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Klaus Schubert · Simon Hegelich · Ursula Bazant (Hrsg.) Europäische Wohlfahrtssysteme

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Klaus Schubert · Simon Hegelich · Ursula Bazant (Hrsg.)

Europäische Wohlfahrtssysteme

Klaus SchubertSimon HegelichUrsula Bazant (Hrsg.)

EuropäischeWohlfahrtssystemeEin Handbuch

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15784-9

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort................................................................................................................................. 9

I Einleitung

Klaus Schubert, Simon Hegelich, Ursula Bazant Europäische Wohlfahrtssysteme: Stand der Forschung – theoretisch-methodische Überlegungen ................................ 13

II Länderstudien

A Karin Heitzmann, August Österle Lange Traditionen und neue Herausforderungen: Das österreichische Wohlfahrtssystem ........................................................................... 47

B Bea Cantillon, Ive Marx Auf der Suche nach einem Weg aus der ‚Wohlfahrt ohne Arbeit‘: Das belgische Wohlfahrtssystem..................................................................................... 71

CY Christina Ioannou, Anthos I. Shekeris, Christos Panayiotopoulos Sozialpolitik im Schatten der Nationalen Frage: Das zyprische Wohlfahrtssystem .................................................................................... 89

CZ Petr Fiala, Miroslav Mareš Nach der Reform ist vor der Reform: Das tschechische Wohlfahrtssystem ............................................................................. 109

D Simon Hegelich, Hendrik Meyer Konflikt, Verhandlung, Sozialer Friede: Das deutsche Wohlfahrtssystem ................................................................................... 127

DK Christoffer Green-Pedersen, Michael Baggesen Klitgaard Im Spannungsfeld von wirtschaftlichen Sachzwängen und öffentlichemKonservatismus: Das dänische Wohlfahrtssystem ..................................................... 149

E Paloma Villota Gil-Escoin, Susana Vázquez Work in Progress: Das spanische Wohlfahrtssystem.................................................................................. 169

Inhalt 6

EST Avo Trumm, Mare Ainsaar Zwischen Marginalität und Universalismus: Das estnische Wohlfahrtssystem ................................................................................... 187

F Camal Gallouj, Karim Gallouj Auf Kurs in Richtung liberal-residualer Wohlfahrtsstaat? Das französische Wohlfahrtssystem ............................................................................. 207

FIN Olli Kangas, Juho Saari Krisenbewältigung mit Langzeitfolgen? Der finnische Wohlfahrtsstaat ....................................................................................... 239

GB Lavinia Mitton Vermarktlichung zwischen Thatcher und New Labour: Das britische Wohlfahrtssystem .................................................................................... 263

GR Christos Papatheodorou Verspätete Entwicklung der sozialen Sicherung: Das griechische Wohlfahrtssystem ............................................................................... 285

H Katalin Tausz Vom Staatssozialismus zum Wohlfahrtshybrid: Das ungarische Wohlfahrtssystem................................................................................ 311

I David Natali Rekalibrierung von Sozialprogrammen und Flexibilisierung der Arbeitsmarktpolitik: Das italienische Wohlfahrtssystem........................................... 333

IRL Anthony McCashin, Judy O‘Shea Unter Modernisierungsdruck: Das irische Wohlfahrtssystem........................................................................................ 355

L Nicole Kerschen Entwicklungspfade von den Ursprüngen hin zu Europa: Das luxemburgische Wohlfahrtssystem....................................................................... 379

LT Jolanta Aidukaite Die Entwicklung in der post-sowjetischen Ära: Das litauische Wohlfahrtssystem .................................................................................. 403

LV Feliciana Rajevska Vom Sozialstaat zum Wohlfahrtsmix: Das lettische Wohlfahrtssystem nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit........ 423

Inhalt 7

MT Charles Pace Linker Wein in rechten Schläuchen? Das Wohlfahrtssystem Maltas ....................................................................................... 443

NL Wim van Oorschot Von kollektiver Solidarität zur individuellen Verantwortung: Der niederländische Wohlfahrtsstaat ........................................................................... 465

P José António Pereirinha, Manuela Arcanjo, Francisco Nunes Von einem korporativen Regime zu einem europäischen Wohlfahrtsstaat: Das portugiesische Wohlfahrtssystem.......................................................................... 483

PL Renata Siemie ska, Anna Domaradzka Transformation mit Schwierigkeiten: Das polnische Wohlfahrtssystem .................................................................................. 503

S Sven O. E. Hort Sklerose oder ständig in Bewegung? Das schwedische Wohlfahrtssystem............................................................................. 525

SK Hendrik Meyer, Olaf Wientzek Neoliberales Schreckgespenst oder Vorbild Mittelosteuropas? Das slowakische Wohlfahrtssystem.............................................................................. 549

SLO Zinka Kolari , Anja Kopa , Tatjana Rakar Schrittweise Reformierung statt ‚Schocktherapie‘: Das slowenische Wohlfahrtssystem.............................................................................. 569

EU Wolfram Lamping Auf dem Weg zu einem postnationalen Sozialstaat? Die Sozialpolitik der Europäischen Union................................................................... 595

III Vergleichende Analysen

Ursula Bazant, Klaus Schubert Europäische Wohlfahrtssysteme: Vielfalt jenseits bestehender Kategorien....................................................................... 623

Simon Hegelich, Klaus Schubert Europäische Wohlfahrtssysteme: Politisch limitierter Pluralismus als europäisches Spezifikum.................................. 647

IV Anhang........................................................................................................................ 661

Autorenverzeichnis ......................................................................................................... 701

Vorwort

Dieses Buch fokussiert auf die Vielfalt europäischer Wohlfahrtssysteme. Es zollt der verglei-chenden Wohlfahrtsforschung großen Respekt, argumentiert aber, dass gravierende politi-sche, soziale und ökonomische Veränderungen es notwendig machen, gängige Kategorien und Typologien zu überdenken. Nicht nur das, die Herausgeber sind der Meinung, dass es aktuell ratsam ist – bildlich gesprochen – einen Schritt zurück zu treten und sich der empiri-schen Basis unseres Gegenstandes neu zu versichern. Erst der ‚präkomparative‘ Zugriff lässt uns wieder näher an das reale Phänomen und auch die neueren Entwicklungen in der Sozi-al- und Wohlfahrtspolitik heranrücken. Dieser Schritt eröffnet, wie aus den Studien der EU-25 Staaten eindrucksvoll deutlich wird, eine Vielfalt nationaler Systeme der Wohlfahrtspro-duktion, -distribution und -konsumption.

Die 25 Länderstudien sind nach einer weitgehend einheitlichen Gliederung verfasst und variieren vornehmlich hinsichtlich länderspezifischer Details: Nach einer kurzen histo-rischen Einleitung wird der erreichte Status Quo beschrieben und analysiert: Welche Wohl-fahrtsleistungen gibt es? In welcher Form stehen sie zur Verfügung? An wen richten sich diese Leistungen? Nach welchen Kriterien werden sie verteilt? Wer kommt für die anfallen-den Kosten auf? Die Analyse richtet sich auf Fragen der Verteilung, die Vor- und Nachteile, die Leistungen und Defizite der jeweiligen Wohlfahrtssysteme. Ein kurzer Ausblick auf aktuelle Entwicklungen, Fragen und Probleme rundet die Einzelstudien ab. Diese ergän-zend werden in einem zusätzlichen Beitrag die Spielräume und Grenzen einer europäischen Sozialpolitik erörtert.

Die Herausgeber schließen den Band einerseits mit einer ersten Aufarbeitung der „Vielfalt jenseits bekannter Kategorien“ und andererseits mit der politisch-politik-wissenschaftlichen Behauptung eines für Europa spezifischen „politisch limitierten Plura-lismus“.

Wer jemals größere Arbeiten wie die vorliegende durchgeführt hat, kann nachvollzie-hen, dass die Herausgeber einer großen Anzahl von Kollegen und Kolleginnen zu Dank für Rat, Tat und Kritik verpflichtet sind. Dieser richtet sich insbesondere auch an die Autoren und Autorinnen aus den EU-25 Staaten für ihre Kooperationsbereitschaft und Ermunterung dieses Projekt umzusetzen, sowie in vielen Fällen für die Unterstützung und Geduld. Unser Dank geht weiterhin an die Übersetzer und Übersetzerinnen der vornehmlich englischen Originaltexte. Dies sind insbesondere Sonja Blum (die unser Projekt in vielen weiteren As-pekten umsichtig unterstützt hat), Cornelia Fraune, Julia Gieseler, Tabea Bergold, Jochen Dehling und Hendrik Meyer (ebenfalls ein verlässlicher ‚trouble shooter‘). Ganz besonderer Dank gehört Cathryn Backhaus für ihren Einsatz bei allen Fragen der z.T. langwierigen Korrespondenz und Organisation und für ihre zahllosen Hilfen bei den Übersetzungen – es ist aber vor allem ihre immer freundliche, ausgleichende und umsichtige Art, die das Klima in unserem ‚Laden‘ immer wieder positiv beeinflusst und so Arbeiten richtig Spaß macht.

Klaus Schubert, Simon Hegelich, Ursula Bazant Münster im Herbst 2007

I Einleitung

Europäische Wohlfahrtssysteme: Stand der Forschung –theoretisch-methodische Überlegungen

Klaus Schubert, Simon Hegelich, Ursula Bazant

Von außen betrachtet, im Vergleich der Weltregionen, ist das zentrale Merkmal der Europäi-schen Union sicher das hohe Niveau an Wohlfahrts- und Sozialleistungen. Von innen gese-hen ist offensichtlich die Pluralität, ja das hohe Maß an Differenzierung und Varianz zwi-schen den Mitgliedstaaten das zentrale Charakteristikum. Diese Besonderheit – Pluralität und Varianz – trifft insbesondere auch auf die Wohlfahrtssysteme in den Staaten der EU zu. Das vergleichsweise hohe materielle und finanzielle Leistungsniveau, der z.T. die gesamte Bevölkerung umfassende Kreis unmittelbarer und mittelbarer Nutznießer und die damit verbundenen nationalen, innenpolitischen Eigenheiten erklären, dass der Wohlfahrts- und Sozialpolitik in der politischen Praxis aller Staaten der EU eine besondere Bedeutung zu-kommt.

Gleiches gilt für die politikwissenschaftliche Forschung und es war gerade die verglei-chende Wohlfahrtsstaats-Forschung, die hier besondere Pionierarbeit geleistet und wertvol-le Erkenntnisse hervorgebracht hat. Dabei ist es nicht erstaunlich, dass die empirisch zu beobachtende Vielfalt, auch weit über den europäischen Rahmen hinaus, bereits früh Versu-che der theoretischen Systematisierung und Kategorisierung hervorbrachte. Eine besonders herausragende und bis heute prägende Arbeit teilt die wichtigsten kapitalistischen Ökono-mien in gerade einmal drei Wohlfahrtsregime ein (Esping-Andersen 1990). Die anhaltende und sich in letzter Zeit häufende Kritik an dieser Arbeit verweist allerdings auch auf die Grenzen einer zu stark reduzierenden Typenbildung und Kategorisierung.

