninger, als der Hund sie mit erwar-tungsvollen Augen anblickt. Denn schon mit seiner früheren Besitzerin kam Murli zu den neunerhaus-TierärztInnen. Aufgrund ihrer Epilepsie-Erkrankung mussten sich die beiden aber trennen. Nun teilt er sich sein neues Zuhause nicht nur mit seinem neuen Tierbesitzer, sondern auch mit Boxerhündin Lea.

Die neunerhaus Tierärztliche Versor-gungsstelle wurde 2010 in Zusammen-arbeit mit der Österreichischen Tierärz-tekammer gegründet. Alle obdach- oder wohnungslosen TierbesitzerInnen können das Angebot kostenlos nutzen. Tiere sind oftmals die letzte soziale Ver-

antwortung wohnungsloser Menschen, dadurch wirken sie auch in Krisenzeiten stabilisierend. Das neunerhaus hilft also nicht nur den Tieren, sondern auch den Menschen. Ermöglicht wird das durch die ehrenamtlich tätigen TierärztInnen – drei Mal pro Woche ist Ordinationsbe-trieb. 425 PatientenbesitzerInnen konnte seit 2010 geholfen werden.

Als Socke vorsichtig den Behand-lungsraum betritt, beschnuppert er zuerst die beiden „Praxishunde“ von Spanblöchl und Wenninger. Sie liegen entspannt unter dem Schreibtisch im hinteren Eck der Räumlichkeiten und dö-sen vor sich hin. Wenninger kontrolliert Sockes Zähne, die Pfoten, leuchtet ihm kurz in die Augen und tastet seinen Hals ab. Socke ist gesund. Aber im Hundepass sind keine Impfungen eingetragen – also stehen ihm trotzdem einige Besuche bevor. Für sein Herrl kein Problem, er hat kommende Woche einen Termin beim neunerhaus Zahnarzt. So kann er die Arztbesuche verknüpfen – denn der be-findet sich im selben Gebäude. (red) Die neunerhaus-TierärztInnen

versorgen die Tiere obdach- und wohnungsloser Menschen.

IM RAMPENLICHT

Spenden sind eine wertvolle und unverzichtbare Unterstützung!

Konto-Nr. 114 725 29, BLZ 32000 IBAN: AT72 3200 0000 1147 2529 BIC: RLNWATWW

Herzlichen Dank!

Mitarbeit:Wir sind laufend auf der Suche nach Tier-ärztInnen und AssistentInnen, die uns ehrenamtlich unterstützen. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte Drin. Eva Wistrela-Lacek ([email protected]). Wir freuen uns auf Sie!

Page 12: neunernews Juni 2013

DAS BIN ICH

DIE BESSERE ZEIT„Jeden Tag war ich Schwammerl bro-cken, Zander fangen und Milch anlie-fern für unsere Bäuerin.“ Der robuste 68-jährige Niederösterreicher Wolfgang zeichnet gestochen scharfe Bilder der Erinnerung an seine Kindheit am Mond-see. In der Schule war er Klassenbester,

lernte freiwillig am Nachmittag Latein und flüsterte den Lehrern die Korrektu-ren ihrer Fallfehler ins Ohr. Studieren müsse er, sagten sie. Das hätte er gern. „Erdkunde, Biologie, Chemie, Geschich-te – egal was“, sagt Wolfgang. „Ich hätte Atomphysiker werden können!“

Aber die Eltern machten dem 14-Jäh-rigen einen Strich durch die Rechnung. „Der muss arbeiten gehen“, beschlossen sie und schickten ihn in eine Fleischhau-erei in Niederösterreich. Die schlimms-ten Jahre seines jungen Lebens brachen dort an. Arbeitskollegen hatten es auf ihn abgesehen, schlugen ihn mehrere Male bewusstlos, folterten ihn, brachen ihm die Zähne aus. Als eines Tages das Hoftor zufällig offen stand, ergriff Wolf-gang die Flucht und rannte 27 Kilometer weit nach Hause.

Die Eltern aber zeigten kein Verständ-nis. Mit 17 Jahren wurde er vor die Tür gesetzt, auch seine Brüder halfen ihm nicht. 13 Winter überlebte er im Freien, sagt er. Auf den Wiesen und Wäldern des Piestingtals, tagsüber vor dem Heizkör-

» OFTMALS GAB ES ZWEI GANZE WOCHEN KEINEN BISSEN ZU ESSEN ... «Wolfgang P., 68 Jahre, Bewohner des neunerhauses Kudlichgasse, davor neunerhaus Hagenmüllergasse

per eines Wirten, der ihn aufwärmen ließ und nachts in den Mulden, die er in den Schnee buddelte. Wovon man sich dann ernährt? „Von nichts“, sagt Wolfgang, „je-der Tag war ein Kampf ums Überleben.“ Die Rinde der Föhren könne man kauen, das sei zumindest ein psychologischer

Trick. Oftmals gab es ganze zwei Wochen keinen Bissen zu essen. „Das Leben war eine Qual. Mir fielen die Haare vor Hun-ger aus. Schon mit 23 Jahren hatte ich eine Glatze“, sagt Wolfgang.

Trotzdem habe er sich erst in dieser Zeit von dem schweren Trauma aus der Fleischfabrik erholt. Im August 1975 kam die Wende, sein zweiter Geburtstag, wie er heute sagt. Einer seiner Brüder, der in der Nähe des Wirtshauses lebte, erbarmte sich und nahm ihn mit an den Mondsee, wo er bei seiner „alten“ Bäuerin unterkam und das erste Mal seit 15 Jahren wieder in einem Bett schlief. Er fand Arbeit und seinen besten Freund, der ihm an langen Sommernächten am Attersee die Kopfhörer seiner Musik-anlage aufsetzte und das erste Mal die Beatles vorspielte.

Dann kam das Angebot, am Bau des General-Motors-Werks in Wien mitzuhel-fen. Doch als das Werk fertig war, waren auch die kleine Wohnung und die Arbeit weg. Und Wolfgang landete wieder auf der Straße. Über seine Leidenschaft zum

Schachspielen fand er durch die Kontak-te zu den anderen Spielern gelegentlich Schlafplätze. Zwischenzeitlich übernach-tete er in Parks, U-Bahn-Stationen und beheizten WC-Anlagen. „Das ist wirklich grauslich. Aber im Vergleich zum Land kommt man in der Stadt leichter über die Runden“, sagt Wolfgang.

Als ihm das Leben auf der Straße eines Tages zu viel wurde, fand er im neunerhaus Hagenmüllergasse ein Ohr. „Der Einrichtungsleiter war so super und nach wenigen Wochen hatte ich eine Wohnung dort“, erinnert er sich. Wie der erste Tag im neunerhaus war? „Unge-wohnt. Aber ich hatte ein Dach über dem Schädel“, sagt Wolfgang. „Das ist die beste Zeit meines Lebens.“ (red)

IHRE SPENDE VERÄNDERT LEBEN!Obdach- oder wohnungslos zu sein bedeutet, gezeichnet am Rande der Gesellschaft zu leben. Nicht nur ein schützendes Dach fehlt, sondern auch medizinische Versorgung. Mit Ihrer Spende mittels beiliegendem Zahlschein oder online helfen Sie uns, obdachlosen Menschen ein Dach über dem Kopf und die dringend notwendige medizinische Betreu-ung zu geben. Vielen Dank! www.neunerhaus.at

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