Angesichts der – zumindest für die europäische Welt – hohen nationalen Bedeutung der Wohlfahrts- und Sozialpolitik ist diese theoretische, abstraktions- und typisierungsbe-dingte politikwissenschaftliche Distanz zum eigentlichen Gegenstand äußerst bemerkens-wert. Ebenso erstaunlich ist, dass nach Einführung bestimmter Kategorien bzw. Wohlfahrts-staats-, Regime- oder Problem-Typen gerade in der vergleichenden Forschung die Anzahl der untersuchten oder zur Beweisführung herangezogenen Länder immer recht überschau-bar blieb. Dies hat zur Folge, dass trotz der insgesamt sehr lebendigen und breiten Wohl-fahrtsstaatsforschung bisher der Versuch unterblieb, die Vielfalt der europäischen Wohl-fahrtssysteme wenigstens deskriptiv aufzunehmen. Forschungslogisch ist dies interessant, weil selbst gute theoretische Verallgemeinerungen dazu führen, den Bezug zu den empiri-schen Gegebenheiten einzuschränken. Empirisch ist dies interessant, weil alle diese Systeme in den letzten Jahren einem hohen Reform- und Veränderungsdruck ausgesetzt waren.

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Hinzu kommt, dass sich das Bild der europäischen Wohlfahrtssysteme1 durch (a) die unter dem Schlagwort Globalisierung zusammengefassten Prozesse, (b) durch die fortschreitende Vertiefung der Europäischen Union, (c) durch die Erweiterung der EU und (4) durch unter-schiedliche nationale Entwicklungen stark verändert hat. Will man die europäische Perspek-tive im Rahmen vergleichender Forschung, als Referenz für nationale Untersuchungen oder als eigenständigen Forschungsgegenstand beibehalten, ist es ratsam, einen aktuellen Über-blick über den Stand der europäischen Wohlfahrtssysteme zu Grunde zu legen. Hierzu soll der vorliegende Band beitragen. Zum ersten Mal werden alle Wohlfahrtssysteme der EU-25 anhand derselben Kategorien in ihrer Entwicklung und hinsichtlich ihrer aktuellen Proble-me analysiert. Dazu haben über 30 Experten aus allen Ländern der EU zusammengearbeitet. Das Ergebnis ist ein erster Überblick über die Gesamtheit der Wohlfahrtssysteme in Europa, sozusagen ein Luftbild der europäischen Wohlfahrtslandschaften. Die Auswertung dieser Aufnahmen ist noch lange nicht abgeschlossen, da die einzelnen Ausschnitte erst durch vergleichende Arbeiten in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden müssen. In diesem Sinne kann man den vorliegenden Band als ‚präkomparatistisch‘ bezeichnen. Denn unserer Auffassung nach bedarf insbesondere die vergleichende Wohlfahrtsforschung zunächst einer Versicherung ihrer empirischen Grundlage. Unsere These ist, dass die kurz erwähnten Entwicklungen das theoretische Fundament der Wohlfahrtsforschung in Teilen unterhöhlt haben. Da sich aus dieser These die strukturellen Leitlinien der Analyse der einzelnen Wohl-fahrtssysteme ergeben haben, soll sie im Folgenden auf theoretischer Ebene näher ausge-führt werden. Im Anschluss an die einzelnen Länderbeiträge ist dann zu zeigen, ob und ggf. in welchem Maße die empirischen Befunde diesen Vorbehalt untermauern.

1 Stand der Forschung2

Die vergleichende europäische Wohlfahrtsstaatsforschung der letzten Jahre lässt sich grob in drei Hauptlinien unterteilen, die, freilich mit starken Überschneidungen, Sprüngen und Redundanzen, auch eine holzschnittartige Chronologie der theoretischen Entwicklung die-ser Disziplin ergeben: Die Entwicklung von Kategorien und Clustern, die Analyse der Re-duzierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (retrenchment) und die Frage nach Konvergenz und/oder Pfadabhängigkeit zwischen den Wohlfahrtsstaaten.

1.1 Kategorisierung und Clusterbildung

Bereits der Begriff ‚Wohlfahrtsstaat‘ kann als „komparativer Kunstgriff“ (Higgins 1981) verstanden werden. Ganz bewusst werden hier höchst unterschiedliche institutionelle Ar-rangements begrifflich gleichgesetzt, ohne dass es eine geeinte Vorstellung gibt, was der ‚Wohlfahrtsstaat' ist. Im weitesten Sinn bezeichnet der Begriff ‚Wohlfahrtsstaat‘ einen be-

1 In Anlehnung an die übliche Benennung im englischsprachigen Raum verwenden wir den Begriff 'Wohlfahrt' und 'Wohlfahrtssysteme' in einem weiten Sinne (vgl. Kapitel 2 dieses Beitrages). Der Begriff 'Sozialpolitik' erscheint uns aufgrund der im deutschen Sprachraum liegenden Fokussierung auf die Sozialversicherungen im europäischen Kon-text zu eng. Dieses Problem wird im Beitrag zu Deutschland ausführlich aufgegriffen. 2 Wir danken Hendrik Meyer für Vorarbeiten zu diesem Abschnitt.

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stimmten Typus von Staatstätigkeit, der in enger Verbindung mit Kapitalismus und reprä-sentativer Demokratie als Modus der politischen Willensbildung steht, in welchem eine institutionalisierte Verpflichtung zur sozialen Sicherung und Förderung der Staatsbürger steht (Schmid 1998: 2f). Die sich vor allem in Europa neu formierenden Wohlfahrtsstaaten wurden rasch ausgebaut und führten so zum sog. „goldenen Zeitalter“ des Wohlfahrtsstaa-tes (Esping-Andersen 1996a). Die erste Zeit der Wohlfahrtsstaatsforschung ist dabei vor allem von normativen Debatten geprägt. Hier ging es in erster Linie um die Begründung sozialen Fortschritts und die Identifikation unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Zwecke und Mittel. Neben T.H. Marshalls bedeutendem Werk „Citizenship and Social Class“ (1950), in dem eine Entwicklung von Bürgerrechten über die politische Teilhabe zu sozialen Rech-ten aufgezeigt wird, wurden auch teleologische Phasenmodelle entwickelt, wie das vom „Positive State“ über den „Social Security State“ zum „Social Welfare State“ (Furniss/Tilton 1977; siehe auch Marshall 1975; Rees 1995).

Bei der Bildung der Grundkategorien lässt sich bis in die 1980er Jahre ein Nebeneinan-der feststellen, von primär qualitativen Ansätzen, die häufig auf historischen Arbeiten be-ruhen (u.a. Briggs 1961; Rimlinger 1971; Flora/Heidenheimer 1981; Baldwin 1990; Ritter 1991) und in erster Linie quantitativen Untersuchungen für die u.a. Harold Wilenskys Stu-die „The Welfare State and Equality. Structural and Ideological Roots of Public Expenditu-res“ (1975) wegweisend war. Eine weitere, häufig verwendete Unterteilung trennt bspw. zwischen den Beveridge- und Bismarckschen Wohlfahrtsstaaten (Prinz 1998; Pinker 1996; Baldwin 1992; Machtan 1994; Schludi 2001). Diese Grundeinteilung lässt sich z.B. anhand historischer Veränderungen weiterentwickeln, so dass auch hier mehrere Cluster entstehen (Hinrichs 2000). Angesichts theoretischer Schwierigkeiten wurde dann zunehmend die Methode des institutionellen Vergleichs angewandt, wobei einzelne Teilsysteme bzw. Bereiche der Sozialpolitik einem systematischen Vergleich unterzogen werden und so neben die Kategorisierung auch die Clusterbildung tritt (vgl. dazu Kaufmann 2003: 16ff).

Diese Ansätze wurden schließlich durch Esping-Andersens bahnbrechende Typologisie-rung „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) zur wichtigsten Diskussionsgrundla-ge der letzten 20 Jahre. Zwar wurde die typologisierende Methode bereits vor Esping-Andersen verwandt, indem bestimmte, in mehreren Ländern beobachtete Gemeinsamkeiten in einen Zusammenhang gebracht wurden. So stellt etwa Titmuss drei Typen zur Diskussi-on: das residual welfare-, das industrial achievement-performance- und das institutional redistribu-tive model (Titmuss 1974; siehe auch Titmuss 1950, 1972, 1987; Sainsbury 1991; Brusis 1999). Hier gelang in besonderer Weise die Verbindung von quantitativen und qualitativen Aspek-ten der Forschung. Auch danach wurde der Ansatz der Typologisierung von Wohlfahrts-staaten weiter verfolgt. Walter Korpi und Ramesh Mishra entwickeln zum Beispiel mit dem marginalen und institutionellen Wohlfahrtstypen zwei Extrempole, denen die einzelnen Län-der tendenziell zuzuordnen sind (Kopri 1980; Mishra 1981; Korpi 1985; Korpi/Palme 2003). Mit der Veröffentlichung Esping-Andersens Darstellung eines sozialdemokratischen, liberalenund konservativen Wohlfahrtsstaates wurde „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ je-doch schnell zentraler Bezugspunkt der internationalen Wohlfahrtsstaatsforschung, welche auch fünfzehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung die Debatte prägt und bereichert (u.a. Bambra 2005; Leibfried/Zürn 2006; Meyer/Schubert 2007; Esping-Andersen 1987, 1989, 1996a, 1999; Allmendinger/Hinz 1998; Goodin 2001; Manow 2001). So wurde sich beispiels-

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weise in der Analyse sog. ‚Neuer Sozialer Risiken‘ häufig auf die Kategorisierung als Grundgerüst gestützt (vgl. Taylor-Gooby 2004; Bonoli 2004).

Gleichzeitig ist das Konzept der ‚drei Welten‘ von Beginn an vielfältiger Kritik ausge-setzt gewesen, die als ein eigenständiger Zweig im Bereich der Typologisierung und der Clusterbildung angesehen werden kann. Zum einen bezieht sich die Kritik auf den An-spruch, eine (abschließend) umfassende Typologie entwickelt zu haben. So wird immer wieder danach gefragt, ob neben den drei Typen nicht noch mehr ‚worlds of welfare‘ exis-tieren, um nicht ganz passende Fälle abzudecken (u.a. Arts/Gelissen 2002; Andreß/Heien 2001; Beer/Vrooman/Wildeboer 2001; Lessenich 1994; Ferrera 1996). Stephan Lessenich (1995) beispielsweise beschreibt Spanien als einen vierten, postautoritären Typ des Wohl-fahrtskapitalismus und Castles/Mitchell (1990) sehen etwa den australischen und neusee-ländischen Wohlfahrtsstaat nicht in der Typologie vertreten. Neue Nahrung bekam diese Kritik dann noch einmal durch die Aufnahme osteuropäischer Länder in die EU (Brusis 1999; Aidukaite 2004; Kovacs 2003; Offe 2003; Tamás 2001; siehe auch Götting 1998; Deacon 2000; Kvist 2004; Sykes 2005 u.a.).

Weiterführende Auseinandersetzungen mit der Einteilung in Regime-Typen konstatie-ren, dass die meisten Länder – etwa aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen in verschie-denen Feldern der Sozialpolitik oder der Beteiligung unterschiedlicher sozialpolitischer Akteure – ein unzusammenhängendes Set an wohlfahrtsstaatlichen Politiken betreiben, so dass nicht von einheitlichen Regime-Typen gesprochen werden könne (Kasza 2002). Ein Teil der Kritik verweist zudem darauf, dass Esping-Andersen ideale Typen und reale Länder nicht systematisch unterscheide, sondern die Länder den verschiedenen Typen zuordne (Kohl 1993). Die Konfusion um Ideal- und Realtypen, d.h. dass häufig Länder und Typen verwechselt werden, bezieht sich allerdings nicht allein auf das Werk „Three Worlds of Welfare Capitalism“, sondern ist ein Manko zahlreicher Texte zur vergleichenden Wohl-fahrtsstaatsforschung (Becker 1998: 611f). Darüber hinaus besteht große Unzufriedenheit innerhalb der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung darüber, dass vielen Untersu-chungen ungleiche Maßstäbe zugrunde liegen, mit denen verglichen wird (Kaube 2003; Lessenich/Ostner 1998; Sainsbury 1991). Besonders die Arbeiten, die sich explizit oder im-plizit auf Esping-Andersens Typologie beziehen, bedienen sich häufig anderer Methoden und Variablen (kritisch hierzu: Scruggs/Allan 2006). Dadurch wird der Gewinn und Nutzen eines Vergleichs erheblich eingeschränkt. So hat etwa die Hinzufügung eines vierten Re-gime-Typs zur Bedingung, dass auch dessen Kriterien verwendet werden (Becker 1998: 613). Zusätzlich wird argumentiert, dass die meisten der gegenwärtig existierenden Klassifikatio-nen der Wohlfahrtsstaaten unzulänglich sind, wenn es darum geht, eine erklärende Richt-schnur für vergangene und zukünftige Entwicklungen in der Sozialpolitik zu entwickeln (Bonoli 1997: 352; siehe auch Esping-Andersen 2000a; Room 2000).

Ein weiterer Zweig der Kritik an der Drei-Welten-Typologie weist darauf hin, dass der Ansatz zu wenig auf genderspezifische Probleme des Wohlfahrtsstaats eingeht. So wird z.B. die Reproduktionsarbeit in den Wohlfahrtsstaaten größtenteils der Frau aufgebürdet (u.a. Ostner 1995; Sainsbury 1999; O‘Connor 1996; Geist 2005; Braun/Jung 1997). Auch durch unterschiedliche Betonung der Familie in den Wohlfahrtsstaaten entsteht ein deutlicher Gender-Gap (Fahey 2002).

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1.2 Retrenchment

Parallel zur Weiterentwicklung der methodischen Herangehensweise lässt sich ab Mitte der 1970er eine neue Phase innerhalb der Wohlfahrtsstaaten ausmachen, die das Ende des sog. ‚goldenen Zeitalters‘ markiert. Die in der Literatur häufig mit dem externen Schock der Ölkrise in Verbindung gebrachten wohlfahrtsstaatlichen Veränderungen haben demnach den „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) beendet. Seit dieser Zeit lässt sich in nahezu allen westlichen Ländern nicht nur ein Ende der Wachstumsphase feststellen, sondern auch eine Phase des Um- bzw. Abbaus von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Der gemein-same Bezugspunkt der nach wie vor sehr unterschiedlichen Ansätze liegt also in den verän-derten politischen Bedingungen, deren Ursachen zusammenfassend als demographische, soziale, kulturelle, ökonomische und internationale Herausforderungen beschrieben werden (Kaufmann 1997). Zwar gibt es innerhalb der Literatur zum Wohlfahrtsstaat eine weite Deu-tungsspanne über die Bewertung des wohlfahrtsstaatlichen Umbaus. Auffallend erscheint allerdings eine grundsätzliche Gemeinsamkeit. Der Ausgangspunkt einer überwiegenden Mehrzahl an Publikationen zur europäischen Wohlfahrtsstaatsforschung ist die ‚Krise‘ des Wohlfahrtsstaates (u.a. Alber 1985; Flora 1985; Schmid/Niketta 1998; Aust/Leitner/Lessenich 2002; Bäcker 1995; Butterwegge 2005; Flora 1985; Manow/Seils 2000; Huber/Stephens 2001; Scarbrough 2000; Svallfors/Taylor-Gooby 1999; für Deutschland auch Nullmeier/Rüb 1993). Diese ebenfalls seit Mitte der 1970er Jahre stets wiederkehrenden Krisendiskurse – bei de-nen etwa Sozialausgaben als Wachstumsbremse diskutiert werden – kennzeichnen nicht nur die Sozialstaatspolitik nahezu aller europäischen Länder, sondern auch die wissenschaftli-che Auseinandersetzung mit dieser Politik. Im Kontext der Debatte über Art und Umfang von Wohlfahrtsstaatsabbau fand vor allem Paul Piersons „Dismantling the Welfare State?“ große Beachtung (Pierson 1994; vgl. auch Clayton/Pontusson 1998; Bonoli/George/Taylor-Gooby 2000; Kuhnle 2000; Clayton/Pontusson 2000; Pierson 2001). Auch wenn es einschlägi-ge Studien gibt, die feststellen, dass sich Wohlfahrtspolitik nicht negativ auf Wirtschafts-wachstum, Beschäftigung und Produktivität auswirkt (vgl. z.B. Atkinson 1995), bleibt der ‚Krisendiskurs‘ weiterhin ein zentraler Gegenstand der Debatten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in diesem Kontext von einer gemeinsamen Krise gesprochen werden kann: Zwi-schen den einzelnen Staaten es gibt große Unterschiede in Ausmaß und Dauer finanzpoliti-scher Anstrengungen und Finanzschulden und auch viele Belege dafür, dass der Wohl-fahrtsstaat nicht der Verursacher etwa von Verschuldung ist, so dass es keinen Sinn machen würde, über eine allgemeine Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates zu sprechen (Wi-lensky 2006: 202; vgl. auch Castles 2004).

Seit Ende der 1990er Jahre wird der Krisendiskurs mit der Globalisierungsdebatte ver-knüpft und neu belebt (Kaufmann 2005: 314), indem eine intensive Beschäftigung mit dem Nexus Globalisierung–Wohlfahrtsstaat stattfindet (vgl. u.a. Esping-Andersen 1996a; Seeleib-Kaiser 2001; Crouch 2000; Czada 1999; Föllesdal 1997; Genschel 2004; Hay 2005; Rhodes 1998; Scharpf 2000; Swank 1998, 2005). Dabei erscheint der Wohlfahrtsstaat angesichts eines wachsenden Standortwettbewerbs als revisionsbedürftig (Brady et al. 2004) bzw. als gänz-lich überholt (Zürn 2003: 1065). Die bislang geltende Vorstellung eines quantitativen Zu-rückfahrens wohlfahrtsstaatlicher Politik wird somit zusehends ergänzt um die Frage einer qualitativen Dysfunktionalität. Die Krise wird nicht mehr gesehen als eine zu bewältigende

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Problemlage, sondern der Wohlfahrtsstaat selbst ist in Frage gestellt. Ein prominenter Dis-kussionsstrang in diesem Nexus von ‚Globalisierung‘ und ‚Europäisierung‘ ist die (verblei-bende) Steuerungsfähigkeit nationaler Wohlfahrtsstaaten, die angesichts dieser Entwicklun-gen häufig als zumindest stark eingeschränkt beschrieben wird (vgl. u.a. Marks/Scharpf/Schmitter/Streeck 1996; Castles 2004; Ferrera 2005; Alber 2006; Pier-son/Castles 2006; Obinger/Castles 2005; Leibfied/Pierson 1999; kritisch dazu Moravcsik 1999). Die Thematik des Souveränitätsverlustes nationaler Wohlfahrtsstaaten macht deut-lich, wie eng auch die gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Debatten um Europäisierung und Globalisierung miteinander verzahnt sind (vgl. z.B. Rhodes 1996; Crouch 2000; Pa-lier/Sykes 2001). Bezeichnend ist, dass die konstatierte Krise offensichtlich zu einem Dauer-phänomen, oder zumindest zu einer immer wiederkehrenden Begleiterscheinung geworden ist. Nur wenige Arbeiten nehmen bislang diese Entwicklung auf (insbesondere Jessop 1996, 2002; Bonoli/George/Taylor-Gooby 2000), um eine Brücke von diesem Krisendiskurs hin zur Frage der Kategorisierung und Begriffsbestimmung zu schlagen.

1.3 Pfadabhängigkeit und Konvergenz

Seit Mitte der 1990er Jahre tritt in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verstärkt eine dritte Diskussionslinie zum Vorschein, die Wohlfahrtsregime in den Kontext eines zeitlichen Entwicklungsprozesses setzt. Dabei gibt es – insbesondere in der auf Europa be-zogenen Literatur – zwei sehr unterschiedliche Annahmen. Während die Pfadabhängig-keitsthese von einem relativ geringen Veränderungspotential der Wohlfahrtsstaaten aus-geht, gehen Anhänger der Konvergenzthese von einer zunehmenden Vereinheitlichung der Wohlfahrtsstaaten aufgrund der Globalisierung und Europäisierung aus (Pierson 2000a; Ebbinghaus 2005; Borchert 1998; Mohr 2004; Alber/Standing 2000; Montanari 2001; Threlfall 2003; Bonoli/George/Taylor-Gooby 1996; Prior/Sykes 2001; Trampusch 2006; Kemmer-ling/Bruttel 2006; Korpi 2001).

Die Idee der Pfadabhängigkeit wird oft mit den ‚drei Wohlfahrtswelten‘ zusammenge-bracht, nicht zuletzt, weil Esping-Andersens (1996b: 24) entsprechender Ausspruch von „frozen landscapes“ in Bezug auf die Wandlungsfähigkeit von Wohlfahrtsregimen zu einem geflügelten Wort geworden ist. Aber auch andere Kategorisierungen wie die Bismarck-Beveridge-Unterteilung lassen sich in das Konzept einordnen, dass Entscheidungen zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt die weitere Entwicklung prägen (Hinrichs 2000).

Während die Pfadabhängigkeitsdebatte zunächst ausschließlich Kontinuität betonte, rückt der Diskurs um Konvergenz Veränderungen der europäischen Wohlfahrtsstaaten in den Mittelpunkt, von denen eine Vereinheitlichung erwartet wird. Dies gilt besonders für den im Zuge der europäischen Integration stattfindenden Wandel und die fortschreitende Europäisierung des Politikfeldes Sozialpolitik, bei der vor allem Fragen nach der Rolle und Funktion der einzelnen Nationalstaaten (u.a. Leibfried/Pierson 1995; Crouch 1999), eines gemeinsamen ‚Europäischen Sozialstaates‘ bzw. des ‚Europäischen Sozialmodells‘ und der ‚Open Method of Coordination‘ (u.a. Baldwin et al. 2003; Leibfried 2000; Scharpf 2002; Ad-nett/Hardy 2005; Palier 2006) gestellt werden. Diese innereuropäische Konvergenzdebatte bekommt derzeit durch die Osterweiterung eine neue Aktualität. Hinsichtlich der neuen

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Mitgliedsstaaten, der Transformationsprozesse dieser Wohlfahrtssysteme sowie der sich daraus ergebenden Folgen für alle anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten, findet hier eine konstruktive Vermischung von Transformationsforschung und Wohlfahrtsstaatsforschung statt (vgl u.a. Götting 1998; Deacon 2000; Kvist 2004; Sykes 2005).

Wegen seiner Fokussierung auf Kontinuität ist das Konzept der Pfadabhängigkeit in den letzten Jahren vermehrt kritisiert worden (Kay 2005; Hinrichs/Kangas 2003; Ben-nett/Elman C. 2006). Diese Kritik wird allerdings inzwischen selbst wieder in das Konzept der Pfadabhängigkeit eingebaut, indem versucht wird, auch Veränderungen mit Hilfe des Pfadabhängigkeitskonzepts aufzuzeigen (Ebbinghaus 2005). Besonders hervorzuheben sind hier die neueren Arbeiten von Paul Pierson, in denen der Versuch einer systematischen Methodologie zeitlicher Prozesse in der Politik unternommen wird (Pierson 2004, 2000b; siehe auch Rittberger/Schimmelfennig 2006).

2 Theoretisch-methodische Überlegungen

Aus unserer Sicht sind es vor allem zwei Dimensionen, die das theoretische Fundament der Wohlfahrtsforschung massiv unterminiert haben: Raum und Zeit.3 In beiden Dimensionen lässt sich in Anschluss an Offe (2003: 439) von einer „Logik der Diskontinuität“ hinsichtlich der Europäischen Entwicklung sprechen. Offe argumentiert aus einer historischen Perspek-tive, „Modern European history is arguably shaped [...] by what one might call a ‚logic of discontinuity‘. This discontinuity poses challenges and calls for types of response that ex-hibit some European elective affinity. Spatial discontinuity results from the contest over land borders […]. By discontinuity in time, I mean the relative frequency of regime changes in European history".

Bezogen auf die europäischen Wohlfahrtssysteme lassen sich drei bedeutende Verän-derungen des politischen Raums feststellen: Erstens wurden durch die Erweiterung der Eu-ropäischen Union Wohlfahrtssysteme integriert, die sich fundamental von den ‚alten euro-päischen Wohlfahrtssystemen‘ unterscheiden. Zweitens findet durch die Vertiefung der Europäischen Union eine vertikale Ausdifferenzierung der politischen Handlungsebenen statt, die sich nicht zuletzt an der zunehmenden Regionalisierung der Wohlfahrtssysteme zeigt. Drittens führt der Ausbau supranationaler Kompetenzen, wie die Multilevel-Governance-Diskussion zeigt, zu einer horizontalen Ausdifferenzierung des politischen Raums (Beck/Grande 2003). Diese ineinander verwobenen Prozesse führen dazu, dass die Wohl-fahrtsforschung mit unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs ‚europäisch‘ konfrontiert ist.

In der Dimension Zeit ist nicht zu übersehen, dass die letzten Jahrzehnte von Entwick-lungen geprägt waren, die das Bild der europäischen Wohlfahrtssysteme nachhaltig verän-dert haben. Hierzu zählen das Ende des Kalten Krieges, der Prozess der Globalisierung des Weltmarktes, makroökonomische Entwicklungen, die unter Schlagworten wie ‚Netzwerk-gesellschaft‘ zusammengefasst werden, und nicht zuletzt die Dynamik des Europäischen Integrationsprozesses selbst. Zusammengefasst werden diese Entwicklungen häufig in der

3 Zur politikwissenschaftlichen Relevanz dieser beiden Faktoren, siehe Schubert 2003: 117ff.

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Frage nach dem Steuerungsverlust moderner Nationalstaaten in Bezug auf Wohlfahrtsleis-tungen. Hinzu kommt, dass in beinahe jedem europäischen Land in den letzten 15 Jahren spezifische nationale Entwicklungen das Wohlfahrtssystem tangiert haben, wie z.B. die deutsche Wiedervereinigung, die Westorientierung Polens, die Einführung der Flat-Tax in Tschechien, der italienische Beitritt zur Währungsunion, u.v.m.

Diese Verweise sollen deutlich machen, dass die europäischen Wohlfahrtssysteme in ihrer derzeitigen Verfassung für die Wohlfahrtsstaatsforschung in weiten Teilen einer Karte mit weißen Flecken ähneln. Ein Großteil der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung konzentriert sich jedoch nach wie vor auf den Staat als einzigen Akteur und auf die Länder eines ‚traditionellen Kerneuropas‘. Diese Trends, die sich als „methodologischer Nationa-lismus“ (Beck/Grande 2003) und methodologischer Zentralismus bezeichnen lassen, schei-nen nicht hinreichend geeignet, die jetzige Situation der europäischen Wohlfahrtssysteme zu beleuchten. Zwar gibt es eine Reihe innovativer Forschungsansätze, die damit beschäftigt sind, diese Leerstellen zu füllen. Dennoch gibt es einen deutlichen Hang, sich lieber auf relativ sicheres Territorium zu begeben und etwa die Sozialpolitik in Deutschland, Frank-reich, Großbritannien und Schweden zu untersuchen.

Unserer Ansicht nach beinhaltet die hier skizzierte Veränderung der Landschaft euro-päischer Wohlfahrtssysteme große methodologische Herausforderungen an die verglei-chende Wohlfahrtsstaatsforschung. Dass ein Überdenken der bisher angewandten Metho-den erforderlich ist, zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Bedeutung von methodo-logischen Debatten, die bereits eine Vielzahl neuer, nützlicher Ansätze für die Wohlfahrts-staatsforschung erschlossen haben, wie ‚nichtintendierte Konsequenzen‘, ‚Systembrüche‘, ‚non-decision-making‘ und eben die Arbeiten über ‚Multilevel Governance‘. Dennoch wer-den auch in solchen Ansätzen Kategorien verwendet, deren empirischer Gehalt in Bezug auf die heutigen europäischen Wohlfahrtssysteme zumindest fraglich ist. Um dies zu belegen, wollen wir im Folgenden aufzeigen, dass die beiden Kategorien ‚Wohlfahrtsstaat‘ und ‚Wohlfahrtsstaatsregime‘ methodologische Barrieren für eine aktuelle Analyse des Status der europäischen Wohlfahrtssysteme enthalten. Die Kritik, die wir entwickeln wollen, bedeutet zusammengefasst, dass diesen Kategorien eine Tendenz immanent ist, den Analysegegens-tand auf staatliches Eingreifen (oder fehlendes staatliches Eingreifen) in den Bereichen Ren-te, Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Soziale Sicherung zu beschränken. Dabei werden Ähn-lichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Länder vorausgesetzt, die sich nicht (mehr) empirisch belegen lassen. Die beiden Kategorien führen zudem zu einer fraglichen Fokus-sierung auf policy outputs, einem Verständnis von Wohlfahrtsstaatsreformen als ‚Problem-lösungsmechanismen‘ und vernachlässigen dadurch die Bedeutung politischer Auseinan-dersetzungen.

2.1 Wohlfahrtsstaaten?

Der Staat, der ansonsten in der Politikwissenschaft als Analyseebene zunehmend in Frage gestellt wird, wird in der Analyse der Wohlfahrtssysteme ganz selbstverständlich zum Aus-gangspunkt erkoren. Zwar gibt es seit jeher theoretische Debatten innerhalb der Wohlfahrts-forschung darüber, was der Wohlfahrtsstaat ist (Myles 1984; Alber/Esping-Andersen/ Rain-

Stand der Forschung 21

water 1987; Baldwin 1997; Bonoli 1997; Esping-Andersen 2000b; Jessop 2002). Die dabei hervorgehobenen Schwierigkeiten einer begrifflichen Bestimmung gehen aber zu wenig in die empirische Forschung ein. Während in anderen Bereichen der Disziplin die ‚Transfor-mation des Staates‘ sowohl theoretisch als auch empirisch gefasst wird (Zürn 1998; Strange 1999; Rosenau 1995; kritisch hierzu Hegelich 2006a), bleibt der Wohlfahrtsstaat zumindest empirisch in der vergleichenden Forschung häufig unhinterfragt. Dabei verweisen die meis-ten Autoren, die von einer ‚Transformation des Staates‘, eines ‚Rückzug des Staates‘ oder einer ‚Denationalisierung‘ ausgehen, explizit auf die Auswirkungen solcher Entwicklungen auf die Wohlfahrtssysteme. Staatstheoretikern wie Bob Jessop erscheint es wesentlich, den Wohlfahrtsstaat in Frage zu stellen, während in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsfor-schung diese Debatte eine Randerscheinung darstellt:

“A new state form is emerging in the former homelands of Atlantic Fordism and elsewhere. This is a Schumpeterian workfare postnational regime (SWPR), which can also be described in the same terms. First, it is Schumpeterian insofar as it tries to promote permanent innovation and flexibility in relatively open economies by intervening on the supply-side and to strengthen as far as possible their structural and/or systemic competitiveness. Second, as a workfare regime, the SWPR subordinates social policy to the demands of labour market flexibility, employability, and economic competition” (Jessop 2005: 3).

Vor dem Hintergrund dieser bedeutenden Debatten, die den Staat als brauchbare Kategorie in Frage stellen, sollte es augenfällig sein, dass auch die Kategorie Wohlfahrtsstaat an analy-tischer Schärfe verliert, insbesondere wenn sie konfrontiert wird mit den drei Aspekten der Europäisierung: Erweiterung, Vertiefung und Supranationalität.

2.1.1 Erweiterung

Durch die EU-Erweiterung nimmt die Unschärfe der Kategorie Wohlfahrtsstaat zu. Acht der zehn kürzlich aufgenommenen Mitgliedsländer – ebenso wie Bulgarien und Rumänien in der letzten Erweiterungsrunde – haben in den letzten Jahren einen fundamentalen Trans-formationsprozess durchlaufen, der zum Teil noch nicht abgeschlossen scheint. Nur Malta und Zypern scheinen in das ‚alte‘ europäische Staatsverständnis wirklich zu passen, wobei Zypern ebenfalls vor einem umfassenden Wandel des politischen Systems stehen mag. Es ist daher zumindest fraglich, ob die Kategorien ‚Staat‘ und ‚Wohlfahrtsstaat‘ ohne weiteres auf die baltischen und mittelosteuropäischen Staaten angewandt werden können. Dabei soll in keiner Weise die Qualität des demokratischen Transformationsprozesses in diesen Ländern in Frage gestellt werden. Tamás (2001: 5) argumentiert aber beispielsweise: “There is no single monolithic concept of sovereignty to be threatened by the EU enlargement”. Souve-ränität ist jedoch ein wesentlicher Gehalt der Kategorie ‚Staat‘ und damit auch des Wohl-fahrtsstaats. Mit der Osterweiterung könnte auch eine Rückwirkung auf die ‚alten Wohl-fahrtsstaaten‘ entstehen. „Welche Konsequenzen sich aus der kommunistischen Vergangen-heit Ostmitteleuropas für die Perspektiven in dieser Hinsicht [das europäische Sozialmodell, d.V.] ergeben, ist eine bislang kaum erforschte Frage“ (Tomka 2004: 87). Diese skeptische Grundhaltung, inwiefern die erprobten Kategorien noch greifen, möchten wir unterstützen.

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Denn steigt man über die Kategorie Wohlfahrtsstaat in die Analyse ein, fallen viele Aspekte, die sich aus der spezifischen Form der Staatlichkeit der Beitrittsländer ergeben, unter den Tisch. Fragt man nach dem ‚Wohlfahrtsstaat‘ eines Beitrittslands, so lassen sich hauptsäch-lich die sozialen Sicherungssysteme analysieren, die in vielen Fällen tatsächlich mit Orien-tierung an westeuropäischen oder skandinavischen Vorbildern in den baltischen Staaten und in Mittelosteuropa installiert wurden. Andere Aspekte wie die ‚Wohnungsfrage‘, Steu-eranreizsysteme und nicht-staatliche Dienstleistungen durch Märkte oder die Familie wer-den hingegen kaum beachtet, obwohl sich hier wichtige Unterschiede zeigen lassen (s. Tomka 2004; Tamás 2001; und die entsprechenden Beiträge in diesem Band). Der methodo-logische Nationalismus ist in Hinblick auf die Beitrittsländer allerdings nicht nur deshalb problematisch, weil wichtige Aspekte unbeachtet bleiben. Auch in den Bereichen, die von der Kategorie ‚Wohlfahrtsstaat‘ erfasst werden, führt die Perspektive, die das traditionelle Nationalstaatsmodell zum Ausgangspunkt nimmt, zu Verzerrungen. Die mittelosteuropäi-schen Beitrittsländer und die baltischen Staaten haben ihre Wohlfahrtssysteme auf dem Erbe des ehemals sozialistischen Wohlfahrtsstaats aufgebaut, dessen institutionelle Beschaffen-heit sich erheblich vom westeuropäischen Modell unterschied (Aidukaite 2004). Sozialisti-sche Wohlfahrtsstaaten waren erstens ‚stärker‘, was die Autorität der Bürokratie anbelangt (Tamás 2001: 5). Gleichzeitig waren sie jedoch nicht ausschließlich durch die zentralstaatli-che Autorität organisiert. Dies lässt sich z.B. an Ungarn zeigen: „Die völlige Verstaatlichung der Sozialversicherung eröffnete dem Staat in Ungarn [...] einen wesentlich größeren Ein-fluss in diesem Bereich, als er in Westeuropa je bestand, und führte zu einer dort unbekann-ten Konstruktion: Die Organisation der Sozialversicherung gehörte bis in die 1980er Jahre zu den Aufgaben der Gewerkschaften, die als Teile des parteistaatlichen Machtapparats funktionierten […] Zudem konnte sich keine Form der demokratischen Kontrolle der Sozi-alversicherungen etablieren“ (Tomka 2004: 121f). Zwar ließe sich argumentieren, dass die institutionelle Eigenart der sozialistischen Wohlfahrtsstaaten für die Analyse der heutigen Wohlfahrtssysteme unbedeutend ist, da sich die Beitrittsländer seit 1990 fundamental ge-wandelt haben. Dennoch ist zu bedenken, dass in keinem dieser Länder der Aufbau eines Wohlfahrtssystems ‚am grünen Tisch‘ geplant wurde. Zudem konnten sich neue Strukturen nicht einfach entwickeln, da der Transformationsprozess unmittelbar die Frage der sozialen Sicherung auf die Tagesordnung setzte. Daher wurde in vielen Fällen an den alten Struktu-ren angeknüpft. Selbst in den Ländern, die sich deutlich an externen Modellen orientierten, wie die Slowakei und Estland, wird bei näherer Betrachtung ihr institutionelles Erbe sicht-bar (siehe in diesem Band). Zudem lässt sich argumentieren, dass in vielen Fällen die Kon-solidierung eines Wohlfahrtsstaats noch längst nicht abgeschlossen ist – wie z.B. in Tsche-chien (siehe in diesem Band). „Obwohl die genannten Staaten [Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, d.V.] seit 1989 eine große Zahl von Gesetzen, Verordnungen und Einzelmaßnah-men beschlossen haben, befinden sich die institutionellen Reformen noch in einem Prozess des Experimentierens und der Beratung“ (Brusis 1999: 79). Anstelle eines gefestigten Wohl-fahrtsstaats haben wir es hier eher mit einer Art ad-hoc Politik zu tun, die gleichzeitig aber immer weiter institutionalisiert wird. “In den ersten Jahren der ökonomischen Transforma-tion beschränkte der Zwang zur Einführung von Notmaßnahmen die Institutionenbildung" (Brusis 1999: 87).

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Die Kategorie ‚Wohlfahrtsstaat‘ geht von einem hohen Maß an Souveränität des politisch-administrativen Systems aus. Gerade im Fall der mittelosteuropäischen Beitrittsländer scheint jedoch der Begriff der ‚restraint sovereignty‘ (Zürn 1998) besonderes Gewicht zu bekommen. Insbesondere im Prozess der Osterweiterung waren die sich neu formierenden Staaten mit einem starken Souveränitätsverlust durch die EU-Beitrittskriterien und Bedin-gungen konfrontiert.

“The EU is already sold to the Central European public not as an immediate tool for moderniza-tion, or a shield defending the weaker economies from negative external shocks, but as an ex-change in which dissolving sovereignties and clear subordination to the center are compensated with invitations to a cash window in Brussels” (Tamás 2001: 6).

Die hier dargelegten Überlegungen sollen verdeutlichen, dass der Begriff des Wohlfahrts-staats durch die EU-Osterweiterung an Schärfe verliert. Denn wenn dieser Begriff einfach auf die baltischen Staaten und Länder Mittelosteuropas übertragen wird, nimmt die Plurali-tät dessen, was unter einem Wohlfahrtsstaat zu verstehen ist, ohne Frage zu. Damit ist aller-dings nicht behauptet, dass die Kategorie ‚Wohlfahrtsstaat‘ im Falle dieser Länder nicht sinnvoll verwendet werden könnte. Voraussetzung wäre jedoch eine theoretische Reflekti-on, die sich dann allerdings auch mit dem ohnehin unklaren und umstrittenen Gehalt dieser Kategorie zu befassen hätte.

2.1.2 Vertiefung

Die Kategorie des Wohlfahrtsstaats wird durch den Prozess der europäischen Vertiefung noch deutlicher in Frage gestellt. Der Wohlfahrtsstaat wird im Allgemeinen verstanden als staatlicher Eingriff in die Marktkräfte, um soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter durch Umverteilung abzusichern. Diese Marktkräfte sind inzwischen in vielerlei Hinsicht die des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts. Die Fähigkeit des Staates, in diesen Markt zu intervenieren oder ihn gar zu steuern ist vielfach in Frage gestellt worden. Zumindest ist davon auszugehen, dass durch den Prozess der europäischen Vertiefung die Bedingungen für wohlfahrtsstaatliche Politik an Komplexität zugenommen haben. In seinen Steuerungsanliegen musste der Wohlfahrtsstaat immer Interdependenzen berücksichtigen. Beispielsweise ist die Rentenpolitik eng mit dem Arbeitsmarkt verknüpft. Daher müssen Rentenreformen häufig von Reformen des Arbeitsmarkts begleitet sein, damit sie zu Erfolg führen können (Hegelich 2006b: 146). Heute ist der nationale Wohlfahrtsstaat allerdings konfrontiert mit einer Europäischen Ökonomie und einem zunehmend europäischen Ar-beitsmarkt.

Gerade die häufig betonte Fokussierung der europäischen Vertiefung auf ökonomische Prozesse stellt die traditionellen Wohlfahrtspolitiken in Frage. Denn diese Politiken lassen sich nicht trennen von ihrem ökonomischen Hintergrund: Wohlfahrtspolitik reagiert auf ökonomische Risiken, zielt häufig auf ökonomische Veränderungen und bedient sich öko-nomischer Mittel. Daher ist davon auszugehen, dass die Europäisierung der Ökonomie Wohlfahrtspolitiken nachhaltig beeinflussen muss. Die Kategorie des Wohlfahrtsstaats hin-gegen neigt dazu, diese Entwicklung auszublenden, da ‚der Staat‘ längst nicht in der glei-

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chen Weise wie die Ökonomie europäisiert ist. Die Sichtweise, zu der die Kategorie ‚Wohl-fahrtsstaat‘ tendiert, lässt sich z.B. an der Debatte um Wohlfahrtsmärkte erläutern. Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass Wohlfahrtsmärkte eine wachsende Rolle in Europa spielen (Pierson 2000c; Bonoli 2005). Dies ließe sich als direkter Einfluss der Europäisierung interpretieren. Geht man jedoch von der Kategorie des Wohlfahrtsstaats aus, dann wird der Blick in eine andere Richtung gelenkt. Wohlfahrtsmärkte weisen ein hohes Maß an staatli-cher Steuerung und Regulation auf. Daher können auch Wohlfahrtsmärkte als Betätigungs-feld des Wohlfahrtsstaats verstanden werden. Der empirische Ausgangsbefund, dass diese Märkte in Europa eine wachsende Bedeutung haben, kann so vom Prozess der Europäisie-rung theoretisch abgetrennt werden. Das Problem ist demnach, dass die Kategorie ‚Wohl-fahrtsstaat‘ unter Bedingungen der Europäisierung immer die Frage in den Mittelpunkt rückt, ob und in wie fern der nationale Wohlfahrtsstaat noch die entscheidende Analyseebe-ne darstellt. Diesen methodologischen Nationalismus zu überwinden hieße an dieser Stelle, die europäisierten ökonomischen Prozesse und nicht den Wohlfahrtsstaat zur unabhängi-gen Variable zu erklären.

Die Bezeichnung ‚Wohlfahrtsstaat‘ beinhaltet den Verweis auf den vermeintlich klar abgrenzbaren Begriff des Nationalstaats. In der Realität dürfte die EU aber eher ein System komplexer Netzwerke von Politikkanälen sein. Die Kategorie Nationalstaat ist für die „kom-plexen Interdependenzen“ der europäischen Wirklichkeit zu eng gefasst.4 Durch den Pro-zess der europäischen Vertiefung verstärkt, hat dies massive Konsequenzen für die Katego-rie Wohlfahrtsstaat: Erstens muss die Fähigkeit, in die europäischen Marktprozesse zu in-tervenieren, als beschränkt gelten, da sich viele bedeutende Faktoren außerhalb der staatli-chen Hoheit befinden. Dieser Aspekt ist in der breiten Debatte um Souveränitätsverluste durch die Europäisierung und Globalisierung betont, wird aber nach wie vor in der Wohl-fahrtsforschung zu wenig berücksichtigt (Zürn 1988; Strange 1999; Hegelich 2006b). Zwei-tens erleben nichtstaatliche Akteure einen Bedeutungszuwachs. Ihre Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten nehmen nicht nur auf europäischer Ebene zu, sondern auch regi-onal/lokal durch die bewusste Stärkung dieser Ebene durch die EU. Dabei verläuft die Ein-beziehung aber nicht symmetrisch: Während sich auf der einen Seite zentrale Knotenpunkte herausbilden, sind andere Themen, Akteure und Regionen nur lose miteinander verbunden. Daher sind unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten von der europäischen Vertiefung auch un-terschiedlich berührt:

Analyzing the dominant features of the EU‘s political system we should speak about uneven Eu-ropeanization understanding the fact that functional subsystems of given societies are european-ized to largely different degrees and that the action capacity of politically relevant actors with re-gard to European affairs differs widely (Tamás 2001: 7).

2.1.3 Supranationalität

Die angesprochenen Schwierigkeiten mit der Kategorie des Wohlfahrtstaats werden poten-ziert, wenn der Einfluss der Europäischen Union als supranationalstaatliches Institutionen-

4 Der Begriff wurde von Keohane/Nye 1977 geprägt.

Stand der Forschung 25

gefüge betrachtet wird. In einigen für die Wohlfahrtspolitik relevanten Bereichen wurde Souveränität an die EU-Institutionen abgetreten. Dabei geht es nicht nur um den direkten Einfluss der EU auf die Wohlfahrtspolitik der Mitgliedsstaaten (vergleiche hierzu ausführ-lich Ferrera 2005), sondern auch um die Tangierung der Wohlfahrtspolitik durch andere Politikfelder. Der Europäische Rat hat beispielsweise Richtlinien für Gesundheit und Ar-beitsschutz sowie für wichtige Bereiche der Wirtschaftspolitik festgelegt (Schäfer 2005: 129). Diese Maßnahmen haben auf Bereiche der Wohlfahrtspolitik Auswirkungen, die in dem engen Verständnis des Wohlfahrtsstaats untergehen. Beschränkt man sich in der Betrach-tung jedoch auf ein enges Verständnis, wie es die Kategorie Wohlfahrtsstaat nahelegt, dann gilt der Europäische Rat nicht als entscheidender Akteur.

Die Supranationalität der EU stellt die Souveränität der Wohlfahrtsstaaten insbesonde-re auf einer juristischen Ebene in Frage. Der Europäische Gerichtshof wurde ins Leben geru-fen, um den allgemeinen juristischen Rahmen des gemeinsamen Europäischen Marktes zu stiften. Die ökonomischen Rechte, die damit für EU-Bürger etabliert wurden, berühren aber den Wohlfahrtsstaat. Die ökonomische Europäisierung führte daher seit Beginn auch zu einer Europäisierung der Wohlfahrt, wenn auch nicht in gleichem Maße. Zwei frühe Bei-spiele für eine wohlfahrtsrelevante Standardisierung können angeführt werden: Die Inlän-dergleichbehandlung der Wanderarbeiter, die die Freizügigkeit innerhalb der EU regelt; und der Grundsatz der Entgeldgleichheit für Männer und Frauen basierend auf den Ratsregulierungen EEC No 1612/68 (7, 2), EEC No 1408/71 (3), Artikel 235 des Vertrags der Europäischen Uni-on, sowie der Ratsdirektive 76/207. Beide Initiativen wurden aus ökonomischen Überlegun-gen durchgesetzt, sie können zugleich aber auch als Beginn einer europäischen Sozialpolitik gelten (Däubler 1989; Falkner 2004; Schulte 2004; Leiber/Treib 2006).

Das derzeit prominenteste Beispiel dafür, dass die Anerkennung ökonomischer Rechte durch den EuGH die Souveränität der europäischen Wohlfahrtsstaaten einschränkt, sind die Regelungen im Bereich Gesundheit. Durch verschiedene Urteile seit 1998 hat der EuGH EU-Bürger dazu berechtigt, in jedem Mitgliedsland Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen zu können. Dabei stützen sich diese Urteile auf die Argumentation, Gesundheits-leistungen müssten wie normale Güter behandelt werden. Im Allgemeinen ist es damit den EU-Staaten untersagt, ausländischen EU-Bürgern den Zugang zu diesem Gesundheitsmarkt als Anbieter oder als Konsumenten zu verwehren. Das sich hier abzeichnende ‚Europa der Gesundheit‘ ist Teil eines europäischen Sozialraums, der eine Ergänzung darstellt zum eu-ropäischen gemeinsamen Markt (Falkner/Hartlapp/Leiber/Treib 2002; Schulte 2004). Die momentane Rechtssprechung des EuGH sieht zwar vor, dass staatlich organisierte Gesund-heitssysteme in verschiedenen Bereichen eine Ausnahme darstellen. Die Souveränität der Wohlfahrtsstaaten wird demnach einerseits durch den EuGH anerkannt, gleichzeitig aber begrenzt, da der Ausbau von Wohlfahrtsmärkten in diesem Bereich zu einer Aushöhlung des Sonderstatus staatlich organisierter Gesundheitssysteme führen würde (Ferrera 2005: 292).

Folgt man der These, „The overall direction of recent changes in the EU is towards multilevel metagovernance in the shadow of postnational statehood“ (Jessop 2005: 10), dann ist zu erwarten, dass dieser Prozess in Zukunft an Bedeutung gewinnt und die Souveränität des Wohlfahrtsstaats durch die Zunahme von horizontalen ‚settings of multilevel governan-ce‘ limitiert wird.

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Die hier aufgeführten Argumente sind in der politikwissenschaftlichen Diskussion weit verbreitet und werden – für sich genommen – kaum angezweifelt. Bezieht man diese Ar-gumente auf die Kategorie des Wohlfahrtsstaats, dann entsteht ein Bild von sehr unterschied-lichen Wohlfahrtsstaaten mit begrenzter Souveränität in einem Zustand von zunehmend komple-xer Interdependenz. Einer sinnvollen Verwendung der Kategorie Wohlfahrtsstaat stehen da-her zumindest drei analytische Defizite dieses Begriffes gegenüber: Erstens ist unklar – besonders durch die Osterweiterung – worin die geteilte Qualität dieser sogenannten Wohl-fahrtsstaaten besteht. Zweitens ist der ‚Wohlfahrtsstaat‘ eine statische Kategorie, die Prozes-se ausblendet, durch die neue Aspekte und auch neue Akteure in die Wohlfahrtspolitik einbezogen werden und wird damit der komplexen Interdependenz der europäischen Ver-tiefung nur wenig gerecht. Drittens lässt sich der Einfluss der europäischen Supranationali-tät auf die Wohlfahrtspolitik nur sehr begrenzt – und nur als negative Wirkung auf die Wohlfahrtsstaaten – fassen. Aus einer staatszentrierten Sichtweise erscheint Souveränität als unteilbar: Entweder der Wohlfahrtsstaat ist Souverän, oder die Souveränität ist abgetre-ten an supranationale Institutionen. „Theorists overlook the successive transformations of modern territorial state forms since the mid-to-late nineteenth century. They therefore adopt an anachronistic model of the national state to judge whether and how far a European su-perstate has emerged“ (Jessop 2005: 6).

2.2 Wohlfahrtsstaatsregime?

Das Konzept der „Wohlfahrtsstaatsregime“ ist untrennbar verbunden mit den Arbeiten von Esping-Andersen:

“As we survey international variations in social rights and welfare-state stratification, we will find qualitatively different arrangements between state, market, and the family. The welfare-state variations we find are therefore not linearly distributed, but clustered by regime-types”: (Esping-Andersen 1990, 26).

Obwohl inzwischen jeder Aspekt des ursprünglichen Konzepts von Esping-Andersens Three Worlds of Welfare Capitalism Gegenstand ausführlicher Kritik geworden ist, (Scruggs/Allan 2006a, 2006b; Edwards 2003; Bambra 2006; Hicks/Kenworthy 2003; Kangas 1994) scheint die damit verbundene Unterteilung wenig an Faszination verloren zu haben. So wird die Eintei-lung in sozialdemokratische, liberale und konservative Wohlfahrtsstaatsregime in konkreten Studien zwar in etwa so vielen Fällen angezweifelt wie sie angewandt wird, der Grundge-danke, dass eine solche Einteilung im Prinzip schon sinnvoll ist, wird jedoch nur selten in Frage gestellt.5 So finden sich in der Literatur neben dem Modell von Esping-Andersen eine Vielzahl von Variationen dieses Modells – zum Beispiel die Ergänzung um ein südeuropäi-sches und ein osteuropäisches Wohlfahrtsstaatsregime – und alternative Ansätze, wie die Unterteilung in Beveridge- und Bismarckregime. Zusätzlich wird das Konzept der Wohl-fahrtsstaatsregime auch als Abgrenzung eines „Europäischen Sozialmodells“ zu einem

5 Eine hervorzuhebende Ausnahme stellt Kaufmanns „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ da, das auf eine Regimeeintei-lung bewusst verzichtet (Kaufmann 2002).

Stand der Forschung 27

angloamerikanischen Regime eingesetzt. Im Folgenden wird argumentiert, dass auch die Kategorie des Wohlfahrtsstaatsregimes durch die drei Dimensionen der Europäisierung – Erweiterung, Vertiefung und Supranationalität – an analytischer Schärfe verliert.

2.2.1 Erweiterung

Durch die EU-Erweiterung steht die Wohlfahrtsforschung vor dem Problem, dass nun eini-ge Länder Mitglied der EU wurden, die bislang nicht im Fokus der Untersuchungen stan-den. Ein gangbarer Weg schien das Hinzufügen eines weiteren Typs zu den bestehenden Wohlfahrtsregimen zu sein, um so die Kategorie als solche weiter verwenden zu können. „The European social model can be subdivided into five types, or regimes: British, Nordic, Continental, Mediterranean, and Eastern“ (Palier 2006: 105). Malta und Zypern konnten in den mediterranen Typ eingeordnet werden, auf den viele Forscher zuvor schon verwiesen hatten. Die Konstruktion eines ‚östlichen' Wohlfahrtsstaatsregimes schien durch die An-nahme begründbar, die post-sowjetischen Staaten würden sich in ein und dieselbe Richtung bewegen. Diese These ließ sich mit der weitverbreiteten Theorie der Pfadabhängigkeit plau-sibel belegen. Die aktuelle empirische Forschung zeigt jedoch, dass innerhalb dieses neuen Regimes große Differenzen bestehen (siehe die entsprechenden Beiträge in diesem Band). So wird inzwischen mit der Unterteilung des ‚östlichen‘ Regimes in ein post-sowjetisches und ein mittelosteuropäisches gearbeitet (Aidukaite 2004). Fraglich ist jedoch, ob die Probleme auf diese Weise zu lösen sind. Brusis hat beispielsweise aufgezeigt, dass die Länder Polen Slowakei, Tschechien und Ungarn untereinander ebenfalls große Unterschiede aufweisen, da die Wohlfahrtssysteme, die in diesen Ländern entwickelt wurden, auf ungleichen Ideen basieren und durch verschiedene Akteurskonstellationen hervorgebracht wurden:

„Ergebnis der in den vier Ländern [Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, d.V.] durchgeführten Reformen sind hybride institutionelle Arrangements, die Kompromisse zwischen liberal-residualen und den konservativ-korporatistischen Wohlfahrts-Konzepten und den das jeweilige Konzept unterstützenden Akteurskoalitionen darstellen“ (Brusis 1999: 80f).

Dasselbe gilt auch für die baltischen Staaten. Aidukaite (2004: 85) hat in verschiedenen em-pirischen Studien nachgewiesen,

“The development of social policy in Eastern European countries is more complex than some other studies have tended to suggest. The example of the three Baltic States demonstrates that there is great diversity regarding how these countries solve problems in the social policy field, even if they started with identical social security institutions inherited from the Soviet period. Therefore, the idea that many of the Eastern European countries tend to develop a similar model of social policy, which is closest to the liberal or residual one, should be considered with some caution.”

Es mag durchaus verlockend sein, die etablierte Unterteilung der Wohlfahrtsstaatsregime dennoch beizubehalten. Es sollte jedoch beachtet werden, dass schon vor der europäischen Erweiterung der analytische Gehalt der Kategorie Wohlfahrtsstaatsregime fraglich war. Besonders das konservative Wohlfahrtsstaatsregime zeichnet sich durch eine große Bandbreite

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unterschiedlicher Wohlfahrtsarrangements aus (Lamping/Rüb 2006; Bazant 2007). Wenn nun ein weiteres Regime mit sehr vager inhaltlicher Bestimmung hinzukommt, besteht die Gefahr, dass die Varianz innerhalb der Regime größer wird als zwischen ihnen. Empirisch wäre damit die Logik der Wohlfahrtsstaatsregime ausgehebelt. Geht man beispielsweise von einem post-sowjetischen Wohlfahrtsregime aus, dann lässt sich feststellen:

„The social security system of Latvia can be labelled as a mix of the basic security and the corpora-tist models. The Estonian social security system can also be classed as a mix of the basic security and corporatist models, even if there are some weak elements of the targeted model in it. It ap-pears that the institutional changes taking place within Lithuania‘s social security system have led to a combination of the basic security and targeted models of the welfare state” (Aidukaite 2004: 82, in Bezug auf die Regimeunterteilung von Korpi).

In unseren Augen stellt sich hier ein schwerwiegendes methodologisches Problem, dessen sich die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung bislang zu wenig angenommen hat. Un-ser Argument ist, dass das Hinzufügen eines neuen Regimes oder Clusters die existierende Unterteilung grundsätzlich in Frage stellt, da die eben erwähnte Gefahr besteht, dass die Varianz innerhalb der Regime größer wird als zwischen ihnen. Methodisch gesprochen ist es unzulässig, eine neue Klasse in eine bestehende Unterteilung einzufügen, ohne das Ge-samtverhältnis der einzelnen Elemente neu zu bestimmen. Dasselbe gilt bereits für die Er-gänzung neuer Elemente ohne den Anspruch, dass diese eine eigenständige Klasse bilden. Die Popularität der Wohlfahrtsstaatsregime basiert vorwiegend auf der Annahme, dass es sich dabei um eine empirisch begründete Unterteilung handelt.6 Eine solche Unterteilung hat dann aber notwendig die relative Position der Elemente vor Augen (Bambra 2006: 79). Daher lassen sich keine neuen Elemente einfügen, ohne gleichzeitig die neue Gesamtmengezu untersuchen. Methodisch ist damit klar, dass die empirische Basis der Kategorie Wohl-fahrtsstaatsregime durch die EU-Erweiterung erodiert. Dabei ist es im Prinzip gleichgültig, ob die Unterteilung in unterschiedliche Regime durch eine Clusteranalyse oder ‚eher de-skriptiv‘ zustande gekommen ist. Diesem, ansonsten sehr entscheidenden methodischen Unterschied werden wir uns später noch widmen.

Bislang gibt es noch keinen Versuch, die Beitrittsländer in ein empirisches Forschungs-design zu intergrieren, um die ‚Drei-Welten-Unterteilung‘ auf dem aktuellen Stand nachzu-rechnen. Wie Scruggs und Allen (2006a, b) kürzlich aufgezeigt haben, liegt eine Ursache dafür darin, dass eine Neuberechnung des Esping-Andersen-Modells mit erheblichen Prob-lemen konfrontiert ist, angefangen bei der fehlenden Zugänglichkeit der Orginaldaten. Die meisten alternativen Berechnungen basieren auf OECD-Daten und sind damit nicht adäquat für die Beitrittsländer. McMenamin (2003) hat 22 Länder an Variablen aus dem „Varieties of Capitalism“-Ansatz getestet, darunter die mittelosteuropäischen Staaten Polen, Tschechien und Ungarn. In dieser Berechnung stellen die drei Länder ein eigenständiges Cluster dar. Entscheidend dafür sind vornehmlich politische Faktoren:

“Their welfare states are not as distinctive as their polities. Most measures point in the direction of relatively generous welfare regimes which crowd out non-state methods of provision. However,

6 Nur wenige Autoren, die sich dieser Kategorie bedienen, beziehen sich auf die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen wie den Klassenkoalitionsansatz.

Stand der Forschung 29

their unemployment replacement rates and overall social transfers are fairly low. Their low female labour participation rate contrasts with narrow gender gaps in both wages and unemployment. By far the most unusual aspect of their welfare system is the very high contribution rate of employers to social insurance” (McMenamin 2003: 14).

Für die Gesamtheit der Beitrittsländer ergibt sich kein einheitliches Bild. Armingeon hat beispielsweise den Einfluss von Gewerkschaften europaweit untersucht und gibt somit zumindest Anhaltspunkte für Überlegungen, wie sich die Wohlfahrtsregime entwickeln – zumindest wenn man wie Esping-Andersen von einem Klassenmobilisierungsansatz aus-geht (Armingeon 2006). Er kommt zu dem Ergebnis, dass die baltischen Staaten, die mit-telosteuropäischen Staaten, Malta und Zypern sich sehr stark unterscheiden:

“Trade unions have strongly defended the traditional welfare state that cared for the unemployed, the pensioners and the sick. They support – also to a much more moderate extent and not in all countries – the welfare state that covers new social risks, such as reconciling work and family in case of highly qualified female workers or long-term unemployment by poorly qualified employ-ees (Bonoli 2006; Ebbinghaus 2006). In EU 15, there were only two nations with weak union move-ments; in EU-27, this group will increase to eleven nations. The group of medium strong national union movements will grow from nine to ten by adding Slovenia; and the four strong union movements of EU-15 (Sweden, Finland, Denmark, Belgium) are joined by another two movements form very small member countries (Malta, Cyprus)” (Armingeon 2006: 23).

Es scheint, dass die Pluralität unter den Beitrittsländern viel größer ist als häufig angenom-men wird. Daher scheint es wenig sinnvoll, die Kategorie Wohlfahrtsstaatsregime dadurch retten zu wollen, dass einfach weitere Fälle unter die bestehenden Regime subsumiert oder in neue Regime aufgeteilt werden, zumal ein solches Vorgehen methodisch die gesamte Typologie in Frage stellt. Der Schwerpunkt der Wohlfahrtsstaatsforschung in Bezug auf die Beitrittsländer lag bislang auf der Frage, welchem Regime diese Länder zuzuordnen sind. Die Frage, wie dadurch die bestehenden Typologien affiziert werden, wird bislang wenig gestellt, geschweige denn beantwortet. Um dieser Frage nachzugehen wäre es essentiell, eine größere Pluralität der Wohlfahrtssysteme als Ausgangspunkt zu akzeptieren.

2.2.2 Vertiefung

Der Prozess der EU-Vertiefung stellt die Brauchbarkeit der Kategorie Wohlfahrtsstaatsre-gime auf mehreren Ebenen in Frage. Zunächst ist zu konstatieren, dass sich die „Drei Wel-ten“ nie auf die europäischen Länder bezogen haben, sondern auf ausgewählte OECD-Länder. Das oben ausgeführte Argument, dass neue Elemente nicht ohne weiteres in beste-hende Unterteilungen hinzugefügt werden können, hat demnach auch unabhängig von der EU-Erweiterung seine Relevanz. Es lässt sich einfach nicht sagen, wie viele europäische Wohlfahrtswelten Esping-Andersen gefunden hätte, wenn er die europäischen Staaten un-tersucht hätte, zumal durch eine Erweiterung der Fallzahl sich die Anzahl der Cluster auch verringern könnte.

Zudem ist zu bedenken, dass sich durch Vertiefungsprozesse über die Zeit alles, was europäisch konnotiert ist, verändert. Die nach wie vor prominenteste Typologie von Wohl-

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fahrtsstaatsregimen basiert aber heute noch auf Daten von 1980 (Esping-Andersen 1990: 50, 70). Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich auszumalen, dass der Prozess der Vertiefung der Europäischen Union die Wohlfahrtssysteme in den letzten 27 Jahren verändert hat. Bemerkenswerter Weise hat es nach 1990 (dem Erscheinen von „Three Worlds of Welfare Capitalism“) 16 Jahre gedauert, bis der Versuch einer Neuberechnung der beiden Faktoren „Decomodification-Index“ und „Stratification“ unternommen wurde. “Welfare-state re-search has neither replicated the original data nor directly grappled with whether (or to what degree) welfare-state ‚decommodification potential‘ changed over time” (Scruggs/Allan 2006b: 56). Erst seit Kurzem finden solche Versuche Eingang in die Wohl-fahrtsforschung. Bambra (2006) und Scuggs und Allan (2006a) haben Esping-Andersens Dekommodifikations-Index anhand aktueller Daten neu berechnet. Ihre Ergebnisse sind dabei höchst bemerkenswert. Scruggs und Allan (2006b: 69) fassen zusammen:

“Our analysis suggests that decommodification indices are not strong elements of regime classifi-cation. Our benefit generosity index also suggests that EA‘s index provides an inaccurate picture of actual cross-national variation in ‚decommodification‘. Relying on the same characteristics as the original decommodification index, our results suggest a very different ordering and clustering of countries. Based on our analysis, the previous results misclassified almost half of the cases.”

Bambra (2006: 79) kommt zu ähnlichen Ergebnissen: „An initial comparison of Esping-Andersen‘s original data and the updated data [...] provides evidence of change, both in terms of the slight decrease in average total decommodification from 27.2 in 1980 to 25.7 in 1998/99, and in the relative relationships and group membership of the countries: […] Swit-zerland, France and Finland similarly move up a group to the high decommodification grouping, whereas the relative decommodification levels of the Netherlands and Denmark fall and they are in the medium group in the new index. Indeed, only Sweden maintains the same rank position (highest scorer) in each of the indexes as the rank order of all the other countries differs“.

Scruggs und Allan (2006a: 21) haben ebenfalls den „Social Stratification Index“ neu be-rechnet:

“Most significantly, there is less evidence of clustering in different ‚worlds‘ that was found in Esp-ing-Andersen‘s study, where a country scoring high on one index tended to score lower on other indices. In our replicated indices, we find more evidence of liberalism and conservatism among the traditionally social democratic countries, while more „liberal“ countries (Canada and, to a lesser extent, the UK) also score very highly on the socialism index. Similarly, conservative Aus-tria also places higher on our socialism index compared to the Three Worlds index”.

Diese Ergebnisse können von der Wohlfahrtsforschung nicht ignoriert werden. Wenn sich zeigt, dass es – zumindest heute – wenig empirische Evidenz für die Einteilung in drei Wohlfahrtswelten gibt, dann kann die Kategorie des Wohlfahrtsstaatsregimes nicht länger als Ausgangspunkt für die Untersuchung europäischer Wohlfahrtssysteme genommen werden. Die „vereisten Landschaften“ (Esping-Andersen 1996b) sind geschmolzen. Daher bedarf es einer theoretischen Erklärung, die dynamische Prozesse berücksichtigt.

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Es lässt sich nun argumentieren, dass gerade die Typologisierung von Esping-Andersen theoretisch ein sehr dynamisches Fundament aufweist, nämlich den Klassenmobilisationsan-satz. Geht man auf diese Theorie zurück, so lässt sich der Einfluss der europäischen Vertie-fung zumindest in Teilen positiv bestimmen. Unter der Überschrift „The Causes of Welfare-State Regimes“ hebt Esping-Andersen hervor: „It is a historical fact that welfare-state con-struction had depended on political coalition-building. The structure of class coalitions is much more decisive than are the power resources of any single class“ (Esping-Andersen 1990: 30). Eine sinnvolle Frage könnte daher sein, wie sich Klassenkoalitionen durch die europäische Vertiefung verändert haben, oder anders gefragt: Müssen wir europäische Klas-senkoalitionen berücksichtigen, wenn wir der Frage nach europäischen Wohlfahrtssystemen nachgehen? Das Konzept der Klassenkoalition ist jedoch – zumindest in seinen populären Anwendungen – eher narrativ als empirisch-analytisch.

Daher soll im Folgenden eine mögliche Narration angeführt werden, wie die europäi-sche Vertiefung sich auf die Klassenkoalitionen auswirken könnte, und damit auch das theoretische Fundament der Wohlfahrtsstaatsregime untergräbt. Offe (2000: 5) argumentiert, dass es der europäischen Integration an Legitimität fehlt und dadurch „horizontal pheno-mena of trust and solidarity“ unterbunden werden, die entscheidend wären, um die Bürger miteinander zu verbinden. „National governments are the bearers of democratic legitimacy, but the transfer of authority that has accompanied the implementation of the Common Mar-ket has reduced their power to shape the prospects and safeguard the interests of their na-tional populations. […] Thus, there is a disjunction between the ability and the mandate to act; the former is already largely in the hands of the European institutions, but the latter still resides with the national governments“ (Offe 2000: 10). Dieses Argument ist jedoch nur unter der Annahme tragbar, dass die Interessen der Bürger ‚national‘, also einheitlich sind. Der Klassenkoalitionsansatz geht dagegen von unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Interessen der Klassen aus. Der Prozess der europäischen Vertiefung hat sehr unterschiedli-che Auswirkungen auf die verschiedenen Klassen. So lässt sich feststellen, dass die Land-wirte mit am stärksten von der Europäisierung betroffen sind – insbesondere durch den einheitlichen europäischen Agrarmarkt – und die geringste Mobilität aufweisen. Insofern ließe sich argumentieren, dass sie einerseits gegen bestehende nationale Koalitionen ange-hen, andererseits aber kaum Möglichkeiten haben, neu Koalitionen über die nationalen Grenzen hinweg einzugehen. Arbeiter haben eine gewisse Mobilität, die durch die europäi-sche Vertiefung erhöht wird. Diese Mobilität zeigt sich nicht nur an Migrationsbewegungen innerhalb der EU, sondern auch an europäischen Arbeitnehmerzusammenschlüssen. Wenn wir die Wohlfahrtsregime als Ausgangspunkt nehmen, um zu zeigen, welche Veränderun-gen durch die Vertiefung aufgetreten sind, ließe sich argumentieren, dass der Effekt auf die Arbeiter sich in den einzelnen Regimen unterscheidet. Im liberalen Regime mit geringen, aber universalistischen Wohlfahrtsarrangements verlieren die Arbeiter keine nationalen Privilegien durch die Europäisierung, da sie bereits im europäischen Vergleich am unteren Ende der Umverteilungsskala sind. Auf diesem niedrigen Niveau jedoch sind die Arbeiter die klaren Nutznießer des Wohlfahrtssystems. Das Prinzip des Universalismus – soziale Errungenschaften gelten für alle gleich – könnte hilfreich sein, wenn es bspw. darum ginge, neue Koalitionen – über die nationalen Grenzen hinweg – einzugehen. Im konservativen Regime ist der Universalismus am geringsten ausgeprägt und die Arbeiter verstehen Wohl-

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fahrtsleistungen als nationales Privileg. Im sozialdemokratischen Regime finden wir Uni-versalismus auf einem sehr hohen Umverteilungsniveau, so dass unklar wäre, ob die Arbei-ter eher auf den Universalismus oder auf ihre nationalen Privilegien setzen würden. Die Mittelklasse im liberalen Regime würde sich gegen eine allgemeine Erhöhung der Wohl-fahrtsleistungen wenden, während sie im konservativen und auch im sozialdemokratischen Regime ihre Besitzstände verteidigen würde. Das Kapital schließlich hat die höchste Mobili-tät und wird durch die europäische Vertiefung von nahezu allen nationalen Schranken befreit. Die Notwendigkeit, Koalitionen zu formen ist daher bei dieser Klasse sehr gering.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei mögliche Effekte auf die Wohlfahrts-staatsregime. Durch die Affizierung nationaler Wohlfahrtsarrangements könnte die europä-ische Vertiefung dazu führen, dass die ihnen zugrunde liegenden Klassenkoalitionen zer-bröckeln. Diese Möglichkeit besteht insbesondere hinsichtlich des sozialdemokratischen Regimes. Die zweite Alternative wäre, dass durch die europäische Vertiefung neue Klassen-koalitionen entstehen, die über die nationalen Grenzen und eventuell auch über die Regime hinausgehen. Z.B. wäre eine Koalition von Arbeitern aus dem liberalen Regime mit der Mittelklasse des sozialdemokratischen Regimes und den europäischen Landwirten denkbar. Problematisch an diesen Überlegungen ist jedoch, dass der Klassenkoalitionsansatz eine von Esping-Andersen ex-post eingeführte Kategorie mit stark narrativem Charakter ist. Die hier vorgestellten Überlegungen, wie sich die Koalitionen verändern könnten, übernehmen selbst diese theoretischen Schwächen. Dennoch ist dieser Ansatz das analytische Rückgrat der entsprechenden Typologisierung. Insofern bleibt festzuhalten, dass die Kategorie Wohl-fahrtsstaatsregime durch die europäische Vertiefung nicht nur empirisch erodiert, sondern auch analytisch problematisch wird, da nicht ersichtlich ist, wieso ein so tiefgreifender Pro-zess ausgerechnet die Klassenkoalitionen unberührt lassen sollte.

2.2.3 Supranationalität

Neben der Vorstellung, es gäbe in Europa unterschiedliche Wohlfahrtsstaatsregime, wird der Regimegedanke auch auf Europa als Einheit angewandt, wenn es um das europäische Sozialmodell geht. Methodologisch besteht dabei das Problem, dass dieses Modell nur sicht-bar wird, wenn man Europa mit anderen Weltgegenden vergleicht. „Perhaps a reasonably clear and meaningful identity of ‚the‘ European model emerges only if Europe is contrasted with non-European global regions, such as East Asia, the underdeveloped South, or North America“ (Offe 2003: 439). Aus diesem Vergleich folgen jedoch zwei Probleme. Erstens ist die geläufige Unterteilung in ein europäisches und ein angloamerikanisches Modell nicht mit der europäischen Realität vereinbar. Zweitens ist es methodologisch unzureichend, mit Kategorien zu arbeiten, die bloß negativ in Abgrenzung zu anderen definiert sind. Auf diese beiden Probleme soll im Folgenden eingegangen werden.

Die Gegenüberstellung eines „Anglo-Saxon liberal model and the Continental Europe-an social model“ (Cuperus 2006: 65) zertrennt Europa in einer eigentümlichen Weise. Ers-tens fällt Großbritannien aus Europa heraus. Zweitens ist mit dieser Unterteilung fraglich, inwieweit einige der Beitrittsländer zum europäischen Sozialmodell gehören, da sie in man-chen Bereichen große Ähnlichkeiten zum liberalen Modell haben (Aidukaite 2004: 85). Drit-

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tens wird durch diese Einteilung der große Einfluss Amerikas auf einige Wohlfahrtssysteme in Europa negiert. „(West) European history of the second half of the twentieth century is to a large extent shaped by the US and its military, political, intellectual, economic, and aes-thetic hegemony“ (Offe 2003: 439).

Neben diesen Hinweisen, dass eine solche Unterscheidung der europäischen Realität nicht gerecht wird, beinhaltet die Vorstellung eines europäischen Sozialmodells eine me-thodologische Schwierigkeit. Das Modell wird zunächst rein negativ definiert. Europa ist nicht so wie die USA. Solche Erklärungen, die bei einer negativen Bestimmung stehen blei-ben, lassen sich wegen ihres endlosen und tautologischen Charakters kritisieren. Endlos sind sie in dem Sinne, dass sich beliebig viele weitere Erklärungen dieser Art hinzufügen ließen (Europa ist nicht wie Asien, nicht wie Afrika, nicht wie ein transnationaler Konzern, nicht wie eine Großfamilie, etc.). Darüber, was das europäische Sozialmodell ist, lernt man auf diese Weise nichts. Tautologisch ist die Erklärung deshalb, weil in den Adjektiven „eu-ropäisch“ und „angloamerikanisch“ bereits ein Unterschied festgehalten ist. Demnach ist die Differenz, die festgestellt werden soll, bereits im Ausgangspunkt vorweggenommen, so als würde man den Satz „Äpfel sind nicht wie Birnen“ als Erklärung eines Unterschieds dieser Früchte anbieten. Die negative Bestimmung muss daher notwendig um eine positive Bestimmung ergänzt werden.

Eine positive Definition fällt jedoch meistens aus dem negativen Komparativ in einen Konjunktiv, indem ausgeführt wird, was das Europäische Sozialmodell sein könnte oder sollte (vgl. Lamping in diesem Band). „Arguably, ‚Europeanness‘ is nothing that can be found in the shared histories of European societies but, to the contrary, something that is in the still elusive state of ‚becoming‘, an artefact of European integration and its homogeniz-ing impact“ (Offe 2003: 439).

Lässt man sich aber auf den Gedanken ein, dass das europäische Sozialmodell im Ent-stehen begriffen ist, dann müsste dieses Entstehen entweder auf eine Weise erläutert wer-den, die sich verifizieren oder falsifizieren lässt, oder dieses Modell wäre als rein normative Kategorie zu verwenden. Im letzteren Falle hätten wir es also weniger mit einer analyti-schen Kategorie als viel mehr mit einem Leitbild zu tun und sollten dies in der entsprechen-den Forschung auch deutlich machen (Lessenich/Möhring-Hesse 2005: 115). Es bleibt also das Problem, dass die Verwendung der Regime-Kategorie auf der supranationalen Ebene eine positive Bestimmung voraussetzt, worin erstens alle einzelnen europäischen Wohl-fahrtssysteme ihrer Qualität nach europäisch sind und inwiefern es deshalb Sinn macht, von einem einheitlichen europäischen Sozialmodell zu sprechen.

3 Zusammenfassung

Anhand einer Zusammenstellung verschiedener Kritikpunkte haben wir versucht darzule-gen, dass die Kategorien Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsstaatsregime durch die drei Di-mensionen der Europäisierung Erweiterung, Vertiefung und Supranationalität an Erklä-rungsstärke verlieren. Anstelle des Wohlfahrtsstaates muss von einer Pluralität von Wohl-fahrtsstaaten mit beschränkter Souveränität ausgegangen werden, verstrickt in komplexe Inter-dependenz. Bezüglich der Regime-Kategorie sind wir konfrontiert mit einer Veränderung der

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empirischen Basis, Entwicklungen, die die theoretischen Grundlagen der Typologisierungenunterlaufen und dem Problem einer rein negativen Abgrenzung zu anderen Modellen.

Tabelle 1: Problemdimensionen der Kategorien

Wohlfahrtsstaat Wohlfahrtsstaatsregime Erweiterung zunehmende Pluralität der Wohl-

fahrtsstaatenVeränderung der empiri-schen Basis

Vertiefung komplexe Interdependenz zeitliche Entwicklungen, die das theoretische Konzept und die empirische Basis unterlaufen

Supranationalität begrenzte Souveränität negativ definiertes europäi-sches Sozialmodell

Quelle: Eigene Darstellung

Die meisten dieser Kritikpunkte sind nicht neu, ihre Zusammenfassung soll jedoch verdeut-lichen, dass es methodologisch immer schwieriger wird, mit den Kategorien Wohlfahrts-staat und Wohlfahrtsstaatsregime noch sinnvoll vergleichend zu arbeiten. Unsere Empfeh-lung, der im vorliegenden Band nachgegangen wird, ist hingegen relativ einfach. Um nicht mit fragwürdigen Verallgemeinerungen an den Gegenstand heranzugehen, ist es empfeh-lenswert, die Kategorien (zunächst) deutlich zu erweitern. Hierfür bietet es sich an, im An-schluss an Kaufmann (2003) und Seeleib-Kaiser (2007) von Wohlfahrtssystemen zu spre-chen, die alle Arten von Wohlfahrtsarrangements umfassen, die angewandt werden, um soziale Risiken abzufangen und um neue Chancen zu eröffnen. Das bedeutet, dass auch Bereiche wie Besteuerung, Wirtschaftspolitik, Bildung, u.v.m. als relevante Faktoren berück-sichtigt werden. Hinzu käme eine Erweiterung des relevanten Akteurskreises für Wohl-fahrtspolitik, so dass auch nichtstaatliche Akteure wie private Unternehmen, Familien oder Nichtregierungsorganisationen betrachtet werden. Ähnlich wie die Kategorie der „Wohl-fahrtsproduktion“ (Kaufmann 2003) müsste auch diese Kategorie des Wohlfahrtssystems sich die Kritik gefallen lassen, zu weitgefasst und damit in der empirischen Forschung nur schwierig handhabbar zu sein. Tatsächlich wird es nur schwer möglich sein, in allen denk-baren Fällen das gesamte Spektrum dieser Variablen zu untersuchen. Dennoch erscheint es uns sinnvoller, in jedem einzelnen Fall zu prüfen, welche Variablen und Akteure für wel-ches Wohlfahrtssystem tatsächlich entscheidend sind, als mit Kategorien an den Gegenstand heranzugehen, die bekannter Maßen die komplexe Realität europäischer Wohlfahrtssysteme nicht widerspiegeln und daher systematische Fehleinschätzungen produzieren. Ein solches Vorgehen muss zunächst präkomparativ angelegt sein, denn nur wenn wir die Pluralität europäischer Wohlfahrtssysteme als Ausgangspunkt ernst nehmen, lassen sich Strukturen und Kategorien identifizieren, auf deren Basis vergleichende Studien die derzeitige Proble-matik überwinden können.

Unser Ziel in diesem Beitrag war es, eine wohlbegründete Skepsis gegen den methodo-logischen ‚Werkzeugkasten‘ der vergleichenden Wohlfahrtsforschung vor dem Hintergrund der Europäisierung darzulegen. Was wir damit nicht angestrebt oder geleistet haben, ist eine